Waldbrände, Psychoanalyse und der Tumult*
Fernando Castrillón
Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 12.
Veröffentlicht: 18.10.2021
Ja, alle werden wir vergehen, ganz vergehen. Nichts wird bleiben von dem, was Gefühle und Handschuhe trug, von dem, was über den Tod und die Lokalpolitik sprach. So wie ein und dasselbe Licht die Gesichter der Heiligen und die Gamaschen der Fußgänger erhält, wird das Fehlen dieses selben Lichtes das Nichts in Dunkel tauchen, das von dem einen wie anderen übrigbleibt, ob sie Heilige waren oder Gamaschenträger... Eines Tages, am Ende der Erkenntnisse aller Dinge – wird jene verschlossene Tür aufgehen, und alles, was wir waren – Sternen – und Seelenmüll -, wird aus dem Haus gefegt, damit, was existiert, von neuem beginnen kann.
Fernando Pessoa
Im August 20212
Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Sie dorthin mitnehmen, nämlich in die Lüge, die die Geschichte selbst ist. Ich lasse das Wichtigste aus, und werde Ihnen damit sagen, worauf Sie achten müssen. Ich werde also eine Linie verfolgen, an der Sie sich orientieren können, die Sie genauso festhält, wie Sie sich an ihr festhalten. Aber seien Sie sich bewusst, dass man auch auf diese Weise Öl ins Feuer gießt. Also, folgen Sie mir, aber beeilen Sie sich. Das Dach bricht bereits ein. Der Rauch macht es schwer, sich daran zu erinnern, wie Sie und alles andere früher gerochen haben. Mir wurde gesagt, dass der Geruch der Dinge das Erste ist, was sich verflüchtigt... Sie hat die Reise gebucht. Ich war viel zu beschäftigt. Sie ist gut darin, genau wie ihre Eltern. Sie kann sich überall einrichten. Ummanteln, Entmanteln – Aufbauen, Abbauen. Ihre Hände erzielen eine gleichzeitige Verhüllung und Enthüllung. Sie kennen doch auch solche Leute, oder? In Kalifornien gibt es jede Menge davon.
Juni 2021: Sequoia Crest, Südkalifornien
Langsam geht es aufwärts und nach Osten, wo der eigentliche, südliche Rand der Sierra Nevada beginnt. Von oben gesehen eine gerade Linie, nördlich von Los Angeles. Familienwappen bedeuten hier so gut wie nichts. Aber dieser Ort, dieser Bergkamm markiert etwas auf der Karte. Es ist der Ort, wohin die Anwohner der Glitzerwelt aus Südkalifornien hin pilgern. Und das machen sie einzig und allein deswegen, damit sie schauen können, von wo sie losgefahren sind. Um sich dabei selbst von oben, aus der Höhe zu betrachten. Was machen sie nur mit diesen Blicken, wenn sie wieder zurückkehren?
Wir waren erschöpft. Mehr als ein Jahr von dieser immer blöderen und völlig abgeschmackten Pandemie (neben verschiedenen anderen Seuchen). Kalifornien wurde in der Woche, in der wir in den Urlaub fuhren, offiziell „geöffnet“: Die Beschränkungen wurden gelockert. Man ließ die Masken fallen. Wir konnten wieder atmen, und das gemeinsam mit den anderen. Zumindest konnten wir das, bis uns der Atem erneut genommen wurde, was eine andere Sache ist als der restriktive Maulkorb einer Maske.
Zunächst schien alles okay zu sein. Ja, es war reichlich trocken, aber wir kamen aus Nordkalifornien, also schrieben wir das Durstige und Wüstenhafte der Vorgebirge dem allgemeinen südlichen Charakter der Dinge zu. Daran waren wir einfach nicht gewöhnt. Unsere Erwartungen waren auf eine gewisse Üppigkeit ausgerichtet. Aber wie sich herausstellte, hätte uns nichts auf das vorbereiten können, was uns dann auf dem Weg in die Berge begegnete.
Zwischen den West- und Osthängen der Sierra Nevada liegen Welten. Eine Fahrt den California Highway 395 hinauf oder hinunter ist wie eine Reise aus der TV-Serie Game of Thrones. Der Osthang der Sierras (wie wir Californianos die Sierra Nevada nennen, das anfängliche, spanische Kolonialmoment pluralisierend und auf diese Weise anglisierend) ist eine grotesk-vertikale Felswand. Unergründlich. Die Berge steigen direkt aus der Talfläche empor, wie über Nacht in den Himmel getragen, inmitten der glühenden Schwärze. Die Spitzen – präzise gezackt; sie hatten nicht genügend Zeit, um ihren Staub loszuwerden und sich erneut zu glätten. Sie sehen nackt aus und gleichwie ahnungslos ertappt. Ich erröte jedes Mal, wenn ich sie sehe.
Im Gegensatz dazu gibt es am Westhang, wo wir waren, zunächst vor allem holprige Hügel, alpine Elemente, die mit zunehmender Höhe an Bedeutung gewinnen. Anfangs trocken, werden sie immer grüner, zumindest waren wir von früher so gewohnt. Diese Seite, die näher bei Hollywood liegt, schlurfte noch zum Schminken vor der endgültigen Platzierung.
Aber unsere Erwartungen waren genau das: Nichts als Erwartungen. Eine enge Offenheit für das, was man annimmt. Fantasie, Wunsch und Negation spielen sich gegenseitig stützende Rollen in einer imaginierten, ja, wahnhaften Landschaft, die in keiner Weise dem entspricht, was tatsächlich ins Blickfeld tritt. Nun, man kann das, was tatsächlich angetroffen wird, verwerfen, indem man dieser Begegnung ausweicht. Man lehnt es einfach ab, indem man in seinem Kopf bleibt. Das Tragen einer Sonnenbrille hilft ebenso wie die Bedienung verschiedener Bildschirme. Aber in einigen Fällen lässt sich dieses Spiel eben nicht spielen. Und der vorliegende Fall war ein solcher.
Es begann mit der fortschreitenden Erkenntnis, dass das, was wir auf unserem Weg den Westhang hinauf in Richtung Sequoia Crest erlebten, die allgegenwärtige Trockenheit dieser Grenzzone zwischen Wüste und alpinem Gelände weit übertraf. Um es klar zu sagen: Unsere Route in die Sequoias hatte uns tatsächlich in eine sequía geführt, das spanische Wort für Dürre. Das Wort „Durst“ verfehlt uns hier, denn etwas muss lebendig sein, um ein Verlangen nach Feuchtigkeit oder nach Wasser zu verspüren. Aber die Welt hier war abgestorben. Der Durst war eine traurige Erinnerung, die zusammen mit der Hoffnung, die ihm als Quelle diente, weggespült war. Durst weist auf einen zukünftigen Moment hin, der frei von diesem Verlangen ist. Hier aber war die Zukunft gestorben.
Das ist eine schwierige Sprache. Vielleicht zu absolutistisch in ihrer Prosa. Aber ich spreche aus aufrichtiger Verzweiflung. Denn ich kann die völlige Trostlosigkeit dessen, was uns als nächstes in diesem Sequia Crest begegnete, sprachlich kaum vermitteln. Vor genau einem Jahr, am 19. August 2020, löste ein Blitzschlag einen 704,90 Quadratkilometer großen Flächenbrand aus, der als SQF Complex (die Abkürzung für Sequoia Complex Fire) bekannt ist (Reno Gazette Journal 2021). Die Brände dauerten bis Dezember letzten Jahres, und nach Angaben des U.S. National Park Service könnte bis zu einem Zehntel oder mehr der ausgewachsenen Riesenmammutbäume der Welt, d.h. des Sequoiadendron giganteum, dem größten lebenden Organismus überhaupt, dem Feuer zum Opfer gefallen sein. Zwischen 7.500 und 10.000 ausgewachsene Riesenmammutbäume wurden vernichtet. Das war, wortwörtlich, eine Dezimierung (Herrera 2021).
Diese Bäume haben Tausende von Jahren gelebt und Dutzende früherer Waldbrände überlebt. Mammutbäume sind nicht nur an Feuer gewöhnt. Sie sind sogar auf kleinere Feuer angewiesen, damit sie ihre Samen freisetzen und diese keimen können. Aber der SQF Komplex war alles andere als ein kleines Feuer. Es war eine Feuersbrunst. Der SQF-Komplex zusammen mit der Litanei anderer Waldbrände, die letztes Jahr ausbrachen, war anders als alles, was Kalifornien zuvor je erlebt hatte. Tatsächlich hat 2020 nicht nur eine globale Pandemie hervorgebracht, sondern fünf der sechs größten Waldbrände, die in der Geschichte Kaliforniens aufgezeichnet wurden. Und zum jetzigen Zeitpunkt (zur Zeit meines Schreibens) haben die aktuellen Waldbrände bereits mehr zerstört als alle Verwüstungen, die die Flammen im Jahr 2020 angerichtet haben (Cal Fire 2021). Sequoia / Sequia Crest liegt im Herzen der kauterisierten Überreste des SQF-Komplexes. Es ist ein kleiner Fleck paradiesischen Waldes, der auf wundersame Weise von der Verwüstung verschont geblieben war. Hier waren wir angekommen.
Ich habe in den letzten 25 Jahren viele Wildnisse durchquert und viele von Waldbränden verwüstete Gebiete gesehen. Aber ich habe noch nie gesehen, dass ein Berghang selbst infolge der unablässigen Hitze des Feuers komplett verkohlt war. Nicht war übrig, außer diesem winzigen Stückchen Land, das auf dem Bergkamm unversehrt geblieben war, nicht einmal die Möglichkeit, herauszufinden, wie es vor der Feuersbrunst hätte aussehen können. Das ist schon ein Ding, dass selbst die imaginierte Vergangenheit eines Ortes als Reflexions- und Nahtpunkt verschwunden ist. Ich hatte Schwierigkeiten beim Atmen, und da war noch nicht einmal Rauch. – Ihr Großvater, in seinen ahnungsvollen und jüngeren Tagen, hätte wohl gesagt: „Wie kann das sein?“. Nehmen wir diese Frage auf, denn aus dieser nun bleiernen Landschaft lässt sich viel ablesen: Wie sie entstanden ist, wie dies sein kann, wie es ist.
Die Geschichte der Weißtanne
Kalifornien wird normalerweise als eine ökologische Insel dargestellt. Aufgrund seiner besonderen Geographie (der pazifische Ozean links, hohe Berge und die Wüste drücken auf der anderen Seite) beherbergt das Land ein reiches Sortiment exklusiver Pflanzen- und Tierarten, die sonst nirgendwo zu finden sind. Bei genauerer Betrachtung lässt sich feststellen, dass diese Insel selbst ein riesiges Gebiet unzähliger kleinerer ökologischer Nischen oder terrestrischer Atolle darstellt, die Heimat einer spezifischen Flora und Fauna, die in ihrer Verbreitung begrenzt und an dem jeweiligen Ort endemisch ist. Mammutbäume, als eine Art wortloses Relikt eines ancien régime, besiedeln derzeit nur die lange Scherbe eines dieser Atolle, die tief in der Sierra Nevada liegen; insgesamt 68 Haine mit einer Fläche von 144,16 Quadratkilometern (Schoenherr 1992). Das ist alles.
Um die überwältigende Schönheit dessen, was ihnen begegnet war, am Leben zu erhalten (obwohl die Geschichte, wie wir sehen werden, wesentlich komplexer ist), initiierten die Agenten eines aufstrebenden und wagemutigen anglo-amerikanischen Imperiums eine Strategie der Brandvermeidung, die schließlich durch den US National Park Service und den US Forest Service eingeführt und kodifiziert wurde. Genau an dieser Stelle kommt die Weißtanne ins Spiel.
Ohne eine robuste, regelmäßige, jeweils jahreszeitliche „Würzung“ durch kleinere Waldbrände gibt es nämlich nicht nur eine Anhäufung von Material (wie ausgetrocknetes Unterholz, Humus, Waldabfall und umgestürzte, tote Bäume), das darauf wartet, verbrannt zu werden. Vielmehr findet auch das intensive Wachstum eines tödlichen, in die Nadelholzwurzel eindringenden Pilzes statt; es gibt einen Überfluss an den Mammutbaum schwächenden Riesen-Holzameisen – und vor allem eine wahre Explosion von Weißtannen. Wird das Feuer grundsätzlich unterbunden, beginnen die Weißtannen, in die Sequoia-Haine einzudringen und in deren Schatten die Redwood-Keime zu ersticken. Vor allem aber sind Weißtannen in ihrer Gesamtheit sehr leicht entzündlich, und das bedeutet, dass sie extrem heiße, intensive Feuer direkt auf die Sequoia-Kronen übertragen und die Bäume dadurch umbringen können (Schoenherr 1992, 119-121). All dies wird natürlich durch die anhaltende Dürre und den Aufwärtstrend des globalen Thermometers verschlimmert.
Aber eine Frage drängt sich förmlich auf: Warum hatte man dann dieses Feuerlöschprogramm initiiert? Ästhetische Überlegungen werden an dieser Stelle oft zugunsten von Darstellungen abgewertet, welche staatliche, nationale und globale Momente der politischen Ökonomie in den Vordergrund schieben. Äußerliche Interessen drängen sich vor gegenüber nachhaltigen und eindeutig wirksamen Strategien, die seit langem von den indigenen Nationen der heutigen Sierra Nevada verfolgt und praktiziert wurden. In einer gewissen Solidarität mit der Weißtanne sind entlang der verbleibenden Sequoia-Haine Bergresorts und Wanderhütten aus dem Boden geschossen. Und wir wären nachlässig, wenn wir uns nicht an die offensichtliche, aber oft verdrängte Tatsache erinnern würden, dass Holz ein sehr wertvolles und begehrtes Gut darstellt. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Tolerierung natürlich auftretender kleinerer Waldbrände würden den Markt negativ beeinflussen, was ganz offenkundig das Einzige ist, was wirklich zählt. Das wissen wir alle.
Und während die politische Ökonomie in dieser heranrollenden Katastrophe sicherlich eine sehr große Rolle spielt, verdienen subjektive Erwägungen ebenso unsere Aufmerksamkeit, und es findet sich hier sicher auch eine Verbindungslinie zur Psychoanalyse.
Die aufgehübschte Terrasse
Man könnte sich den Ground Zero des SQF-Komplexes als eine reine Höllenlandschaft vorstellen. Aber das war es nicht. In Wahrheit gab es eine Terrasse, d.h. einen Balkon mit Blick auf mehrere uralte Mammutbäume und ein größtenteils intaktes Gehölz aus Farn und Granitfelsen. Ich stehe an seinem Rand, spähe nach Süden, Westen und Nordwesten und versuche, einen Blick auf die Verwüstung zu werfen, von der ich weiß, dass diese sich jenseits des letzten verbliebenen lokalen Bestands eines idyllisch-baumbewachsenen kalifornischen Gebirges erstreckt. Ich kann sie nicht sehen. Wenn überhaupt, kann ich einen scheu-flüchtigen Blick auf ein weiteres, fast urzeitliches und dauerhaftes Merkmal der südkalifornischen Landschaft erhaschen, auf die Bestie, die auch als Smog von Los Angeles bekannt ist. Seltsam, dass ich durchaus in der Lage bin, eine ökologische Verwüstung 200 Meilen südlich zu bezeugen, während ich die Apokalypse nicht zu begreifen vermag, die sich nur ein paar Schritte von mir entfernt ereignet.
Eine Verzweiflung, aufgetürmt auf meiner Erschöpfung, führt mich dazu, dass ich auf Statik achte – um ein stabiles und unveränderliches Bild von dem festzuhalten, wovon ich denke, dass es mir begegnet. Wie so viele nehme ich dieses wahrgenommene Stück des Jetzt und versuche, es in ein Für-Immer-Währendes zu verwandeln. Wenn ich nur 3 Minuten nach Süden gehen würde, dann würde sich das Blätterwerk für das Alptraumszenario des SQF-Komplexes öffnen. Ausblicke von den höchsten Gipfeln in diesem Gebiet demonstrieren überdeutlich, dass die Zerstörung absolut und scheinbar endlos ist. Aber von dieser Terrasse aus, von diesem pulsierenden Herzen dessen, was einst gewesen war, kann ich mich nur allzu leicht eingehüllt in einem Kokon imaginieren, an einem Busen liegend. Fest und sicher gehalten, mit der ständigen Gewissheit, dass die Untergangszeiten anderswo stattfinden – in der Tat sehr weit weg. Hier können sie unmöglich sein. Dieser Ort ist auf genau diese Weise immerwährend, oder?
Wir sind eine ganze Woche hier, und so lange brauche ich, um etwas ganz anderes zu entdecken. Nicht in der Tiefe, sondern in den oberflächlichen Blitzen, die in meiner gequälten Traumlandschaft flüchtig auftauchen, in den ‚3 Uhr-morgens-ist-das-Feuer-Geruch?‘- Momenten, die sich dem Überqueren einer Schwelle des Erträglichen, Aushaltbaren immer mehr zu nähern scheinen. Die Sierra Nevada, wie überhaupt der Rest dieser ökologischen Insel, die sich Kalifornien nennt, ist nicht nur das Ergebnis einer Reihe stürmischer Epochen, die mit dem Land verschwanden, einzig und allein, um den Himmel zu besuchen, das Meer und die Hemlocktanne des Gebirges vermählend, und das manifeste Schicksal bis in die allerletzten Momente aufzuschieben. Kalifornien ist Kalifornien gerade wegen dieses anhaltenden Tumultes, der jede Faser dieses Ortes durchdringt, wenn man lange genug anhält, um sich wirklich darauf einzulassen. Dieser Ort pulsiert vor Leben, vor Glanz, mit diesem übersüßen Gold, das schon so viele Herzen wahrgenommen haben, bevor das geschriebene Wort auf dem Rücken eines überladenen Esels hierher gelangte, gerade aufgrund der enormen Veränderung, die ständig im Spiel ist, bei der Arbeit, in den Nähten, Schlupfwinkeln und Spalten dieses herrlichen Ortes, großartig sogar in diesem, unserem Moment der Verwüstung, weil die Zerstörung genau das ist, was man erhält, wenn man sich in den Tumult der Dinge einmischt, ihn unterbricht, ihn erfasst, einfängt oder zu ordnen versucht.
Aber wie finde ich einen Platz in diesem Tumult, in diesem unaufhörlichen Aufruhr von Neuheit, Granit und Feuer? Wo kann ich meinen Hut aufhängen, wenn Haken und Hand an den Ufern von Erdbeben, Flammen und Tsunami ihre kosmische Bedeutungslosigkeit belegen? Die Antwort lautet: Wir werden aktiv, stellen uns auf das Skopische, auf das stabilisierende Bild ein. Wir alle kennen die dauerhaften Bilder dieser Berge. Die Riesenmammutbäume mit Hirschen und den Menschenkindern (meistens weiß), in ihrem ewigen Schatten; ein paar weiße / stahlblaue Granitklumpen auf der Seite und ein Wasserfall oder Fluss in der Ferne, die uns in Zeit und Raum verankern. Denn da, wo der Fluss ist, kann ich meine Geschichten von früher platzieren. Der ferne Horizont signalisiert eine mysteriöse und unheilvolle Zukunft. Die Farben so strahlend, das Laub so flaschengrün, als wenn es bereits alle Druckerfarbe für diesen Monat verbraucht hätte. Das sind die Sierras, abgesehen davon, dass alles ganz anders ist.
Abb. 1: Sequoia Forever.3
Als ich zum ersten Mal in Kalifornien war, erwarb ich diese Bilder in Form von Postkarten und schickte sie an Freunde, Familie, Feinde. Dieser Himmel, den ich in den Fernsehsendungen meiner Jugend gesehen habe, der war hier! Er funkelte und bog sich: Wie eine auf den Takt synchronisierte Maschinengewehr-Fotografie. Es schmeckte so gut, und es roch so sehr, wie ich es mir wünschte. Ich habe es. Heureka! Und indem ich es „habe“, töte ich es.
Und das, meine Freunde, haben wir getan. Der California Dream ist sein eigener Untergang, weil er uns so nahe an das heranbringt, was wir phantasiert haben. Weil die „Kulturindustrie“ kam (aus Respekt gegenüber einigen klugen, wenn auch eher mürrischen Herren aus Frankfurt), um das Vorstellbare zu kolonisieren. Hier, in Kalifornien, werden Träume wahr, denn sie wurden hier fabriziert. Aber diese Produktion, geboren auf der Rückseite unserer statischen Neigungen (denn ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin), eliminiert den Boden, auf dem sie steht. Tumult von allen Seiten. SQF-Komplex.
Ich werde hier darauf verzichten, vielleicht prägnante oder auch ausgedehnte Bemerkungen darüber zu machen, was dies alles für die Praxis und Theorie jenes würdigen Handwerks bedeutet, das wir als Psychoanalyse bezeichnen. Denn das habe ich schon getan. Und wenn Sie das noch nicht verstanden haben, gehen Sie bitte zurück und lesen Sie das alles noch einmal von vorne. Was ich eigentlich sage, geht weit über meine Zick-zack-Versuche und Anspielungen hinaus. Tatsächlich kann man es nicht sagen. Aber Sie können ihm begegnen, indem Sie locker bleiben, Ihre Sonnenbrille abnehmen und diese Worte über sich hinwegspülen lassen – wie eine Apokalypse.
Epilog
In den 1960er und 1970er Jahren wurde uns bewusst, dass die Revolution nicht im Fernsehen übertragen werden würde. Und während dieser Punkt sicherlich auch in unserer zeitgenössischen Spiegelsaal-Version der Existenz, die wir Leben nennen, wahr zu sein scheint, können wir jetzt erkennen, dass die Apokalypse nicht nur für gutes Fernsehen sorgt, sondern auch serialisiert und wie jeder andere Rohstoff auf dem Terminmarkt verkauft wird. Vielleicht vermag uns der Kapitalismus zu retten, wenn sogar unser eigener Untergang an uns vertickt werden kann, wie eine Dose Pfirsiche mit dem Slogan „California Calls You“.
Abb. 2: California calls you.3
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Lutz Götzmann.
* „Burning down the House“ ist ein bekannter Song der Talking Heads, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=_3eC35LoF4U (Anmerkung des Übersetzers).
2 Dieser Artikel ist Chris Christofferson gewidmet: Ein wahrer Freund und Mitreisender, der seine Füße ans Feuer hält.
3 Dieses und folgende Bilder werden im Rahmen der Gemeinfreiheit publiziert.
Literaturverzeichnis
Cal. Fire (2021): Stats and events, Current Year Statistics. Verfügbar unter: https://www.fire.ca.gov/stats-events/.
Herrera, Jack (2021): „‘Mind-blowing‘: tenth of world’s giant sequoias may have been destroyd by a single fire.“ The Guardian, 3 June 2021. https://amp.theguardian.com/us-news/2021/jun/02/sequoias-destroyed-california-castle-fire.
Pessoa, Fernando (2019): Das Buch der Unruhe. Frankfurt a.M.: Fischer.
Reno Gazette Journal (2021): Hazard Mapping System: Fire and Smoke, SQF Complex. https://data.rgj.com/fires/incident/7048/castle-fire/.
Schoenherr, Allan (1992): A Natural History of California. Berkely: University of Califoria Press.