Luke Wilkins

Y – Z Atop Denk 2021, 5(9), 2.

Abstract: Ausgehend von Swetlana Geiers Dostojewski-Interpretation und Freuds Theorie der Vatertötung entwickelt der Text eine Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen Freiheit, Schuld und dem Bedürfnis nach Autorität in modernen Massengesellschaften. Dostojewskis Werk wird als Spiegel einer säkularisierten Welt gelesen, in der moralische Orientierung ohne transzendente Instanz brüchig wird. Aktuelle politische Phänomene wie der Aufstieg autoritärer Führer in Russland, den USA und Europa werden als Ausdruck kollektiver Regression gedeutet, die in traumatischen Vaterkomplexen wurzeln. Zugleich eröffnet der Text eine hoffnungsvolle Perspektive: In der Krise könnte der Beginn einer ethischen Erneuerung liegen, getragen von einer Liebe, die jenseits patriarchaler Strukturen an die heilenden Potenziale monotheistischer Religionen anknüpft. Dostojewskis Die Brüder Karamasow erscheint in diesem Licht als ästhetisch-philosophische Öffnung auf eine zukünftige Ordnung bedingungsloser Liebe.

Keywords: Psychoanalyse, Dostojewski, Autoritarismus, Russland, Freiheit

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Veröffentlicht: 30.09.2025

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„Nichts ist jemals für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen als Freiheit!“ (Dostojewski 2007, S. 407), schreibt Fjodor Dostojewski, der vielleicht differenzierteste Analytiker der „slawischen Seele“. Die renommierte Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier, die als Kind russischer Eltern in der Ukraine geboren wurde, leitet daraus das Herzstück der Kulturkritik des Schriftstellers ab. Im Film Die Frau mit den 5 Elefanten, den ich 2009 im Kino sah und schon damals das Gefühl hatte, in die Zukunft zu schauen, sagt Geier:

„Von Anfang an ist es Dostojewski klar: Das wichtigste Merkmal des Menschen ist sein Bedürfnis nach Freiheit. Und diese Freiheit äußert sich in der Selbstbestimmung, man tut das, was man tun will. Und da spielt unsere Intelligenz eine fatale Rolle, weil die Vernunft uns pausenlos Gründe bietet, wenn wir etwas begründen wollen. Wir können eigentlich alles begründen.“ (Jendreyko 2008).

Wir können sogar, wie Raskolnikow in Schuld und Sühne, unsere Hauswirtin mit einem Beil erschlagen und plausible Gründe finden, dies vor uns selbst zu rechtfertigen. Das Gewissen des modernen Individuums, nicht mehr gesichert durch eine transzendente Autorität, wird so dehnbar, dass es zu einem Denken führen kann, aus dem heraus ich einen Mord begehen und mich moralisch im Recht wähnen kann. Dostojewski beschreibt damit den Umschlag der feudalen hin zur demokratischen Massengesellschaft, deren Verwaltungsapparate auf dem Prinzip beruhen, dass ein fortschrittlicher Zweck jedes Mittel heiligen kann. Das Prinzip der instrumentellen Vernunft, das zu Wohlstand geführt, aber auch den Weg nach Auschwitz und in den Gulag geebnet hat: Der rationale Wille zum Fortschritt ohne theokratische Gewissens-Instanz rutscht schnell ins Unmenschliche und eröffnet einen Abgrund zwischen persönlicher Freiheit und dem blinden Streben der Massenpsyche. Dostojewski beschreibt damit ein Grundproblem der Dialektik zwischen Freiheit und Schuld und der politischen, aber auch persönlichen Verantwortung des modernen Menschen, das sich uns heute, in einer Zeit, in der unsere Demokratien zunehmend unterminiert werden von autokratisch-populistischen Politikern, erneut stellt: Wie sollen wir leben ohne göttlich-transzendente Autorität?1 Wie sollen wir sprechen und handeln und lieben ohne eine väterliche Gottesinstanz, die unser Gewissen, unsere Sittlichkeit, unser Begehren, unsere gesellschaftlichen Institutionen strukturiert? Und noch größer gefragt: Auf welchem Fundament, außer auf geteilten wirtschaftlichen Interessen, fußt die Moral der Wertegemeinschaft Europas, der NATO oder der UN? Was verteidigen wir, wenn wir die Freiheit des liberalen Westens verteidigen? Haben wir es versäumt, das Gespenst des von uns selbst getöteten Gottes auszusöhnen, etwa durch die Entwicklung einer Ethik, die psychisch für die Weltbevölkerung eine solche Bindekraft hat, wie die Schutzfunktionen der Kirchen? Sodass uns dieses Gespenst, ähnlich wie der ermordete Vater Hamlets, gerade wieder heimsucht und in heillose Konflikte treibt? Eine Beschäftigung mit dieser Frage ist von weltpolitisch größter Relevanz, wenn wir am Ende des Dramas, in dem wir uns gerade befinden, nicht so enden wollen wie die Königsfamilie Hamlets: alle tot.

Es lässt sich eine Lineage herstellen zwischen den beiden vielleicht bedrohlichsten TV-Nachrichtenbildern seit dem Beginn des Kriegs des russischen Aggressors gegen die Ukraine: Wladimir Putins Abkanzeln des Chefs des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin und dem Showdown im Weißen Haus, als Trump und JD Vance Wolodymyr Selenskyj vorgeführt haben. Beides waren mediale Spektakel, in denen weite Teile der Weltbevölkerung die unumschränkte Macht der Despoten erlebten, während eines ödipal anmutenden Akts der Unterwerfung eines Schwächeren. Es waren öffentliche Inszenierungen vom Format der stalinistischen Schauprozesse, bei denen sich die Politiker als „Führer“ präsentierten, von einer selbstverständlichen Aggressivität, wie wir sie im spätmodernen Zeitalter der Massenmedien wohl noch nie erlebt haben und die darauf hindeuten, dass unsere zivilisatorischen Grundordnungen zerbrechen. In seinem Essay „Dostojewski und die Vatertötung“ unterzieht Freud die immer wieder zu epileptischen Anfällen führende Neurose Dostojewskis einer psychoanalytischen Fern-Diagnose und arbeitet dabei heraus, dass Dostojewskis Freiheitsbegriff, den dieser aus einer Dekonstruktion des russisch-orthodoxen Christentums entwickelt, zusammenhängt mit dessen Vaterbeziehung, seinem Verhältnis zu Gott und seiner seelischen Erkrankung. Eine Neurose entsteht nach Freud, wenn das Ich ein spannungsreiches Kräfteverhältnis zwischen Triebansprüchen, also die Koordination der Machtinstanzen psychischer Selbstanteile, nicht mehr bewältigen kann und in einen Angstzustand (z. B. Epilepsie, Waschzwang, Spielzwang) ausbricht. Den Durchbruch einer Neurose vergleicht er deshalb mit einem auf der Bühne des Ichs ausbrechenden Bürgerkrieg und macht damit auch psychische Angstzustände eines „normalen“ Menschen lesbar als ein unerträgliches Gefühl des Verlustes von Schutzfunktionen, wie ein Kind in einem Supermarkt etwa, das Vater und Mutter aus den Augen verliert und sich fremden Gewalten schutzlos ausgeliefert sieht. Freud erkennt deshalb in den Erfindungen der göttlichen Autoritäten in den monotheistischen Religionen angsthemmende und schuld- oder gewissenskonfliktabbauende Instanzen par excellence und meint, Religionen schützten nicht nur die individuelle Seele vor Angstdurchbrüchen, sondern auch die Massen-Psychen. Insofern haben Trump (der im Januar 2025, bei seiner Antrittsrede im Kapitol, gesagt hat: „Ich wurde von Gott gerettet, um Amerika wieder groß zu machen“) und Putin, die beide Kirchgänger und virtuos darin sind, christliche Gefühle zu instrumentalisieren, den demokratisch-liberalen Politikern etwas voraus: Sie setzen sich in die Position allmächtiger Beschützer und spielen Gott und scheinen deshalb in angstauslösenden Zeiten die beruhigendste Wahl zu sein. Auch JD Vance legte in seinem Bestseller Hillibilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis ein Bekenntnis zur Theokratie und zum christlichen Glauben ab, und zwar zu einer Strömung, die sich Catholic integralism nennt, deren erklärtes Ziel es ist, christlichen Einfluss auf die Politik auszuüben. In der Krankenakte Dostojewskis findet Freud ein Indiz, das perfekt in seine psychoanalytische Theorie passt: Den ersten epileptischen Anfall erlitt Dostojewski als junger Mann, unmittelbar nach der Ermordung seines Vaters durch dessen Leibeigene. „Die unverkennbare Beziehung“, schreibt Freud in Dostojewski und die Vatertötung „zwischen der Vatertötung in den Brüdern Karamasow und dem Schicksal von Dostojewskis Vater ist mehr als einem Biographen aufgefallen und hat sie zu einem Hinweis auf eine ‚gewisse moderne psychologische Richtung‘ veranlaßt.“ (S. 245). Freud, der im Vatermord „das Haupt- und Urverbrechen der Menschheit wie des einzelnen“ (S. 246) sieht und daraus seine berühmte Formel des Mords am Urvater durch die Brüderhorde2 entwickelt hat – als Bedingung für den frühesten gesellschaftlichen Zusammenschluss, in dem das Schuldgefühl aufgrund des Mords unauslöschlich eingeschrieben ist – erkennt in der Tötung des Vaters von Dostojewski, der Alkoholiker und von unterdrückerischer Natur war, unter der der kleine Fjodor litt und vermutlich selbst Todeswünsche gegenüber dem Vater hatte3, die dann von den Leibeigenen ausgeführt wurden, den zentralen Grund für den Ausbruch seiner Neurose4. Das für Dostojewskis Psyche so Überwältigende war, dass sein unbewusster Tötungswunsch sich in der Realität tatsächlich ereignet hat5. Parallelen zur Vatertötung in den Brüdern Karamasow liegen auf der Hand, da der im Roman getötete Vater dem Vater Dostojewskis nachgebildet scheint und Smerdjakow, derjenige Sohn, der den von allen Brüdern verschuldeten Mord am Vater durchgeführt hat, auch ein Epileptiker ist. Nach dieser Lesart wird Die Brüder Karamasow zur Autobiographie, zur Entzifferung eines eigenen, aber auch eines verallgemeinerbaren Vater- und Schuldkomplexes, zum Krimi und zu einer Analyse der nach einem Gott dürstenden russischen Seele, in der Dostojewski die Summe seiner kulturkritischen Überlegungen zieht, die uns helfen könnten, die russischen, die amerikanischen, aber auch die europäischen Probleme in Bezug auf die Dialektik von Freiheit und Schuld besser zu entziffern: Wir scheinen als weltweite Massengesellschaft noch immer ein, wenn auch sehr verschieden geartetes, Bedürfnis nach Herrschaft und nach „Führern“ zu haben, das darauf hindeutet, dass der Säkularisierungsprozess noch nicht zu einem gelungenen Abschluss gekommen ist und uns Probleme macht, die während angstauslösender Ereignisse zu regressivem Verhalten führen. Daher reagieren auch unsere Massengesellschaften wie liebesbedürftige Söhne und Töchter mit unterschiedlich stark ausgeprägten Vaterkomplexen, die während gefährlicher Umbruchszeiten in Regressionen zurücksinken, was zu verschiedenen Angst- und Wutausbrüchen führt. Wie schwer sich die russische Bevölkerung tut, sich kollektiv aus der Unterwerfung unter eine zaristische Persönlichkeit wie Putin und einem engherzigen Nationalismus zu befreien, kann die Weltbevölkerung gerade beobachten6. Dass die Weltmacht USA jetzt in eine ähnliche Autokratie zurückfällt, deutet auf eine sich immer weiter ausbreitende Regression hin. Dass die Bevölkerungen in Europa, in dem angeblich ein post-ödipales und post-ideologisches Zeitalter herrscht, nun auch immer lauter nach einem „starken Mann“ rufen, ist Indiz einer besorgniserregenden Ansteckungsgefahr. Ich persönlich sehe jedoch in der gegenwärtigen Zeitenwende auch eine riesige Chance: Regressionen sind Verpuppungen, Zustände, die unumgänglich sind für die Bewusstwerdung eines in der Kindheit liegenden Traumas, dessen Überwindung zu einer neuen Entwicklungsstufe und zur Geburt eines neuen Bewusstseins führt. Schlummern in der „slawischen Seele“, die sich nun schon so lange verpuppt und um ihre Emanzipation ringt, laut Dostojewski nicht unermessliche revolutionäre Energien, die uns nicht nur retten, sondern in ein Zeitalter der Freiheit führen könnten, die auf den geläuterten Prinzipien aller monotheistischen Weltreligionen gründen, die einerseits zu patriarchaler Autokratie führen können, deren tiefster Kern jedoch ein Streben ist nach einem individuellen und gesellschaftlichen Zustand der bedingungslosen Liebe? Ist ein christologisches Bewusstsein vorstellbar, das nicht nach Autoritäten ruft, sondern das zu einer Perspektive der weltumfassenden Liebe durchbricht? Ist der Roman Die Brüder Karamasow nicht durchzogen von solchen Durchbrüchen, die auf der philosophischen Ebene noch immer im Bannkreis der Gespenster des toten christlichen Gottes stehen, ästhetisch jedoch eine Öffnung darstellen, auf eine Zukunft der bedingungslosen Liebe hin, die den dialektischen Logos des abendländischen Denkens vollkommen aufgesprengt hat? Ich glaube diese Liebe im Blick der Swetlana Geier gesehen zu haben, die im Film Die Frau mit den 5 Elefanten kurz vor ihrem Tod noch einmal in ihre Heimatstadt Kyjiw zurückkehrt, die sie auf der Flucht vor dem stalinistischen Geheimdienst als junge Frau verlassen musste. Eine Szene darin hat sich meinem ästhetischen Gedächtnis tief eingeschrieben und kommt mir während des literarischen Schreibens immer wieder hoch und ich glaube inzwischen, Swetlana Geier antizipiert darin ihren eigenen Tod. Überfallartig erinnert sie sich, im Taxi gerade in die Straße zum Kyjiwer Kunstmuseum einbiegend, an den Eindruck den das Bild Septemberschnee des russischen Malers Igor Grabar als Jugendliche auf sie gemacht hat. Auf dem Bild gebe es keine einzige weiße Stelle, das ganze Bild bestehe aus Laub und den Farben der gesamten Palette und diese Spektralfarbenpracht, die sich über ein großes Fehlen ausdrücke, so sagt Geier: „War der Anfang der Moderne“.


1 Vgl. hierzu der Dialog in Dostojewskis Die Brüder Karamasow, zwischen den beiden Halb-Brüdern Iwan und Smerdjakow, nachdem Smerdjakow den Mord am Vater gesteht und Iwan ihn zu seinem Motiv befragt: „‚Nehmen Sie dieses Geld mit, wenn’s beliebt‘, sagte Smerdjakow seufzend. ‚Natürlich nehme ich es mit. Aber warum gibst du es her, wenn du wegen dieses Geldes gemordet hast?‘ Iwan sah ihn höchst erstaunt an. ‚Ich brauch es überhaupt nicht, wenn’s beliebt‘, sagte Smerdjakow mit bebender Stimme und winkte ab. ‚Ich hatte früher mal so einen Gedanken, daß ich mit diesem Geld ein neues Leben anfangen, in Moskau oder noch lieber im Ausland, das war so ein Traum, aber vor allem, weil alles erlaubt ist. Das haben Sie mir beigebracht, denn Sie haben mir damals oft gesagt: Wenn es Gott, den Unendlichen, nicht gibt, dann auch keine Tugend, dann ist sie gar nicht nötig. Das haben Sie voller Ernst gesagt. Und danach habe ich mich gerichtet.‘“ (S. 1006).

2 Ausführlich entwickelt Freud diese These in seinem Buch Totem und Tabu.

3 Vgl. hierzu schreibt Freud in Dostojewski und die Vatertötung „Sein Bruder Andree hat berichtet, daß Fedor schon in jungen Jahren vor dem Einschlafen Zettelchen hinzulegen pflegte, er fürchte in der Nacht in den scheintodähnlichen Schlaf zu verfallen und bitte darum, man möge ihn erst nach fünf Tagen beerdigen lassen. (Dostojewski am Roulette, Einleitung Seite LX). Wir kennen den Sinn und die Absicht solcher Todesanfälle. Sie bedeuten eine Identifizierung mit einem Toten, einer Person, die wirklich gestorben ist, oder die noch lebt und der man den Tod wünscht. Der letztere Fall ist der bedeutsamere. Der Anfall hat dann den Wert einer Bestrafung. Man hat einen anderen tot gewünscht, nun ist man dieser andere und ist selbst tot. Hier setzt die psychoanalytische Lehre die Behauptung ein, daß dieser andere für den Knaben in der Regel der Vater ist, der – hysterisch genannte – Anfall also eine Selbstbestrafung für den Todeswunsch gegen den gehaßten Vater.“ (S. 246).

4 Vgl. hierzu schreibt Freud in Dostojewski und die Vatertötung: „Die psychoanalytische Betrachtung, denn diese ist gemeint, ist versucht in diesem Ereignis (die Ermordung des Vaters) das schwerste Trauma und in Dostojewskis Reaktion darauf den Angelpunkt seiner Neurose zu erkennen.“ (S. 245).

5 Vgl. hierzu schreibt Freud in Dostojewski und die Vatertötung: „Nun ist es gefährlich, wenn die Realität solche verdrängte Wünsche erfüllt. Die Phantasie ist Realität geworden, alle Abwehrmaßnahmen werden nun verstärkt. Nun nehmen Dostojewskis Anfälle epileptischen Charakter an, sie bedeuten gewiß noch immer die strafweise Vateridentifizierung, sind aber fürchterlich geworden wie der schreckliche Tod des Vaters selbst. Welchen, insbesondere sexuellen, Inhalt, sie dazu noch aufgenommen haben, entzieht sich dem Erraten.“ (S. 250).

6 Vgl. hierzu schreibt Freud in Dostojewski und die Vatertötung, die ethischen Grundlagen des Werks von Dostojewski analysierend: „Am ehesten angreifbar ist der Ethiker in Dostojewski. Wenn man ihn als sittlichen Menschen hochstellen will, mit der Begründung, daß nur der die höchste Stufe der Sittlichkeit erreicht, der durch die tiefste Sündhaftigkeit gegangen ist, so setzt man sich über ein Bedenken hinweg. Sittlich ist jener, der schon auf die innerlich verspürte Versuchung reagiert, ohne ihr nachzugeben. Wer abwechselnd sündigt und dann in seiner Reue hohe moralische Forderungen aufstellt, der setzt sich dem Vorwurf aus, daß er sich’s zu bequem gemacht hat. Er hat das Wesentliche an der Sittlichkeit, den Verzicht, nicht geleistet, denn die sittliche Lebensführung ist ein praktisches Menschheitsinteresse. Er erinnert an die Barbaren der Völkerwanderung, die morden und dafür Buße tun, wo die Buße direkt eine Technik wird, um den Mord zu ermöglichen. Iwan der Schreckliche benimmt sich auch nicht anders; ja dieser Ausgleich mit der Sittlichkeit ist ein typisch russischer Zug.“ (S. 239).


Literaturverzeichnis

Derrida, Jacques (2004 [1993]): Marx’ Gespenster. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Dostojewski, Fjodor 1977 [1866]): Schuld und Sühne. München: dtv.

Dostojewski, Fjodor (2007 [1879]): Die Brüder Karamasow. Frankfurt/M.: Fischer Verlag.

Freud, Sigmund (1956 [1940]): Totem und Tabu. Frankfurt/M.: Fischer Verlag.

Freud, Sigmund (2010 [1928]): „Dostojewski und die Vatertötung“. In: Ders.: „Der Dichter und das Phantasieren“ Schriften zu Kunst und Kultur. Hg. von Oliver Jahraus (2010) Stuttgart: Reclam.

Lacan, Jacques (2015[1972]): Encore. Das Seminar. Buch XX. Übers v. Norbert Haar, Vreni Haas u. Hans-Joachmim Metzger. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Siedentop, Larry (2022 [2014]): Die Erfindung des Individuums. Stuttgart: Klett-Cotta.

Sloterdijk, Peter (1983): Kritik der zynischen Vernunft (Erster Band). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Žižek, Slavoj (2016 [2006]): Lacan – eine Einführung. Frankfurt/M.: Fischer Verlag.

Žižek, Slavoj (2016): Der göttliche Todestrieb. Wien/Berlin: Turia + Kant.

 

Filmverzeichnis

Die Frau mit den 5 Elefanten. Deutschland/Schweiz 2008. Regie: Vadim Jendreyko. 97 Minuten.

 

Autor:in: Luke Wilkins ist Autor und Performancekünstler. 2012 machte Wilkins einen Bachelor am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und 2016 einen Master an der Musikhochschule Basel. Er arbeitet an der Schnittstelle von Literatur, Musik und bildender Kunst. Sein Romandebüt Jeff erschien 2018 im Derk Janssen-Verlag. Er unterrichtet an Kunsthochschulen und war unter anderem Stipendiat der Akademie Schloss Solitude sowie Resident im Kulturlabor Nairs. Kürzlich realisierte er mehrere interdisziplinäre Projekte, in denen er Text, Sound und visuelle Medien verbindet.

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