Von Arcade-Automaten und Telefonzellen in Prag
Nico Graack
Y – Z Atop Denk 2025, 5(8), 1.
Abstract: Zwei Eindrücke eines x-beliebigen Nachmittags in Prag geben Anlass zur Reflektion über die heute so präsente Ästhetik des Retro: Ein bemalter Arcade-Automat in einem studentischen Café und bemalte, obsolete Telefonzellen in einer U-Bahnstation. Die Ästhetik des Retro stellt Fragen an unser Verhältnis zur Vergangenheit, über die hier lose mit Benjamin nachgedacht wird, um zu der These zu kommen: Diese beiden modifizierten Relikte der Vergangenheit zeugen von einer Respektlosigkeit für ebendiese Vergangenheit, die nötig ist, um Geschichte wieder lebendig zu machen.*
Keywords: Geschichte, Retro, Ästhetik, Benjamin
Copyright: Nico Graack | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.08.2025
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Ein überstrichener Spielautomat steht in einem kürzlich renovierten Café Prags. Er ist in dicker schwarzer Farbe gestrichen, das Display und die beiden Joysticks links und rechts des ehemaligen Bedienfeldes in schimmernder Silberfarbe. Auf den ersten Blick mag man gar nicht realisieren, dass es sich einst um einen Arcade-Automaten handelte. Er ist durch die dicke Farbschicht unmissverständlich zur Dekoration deklariert worden, seine Funktion ist nicht nur technisch nicht mehr möglich – wie es vielleicht einem achtlos herumstehenden Automaten ergehen mag – sie ist offensiv ausgeschaltet worden.
Diese Offensive ist Teil einer Mode, die man Retro nennen kann und die sich nicht nur in Prag par excellence in solchen kürzlich renovierten Cafés entfaltet. „Kürzlich renoviert“ heißt ja: für seine erneuerte Vermarktung aufbereitet. Und vermarktet wird in einem großstädtischen Café zumeist ein Erlebnis: Teil von etwas „am Puls der Zeit“ zu sein. „Am Puls der Zeit“ ist das, was schon die kommende Zeit ankündigt, die Avantgarde, die von den Zeitgenossen noch nicht erfasste Speerspitze der Zukunft: der Hipster.
Im Café sitzen junge Student:innen, neben der Bar geht es in einen ausgefallenen Ausstellungsraum, es läuft Techno, das Interieur bedient sich collagen-artig bei verschiedensten Stilen und Epochen – ein Netz an Zeichen knüpft sich zur Ahnung des Horizontes der Abenteuer, die hier stattfinden mögen. Ich bin am Puls der Zeit. In dieses Netz fügt sich der Automat, wenngleich die Farbe auf ihm so brachial ist, dass er heraussticht – kein „Black“, sondern ein „Silver Mirror“, der seine Verschlossenheit zur Schau stellt wie ein Gesicht, dem jede Kontur, Auge, Mund und Haare fehlen. Die schimmernde Oberfläche des ehemaligen Displays rundet sich aus dem Tiefschwarz heraus wie der Helm eines Astronauten, in dem die ikonische Spiegelung des Planeten Erde einem einfarbigen, dumpfen Spiegeln der warmen Deckenbeleuchtung in kaltem Silber weicht: Die kleinen Unebenheiten des Silber, die kleinen Krater und Furchen… der Mond spiegelt sich hier, nicht die Erde.
Er ist ein Zeichen, weil er bedeutet. Aber was? Was heißt dieser seiner Funktion beraubte Automat? Er ist das Symbol überdrehter Achtziger, blinkenden Neons, das der Warengesellschaft zur Sigle des Fortschritts in der Genussindustrie wurde. „Die Achtziger“… schon selbst ein Produkt der Vermarktungsmaschine, die uns heute auch im Videospiel vor allem eines präsentiert: Remakes, Remasters, Retro. Dieses Retro selbst ist es, das die jüngere Geschichte in Zehner-Blöcke zusammenzieht, die einen jeweils eigenen Produktkreis vermarkten. Schlaghosen für die Siebziger, Neon-Strumpfhosen für die Neunziger – Arcade-Automaten für die Achtziger.
In der Mode sehen wir, wie der lineare Zeitstrahl des Fortschritts und die zirkuläre Zeit des Mythos zusammenkommen. Was einst die Speerspitze war, die in die Weite des Zeitstrahls hinausragte, wird in der Nostalgie – dem Affekt, der das Retro trägt – zur Dekadenz des Zynismus: „Früher war alles besser“ ist schon das Achselzucken, das bereit ist, alle Gräueltaten der Gegenwart zu ertragen. Der einstige Fortschritt kehrt zurück als dumpfe Teilnahmslosigkeit. Im Fetisch des Retro, so wurde oft bemerkt, schirmen wir uns gegen die Geschichte ab: Die Nostalgie bedauert die verlorene Zeit nur noch als etwas Vergangenes, das mit uns nichts mehr zu tun hat. Sie ist insofern das genaue Gegenstück zum Fortschrittsglauben – das Produkt einer Gesellschaft, die keine Geschichte hat, keine Zensuren und Brüche, nur das leere Kontinuum des Fortschritts.
Das Retro-Sentiment ist das Produkt dieser leeren, linearen Zeit des Fortschritts – der Versuch, dieser leeren Zeit mit dem Kreis des Mythos ein Schnippchen zu schlagen („Alles kommt wieder!“, in Bezug auf Mode ein beliebter Ausspruch). In der Nostalgie regt sich Widerstand gegen den unbarmherzigen Lauf des Fortschritts. Das ist es, was Benjamin zur Nostalgie zieht. Seine Nostalgie aber ist die der geraubten Zukunft. Ihr ist die Vergangenheit nichts Totes, sondern eine noch immer blutende Wunde, eine Niederlage, die Gewalttat an den Gestrigen – in anderen Worten: eine Aufforderung. So war die römische Republik eine Aufforderung für die französischen Revolutionäre, so war '68 den Alter-Globalisierungsprotesten in Seattle eine Aufforderung… die Liste ließe sich beliebig weiterführen.
Aber man muss es doch begreifen: Ist das schlicht die alte nietzscheanische – und als eine solche scheint sie ja auch Benjamin selbst einzuführen – Leier von der Geschichte, die lebendig bleiben muss? Das wäre an Langweiligkeit kaum zu überbieten. Auf jeder fahlen Gedenkveranstaltung wird eine solche Leier gequietscht. Das Zentrum für politische Schönheit reagierte darauf seinerzeit richtig, als die Mauerfall-Gedenkenden aufgefordert wurden, doch bitte lieber zu denken: Die Gedenkkreuze wurden gestohlen und an die EU-Außengrenze gebracht, die sich wohl zurecht mit dem Titel „tödlichste Grenze der Welt“ brüstet. Geschichte soll nicht in Gedenken ertränkt werden. Sie ist irrelevant, wo sie bloß noch totes Ritual ist.
Der Automat im Prager Café aber ist ja lebendig. Er ist nicht Teil einer 80er-Bar, die sich einzig um die Retro-Erfahrung dreht. Und es ist mit ihm gearbeitet worden, er wurde bewusst inszeniert und nicht nach dem Maßstab der Authentizität ausgestellt. Ist er denn noch Teil des Retro, wie wir es gerade definierten – als eine Abschirmung gegen die Geschichte? Oder verkündet er bereits ein anderes Verhältnis zur Geschichte?
Vom Café geht es weiter in die – klar, wir sind in einer Großstadt – U-Bahn. In ebenjenen Achtzigern fertiggestellt, die uns im Café angedeutet wurden, ist die Station am Karlsplatz ein Monument des spät-sozialistischen Optimismus: Strahlende Aluminiumbögen, poppiges Rot und Gelb antworten auf das Neon des Westens, vor der einst sowjetischen Rolltreppe durchschreitet man den hellen Kegel unter einem runden Sonnendach, einer säkularisierten Version des gotischen Sonnenfensters – Hier wird die Religionskritik des jungen Marx ästhetische Wirklichkeit.
Inmitten dieses langsam zerfallenden Netzes an Zeichen sticht etwas hervor: Eine Reihe an Aluminiumbögen, die parallel aus der Wand herausfließen und dabei kleine, runde Kammern halb einschließen, in denen einst Telefone hingen. Nun sind sie vergessene Relikte eines in Verachtung verworfenen Optimismus, der sich eisern bis zu den letzten Sitzungen der Zentralkomittees hielt.
So scheint es zumindest auf den ersten Blick, der die dicken Spinnenweben erspäht. Sie sind in der Tat nicht vergessen worden: Sie sind voller „Tags“, schnell mit Lackstift geschwungener Buchstabenfolgen. Die Außenseiten der Aluminiumbögen sind jeweils mit einem Buchstaben des als Graffiti gesprühten Tags „RSK“ bemalt, unter dem das poppige Rot langsam abblättert. Sie fungieren also nun als Leinwand einer nächtlichen Kunstform, die sich um Adrenalin und Markierung dreht – eine Markierung, die ein Freund einst mit dem Baum-Anpinkeln eines Hundes verglich.
Wir haben also ein zweifaches Schimmern der Geschichte der Achtziger: Durch das Silber des Displays schimmert die Erfahrung einer aufregenden Konsumerfahrung, die sich vom passiven Konsum losriss und das bunte Feuerwerk in den Spielehallen entfachte. In den Aluminiumbögen schimmert der dumpfe Optimismus einer bereits geschlagenen sozialistischen Vision der Menschheit – zugleich ein Hohn auf die Revolutionär:innen des Prager Frühlings, die 15 Jahre vor Fertigstellung der Metro diese Vision zu erneuern versuchten und sich dafür vom Optimismus des Fortschritts losrissen.
Keines der beiden lässt sich in eine Reihe mit den eigentlichen „Achtzigern“ stellen, die uns im Retro der Achtziger-Parties, Arcade-Hallen und satirisch in GTA: Vice City begegnen. Ich bin geneigt, die ästhetische Idee dieses Arcade-Automaten „Post-Retro“ zu nennen: Retro ohne Nostalgie, ohne Orientierung an Authentizität. Die Telefonzellen bezeugen ein ähnliches Phänomen: eine Respektlosigkeit der Geschichte gegenüber, die man nur gutheißen kann. Das ist ein Bezug auf die Geschichte, in der selbige ihre „Aura“ verliert: das Schimmern von etwas, das unwiederbringlich verloren ist und deshalb teilnahmslos beweint wird. Unweit des Arcade-Automaten hängt an der unverputzt gelassenen Wand ein ikonisches Porträt Lenins, dem in einer Photomontage der Mund aufgerissen wurde. Es ist die Fassungslosigkeit ob des Warenspektakels, in das sich die Zeichen der Vergangenheit hier verkehren.
Der Lackstift des heutigen Zynismus – lässt sich diese Respektlosigkeit nicht auch gegen den Fortschritt kehren? Im Zynismus der Nostalgie ist der Fortschritt noch vollends präsent: Es wird stets alles schlechter. Die erste Lektion also: Es gibt kein „besonderes Etwas“, keine Sorglosigkeit, die verloren gegangen ist oder uns geraubt wurde. Diese Lektion setzt der Lackstift ebenso um wie das Schimmern des kalten Mondes im Arcade-Display. Das aber heißt ja gerade, auch die Vergangenheit schon als ein Toben der Kämpfe zu begreifen, in denen wir nach wie vor stehen – Die ganze Geschichte ist eine Geschichte des Klassenkampfes, hallt es uns aus der Fassungslosigkeit Lenins entgegen, der in Richtung des Automaten starrt.
*Zuerst erschienen auf Englisch als „Retro and history. Of arcade machines and telephone booths in Prague“. In: Nico Graack, Markus E. Hodec, Sara Pasetto (Hg.) (2024): Jahrbuch der Prager Gruppe 2. Wien: Buchschmiede.
Literaturverzeichnis
Graack, Nico (2024): „Retro and history. Of arcade machines and telephone booths in Prague“. In: Nico Graack, Markus E. Hodec, Sara Pasetto (Hg.) (2024): Jahrbuch der Prager Gruppe 2. Wien: Buchschmiede.
Autor:in: Nico Graack hat Philosophie und Informatik in Kiel und Prag studiert. Derzeit bereitet er seine Promotion zu Lacans Logik und ihrer Interpretation in der Ljubljana Schule vor. Daneben arbeitet er als freier Autor und Journalist, Beiträge von ihm erschienen u.a. in Jacobin, analyse&kritik, Philosophie Magazin und Deutschlandradio. Er engagiert sich in verschiedenen Teilen der Klimabewegung. Sein erstes Buch (IPPK-Verlag) erschien 2023.
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