Evelina Jecker Lambreva

Y – Z Atop Denk 2022, 2(4), 3.

Abstract: In ihrer Briefnovelle ermöglicht Evelina Jecker Lambreva den Leser:innen im literarischen Vollzug sowie aus einer persönlichen Perspektive einen Zugang zu einigen der zentralen Themen der Psychoanalyse: Tod, Krankheit in der Familie, Traumdeutung und mehr. Im Folgenden handelt es sich um die ersten fünf der insgesamt vierundvierzig Briefe, die monatlich im Y erscheinen.

Keywords: Briefnovelle, Tod, Trauer, Familie, Traumdeutung

Veröffentlicht: 30.04.2022

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1.

Oma, du fehlst mir!

Heute vor einem Jahr bist du in den Himmel gegangen. Gestern Nacht habe ich wieder von dir geträumt. Und wieder den gleichen komischen Traum. Du stehst da am Zaun vor unserem Haus in deinem beigen Regenmantel und willst nicht hineinkommen. Ich renne dir entgegen und will mich in deinen Schoss stürzen. Aber du verpuffst plötzlich. Du fliegst auseinander wie die weissen Fallschirme der Pusteblumen, wenn ich nach dir greife.

Dabei habe ich dir doch so viel zu erzählen. Es ist viel passiert bei uns. Darum will ich dir von jetzt an Briefe schreiben. Du hast ja keine Ahnung von Computern. Deshalb schreibe ich dir von Hand. Ich werde jeden Brief für dich auf mein Pult legen. So kannst du ihn lesen, wenn du mich nachts besuchst. Und wenn du dann in meinen Traum schlüpfst, können wir darüber reden.

Du hast es sicher inzwischen im Himmel mitbekommen, dass Papa an Ostern gestorben ist. Er war wieder stockbetrunken gewesen und ist auf dem Heimweg von der Kneipe im Dunklen in einer Baugrube gestürzt. Die Arbeiter haben ihn am nächsten Morgen aufgefunden. Aber da war nichts mehr zu machen, er hatte sich das Genick gebrochen.

Du hast ihn nie gemocht. Aber ich bin trotzdem traurig, dass er jetzt auch weg ist. Ohne euch beide ist es ganz still daheim. Warum habt ihr bloss nicht weitergelebt und weitergestritten? Euer Streit war ja manchmal auch lustig. Jetzt ist nichts mehr los, worüber Anton und ich lachen können.

Mama schaut nur noch müde vor sich hin und schweigt. Sie hat ja immer viel Kopfweh gehabt. Aber jetzt hat sie es jeden Tag und schimpft mit Anton und mir, dass wir zu laut sind. Das hat sie doch bisher nie gemacht. Sie war immer meine Freundin. Sie hat so tolle Witze erzählt. Sie hat mit mir «Domino» und «Mensch, ärgere dich nicht» gespielt. Sie ist mit Anton und mir am Meer spazieren gegangen. Sie hat mit Anton Tröpfelburgen gebaut. Sie hat uns aus Büchern vorgelesen. Sie hat Kuchen gebacken, Geschichten erzählt.

Bald habe ich Geburtstag. Es wird kein Fest geben. Nix von Feiern. Wir wollten Mamas zweiunddreissigsten und meinen zwölften Geburtstage zusammen feiern. Mit Gästen, gebackenem Gockel, Kartoffelklössen, vielen Kerzen, zwei Torten und so. Und jetzt? Nix. Einfach nix!

Gestern hat mich Mama auf die Seite genommen und gesagt «Im Herbst, wenn Anton eingeschult wird, kann ich Kleider, Schuhe und Schulsachen für euch nicht bezahlen. Wir haben kein Geld. Deshalb wird es bald eine grosse Veränderung geben, mach dich darauf gefasst. Ich werde dich mehr denn je brauchen.» Was es für eine Veränderung sein wird, wollte sie mir nicht sagen. Nur, dass sie mit ihrer Witwenrente nicht drei Hälse durchfüttern könne, das hat sie gesagt. Ich habe so Angst!

Oma, du fehlst mir!

Deine Nadja

 

 

2.

Liebe Oma,

ich glaube, es tut uns beiden gut, dass ich dir schreibe. Aber zum letzten Traum, in dem wir uns begegnet sind, habe ich Fragen an dich.

Ich träumte ja, dass Mama, Anton und ich in einem Zug unterwegs sind, der an einem unbekannten Dorfbahnhof stoppt. Der Bahnhof ist von den Gleisen durch Plexiglas-Schiebetüren abgeriegelt. Ich sehe dich am Bahnhof aus dem Zugfenster. Es sind auch andere Menschen dabei, aber ihr alle seid sehr beschäftigt, denn ihr holt aus grossen Metallgestellen Blumentöpfe mit kleinen Pflanzen und packt sie in Kartonschachteln ein. Anton isst sein Butterbrot. Mama schaut in ihrem Handspiegel, schminkt sich die Lippen und merkt nicht, was passiert. Ich renne aus dem Abteil heraus, hin zu der schweren grünen Zugtür und öffne sie mit aller Kraft. Jemand zieht nun auch die Plexiglastüre auseinander, der Bahnhof ist nicht mehr abgeriegelt. Ich rufe laut «Omaaaa! Omaaa!». Du blickst zum Zug, lässt dabei die Kartonschachtel, die du trägst, aus den Händen fallen, die Blumentöpfe mit den Pflanzen zerschellen am Boden. Du siehst mich und winkst mir zu. Ich sehe, wie du dich freust. Als ich versuche, aus dem Zug zu springen, um zu dir zu kommen, beginnst du mit beiden Händen wild herumzufuchteln und rufst «Verboten! Verboten!» Dann schliessen sich die Plexiglastüren von selbst, der Bahnhof ist wieder abgeriegelt. Da steht Mama überraschend hinter mir und packt mich an den Schultern. Du aber fuchtelst mit den Händen eine ganze Weile weiter und schreist etwas, was ich nicht hören und nicht verstehen kann. Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung, du wirst immer kleiner, aber du hörst nicht auf, deine gehobenen Arme zu schwenken und den Kopf zu schütteln.

Was hast du uns zugerufen Oma? Was wolltest du uns sagen? Dein Gesicht war plötzlich sehr besorgt. Du hast auf einmal so ausgesehen, wie wenn du früher vor etwas gewarnt hast. Vor einer Gefahr oder vor Zeug, das nicht gemacht werden durfte. Deine Augen waren derart aufgerissen, deine Augenbrauen hochgezogen, dein Mund weit geöffnet, dein rechter Zeigefinger in die Luft gehoben, wie immer, wenn du gemahnt hast.

Das letzte Mal, als ich dich so gesehen habe, war, als Mama sagte, sie wolle sich vom Papa scheiden lassen. Wir sassen am Morgen zu dritt in der Küche, Mama, du und ich. Anton schlief noch im Kinderzimmer. Papa war wieder einmal nach einem bösen Streit mit Mama ausgerissen und kam über die Nacht nicht nach Hause. Am Tag vorher hatte er die Stelle als Automechaniker wegen dem Saufen verloren. Als du gehört hast, was Mama im Sinn hatte, bist du auf sie losgegangen. «Mach ja nicht diesen Blödsinn! Das kann nur schief herauskommen! Du musst an deine Kinder denken! Auch der schlimmste Vater ist für die Kinder besser als gar keinen Vater!», so hast du Mama angebrüllt mit den gleichen weit aufgerissenen Augen und dem gleich erhobenen Zeigerfinger, wie jetzt in meinem Traum.

Aber jetzt ist ja Papa tot und ich komme nicht drauf, wovor du uns im Traum mahnen wolltest. Bitte Oma, erkläre es mir, wenn es irgendwie geht.

Ich vermisse dich!

Deine Nadja

 

 

3.

LIEBE OMA, BITTE UNBEDINGT LESEN, WENN DU DIESE NACHT BEI MIR VORBEISCHAUST!

Oma, ich mache mir grosse Sorgen um Mama. Etwas stimmt mit ihr nicht. Ich glaube, sie ist sehr krank. Seit einiger Zeit raucht sie nicht mehr. Sie steht am Morgen auf, trinkt rasch ihren Kaffee (ohne Zigarette!), nimmt den Bus und fährt in die Stadt ins Krankenhaus. Sie müsse sich gründlich untersuchen lassen, das werde mehrere Wochen dauern, erklärte sie mir. Ich habe sie gefragt, was ihr denn fehlt. Sie sagte, nichts fehle ihr, sie wolle einfach nur wissen, wie es um ihren Körper stehe. Irgendwie glaube ich ihr aber nicht. Wenn sie zu Hause ist, ist sie wie nicht da, telefoniert viel herum mit irgendwelchen unbekannten Leuten. Sie ist aufgeregt und kommandiert mich und Anton nur noch herum. Wenn wir etwas vergessen oder nicht richtig machen, wird sie ganz hässig. So war Mama noch nie. Da sie nun fast den ganzen Tag weg ist, muss ich auf Anton aufpassen, muss die Hennen füttern, die Gänse, den Hund und die Katzen. Ich muss dem Gemüse im Garten Wasser geben, die Wäsche aufhängen und für den Abend etwas kochen. Es sind Sommerferien, und alle Kinder aus dem Dorf sind am Strand. Ich aber muss zu Hause bleiben. Das Meer kann ich nur noch von Weitem sehen, wenn Anton und ich am Nachmittag mit dem Hund auf den Hügel klettern.

Gestern Nacht hatte ich schon wieder einen furchtbaren Traum. Mama ist weg. Ich weiss, sie ist im Krankenhaus und ist am Abend nicht nach Hause gekommen. Da steht plötzlich Papa hinter mir und sagt: «Sie stirbt heute Nacht. Sie hat Krebs.» Ich schaue im Schrank nach ihren Kleidern und Taschen. Alles ist tatsächlich weg. Bis auf eine schwarze Handtasche aus Plüsch. Ich greife hinein, sie ist total leer: kein Lippenstift, keine Schminke, kein Parfum, keine Pinzette, kein Portemonnaie. Ich drehe mich um und sehe Mama. Sie sieht aus wie eine Elfe, so klein, dünn und zart, dass der Wind sie davonträgt. Da höre ich Vater sagen: «Ich habe es dir gesagt, diese Nacht wird sie sterben. Das habe ich von den Ärzten gehört».

Oma, bitte, wenn du Papa irgendwo im Himmel antriffst, bitte frage ihn, was ist wahr an diesem Traum? Ich konnte es nicht. Es war so ein Horror, dass ich den Mund nicht aufmachen konnte. Dann war ich auf einmal erwacht und alles war weg. Ich lag ganz gelähmt da und nass vor Schweiss und der Mond leuchtete vor dem Fenster, es war richtig gespenstisch. Anton wälzte sich in seinem Bett herum und redete im Schlaf etwas, das ich nicht verstand. Irgendwann stand ich auf und schlich mich in Mamas Zimmer. Ich wollte schauen, ob sie da war oder ob Papa sie mitgenommen hatte. Sie schlief und atmete laut. Ich schlüpfte zu ihr ins Bett und klammerte mich fest an sie. Da erschrak Mama. Was denn los sei, rief sie aus. Ich habe schlecht geträumt, sagte ich und kuschelte mich in ihren Arm. Es wird alles gut, seufzte sie und zog die Decke über uns beide. Sie roch sanft und beruhigend. Sie war warm und weich. Trotzdem konnte ich nicht einschlafen und blieb wach bis am Morgen. Ich passte auf, ob sie noch immer atmete. Vom Traum habe ich ihr nichts gesagt. So einen Traum kann ich ihr nicht erzählen.

Was meinst du dazu, Oma?

Ich küsse dich!

Deine Nadja

 

4.

Liebe Oma,

ich bin sicher, Mama hat ein Loch im Bauch. Wie die Mutter von Julia, die jetzt tot ist. Erinnerst du dich an meine Freundin Julia? Die grosse Blonde mit den Sommersprossen und der ewig laufenden Nase, die hinter dem Schulhaus wohnt? Sie ist drei Jahre älter als ich, geht nun aufs Gymnasium in der Stadt und hat keine Rotznase mehr. Ich habe gestern Julia getroffen. Sie hat viel geweint und gesagt, die Chemiefabrik hat meine Mama getötet, die Chemikalien haben sie so verätzt, bis sie ein Loch in den Bauch bekam. Ich fragte Julia, woher weisst du denn, dass die Chemikalien sie verätzt haben? Vom Papa, brüllte Julia. Und woher weisst du, dass deine Mutter an einem Loch im Bauch gestorben ist, fragte ich weiter. Die Ärzte haben es vor einem halben Jahr herausgefunden, erwiderte Julia, als ihre Mama immer blasser wurde und alles erbrach. Ich erschrak. Denn, wie du weisst, haben meine Mama und Julias Mama einige Jahre in der Chemiefabrik gearbeitet. Sie sind ja jeden Morgen gemeinsam mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Als du gestorben bist, hat Mama die Stelle aufgegeben, denn es war niemand mehr da, der auf Anton und mich aufpassen könnte. Da blieb Mama daheim. Aber ich denke, sie hat zu spät bei dieser Scheissfabrik aufgehört. Ich weiss noch, wie ihr euch damals alle gefreut habt, als die Engländer die Fabrik gekauft haben. Geld wird nun in unserem Dorf fliessen, so habt ihr alle geredet. Überall konnte man es hören, beim Bäcker, auf dem Markt, beim Metzger, in den beiden Dorfläden. Ich aber habe nie Geld fliessen gesehen. Nirgendwo. Auch Julia nicht. Und meine anderen Freunde auch nicht. Das haben wir nun von diesen Engländern, meint Julia, sie machen unsere Landsleute in ihrer Fabrik kaputt. Oma, Mama ist ganz sicher auch verätzt wie Julias Mutter! Sie erbricht jetzt auch jeden Morgen, mag kaum essen, ist kreideweiss und setzt sich nicht mehr mit Anton und mir an den Tisch. Logisch, sagte Julia, als sie das hörte, so macht man das, wenn man ein Loch im Bauch hat.

Oma, ich will aber nicht, dass jetzt auch noch Mama stirbt. Bitte rette sie, wenn du kannst!

Deine Nadja

 

5.

Liebe Oma,

ich kann es einfach nicht fassen! So geil! Megageil, was da heute passiert ist! Den ganzen Tag habe ich mich gekniffen. Ich wollte ganz sicher sein, dass ich nicht träume. Es ist nicht zu glauben, Oma, echt!

Stell dir vor, heute Morgen stehe ich auf und was sehe ich da – das ganze Zimmer voll mit neuen Sachen! Ich musste eine ganze Weile meine Augen reiben. Was ist bloss in der Nacht mit diesem Zimmer geschehen? Auf einmal liegen auf dem Pult ein Laptop und ein Tablet. Neben ihnen grosse Schachteln mit Farbstiften, Wasserfarben, Ölfarben und Malblöcken. Zwischen den Schachteln lächeln Schokolademännchen und ganze Tafeln Schokolade. Am Stuhl hängen zwei phantastische bunte Schulranzen, ein grösserer und ein kleinerer. Am Boden stehen zwei Paar Markenturnschuhe. Nike! Wahnsinn! Eins für Anton und eins für mich. Neben Antons Bett ein riesiger Karton mit Lego. Zwei nagelneue Regenjacken liegen auf dem Tisch, zwischen ihnen sind Bonbons verstreut. Es riecht alles so wunderschön neu und süss!

Zuerst meinte ich, dass du es gewesen bist, Oma, die uns all die Sachen gebracht hat. Aber dann dachte ich, ach, Quatsch, Oma ist doch so geizig, sie gibt nie so viel Geld aus. Und im Himmel hat sie sicher kein Geld.

Dann weckte ich Anton. Der war aber baff, sag ich dir! Eine gute Fee ist gekommen, ganz sicher eine gute Fee, eine gute Fee, rief er und stürzte sich auf die riesige Legoschachtel.

Da kam Mama ins Zimmer hinein und lachte «Guten Morgen, Kinder»! Auch sie war kaum wieder zu erkennen. Frisch frisiert, fein geschminkt und in einem neuen Kleid. Sie hat sich die langen blonden Locken schneiden lassen und hat jetzt eine vornehme Pagenfrisur. Ich verstand die Welt nicht mehr.

«Kommt jetzt frühstücken», sagte sie.

«Woher ist das alles? Fliesst jetzt endlich Geld im Dorf von den Engländern?», fragte ich sie dann in der Küche.

«Wir sprechen darüber heute Abend, wenn Anton schläft», sagte sie.

Jetzt ist sie wieder meine Freundin, Oma, wenn sie so zu mir spricht! Bin gespannt, was ich gleich von ihr hören werde. Ich muss nun zu ihr gehen. Anton schläft schon.

Deine Nadja

 


Autor:in: Evelina Jecker-Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.