Eine qualitative Studie über Online-Berichte in Sozialen Medien
Lena Barth, Kassandra Niendorf, Lars Dierksen, Barbara Ruettner u. Lutz Goetzmann
Y – Z Atop Denk 2025, 5(10), 1.
Originalarbeit
Abstract: Schon seit Freud besteht eine kritische Beziehung zwischen Religion und Psychoanalyse. In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, inwiefern religiöse Erfahrungen, etwa im Sinne von Privatoffenbarungen, in Hinblick auf das Phänomen der Übergangsobjekte und Gamma-Elemente verstanden werden könnten. Wir gehen davon aus, dass dieselben religiösen Erlebnisse sowohl aus einer theologischen wie psychoanalytischen Sichtweise betrachtet werden können. Für die psychoanalytische Betrachtungsweise wurden 18 Erfahrungsberichte, die auf Internet-Foren in englischer bzw. deutscher Sprache publiziert wurden, einer qualitativen Datenanalyse unterzogen. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass religiöse Objekte (z. B. der Rosenkranz, Ikonen, Hostien, Quellwasser) als Übergangsobjekte verwendet werden können. Sie vermitteln sowohl Gefühle von Schutz wie Stärke. Gamma-Erfahrungen (in Anlehnung an Bions Konzept der alpha- und beta-Elemente) traten in Form exzessiver Körpergefühle sowie von auditiven und akustischen Visionen auf. Beide Erfahrungsformen lassen sich auf der imaginären Achse verorten, die in Lacans Lambda-Schema abgebildet wird. Dennoch spielt auch die symbolische Achse eine Rolle; diese wird jedoch durch die imaginären Spiegelungen eher gestützt als, oder mit Lacans Worten, gestört. Wir beschließen unsere Überlegungen mit Karl Rahners theologischer Sichtweise, dass die Fähigkeit, religiöse Erfahrungen mit Hilfe von Übergangsphänomenen und Gamma-Elementen zu machen, möglicherweise auf Gottes Gnade beruht, die im Kern unserer Persönlichkeit eine tiefe spirituelle Erfahrung anstößt.
Keywords: Religion, Psychoanalyse, qualitative Forschung, Übergangsobjekte, Gamma-Elemente, Gnade
Copyright: Lena Barth, Kassandra Niendorf, Lars Dierksen, Barbara Ruettner u. Lutz Goetzmann | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.10.2025
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Y – Z Atop Denk 2025, 5(10), 1
Iesu, quem velatum nunc aspicio,
Oro fiat illud quod tam sitio;
Ut te revelata cernens facie
Visu sim beatus tuae gloriae.1
Thomas von Aquin
1. Einleitung
Im psychoanalytischen Diskurs wurde die Bedeutung von Religion anfänglich sehr skeptisch betrachtet: Es handelte sich um eine recht delikate Beziehung. Freud stand mit seinen Schriften in der religionskritischen Tradition der Aufklärung (Freud 1922, 1927 und 1937). Er verstand sich als Naturwissenschaftler und betrachtete die naturwissenschaftliche Weltanschauung als die für die Psychoanalyse einzig sinnvolle (Freud 1933). Die Menschen glauben, weil sie als Kind Trost und Hilfe von einer väterlichen Figur erwarteten, die sie später in den Himmel projizieren (Freud 1927). Freud bekannte sich zwar zum Judentum, aber nicht zur jüdischen Religion.
Er war Jude, aber er hatte sich nie dazu geäußert, ob es Gott gäbe oder nicht. Seine Frage war, warum und auf welche Weise Menschen an Gott glauben (zitiert nach Englert 2018). Die Antwort, die Freud fand, war, dass der Glaube uns helfen soll, mit der Not des Lebens und – vor allem des Todes – besser umzugehen. So schreibt er in Die Zukunft einer Illusion:
„Über jedem von uns wacht eine gütige, nur scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zulässt, dass wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte werden: der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum anorganisch Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Existenz“ (Freud 1927, S. 340).
Jacques Lacan (2013, S. 166) setzt etwas andere Akzente, indem er den Glauben in folgender Weise mit Gottes Existenz verknüpft: Wenn das Subjekt nicht an Gott glauben würde, so wäre – ganz im Sinne eines pathologischen Zwangsneurotikers, der sein eigener Gott ist, d. h. von seinem strengen Über-Ich verfolgt wird – „nichts mehr erlaubt“ (Žižek 2019, S. 130 und S. 136; Lacan 2013, S. 166). Da wir uns aber in vieler Hinsicht erlauben, Ver- und Gebote einigermaßen großzügig auszulegen, diese nicht allzu pedantisch zu befolgen, sei es ganz praktisch, dass uns jemand im Außen, sozusagen aus der Position des Himmels, im Reich der Spatzen sieht, und ggf. auch bestraft. Dieser Gott ist eine symbolische Autorität: Er ist der große Andere, der in seiner Alterität Stabilität garantiert und uns ein Genießen im Übertreten des Verbots verschafft. Unsere Studie will hier anschließen, d. h. an der Freud-Lacan'schen Tradition, und die Psychodynamik des Glaubens – v. a. in Hinblick auf Übergangsphänomene und Gamma-Elemente – näher untersuchen. Wir haben Berichte über religiöses Erleben in online-Foren mit qualitativen Methoden untersucht, die in erster Linie auf der Inhaltsanalyse beruhen. Im Fokus unserer Analyse stand das Erleben der Autorinnen und Autoren z. B. im Umgang mit Hostien oder Rosenkränzen oder bei der Betrachtung von Ikonen. Auch Berichte von Visionen wurden untersucht, so z. B. Berichte von Marienerscheinungen, aber auch von Licht und Wind. Sehr vereinzelt werden auch Darstellungen negativer spiritueller Figuren (etwa „Satan“) zu Wort kommen.
Zur späteren Vertiefung möchten wir das Winnicott'sche Konzept der Übergangsphänomene rekapitulieren und das Konzept der Gamma-Elemente kurz vorstellen. Das Winnicott'sche Übergangsobjekt stellt den ersten „Nicht-Ich-Besitz“ des Kleinkindes dar: Etwas gehört mir, das nicht ich bin (Winnicott 1974). Als solches zählt dieses Objekt weder ausschließlich zur inneren Welt des Kindes noch zu dessen äußerer Welt. In gewisser Hinsicht ersetzt das Übergangsobjekt (z. B. ein Teddy) das Partialobjekt der mütterlichen Brust. Es ist eine Art „Ersatzbrust“, die das Kind kontrollieren, lieben und hassen und nach Belieben fortweisen und wieder zu sich zurückholen kann (Winnicott 1974). Solche Übergangsobjekte, die in einem Übergangsraum situiert sind, besitzen dank ihrer Stärke oder Allmacht eine protektive Funktion und bieten dem Kind einen Schutz vor Ängsten und existentiellen Unsicherheiten. Die ersten Übergangsphänomene zeigen sich bei Babys bereits zwischen der 4. und der 12. Lebenswoche (Abram 2007). Vor diesem Hintergrund finden sich heute eine Reihe von Arbeiten, die das Konzept der Übergangsobjekte und Übergangsräume nicht nur für die klinische Praxis und persönliche Entwicklung nutzen, sondern auch zur Untersuchung von sozialen, gesellschaftspolitischen, kulturwissenschaftlichen und religionswissenschaftlichen Fragestellungen (u. a. hierzu Kögler u. Busch 2014; Kuhn 2013; Neubaur 2002). So wurde die Theorie vom Übergangsphänomen herangezogen, um die Funktionen und Merkmale von religiösen Phänomenen wie die Vorstellungen über Gott, aber auch der Gebrauch religiöser Objekte und die Durchführungen sakraler Handlungen aus einer psychoanalytischen Perspektive zu verstehen (Meissner 1992; Rizzuto 1979, 2002, 2006). Rizzuto (1979) spricht im Zusammenhang mit Gottesvorstellungen von einer Art „Übergangsrepräsentation“. Damit ist gemeint, dass nicht nur Gegenstände, sondern auch Repräsentanzen als Übergangsobjekte verwendet werden können. An diese Überlegungen“ schließt ein neueres Konzept an, das sich eher an Bions „Elementenlehre“ orientiert. Es ist allgemein bekannt, dass Bion (1992) von alpha- und beta-Elementen schrieb, welche die Bausteine unseres psychischen Lebens bilden: Alpha-Elemente beruhen auf transformierbaren, d. h. auf erträglichen Erfahrungen, während beta-Elemente unerträgliche Reizanhäufungen sind, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht transformierbar sind, sondern evakuiert werden müssen. Goetzmann (2020) schlug eine weitere Form psychischer Bausteine vor, die er als „Gamma-Elemente“ bezeichnete: Diese Elemente seien zwar transformierbar, aber – auf Grund ihrer Unverträglichkeit - außerhalb des Subjekts verortet. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass Gamma-Elemente mit einem intensiven Wirklichkeitsgefühl einhergehen. Gewisse klinische, aber auch ästhetische Phänomene – wie zum Beispiel sinnlich aufgeladene Alpträume, Visionen oder hypochondrische Vorstellungen, die sich auf ein verstörendes Körpererleben beziehen, sind typische Gamma-Elemente.
Die Herstellung von Übergangs- bzw. Gamma-Phänomen findet in der Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Andern – etwa mit Gott, Jesus, Maria und der christlichen Doktrin – statt. Lacan (u. a. 2015a, S. 156) hat das Feld einer solchen Auseinandersetzung in seinem Lambda-Schema durch vier Positionen strukturiert:
Abbildung 1: Das Lambda-Schema (Lacan 2014, S. 10).
Das Schema umfasst zwei Achsen: die imaginäre Achse zwischen dem Ich (a) und seinem Spiegelbild, dem kleinen anderen (a') sowie die symbolische Achse zwischen dem Subjekt, dem Unbewussten (Es) und dem großen Andern (A). Das Unbewusste äußert sich im Sprechen, beispielsweise in Versprechern oder Fehlleistungen. Wie gesagt, der große Andere sind z. B. verinnerlichte Elternfiguren, somit aber auch das Gesetz, die Kultur, die Ideologie oder die Religion. Zentral ist hier die Art und Weise, wie gesellschaftliche Strukturen die Entwicklung des Individuums beeinflussen. Insbesondere wird das Subjekt des Unbewussten durch die Sprache des großen Andern nicht nur beeinflusst, sondern weitestgehend bestimmt.2 Wir haben nun vor, religiöse Übergangs- und Gamma-Phänomene im Feld der Lacan'schen Subjekt-Theorie (soweit sie im Lambda-Schema abgebildet ist) anhand von online-Berichten wissenschaftlich, d. h. mit den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse zu untersuchen. Unsere Fragestellungen zielen daraufhin, inwieweit in online-Berichten sich überhaupt Hinweise auf Übergangs- und Gamma-Phänomene identifizieren lassen, wie diese Phänomene ausgestaltet und auf den Achsen des Lambda-Schemas, also im imaginären bzw. symbolischen Verhältnis des Subjekts zum Andern (a' / A) situiert sind. Hier werden wir auch die Lacan'sche Frage des Genießens, d. h. des endlichen und unendlichen Genießens im religiösen Erleben, berühren.
2. Methodik
Für die Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen wurden Beiträge anonymer Autorinnen und Autoren im Internet ausgewählt und qualitativ auf Grundlage der Grounded Theory ausgewertet. Bei den Erfahrungsberichten handelt es sich um Beiträge aus Foren, Blogs, Interviews, Homepages und Online-Artikeln, die ab dem Jahr 2000 veröffentlicht wurden. Die Suche nach den Erfahrungsberichten wurde in englischer und deutscher Sprache durchgeführt. Bei der Schlagwortsuche wurden folgende englische Suchbegriffe verwendet: „holy Mary experiences“, „praying to Mary experiences“, „eucharist adoration experiences“, „holy communion experiences“, „holy mass experiences“. Die deutschen Suchbegriffe waren: „Mariengebete Erfahrungen“, „Marienverehrung Erfahrungen“, „eucharistische Anbetung Erfahrungen“, „heiliges Abendmahl Erfahrungen“, „Heilige Messe Erfahrungen“. Die Auswahl dieser Schlagworte erfolgte, um sowohl klassische liturgische Begriffe als auch volkstümliche Ausdrucksweisen einzuschließen und so ein möglichst breites Spektrum von Erfahrungsberichten zu erfassen. Es handelt sich insgesamt um 18 englisch- oder deutschsprachige Beiträge variablen Umfangs. Die Beiträge lassen sich in drei thematische Bereiche unterteilen: Berichte aus dem Kontext der Marienverehrungen, der Heiligen Messe und des Heiligen Abendmahls. Die englischsprachigen Aussagen wurden ins Deutsche übersetzt. Die qualitative Analyse des Datenmaterials erfolgte mit Hilfe der Software atlas.ti. Die Analyse selbst erfolgte durch ein Codieren von Textstellen der jeweiligen Erfahrungsberichte. Die Codes sind sowohl deduktiver wie induktiver Natur: Erstere waren theoriegeleitet vorgegeben (Übergangsobjekt, Gamma-Element sowie die vier Subjektpositionen des Lambda-Schemas) letztere wurden am Textmaterial entwickelt (Allmacht / Stärke, protektive Funktion, Vision, überwältigendes Körpergefühl, transzendente Mutter, transzendenter Vater). Diese wurde gewählt, weil sie induktive Kategorienbildung erlaubt und theoretische Konzepte aus den Daten selbst entstehen können. Im Anschluss an diesen Kodierungsprozess wurden eine Co-Occurrence-Analyse durchgeführt, um das gemeinsame Auftreten unterschiedlich codierter Textstellen zu untersuchen. Um die Interrater-Reliabilität der Codes zu bestimmen, wurde der Interrater-Reliabilitätskoeffizient Krippendorff’s Alpha berechnet. Tabelle 1 zeigt das Codebuch mit Codes, Definitionen, Ankerbespielen und der Interrater-Reliabilität.
Tabelle 1
Codebuch mit Codes, Definitionen, Ankerbespielen und der Interrater-Reliabilität









Insgesamt wurden 36 Textstellen mit der Kategorie „Übergangsobjekte“ codiert. Übergangsobjekte sind z. B. der Rosenkranz, das Gebetsbuch, die Bibel, die Hostie, Quellwasser, bestimmte Schriftzüge und das Marienbild. Tabelle 2 zeigt die Eigenschaften der Übergangsobjekte (n = 30) sowie der Gamma-Elemente (n = 44); die größere Anzahl der Eigenschaften im Vergleich zur Anzahl der Übergangsobjekte bzw. Gamma-Elemente erklärt sich durch Doppelcodierungen.
Tabelle 2
Eigenschaften der Übergangsobjekte und Gamma-Elemente

Insgesamt wurden 59 Textstellen mit Eigenschaften der Übergangsobjekte kodiert. Anhand dieser Eigenschaften lassen sich Gegenstände, die als Übergangsobjekte dienen, folgendermaßen beschreiben:
Allmacht / Stärke: Über alle Berichte hinweg wurden insgesamt 14 Hinweise auf Allmacht / Stärke als Eigenschaft der erwähnten Gegenstände gefunden. In dem Prozess des Betens fungieren Rosenkranz wie Gebetsbuch als typische Übergangsobjekte. Auch die Bibel wird mehrfach im Sinne eines Übergangsobjektes erwähnt. Die Allmacht dieser Objekte liegt darin, dass sie das Erleben des Gläubigen, was die eigene Person, aber auch die Umwelt und die Beziehung zu Jesus, Maria oder Gott – wohl in der psychologischen Nachfolge von Primärobjekten – positiv und mit einer gewissen Radikalität beeinflussen kann. So findet eine (kathartische) Veränderung des Selbstempfindens, aber auch eine Intensivierung der Beziehung zwischen Menschen und Gott in dem Übergangsraum statt. In einem Bericht zur Abendmahlerfahrung bzw. den Ritualmedien (etwa das Brot) wird beschrieben, dass die Hostie den lebendigen Leib Gottes symbolisiere bzw. dass die Hostie Gott selbst sei: „Wir verzehrten Ihn, der uns gleichfalls verzehrt hat.“. Hier wird wohl die Allmacht oder Stärke durch die Inkorporation der Hostie erworben, indem das Subjekt mittels der Inkorporation etwas Göttliches wird.
In einem weiteren Bericht wurde die griechische Schrift erwähnt, die auf einer Ikone über zwei Engeln geschrieben steht (sodass Ikone wie Schrift als Übergangsobjekte aufgefasst werden könnten). Der Gläubige schildert folgende Begebenheit:
„Während ich still dasaß, fragte ich Maria, wer die beiden Engel auf dem Bild seien. Ich hörte die Stimme einer Frau in meinem Kopf, die liebevoll und deutlich sagte: ‚St. Michael und St. Gabriel.‘ Sechs Monate später kam ich in die Kirche und sah ein Dokument, in dem das Gemälde erklärt wurde. Wenn Sie genau hinsehen, finden Sie über jedem Engel einen griechischen Schriftzug, der übersetzt ‚Michael‘ und ‚Gabriel‘ bedeutet. Ich lese kein Griechisch! Das war ein bestätigendes Wunder, dass ich am richtigen Ort war.“.
Abbildung 2 zeigt die Ikone mit Hinweiszeichen auf die Initialen Michaels bzw. Gabriels. Die Bezugnahme auf die hebräischen Namensübersetzungen dient nicht der sprachlichen Detaildiskussion, sondern zeigt, wie Gläubige symbolische Bedeutungen in ihre religiöse Erfahrung einbinden:

Abbildung 2: Die in dem Forumsbeitrag erwähnte Ikone (im Internet-Forum publiziertes persönliches Foto).
Auf Hebräisch bedeutet „Michael“: Wer ist wie Gott? In gewisser Hinsicht kann sich das Subjekt den Namen des Engels zu eigen machen, indem es den Schriftzug liest, d. h. sich „skopisch“ aneignet, diesen sozusagen – in Analogie zum Genuss der Hostie – mit den Augen verschlingt. „Gabriel“ hingegen heißt auf Hebräisch: Meine Kraft ist Gott (bzw. mein Held ist Gott). Der Schriftzug, der über Gabriel eingeschrieben ist, beantwortet tatsächlich Michaels Frage: Wer ist wie Gott? In Kombination mit der Stimme Mariens (in Form einer auditiven Vision) qualifiziert sich die Ikone als (all)mächtiges Übergangsobjekt. In einer ähnlichen Weise können religiösen Hymnen bzw. ihr Singen, der Gesang der Lieder als Übergangsobjekte verstanden werden.
Protektive Funktionen: Für protektive Funktionen, d. h. für die Eigenschaft, Schutz zu gewähren, liegen insgesamt zehn Hinweise vor. Anbei möchten wir bei diesem Code die, im Vergleich zu den anderen Codes, geringere Interrater-Reliabilität aufmerksam machen. Im Grunde ist es ein Schutz vor dem, was Angst macht. So berichtet eine Person über das Rosenkranz-Gebet, das den Schlaf wie die Gesundheit schütze:
„Außerdem empfinde ich das Beten und Meditieren während des Rituals des Rosenkranzes als die friedlichste Zeit meines Tages. Normalerweise bete ich es vor dem Schlafengehen und schlafe viel besser, nachdem ich den Rosenkranz gebetet habe. Wenn ich Schlafstörungen habe, stehe ich auf und bete den Rosenkranz. Viele, viele Male bin ich gleich wieder eingeschlafen, nachdem ich mit dem Beten fertig war. Ich halte den Rosenkranz wirklich für wichtig für meine körperliche Gesundheit (zusätzlich zu all den spirituellen Vorteilen).“.
Einige Personen berichten über die schützende Wirkung der Übergangsobjekte in schweren Lebenssituationen, bei der Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen oder bei zwischenmenschlichen Problemen.
Transzendente Mutter: Manchmal zentriert sich das Übergangsobjekt direkt auf eine mütterliche Figur hin, die eine spirituelle bzw. transzendenten Charakter hat. Meistens handelt es sich um Maria, die Jungfrau oder Mutter Gottes. Deren Abbild kann z. B. selbst als Übergangsobjekt dienen. Eine Person notiert: „Seit ich ein Kind war, zog mich der Anblick einer Marienstatue oder ihres Bildes auf einem Gemälde zu ihr hin.“ Eine weitere Äußerung lautet:
„Aber eines Nachts, als ich mich irgendwie deprimiert fühlte, fühlte ich mich aus unerklärlichen Gründen dazu gedrängt, den Rosenkranz zu beten. Und irgendwie passte alles zusammen. Mir wurde klar, dass alles wahr ist, dass die Heilige Jungfrau Maria die Mutter von uns allen ist und dass sie bei ihrem Sohn für uns eintritt.“.
Hier wird deutlich, dass das Übergangsobjekt in Verbindung mit der Phantasie über eine (transzendente) Mutterfigur steht. Das Übergangsobjekt (z. B. eine Ikone) kann aber auch direkt mit der Mutterfigur verknüpft sein, deren Stimme sich in Form eines Gamma-Element meldet. Wie oben bereits dargestellt, hat ein Gläubiger die Stimme Mariens im Kopf gehört: „Ich hörte die Stimme einer Frau in meinem Kopf, die liebevoll und deutlich sagte: ‚St. Michael und St. Gabriel.‘ Man könnte sagen: Das Bild auf der Ikone wird als Übergangsobjekt verwendet, es löst aber im Erleben des Gläubigen Gamma-Elemente aus.
Transzendenter Vater: Analog zu den Aussagen, die mit der Kategorie „transzendente Mutter“ codiert wurden, spielt der transzendente Vater, also der Dritte, eine durchaus wichtige Rolle im Umfeld der Übergangsobjekte. In einem Zitat, das bereits oben angeführt wurde, wird das Übergangsobjekt (in diesem Fall die „Hostie“) mit dem Priester, der Gott repräsentiert, in Verbindung gebracht. Hier ist die Vaterfigur nicht das Übergangsobjekt, sondern tritt als Dritter hinzu. Die Dyade zwischen Gläubigem und Übergangsobjekt ist auf ihn, also auf Gott bzw. auf den Priester ausgerichtet: „Während uns dieses schöne Öl in die Augen lief, gingen wir auf den Priester zu, der Gott repräsentiert, und empfingen den Schöpfer des Universums auf unserer Zunge.“
Auch ein weiterer Gläubiger verbindet den Rosenkranz mit der Nähe zu Gott (der transzendenten Vaterfigur). Hier ergibt sich eine wichtige, öfters erwähnte Struktur: Das Beten des Rosenkranzes ermöglicht eine Nähe zu Gott, und diese Nähe bedeutet, dass der Gläubige von der Sünde befreit wird. Es ist, als ob die Dyade eine Hinwendung zum Dritten ermöglicht (wohl auch im Sinne einer Unterwerfung unter dessen Gebote): „Wenn ich den Rosenkranz bete, sind meine Sünden viel geringer und ich bin näher bei Gott. Wenn ich aufhöre, den Rosenkranz zu beten, falle ich wieder in die Sünde zurück.“
3.2. Gamma-Elemente
Insgesamt wurden 79 Textstellen mit der Kategorie „Gamma-Element“ codiert. Gamma-Elemente, so unsere Ergebnisse, können als Visionen aufgefasst werden, die unterschiedliche – nämlich sensorische, auditive und optische Sinnesmodalitäten – umfassen; d. h. die Art der geschilderten Visionen ist durchaus heterogen und, indem sie multimodale Szenerien bilden, komplex. Wir unterscheiden im Folgenden zwischen Visionen, welche die Sensorik des Körpers betreffen (z. B. ein Beben oder Zittern am ganzen Körper), von auditiven und optischen Visionen (z. B. Stimmen, optische Erscheinungen). Tabelle 2 zeigt die Eigenschaften der Gamma-Elemente. Anhand dieser Eigenschaften lassen sich Erfahrungen, die als Gamma-Element codiert wurden, folgendermaßen beschreiben:
Sensorische Visionen (überwältigende Körpergefühle): Es liegen insgesamt zwölf Aussagen vor, in welchen Körpergefühle den Eindruck von Gamma-Erfahrungen vermitteln. Diese Personen berichten von Wärme- bzw. Hitzeempfindungen, unerklärlicher Müdigkeit, Schwere oder ein Beben bzw. Zittern, das den ganzen Körper ergreift. So berichtet eine Person von intensiven Körper-Erfahrungen, die sie während der Messe erlebt:
„Ich glaube überhaupt nicht, dass alles in meinem Kopf ist, denn wie ich schon sagte, ich kann abgelenkt sein, in diesem Moment nicht anwesend sein, und dann passiert es und ich bin mir bewusst, was passiert. Aber ich bin bereit zu verstehen, wenn das niemand sonst erlebt oder versteht. Es ist nicht wirklich eine Hitzewallung. Das kenne ich schon. Das ist nicht unangenehm, nur sehr, sehr warm.“.
Hier ein weiteres Beispiel:
„In diesem Moment brach etwas in mir zusammen. Für einen kurzen Moment schien es, als hätte sich der Boden oder vielleicht mein Herz verändert, und ich hatte das Gefühl, irgendwie den Halt verloren zu haben – und dann überwältigten mich der Gesang und der Weihrauch, und zwar für die nächsten anderthalb Stunden. Ich hüpfte in mir selbst herum und war gleichzeitig gebannt von allem, was um mich herum vorging. Diese kleine Veränderung, die ich zuvor gespürt hatte, wurde ein Erdbeben. Mein Herz brach auf.“.
Zwar ist hier das körperliche Gefühl dominant; es wird aber auch ein über das Gefühl hinausgehendes Erleben thematisiert. Im Übrigen wird am häufigsten eine körperliche Hitze oder Wärme beschrieben, gefolgt vom Gefühl der Schwere.
Auditive, optische und coenästhetische Visionen: Es fanden sich insgesamt 32 Textstellen, die mit der Kategorie „Visionen (auditiv, optisch)“ codiert wurden. Die Visionen sind auditiver oder optischer Natur und können in unterschiedlicher Komplexität wahrgenommen werden. So finden sich auch komplexe Szenerien mit auditiven, optischen und sensorischen Wahrnehmungen. Eine Frau aus Afrika berichtet über eine Marien-Erscheinung:
„Als sie zum ersten Mal erschien [...] rezitierte ich den Rosenkranz und sie rief mich bei meinem Namen. Ich hörte sie sagen: ‚Nathalie, mein Kind.‘ Sie sah wirklich sehr schön aus, zwischen 20 und 30 Jahre alt. Sie sprach mit sehr ruhiger und sanfter Stimme auf Kinyarwanda. Sie trug einen blauen Schleier und ein weißes Kleid. Sie hat mir nie gesagt, warum sie sich für mich entschieden hat. Sie sagte, sie erscheint jedem, den sie will, wann immer sie will, wo immer sie will.“.
Es handelt sich um eine detaillierte Schilderung, in welcher die Gestalt Mariens und ihre Stimme gehört wird. Insgesamt finden sich allerdings wenig Berichte über Visionen, die sich durch eine solche Komplexität auszeichnen. Auditive Visionen bestehen häufig in kurze Aussagen wie „Vertraue mir“ („Trust in me“) oder „Habe keine Angst“ („Don’t be afraid“). Optisch Visionen umfassen auch die Wahrnehmung eines Lichtes, etwa beim Beten.
Auch finden sich an Coenästhesien gemahnende Eindrücke, wie etwa das Gespür, daß jemand anwesend sei: die Präsenz Jesu beim Abendmahl, oder dass sich eine Hand auf die Schulter legt. So berichtet eine Person von folgendem Erleben: „Das Gefühl von Jesus fühlt sich für mich wie frischer Wind, strahlend weißes Sonnenlicht, tausend singende Stimmen und klares Wasser an, das aus mir herausschießt, als wäre ich eine explosive Fontäne mitten in einem Stadtpark, mit Regenbögen in der Gischt. Alles zur selben Zeit.“.
Gelegentlich haben Visionen einen prophetischen Charakter. So wird in einem online-Beitrag indirekt von drei Mädchen berichtet, die im südruandischen Kibeho Maria gesehen hatten. Diese hätte ihnen den Genozid vorhergesagt. Sie hätten stundenlang mit ihr gesprochen, und es sei gewesen, als hätten sie mit ihr telefoniert. – Vereinzelt werden aber auch negative Erfahrungen berichtet, etwa im Sinne auditiver und coenaesthetischer Visionen, die Satan zugeschrieben werden:
„Ich habe während der Messe und bei religiösen Aufführungen verschiedene mystische Erfahrungen gemacht. Einige davon stammen vom Teufel: satanisches Flüstern, das in einer Kapelle dröhnt (ein bisschen wie auf Parsel in Harry Potter: Das Flüstern war nicht auf Englisch), das Gefühl, dass etwas meinen Kopf packt und ihn während der Gründonnerstagsmesse nach unten drückt, und böse Stimmen. Ich wirbelte um meinen Kopf und sagte mir, dass ich in die Hölle komme.“.
Transzendente Mutter: Eine transzendente Mutterfigur wird im Zusammenhang mit überwältigen Körpergefühlen und Visionen erwähnt. So kann Maria direkt die Visionäre ansprechen. Ein Gläubiger berichtet über den Besuch in einem Buchgeschäft. Hier bilden der visionäre Wind und die Körpergefühle Gamma-Elemente, die durch den Anblick einer Marienstatue ausgelöst werden:
„Eines Tages waren wir in der Stadt und sie sagte, sie müsse in einen Buchladen gehen, ich kam mit und schon bald gingen wir an einer Kathedrale vorbei und darunter befand sich der Buchladen. Wir gingen hinein, sie ging in Richtung des Bereichs, der sie interessierte. Ich schlenderte umher und landete in der Nähe der Statuen. Ich erinnere mich, wie ich eine Statue Unserer Lieben Frau betrachtete und plötzlich spürte, wie sich der Raum drehte, aber ich stand immer noch und es gab einen Wirbel Der Wind um mich herum dauerte mindestens 10 Sekunden, ich sah mich erschrocken um, alle anderen waren ungestört. Ich rannte raus und wartete draußen auf sie.“.
Transzendenter Vater: Auch transzendente Vaterfiguren können sich direkt an die Visionäre wenden. So heißt es: „In dieser Zeit sprach auch Jesus zu ihr, allerdings nur, wenn die Gebetgruppe versammelt war, und nur, um das Gebet einzuleiten.“. Ein Dritter, in diesem Fall ein Engel fordert ein Mädchen auf, zu beten – bis sie Mariens Stimme „im Herzen“ hört: „Nachdem sie ein Engel zehn Tage lang zum Gebet ermahnt hatte, hörte Jelena erstmals in ihrem Herzen die Stimme Mariens.“.
3.3. Übergangsobjekte und Gamma-Elemente im Lambda-Schema
Im Folgenden zeigen wir die Ergebnisse der Co-Occurrence-Analyse bezüglich der vier Positionen in Lacans Lambda-Schema, nämlich dem Großen Andern (A), dem Subjekt des Unbewussten (ES), dem Ich (a) und seinem Spiegelbild, dem Kleinen Andern (a'). Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse der Co-Occurrence-Analyse:
Tabelle 3
Gemeinsames Auftreten von Übergangsobjekt bzw. Gamma-Element mit den vier Positionen des Lambda-Schemas (Co-Occurence-Analyse)

Wie Tabelle 3 zeigt, liegt sowohl bei den Übergangsobjekten wie den Gamma-Elementen das Schwergewicht auf der imaginären Achse zwischen dem Ich (a) und seinem Spiegelbild, dem Kleinen Andern (a'). Der Große Andere (A) und das Subjekt des Unbewussten (ES) kommen seltener vor. Die Prozesse zwischen den Positionen des Subjekts finden, was die Übergangsobjekte und Gamma-Elemente betrifft, hauptsächlich auf der imaginären Achse statt. So findet sich eine Vielzahl von Aussagen, in welchen das imaginäre Ich (a) vorkommt, das in einer Verbindung mit seinem Spiegelbild (a') steht. Hier ein typisches Beispiel für das Verhältnis des imaginären Ichs (der Gläubigen) und dem Übergangsobjekt (Marienstatue), die, indem sie zu sprechen beginnt, eine visionär-auditive Qualität annimmt. In der Position a' bildet die Statue ein Übergangselement, und die Stimme ein Gamma-Element:
„Auf Anraten ihrer Großmutter besprengte Vicka am dritten Tag der Erscheinungen die ‚Gospa‘ mit Weihwasser und sagte: ‚Wenn Du die Muttergottes bist, bleibe bei uns, bist Du es nicht, so geht fort.‘ Die HI. Jungfrau Maria hat ihr lächelnd geantwortet: ‚Ja, ich bin es‘, und sie beteten zusammen das Glaubensbekenntnis.“.
Ähnliche Erfahrungen machte ein Gläubiger, der, wie in einem der obigen Zitate erwähnt, als imaginäres Ich (a) einen starken Wind (als Gamma-Element, a') um sich toben spürt. Ein Beispiel für den Großen Anderen (A) sind die Initialen für die Erzengel, die auf der oben erwähnten Ikone (als Übergangsobjekt) eingeschrieben sind. Wie gesagt, bedeutet „Michael“ auf Hebräisch: Wer ist wie Gott? Und „Gabriel“ heißt: Meine Kraft ist Gott (bzw. mein Held ist Gott). Sowohl das Bild wie die Stimme Mariens sind Spiegelungen (a') des imaginären Ichs (a). Der Große Andere tritt in Form der Engel, v. a. aber als Schrift, die sich auf Gott bezieht, hinzu. Ein weiteres Beispiel: Maria (als Übergangsobjekt) entschärft das Gefühl, sündig zu sein, indem sie eine Nähe zu Gott ermöglicht. Das (implizite) Verbot stammt vom Großen Andern, und die Sünde, d. h. das Gefühl, sündig zu sein, ist ein Effekt im Subjekt des Unbewussten (ES). Diese komplexe Verknüpfung der vier Positionen wird auch in folgendem Bespiel deutlich:
„Damals hatte ich intellektuell einiges von der katholischen Lehre akzeptiert, konnte mich aber mit den marianischen Andachten und Dogmen einfach nicht befassen. Ehrlich gesagt waren sie für mich so stigmatisiert, dass ich sie wirklich nicht gründlich recherchiert hatte. Ich hatte nicht die Absicht, der Kirche beizutreten. Aber eines Nachts, als ich mich irgendwie deprimiert fühlte, fühlte ich mich aus unerklärlichen Gründen dazu gedrängt, den Rosenkranz zu beten. Und irgendwie passte alles zusammen. Mir wurde klar, dass alles wahr ist, dass die Heilige Jungfrau Maria die Mutter von uns allen ist und dass sie bei ihrem Sohn für uns eintritt. Am nächsten Morgen wusste ich, dass ich katholisch sein musste. Ich betrachte mich gerne als sehr logisch und rational. Ich zögere, irgendeinen übernatürlichen Einfluss auf mein eigenes Leben zu sehen. Aber ich glaube, dass die Muttergottes mich wirklich in die Kirche hineingezogen hat. Der Ausbau meiner Beziehung zu Maria hat zweifellos meine Beziehung zu Jesus gestärkt!“.
Dann berichtet der Gläubige von Maria (als Übergangsobjekt, a'), welche die Nähe zu Jesus (Gott) bzw. der katholischen Doktrin (A) ermöglicht: „Abgesehen vom Rosenkranz und dem Angelusgebet (beides versuche ich, Teil meines täglichen Gebetslebens zu sein) bitte ich regelmäßig Maria um ihre Fürsprache dafür, mich immer näher zu ihrem Sohn zu bringen.“.
Die katholische Doktrin steht für den großen Andern (A), und der Drang zu beten, dürfte ein Effekt im Unbewussten des Subjekts (ES) sein. Maria und der Rosenkranz (beide a') sind imaginäre Übergangsobjekte, die dem Ich (a) den Zugang zur symbolischen Achse erleichtern.
4. Diskussion
In den online-Beiträgen, die wir auf den verschiedenen Foren im Internet fanden, wurden nach unserem Gefühl oft sehr berührende religiöse Erfahrungen mitgeteilt, die sich größtenteils auf die Marienverehrung bezogen und Ausdruck eines tiefen Glaubens waren. Unsere Intention war nicht, an der Debatte um die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes teilzunehmen, sondern vielmehr bestimmte Aspekte religiöser Erfahrungen näher zu untersuchen, die mit bestimmten seelischen Prozessen zu tun haben. Im Grunde untersuchten wir die Beziehung der Gläubigen zu ihren (christlichen) Glaubensinhalten, und wie diese Beziehung gestaltet wird. Die theologischen Bezüge sollen dabei als heuristische Anknüpfungspunkte verstanden werden, welche die psychoanalytische Interpretation erweitern, ohne einen Anspruch auf die vollständige theologische Systematik zu erheben. Tatsächlich fanden wir, dass hier Übergangsphänomene, aber auch Gamma-Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen. Vieles dreht sich hier um die Beziehung zu Maria, der Heiligen Jungfrau oder Mutter Gottes. Es handelt sich um Erfahrungen, welche sich in einem frühen dyadischen Beziehungsmodus abspielen, auch wenn der Dritte durchaus eine Rolle spielen kann. Sowohl die Übergangsobjekte wie die Gamma-Elemente sind aber v. a. imaginärer Natur, d. h. auf der imaginären Achse des Lambda-Schemas angesiedelt. Aus dieser Perspektive verweisen unsere Ergebnisse – im Gegensatz zu Freud und Lacan – auf den matriarchalen Charakter des Christentums und auf seine Tendenz zu einem unendlichen, in gewisser Hinsicht weiblichen Genießen. Während Freud Religion primär als Vater-Religion verstand, die in der Verinnerlichung des väterlichen Gesetzes und der Übertragung von Schuldgefühlen auf eine göttliche Autorität wurzelt, und Lacan das Begehren im Rahmen der phallischen Ordnung und des Gesetzes des Vaters verortete, legt unsere Analyse nahe, dass im Christentum – insbesondere in der Marienverehrung – eine alternative, eher mütterlich geprägte Dimension zentral wird. Diese manifestiert sich in der Erfahrung eines unbegrenzten, nicht durch das Gesetz beschränkten Genießens, das in Lacans Terminologie als „weibliches Genießen“ bezeichnet wird. In dieser Perspektive erscheinen Übergangsobjekte wie Marienbilder oder Engelsdarstellungen nicht nur als symbolische Vermittlungen, sondern auch als Träger einer affektiv-nährenden und schützenden Dimension, die auf eine unerschöpfliche Quelle göttlicher Fürsorge verweist.
4.1. Übergangsobjekte
Übergangsobjekte sind z. B. der Rosenkranz, das Gebetsbuch, die Bibel, die Hostie, bestimmte Schriftzüge, das Quellwasser in Lourdes oder die Marienstatue. Sie werden durch die Attribute von Allmacht bzw. Stärke und Schutz strukturiert (nicht umsonst spricht man von der Schutzmantel-Madonna). Gelegentlich stehen sie in einem Verhältnis zu transzendenten Mutter- und Vaterfiguren. Die Allmacht dieser Objekte liegt darin, dass sie das Erleben des Gläubigen, was die eigene Person, aber die Beziehung zu Jesus, Maria oder Gott durchgreifend beeinflussen kann. Das Gefühl der Allmacht wird z. B. durch die Inkorporation der Hostie erworben: Die Person wird selbst etwas Göttliches. V. a. aber spielt die Abwehr von Ängsten eine zentrale Rolle. So berichten einige Personen über die schützende Wirkung mächtiger und vitaler Übergangsobjekte in schweren Lebenssituationen, bei der Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen oder zwischenmenschlichen Problemen. Die Wünsche, Ängste und Traumata, welche die Visionen bei einzelnen Individuen auslösen, sind oft auch kollektive Ängste, wie z. B. die „Visionswellen“ im Vor- und Nachkriegseuropa zeigen (Dondeldinger 2004). Lacan (2010) würdigt die Angst (im Anschluss an Kierkegaard) als ein existentieller Uraffekt, der sich v. a. auf das Verlassensein bzw. auf den Verlust bezieht. Übergangsobjekte, haben, so Winnicott (1974) den Zweck, solche tiefen Verlassenheits-Ängste des Kindes abzuwehren, indem sich das Kind ein allmächtiges und schützendes Objekt vergegenwärtigt. Genau diese Funktion erfüllen die Übergangsobjekte in den untersuchten Erfahrungsberichten. Hier wird z. B. durch den Rosenkranz, die Marienstatue oder die Hostie eine Vergegenwärtigung des Göttlichen ermöglicht, das eine schützende bzw. protektive Funktion hat. Diese Vergegenwärtigung ermöglicht es, dass die Verfasser der Selbstberichte sich geborgen, geschützt und emotional besser fühlen. Solche Erfahrungen können auch kathartisch funktionieren. Winnicott (1974) sagte zwar, dass mit dem Heranwachsen des Kindes das Übergangsobjekt zunehmend an Bedeutung verlieren würde. Dies gilt aber nicht unbedingt für alle Übergangsphänomene. So schlug LaMothe (1998) den Begriff der vitalen Objekte (engl. vital objects) vor. LaMothe benannte die individuelle Bedeutung, die protektiven Funktionen und den Glauben an Allmacht als Eigenschaften der vitalen Objekte an.
Oft steht das Übergangsobjekt in Verbindung mit der Phantasie einer (transzendenten) Mutterfigur, etwa, wenn Maria beim Beten des Rosenkranzes eine Rolle spielt. Das Übergangsobjekt kann aber auch direkt mit der Mutterfigur verknüpft sein. In solchen Fällen handelt es sich um komplexe und emotional berührende Erfahrungsstrukturen, etwa, indem die Ikone als Übergangsobjekt dient, aber das Marienbild der Ikone im Kopf des Gläubigen spricht. Es handelt sich dann um eine Gamma-Erfahrung, die aus dem Übergangsobjekt heraus geboren wird. In unserem Beispiel wird diese nicht in die Umwelt (z. B. die Umwelt der Ikone oder Kapelle) evakuiert, sondern in den Körper bzw. in den Kopf. – Aber auch der transzendente Vater spielt eine wichtige Rolle im Umfeld der Übergangsobjekte. Er wird sogar etwas häufiger genannt als die transzendente Mutter (n = 19 vs. n = 15). In dem obigen Zitat, in welchem die Hostie erwähnt wird, steht diese mit dem Priester, der Gott repräsentiert, in einer engen Verbindung. Der transzendente Vater ist hier nicht das Übergangsobjekt, sondern er kommt als Dritter hinzu. So ist die Dyade zwischen Gläubigen und Übergangsobjekt auf ihn, den Dritten ausgerichtet. In einer vergleichbaren Weise verbindet ein weiterer Verfasser das Beten des Rosenkranzes mit der Nähe zu Gott, dem transzendenten Vater. Diese Nähe ermöglicht die Befreiung von der Sünde bzw. von einem sündigen Verhalten, d. h. die dyadische Übergangsbeziehung bildet eine günstige Voraussetzung dafür, dass eine Triangulierung, die Hinwendung zum Dritten, stattfinden kann, was die Kastrationsängste vermindern dürfte. Hier dämpft das Übergangsobjekt nicht unmittelbar die Ängste (die sich wohl auf existentielle Bedrohungen beziehen), sondern reguliert auch die Situation im Verhältnis zum Dritten: Wenn die Mutter den Weg zum Vater frei gibt, muss das Kind weniger Angst vor dessen Strafe haben.
4.2. Gamma-Elemente
In unserer Datenanalyse traten Gamma-Elemente in Form von Visionen auf, die sich in ganz unterschiedlichen Sinnesmodalitäten ausdrücken. Wir fanden sensorische Visionen, wie z. B. überwältigende Körpergefühle (Wärme- bzw. Hitzeempfindungen, eine unerklärliche Müdigkeit, ein Schweregefühl oder ein Beben oder Zittern am ganzen Körper,) dann v. a. aber auch optische und auditive Visionen. Zu diesen gehören visuelle Erscheinungen und Stimmen. Vereinzelt treten aber auch komplexe Szenarien mit auditiven und optischen Anteilen auf, die von einem körperlichen Erleben begleitet werden. Auditive Visionen bestanden oft in kurzen Aussagen wie „Vertraue mir“ („Trust in me“) oder „Habe keine Angst“ („Don’t be afraid“). Oft erscheint Maria, die Mutter Gottes, und wenn sie spricht, dann im Idiom des Gläubigen. Manchmal wurde über coenästhetische Eindrücke berichtet, wie etwa das Gespür, daß dass sich eine Hand auf die Schulter legt und das Gefühl, dass eine andere Person, etwa Jesus, anwesend sei. Vielleicht sind diese „coenästhetischen Visionen“ mit den Köper-Empfindungen verwandt, erhalten aber eher eine personale Empfindungs-Silhouette, während das personale Element einer sich im Außen befindlichen Person bei den rein sensorischen Körperempfindungen fehlt. Hier wird der Körper selbst als Außen verwendet, in welches Gamma-Elemente evakuiert werden. Das Erlebnis ist wirklichkeitsgesättigt, es wird als real im Körper empfunden (vgl. Goetzmann 2020). Auch wenn diese Erfahrungen teils symbolhafte Züge aufweisen mögen (z. B. Wärme als Geborgenheit), sollten diese Erfahrungen von Körperempfindungen, wie sie bei der symbolischen Konversion3 auftreten, hinsichtlich der Wirklichkeitssättigung abgegrenzt werden. Gamma-Elemente sind weder Halluzinationen noch hysterische Symptome – was nicht heißt, dass es in der symbolischen Ausgestaltung konversionsneurotische Anteile geben könnte. Grundsätzlich gelten Visionen transkulturell als archaische Grundbausteine eines religiösen Erlebens (Balz 2003). Die Multimodalität der Visionen, die wir in den online-Berichten vorgefunden haben, entspricht weitgehend der Beschreibung von Visionstypologien (Balz 2003). Grom (1992, S. 302) unterscheidet zudem „auditive und visionäre Offenbarungserlebnisse [...], die spontan auftreten und bei denen das Überwältigtwerden von einer emotionalen Erregung [...] im Vordergrund steht“, und solche, „die absichtlich herbeigeführt werden und meistens kognitiv komplex sind“. So stellte sich die erste Vision der Bernadette Soubirous spontan ein, als Reaktion auf eine lebensbedrohliche Situation. Alle weiteren Erscheinungen traten später willentlich auf, etwa mit Hilfe des rhythmisch-repetitiven Rosenkranzgebets oder der Konzentration auf Kerzenlicht (Dondeldinger 2004). Dieser Unterschied liess sich auch in einigen Erfahrungsberichten erkennen, wenn z. B. Erscheinungen nach einer ersten visionären Erfahrung nur noch zu bestimmten Zeiten (z. B. Feiertagen) auftraten. Wie bereits bei den Übergangsobjekten ergab sich auch bei den Gamma-Elementen eine vergleichbare Struktur hinsichtlich der transzendenten Mutter- bzw. Vaterfiguren. Sie können – v. a. die Maria, die Mutter Gottes, direkt zum Gläubigen sprechen oder als Triangulierendes die Gamma-Dyade ergänzen.
4.3. Übergangsobjekte / Gamma-Elemente im Lambda-Schema
In einer Co-Occurrence-Analyse untersuchten wir die vier Positionen des Lambda-Schema, nämlich dem Großen Andern A (die Eltern, Gott, die Religion, die Ideologie, das Überich), dem Subjekt des Unbewussten ES (das vom Großen Andern beeinflusst wird), dem Ich a und seinem Spiegelbild a', dem Kleinen Andern in Hinblick auf die Struktur der Übergangsobjekte und Gamma-Elemente. Wie hinsichtlich früher, präödipaler Phänomene zu erwarten, spielen sich sowohl bei den Übergangsobjekten wie bei den Gamma-Elementen die wesentlichen Interaktionen auf der imaginären Achse, also auf der Achse zwischen dem Ich (a) und seinem Spiegelbild, dem Kleinen Andern (a') ab. Der Große Andere (A) und das Subjekt des Unbewussten (ES) kommt wesentlich seltener vor; und zwar ausschließlich bei den Übergangsobjekten. Bei den Gamma-Elemente spielt die symbolische Achse keine Rolle. Es scheint so, dass sich mystische Raum im Grunde über der imaginären Achse entfaltet. Es geht um die imaginäre Dyade mit Themen der Allmacht und der Vollkommenheit, die eher ausnahmsweise Motive des Großen Andern berührt. Allerdings werden manchmal die vier Positionen des Lambda-Schemas in eine Verbindung zueinander gebracht: In einem oben geschilderten Beispiel steht die katholische Doktrin für den großen Andern, und der Wunsch (Drang) zu beten, dürfte ein Effekt im Unbewussten des Subjekts sein. Der Rosenkranz und Maria selbst sind Übergangsobjekte, die den Zugang zur symbolischen Achse zwischen dem Großen Andern und dem Subjekt des Unbewussten erleichtern. Im Gegensatz zu Lacan (u. a. 2014, S. 10 ff.) scheint die imaginäre (narzisstische) Achse die seltenere symbolische Verbindung zwischen A und ES nicht zu stören, sondern zu stützen. Alternativ wäre es auch denkbar, dass im Falle der Übergangsphänomene und Gamma-Elemente die symbolische Achse komplett außer Kraft gesetzt wird, und nur in Ausnahmen das Imaginäre vermittelnd auf die Beziehung vom Großen Andern und dem Subjekt des Unbewussten einwirkt. So spielt das unendliche, durch keine Dritten begrenzte Genießen in den Übergangsräumen und bei körperlichen wie visionären Gamma-Erfahrungen eine wesentliche Rolle. Vielleicht liegt die psychische Funktion dieser Erfahrungen gerade darin, ein unendliches Genießen zu ermöglichen, während sich die religiösen Regelwerke des Großen Andern limitierend und moralisch einschränkend auswirken. Die Ekstase durchbricht die mahnenden Anrufungen einer religiösen Ideologie, welche wohl mehr dem Erhalt irdischer Herrschaft als dem Erwerb himmlischer Freiheit dienen. Solche vielschichtigen Übergangssituationen ermöglichen im Übrigen ein unendliches Genießen, das insofern keiner Begrenzung unterworfen ist – dies im Gegensatz zum phallischen, durch die Kastrationsangst gezähmten Genießen (u. a. Lacan 2015b, S. 7 ff. und S. 85 ff.): Wir essen den Gott, und der Gott ist uns. Wir sehen Gott, und Gott ist in uns. Wir singen Gott, und der Gott singt uns. Dies ist das unendliche Genießen im Sinne Lacans.
Die imaginäre Natur der Übergangs- und Gamma-Phänomene erinnert an die Theorie der antizipatorischen Simulation bzw. der prädiktiven Kodierung (Solms u. Friston 2018; Solms 2021), welche die Fähigkeit des Gehirns bezeichnet, zukünftige Wahrnehmungen und Ereignisse aktiv zu antizipieren, indem es auf Grundlage früherer Erfahrungen innere Modelle bildet und mögliche Szenarien simuliert. Die benannten Forscher gehen davon aus, dass wir über die äußere Welt fast nichts wissen, sondern nur auf Grund weniger Signale Simulationen bilden, d. h. innere Zustände, welche auch mit Hilfe von Erinnerungen und Gedächtnisinhalten konstruiert werden. Diese inneren, simulierten Zustände entstehen also auf Grund weniger Signale von außen und bisheriger, als Gedächtnisinhalte gespeicherte Erfahrungen, die emotional bewertet werden können. Übergangsobjekte sind aus dieser Sicht Simulationen oder Vorannahmen, die auf Grund weniger, z. B. optischer Signale und der Erinnerung an die Allmacht und schützende Potenz der mittlerweile abwesenden Mutter konstruiert werden. Die Hostie oder die Ikone, der Rosenkranz sind Simulationen im Gehirn bzw. im Geist des Gläubigen, die durch die Erinnerung an die Mutter aufgeladen werden. Dieser innere Zustand ersetzt einen anderen inneren Zustand: nämlich die ängstigende Abwesenheit der Mutter, oder er hilft durch die simulierte Präsenz des Übergangsobjekts über diesen früheren Zustand hinweg. Gamma-Phänomene funktionieren ähnlich. Sie sind aber nicht auf äußere Signale eines vorhandenen Gegenstandes angewiesen, sondern werden einzig und allein auf Grund von Erinnerungen konstruiert. Das Besondere ist, dass diese konstruierten Simulationen, z. B. die Stimme oder die Erscheinung Mariens – oder ein Lichtstrahl, ein Wind, ein inneres Beben wirklichkeitsgesättigt sind, d. h. das Individuum genügend Gründe zu haben glaubt, dass die Simulation in der Außenwelt über ein Korrelat verfügt. In allen Fällen dient die Simulation der Angstbewältigung, d. h. dass auf der imaginären Achse innere machtvolle Zustände hergestellt werden, die angesichts der Not des Lebens und des Todes weniger ängstigend sind.
4.4. Theologie der Privatoffenbarungen
Marienerscheinungen haben die Geschichte der Christen geprägt. Wir verdanken Theologen und Mystikern von den ersten Erscheinungsberichten im vierten Jahrhundert bis zur Reformation nicht weniger als 5000 Erzählungen von Marienmanifestationen. Dennoch ist dieses Thema eher im „theologischen Dornröschenschlaf“ verankert. Aus theologischer Sicht wird gegen solche Privatoffenbarungen argumentiert, dass das Auftreten Christi in der Geschichte das Ende der Zeiten markierte und somit keine weiteren Offenbarungen nötig seien. Falls doch, müssten sie sich in die endzeitliche Heilssituation einfügen. Die Existenzberechtigung von Privatoffenbarungen könnte höchstens in ihrem imperativen Charakter liegen, etwa darin, wie man in einer bestimmten Situation handeln sollte. Rahner unterscheidet bei Visionen zwischen äußeren Einflüssen des Gegenstands, den inneren bewussten Seiten und dem Einfluss Gottes. Die Objektivierung der Visionen erfolgt durch das Bewusstsein des Gläubigen. Die göttliche Berührung setzt eine Heiligkeit des Menschen voraus und erfolgt an einem Ort im Menschen, der tiefer liegt als das sinnliche Erkenntnisvermögen. Die theologische Debatte darüber, ob Gott gesehen werden kann, ist alt. Einige betonen die Unzugänglichkeit Gottes, während andere die Möglichkeit einer glückseligen Vision diskutieren. Die Frage nach Gottes Visionen in unseren Studienberichten bleibt offen, da solche Visionen kaum erwähnt werden. Eventuell wurden sie durch unsere Suchstrategie übersehen. Die theologische Bedeutung könnte tiefer liegen, da Gott möglicherweise nicht in Form von Visionen erscheint wie Maria, sondern eher symbolisiert wird. Die biblische Perspektive zu diesem Thema ist vielfältig, von der Verneinung jeder Vision Gottes bis hin zur Ermutigung, Gottes Angesicht zu suchen. In der Ostkirche wird zwischen dem unerkennbaren Wesen Gottes und seinen Energien unterschieden. Diese Energien zeigen die Göttlichkeit, aber die Geschöpfe können sie nur teilweise erkennen. Die körperlichen Visionen könnten möglicherweise das visionäre Erspüren von Gottes Gegenwart darstellen. Lossky betont, dass wir die Energien Gottes wahrnehmen könnten, jedoch vorausgesetzt, dass wir eine gewisse Gottwerdung erreichen. Unsere Untersuchung beansprucht dabei nicht, die Existenz Gottes durch psychoanalytische Forschung zu belegen, sondern vielmehr die Beziehungen gläubiger Personen zu ihren jeweiligen Erlebnissen mit religiös aufgeladenen Objekten und Erscheinungen zu beschreiben und zu deuten. Entsprechend beziehen sich theologische Bezüge wie nach Lossky oder biblische Sichtweisen auf den Deutungsrahmen der jeweils untersuchten Aussagen christlich-gläubiger Personen. Der Bezug auf Rahner soll die theologische Diskussion mit einer psychoanalytischen Perspektive verknüpfen und Visionen nicht nur als Projektionen, sondern als mögliche Orte göttlicher Gnade verständlich machen.
5. Schlussbetrachtung
Durch Gnade würde der Mensch also Gott werden (um dessen Energien wahrzunehmen), während er seine Menschennatur beibehält. Aber die Erleuchtung, die Göttlichkeit und Gnade würden sich nicht auf Gottes Wesen, sondern auf dessen Energie beziehen (Lossky 1983, S. 157). Vielleicht liessen sich auch Maria und die Engel als imaginäre – in diesem Fall – personhafte Emanationen göttlicher Energien verstehen. Wir schlagen vor, dass auf der imaginären Achse des Lambda-Schemas – im analytischen Reich der Übergangsobjekte und Gamma-Elemente – die Energien Gottes wahrnehmbar sind, während wir mit der Essenz Gottes, des Großen Anderen, über die Schrift und das Wort, d. h. auf der symbolischen Achse in Kontakt treten können. Die theologischen Bezüge sollen dabei als heuristische Anknüpfungspunkte verstanden werden, nicht als vollständige theologische Systematik. Die beschriebene Dialektik entfaltet sich in dem Erfahrungsbericht des Gläubigen (im Übrigen aus der Ostkirche), der von den Initialen der Engel spricht (vgl. Abbildung 1). Das unendliche Genießen entfaltet sich auf der imaginären Achse statt, in der Wahrnehmung von Gottes Energie, während das sich phallische Genießen, das im Zeichen der Kastration, d. h. der Gebote und der Unerkennbarkeit, steht, auf der symbolischen Achse, zwischen dem Großen Andern und dem Subjekt des eUnbewussten, stattfindet. Die Aufgabe des Genießen scheint darin zu bestehen, den Weg ins Göttliche zu suchen, um den Ängsten der menschlichen Existenz zu entfliehen. Es heißt, Thomas von Aquin habe den Hymnus, aus welchem wir die letzte Strophe unserer Arbeit vorangestellt habe, auf dem Sterbebett gesprochen. Vielleicht hat er das Gedicht sogar geschrieben, der den Weg des Menschen ins Göttliche beschreibt. Ergänzend sei hervorgehoben, dass Bezüge auf Thomas von Aquin oder die Mystik der Ostkirche in diesem Zusammenhang nicht als ontologische Belege für die Existenz Gottes zu lesen sind, sondern vielmehr als Ausdrucksformen, in denen gläubige Personen ihre religiösen Erfahrungen artikulieren und diesen durch symbolische Bedeutungszuweisungen eine theologische wie auch existenzielle Tiefendimension verleihen. Auf diese Weise eröffnen sie Interpretationsräume, die psychoanalytische und theologische Kategorien produktiv verschränken und so ein differenzierteres Verständnis der religiösen Erfahrungsdimension ermöglichen.
1 Es handelt sich um die letzte Strophe des Hymnus (Adoro te devote), das Thomas von Aquin möglicherweise selbst geschrieben hat: „Jesus, den ich nun verhüllt erblicke, ich bitte dich, mach, dass das geschieht, wonach ich so dürste: Dass ich, wenn ich dich mit unverhülltem Antlitz erblicke, in der Schau deiner Herrlichkeit selig sei!“ (Adam 1987, S. 74 ff. u. S. 216); vgl. die Vertonung in Olivier Messiaens letztem Orgelwerk (1984/1985): Livre des Saint Sacrement, I, Adoro te devote.
2 Auf dieser Sichtweise beruht auch Althussers Theorie der Anrufung von Subjekten durch Ideologien (Althusser 1977, siehe auch Rehmann 2007). Die Anrufung ist die Operation der Ideologie, durch die das Individuum in ein Subjekt transformiert wird. Wie Althusser feststellte, gehört vor allem auch die Kirche zu den ideologischen Apparaten, deren Ideologie Subjekte durch Anrufungen rekrutiert.
3 Die Konversion ein Abwehrmechanismus für unbewusste psychische Konflikte, wobei Betroffene dabei körperliche Symptome entwickeln, die symbolisch für den psychologischen Konflikt stehen (Roudinesco u. Plon 2004, S. 430 ff.).
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Autor:in: M.A., M.Sc. klin. Psych. Lars Dierksen ist als klinischer Psychologe tätig. Er ist in Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten am Hafencity Institut für Psychotherapie in Hamburg. Er hat Japanologie und Psychologie studiert und absolvierte im Rahmen eines JASSO-Stipendiums einen Studienaufenthalt an der Universität Fukui in Japan. Sein Forschungsinteresse gilt der interdisziplinären Betrachtung von Psychologie und religiösen Phänomenen.
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Autor:in: Dr. Lena Barth ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet seit 2015 an der Medical School Hamburg im Bereich Forschung und Lehre. Ihre Forschungstätigkeit konzentriert sich auf das Konzept der Ambiguität sowie die Anpassung psychodynamischer Theoriebildung im Kontext alternativer Familienmodelle. Zuletzt leitete sie den Ausbildungsgang Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie am Hafencity Institut für Psychotherapie. Lena Barth ist zudem in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Supervisorin tätig.
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Autor:in: M.Sc. klin. Psych. Kassandra Niendorf., ist als klinische Psychologin tätig und befindet sich in der Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin.
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Autor:in: Dr. med. Barbara Ruettner ist Professorin für klinische Psychologie und analytische Psychotherapie an der Medical School Hamburg (MSH). Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychoanalytikerin (SGPsa/IPA). Sie hat wissenschaftliche Arbeiten u.a. auf dem Gebiet der Immunologie und psychoanalytischen Psychosomatik veröffentlicht.
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Autor:in: Prof. Dr. med. Lutz Götzmann (Psychoanalytiker, SGPsa / IPV) arbeitet in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin. Nach dem Medizinstudium in Homburg an der Saar absolvierte er seine psychoanalytische Ausbildung am Freud-Institut in Zürich und habilitierte sich anschließend am Universitätsspital Zürich. Von 2011 bis 2020 leitete er als Chefarzt die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Bad Segeberg; seit 2014 ist er zudem außerplanmäßiger Professor an der Universität zu Lübeck. Darüber hinaus zählt er zu den Mitbegründern des Instituts für Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften (IPPK) und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Y – Zeitschrift für Atopisches Denken. Seine zahlreichen Publikationen widmen sich insbesondere der psychoanalytischen Psychosomatik.
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