Eine philosophische Bestandsaufnahme zum Mythos von ursprünglich-vollständiger Einheit

Markus E. Hodec

Y – Z Atop Denk 2025, 5(2), 3.

Originalarbeit

Abstract: Das metaphysisch-philosophische Streben nach der Wiedererlangung von Einheit zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte von Platon bis zu Heidegger. Der tonangebende Mythos findet sich in der Rede des Aristophanes in Platons Symposion. Schon in seinem Gründungsmoment legt der Mythos eine historische Invariante: Das Zurückfinden zur Einheit, der Wunsch nach Einheit und Einheitlichkeit, bedarf einer retrospektiven Konstruktion ebenjener makellosen Einheit. In dieser Rekonstruktion schließlich ist das Begehren nach Einheit abhängig von einem Gründungsmythos, respektive einer Schöpfungsgeschichte. Darin ist es dem Einheitsstreben prinzipiell notwendig von partikularen Einzelphänomenen sich abzuwenden, um das vergangene aber vermeintlich perfekte Ganze zu rekonstruieren. Und darin gründet die These dieses Artikels: Der Platonische Kugelmensch ist ein frühes Muster des philosophischen Begehrens nach Einheit und dieses wiederum ist ein mythologisches Relikt.

Keywords: Platon, Symposion, Kugelmensch, Begehren, Einheit, Ganzes, Vollständigkeit

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Veröffentlicht: 28.02.2025

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1. Schöpfung des philosophischen Mythos' der Einheit

Platon, jener über Jahrtausende sich erstreckende Garant des Logos, ist einer der grundlegenden Schöpfer des wohl hartnäckigsten mythischen Relikts der Philosophiegeschichte: des Begehrens nach Einheit. War bei Parmenides die Einheit noch als unhinterfragter Seinsgrund definiert1 und was nicht Eines war, das war eben nicht, so hat sich bei Platon eine wesentliche Verschiebung ereignet. Es geschah nämlich, dass die Einheit verloren ging und nun begehrt werden musste. Doch um genau zu sein, war Platon nur Schöpfer, im Sinne der Autorenschaft einer seiner Figuren. Ausgesprochen hat den Mythos Aristophanes im Platonischen Dialog Symposion.

Versetzen wir uns in das Werk Platons, so finden wir uns im Gastmahl in der Erzählung einer Versammlung wieder, die sich dem Gespräch über das Wesen und Wirken des Eros widmet. Phaidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Agathon, Sokrates und Alkibiades kommen dabei zu Wort. Dienen die konventionellen Reden des Phaidros, Pausanias, Eryximachos und Agathon der interdisziplinären Annäherung an das Thema und Alkibiades trunkene Rede des dramaturgischen Spannungsbogens im Finale, so präsentieren Aristophanes und Sokrates die im genuinen Sinn philosophischen Ausformulierungen ihres Wissens über den Eros. Genaugenommen betrifft das im Falle Sokrates' die Darstellungen der Lehren der Diotima. Der vorliegende Artikel behandelt exklusiv die von Aristophanes dargelegte Sicht auf den Eros, die Liebe und damit im weiteren Sinne den Menschen. Platons Aristophanes präsentiert darin das Bild des Kugelmenschen, eine nicht mehr vorfindliche, der Einheit entsprechende Form des Menschen. In seiner Gestalt sei dieser rund und vollständig gewesen. Zur Skizzierung dienen einige Stellen aus dem Platon'schen Text. Schon in der Einleitung spricht Aristophanes von einem Mangel an menschlicher Kenntnis über den Eros: „Allerdings, habe also Aristophanes gesagt, habe ich im Sinne, ganz anders zu reden, als ihr beide, du [Eryximachos] und Pausanias, gesprochen habt. Denn mir scheinen die Menschen durchaus der wahren Kraft des Eros nicht innegeworden zu sein“ (Platon, Symposion, 189c). So verspricht Aristophanes zu allererst die menschliche Natur genauer zu erläutern:

„Unsere ehemalige Natur war nämlich nicht dieselbe wie jetzt, sondern ganz eine andere. Denn erstens gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, männliches und weibliches, sondern es gab noch ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden, dessen Name auch noch übrig ist, es selbst aber ist verschwunden. Mannweiblich nämlich war damals das eine, Gestalt und Benennung zusammengesetzt aus jenen beiden, dem männlichen und dem weiblichen, jetzt aber ist es nur noch ein Name, der zum Schimpf gebraucht wird. Ferner war die ganze Gestalt eines jeden Menschen rund, so daß Rücken und Brust im Kreise herumgingen. und vier Hände hatte jeder und Schenkel ebensoviel wie Hände und zwei Angesichter auf einem kreisrunden Halse einander genau ähnlich und einen gemeinschaftlichen Kopf für beide einander gegenüberstehenden Angesichter und vier Ohren, auch zweifache Schamteile und alles übrige, wie es sich hieraus ein jeder weiter ausbilden kann. Er ging aber nicht nur aufrecht wie jetzt, nach welcher Seite er wollte, sondern auch wenn er schnell wohin strebte, so konnte er, wie die Radschlagenden jetzt noch, indem sie die Beine gerade im Kreise herumdrehen, das Rad schlagen, ebenso, auf seine acht Gliedmaßen gestützt, sich sehr schnell im Kreise fortbewegen.“ (Platon, Symposion, 189d-190a).

Mutet die anatomische Ausgestaltung etwas umständlich an, so attestiert Aristophanes dem Kugelmenschen eine geradezu blasphemische Übermenschlichkeit:

„An Kraft und Stärke nun waren sie gewaltig und hatten auch große Gedanken, und was Homeros vom Ephialtes und Otos sagt, das ist von ihnen zu verstehen, daß sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen. | Zeus also und die anderen Götter berieten, was sie ihnen tun wollten, und wußten nicht was. Denn es war weder tunlich, sie zu töten und wie die Giganten sie niederdonnernd das ganze Geschlecht wegzuschaffen – denn so wären ihnen auch die Ehrenbezeugungen und die Opfer der Menschen mit weggeschafft worden – noch konnten sie sie weiter freveln lassen. Mit Mühe endlich hatte sich Zeus etwas ersonnen und sagte: Ich glaube nun ein Mittel zu haben, wie es noch weiter Menschen geben kann und sie doch aufhören müssen mit ihrer Ausgelassenheit, wenn sie nämlich schwächer geworden sind. Denn jetzt, sprach er, will ich sie jeden in zwei Hälften zerschneiden, so werden sie schwächer sein und doch zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind. Und aufrecht sollen sie gehen auf zwei Beinen. Sollte ich aber merken, daß sie noch weiter freveln und nicht Ruhe halten wollen, so will ich sie, sprach er, noch einmal zerschneiden, und sie mögen dann auf einem Beine fortkommen wie Kreisel. Dies gesagt, zerschnitt er die Menschen in zwei Hälften[.]“ (Platon, Symposion, 190b-e).

Beendet wird die Passage, der sich suchenden verlorenen Hälften nun folgendermaßen: „Von langem her also ist die Liebe zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wieder herzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen“ (Platon, Symposion, 191d). Der Kugelmensch sei nun also von Zeus in der Mitte geteilt worden und begehre seitdem die Ergänzung zur verlorenen Einheit. Die Argumentation des Aristophanes' verläuft dabei über den Dreischritt Einheit/Ganzes – Trennung – Begehren der verlorenen Einheit. Es zeigt sich darin die zentrale und den weiteren historischen Verlauf der Philosophie markierende Konstante der Retrospektivität des Begehrens und Strebens nach Einheit bzw. nach dem Ganzen. Es gelte zurückzublicken in Richtung der verlorenen Einheit, um daraus einen Handlungsauftrag oder zumindest ein Begehren zu generieren. Um der Geschichte hinter dem Mythos des Kugelmenschen und seiner Bedeutung für die Philosophie auf die Spur zu kommen, heißt es, sich der historischen Daten zu entledigen, all jener Errungenschaften und Verstandesleistungen der von Zeus geteilten Menschen sich abzuwenden, um das als großes Ganzes Inszenierte zu gewahren. Über Jahrtausende wird diese von Martin Heidegger prägnant formulierte Geschichtsphilosophie ausdekliniert und weitergetrieben: „Geschichte bedeutet […] das Ganze des Seienden“ (Heidegger 2006, S. 379). Partikularitäten, Differenzen und Unvollständiges, so geschichtsforttreibend sie faktisch waren und sind, fristen geschichtsphilosophisch ein Schattendasein. Die Geschichte, das solle das einheitliche Ganze sein. Und dieses Ganze wird nachträglich erzeugt. In jüngeren Quellen weisen Mário Jorge de Carvalho und Bernd Manuwald eindrücklich auf den platonisch-aristophanischen Kugelmenschen als diese ausdrücklich retrospektive Konstruktion hin.

 

2. Konstruktion der Retrospektive

Die Kugelmenschen sind nicht mit dem Schicksal geschlagen, nur ein Teil vom Ganzen zu sein. Der Mensch, wie wir ihn kennen jedoch, ist ein Wesen, dass seine Vollständigkeit im Rückblick auf den Kugelmenschen erahnen kann und selbst aber „auf eine von außen hinzukommende ‚Ergänzung‘ durch ein anderes Wesen angewiesen ist, ohne welches ihm etwas Vermisstes oder gar Unerlässliches fehlt“ (Carvalho 2009, S. 69). Mário Jorge de Carvalho arbeitet diese anthropologische Unvollständigkeit nicht nur präzise heraus, sondern verweist sogleich auf den darin gründeten Umstand, wonach die Einheit des Ganzen nun nicht in des Menschen Macht stehe, „mit der Folge, dass der Betreffende grundsätzlich der Möglichkeit ausgesetzt ist, dass ihm das ‚Ergänzende‘ und Vermisste bzw. Unerlässliche doch verweigert wird oder unerreichbar bleibt“ (Carvalho 2009, S. 69). Dieser Umstand ist bemerkenswert, stellt er die Einheit und das Ganze nicht nur zurück in ein unerreichbar fernes mythologisches Damals, sondern darüber hinaus – und darin liegt wohl der eigentliche Skandal begründet – in eine unerreichbar ferne und darin den Mythos fortsetzende Zukunft:

„Die verschiedenen Merkmale, die von Aristophanes der urmenschlichen Verfassung zugeschrieben werden, stellen gleichsam ‚hypostasierte‘ Ziele menschlichen Strebens und Verlangens dar. […] Die von Aristophanes geschilderte urmenschliche Verfassung stellt etwas dar, worin verschiedene Hauptrichtungen menschlichen Strebens gleichsam ihren Fluchtpunkt haben.“ (Carvalho 2009, S. 74 f.).

Im überaus umfassenden Werk Carvalhos zur Aristophanesrede im Symposion wird jedoch sogleich hinzugefügt, dass es sich bei dem präsentierten Mythos um eine Satire, um einen Witz und eine Polemik des platonischen Aristophanes handeln könnte; ganz so, wie es der historische Aristophanes in seinen Werken oftmals trieb. Derartige „auf Korn nehmende Spottbilder“ seien bei Aristophanes nicht selten und in ihnen seien „komisch ‚geläuterte‘ Bilder dessen enthalten, wonach die Menschen trachten“ (Carvalho 2009, S. 77). Aristophanes spiele mit den Überhöhungen der Realität und „zur Phantastik dieser Entwürfe gehört nicht zuletzt auch, dass sie zugleich den Charakter von Zerrbildern aufweisen und die entworfene Traumwelt ins Lächerliche ziehen“ (Carvalho 2009, S. 78). Es sind und bleiben aber stets Zerrbilder, Spottbilder oder Überhöhungen. Das heißt, es bleiben stets Beschreibungen der Wirklichkeit und ihrer Wirkungen. Die Frage, inwieweit der platonische Aristophanes dem historischen entspreche, sei den Kolleginnen und Kollegen aus der Altgriechischen Philologie überlassen.2 Zentral jedenfalls ist, dass der verändernde Charakter aristophanischer Entstellung – man denke dabei etwa an den Erzählstil Franz Kafkas – das Reale aufnimmt, um es in einem heftig gebogenen Spiegel zurückzusenden, dorthin, wo es herkam. Denn, was bei allen möglichen Interpretationen zur Motivation des Autors Platon unfraglich bleibt, ist, dass uns die Figur Aristophanes einen Mythos präsentiert, indem zurückdatiert wird, was auf Nimmerwiedersehen in die Zukunft verbannt wurde. Bernd Manuwald zielt in einem Buchbeitrag zum platonischen Symposion (Manuwald 2012) eben darauf ab:

„Vielleicht erschien Platon Aristophanes als einziger geeignet, einen so plastischen Mythos, wie er ihn dem Komödiendichter in den Mund legt, vorzutragen. Daraus ergibt sich die weitere Frage, wozu es im Symposion eines solchen Mythos bedurfte, auf den dann noch ein intensiviertes Augenmerk gelenkt wird.“ (Manuwald 2012, S. 91).

Nur aus dem Munde des Scherzboldes konnte der Mythos kommen, durch den Platon den Ernst vollständiger Einheit sprechen lässt. Dazu bedarf er eines ersten, nämlich des perfekten Ursprungs des Menschen als vollständig und kugelförmig, um über die Tragik des Geschehnisses der Aufteilung auf den heutigen Menschen Rückschlüsse ziehen zu können. Diesen also in die Verdammnis der unmöglichen Vervollständigung geschickt zu sehen. In einer kurzen Schlussbemerkung wird letztlich die Zirkelbewegung vollendet, „die sich in der Form der Ringkomposition auf die Einleitung zurückbezieht“ (Manuwald 2012, S. 92). Mit einer Anleihe von Carvalho bringt Manuwald diese sogenannte „aitiologische Rückprojektion“ (Carvalho 2009, S. 71) zur Bestimmung: „Der vom platonischen Aristophanes propagierte Urzustand der Menschen erscheint also letztlich als eine vom Ergebnis (dem ‚heutigen‘ Zustand) her gedachte Konstruktion“ (Manuwald 2012, S. 95). Es ist dies, der Altphilologie ist es kein Geheimnis, ein durchaus gängiges Muster: „First, they look backwards. Through their accumulation of ridiculous, childish, even outrageous pictures of sensual bliss, they evoke our ancient wish for total happiness, a deep nostalgia by which all human beings are united“ (Reckford 1987, S. 327). Dieser Hinweis ist in mehrerlei Hinsicht interessant. Er zeigt erstens, dass die infantil-fantastische Ausgestaltung keinen hemmenden Einfluss darstellen muss, wenn es um die Wirkung eines Mythos geht. Zweitens zeigen sich grundlegende Emotionen wie Glückseligkeit und Nostalgie in einer eindeutigen Bedürfnisrelation. Die Nostalgie will wieder haben, was ihr gegenüber der Glückseligkeit fehlt. Und drittens – vor allem am Beispiel des Kugelmenschen frappant – eint der Mythos die Menschen in ihrem Streben nach Einheit, wobei deren Realisierung belanglos wird. Damit ist die Nostalgie, wie sie im vorliegenden Mythos auftritt, eine (zumindest auch) der Zukunft zugewandte Haltung.3 Damit ist schließlich der vorhin erwähnte Kreis geschlossen und der Mythos dahingehend in seiner anthropologischen Funktion realisiert, als er die Menschen hält, wo sie sind: im nostalgischen Bedürfnis nach dem Unerreichbaren.

Auch der Altphilologe Karl Rainhardt weist auf das Ironische hin. Er betont dabei jedoch den Wandel des Ironischen vom Tragischen hin zum Komischen; einen Wandel, den er eben in der Figur von Platons Aristophanes sieht.4 John Sinclair Morrison wiederum stellt den Autor des Gastmahls mit dem des Phaidons in Bezug. Platons Werke nämlich weisen, so Morrison, eine auffällige Ähnlichkeit auf, wenn es um die Konzeption des Ganzen geht; handle es sich nun um die Form des Menschen oder die Form der Erde.5

Ein weiterer und überaus prominenter Hinweis auf jene Retrospektion und die darin gründende konservative Funktion findet sich in Sigmund Freuds Jenseits des Lustprinzips: „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes“ (Freud 1940, S. 38). Doch wohin treibt es diesen Trieb? Es ist, Freud folgend, in dieser Frage nicht das Verändernde und Dynamische ins Zentrum zu rücken, sondern der „Ausdruck der konservativen Natur des Lebenden“ (Freud 1940, S. 38). Das Begehren sieht sich in der Aristophanesrede formuliert als Mangelerscheinung. Einheit selbst tritt nicht auf als Einheit von Verschiedenem, sondern als umfassender Ursprung. Ein Ursprung, der, einmal verlassen, das ihm Verschiedene mit dem Mangelhaften assoziiert. Das Begehren, welches darin und daraus entsteht, strebt in seinem Begehren nicht nach dem Anderen, sondern nach der Einheit. Vollständigkeit und Einheit erscheinen als etwas Verlorenes und wieder zu Erlangendes, während das Partikulare, das Plurale und Differente mit dem Mal des Fehlerhaften versehen werden. Das Totale des Ganzen, das Ganze des Totalen wird, statt es in seiner prinzipiell ebenso naheliegenden dunklen Bedrohlichkeit, als verlorenes Paradies und wiederzuerlangendes leuchtendes Ende allen Wünschens und Begehrens dargestellt. Aristophanes definiert die Liebe wörtlich als das Verlangen und Trachten nach dem Ganzen (Platon, Symposion, 192e).

 

3. Hybris des Begehrens nach dem Ganzen

„Hiervon ist nun dies die Ursache, daß unsere ursprüngliche Beschaffenheit diese war und wir ganz waren, und dies Verlangen eben und Trachten nach dem Ganzen heißt Liebe.“ (Platon, Symposion, 192e). Die Hybris, das Ganze, die vollständige Einheit, erreichen zu können, ja, überhaupt dessen zu begehren, ist eine Hybris des Göttlichen. Es geht darum, zum Ursprung zurückzugelangen; das gleißende Licht von Entstehung und Werden in den ruhigen Schatten des reinen vorhistorischen Seins zurückzuwenden. Dies soll die letzte Tat des Ursprungs und darin eine scholastische Ziellinie eines nicht genau definierten Rennens sein. Das Besondere an diesem Fall ist, dass es gänzlich irrelevant ist, ob dieser Gedanke gottesfürchtig geglaubt oder scheinbar aufgeklärt gedacht wird. Die im Begehren nach dem Ganzen gründende Selbstüberschätzung ist sowohl aus atheistischer wie auch aus Sicht des Gottglaubens als mythologisches Relikt aufweisbar. Dass es aber mythologisches Relikt ist, ist das eigentliche Problem für die Philosophie.

Das Ganze, in der gängigen Bedeutung des Wörterbuchs der philosophischen Begriffe, bezeichnet nicht nur die Summe der Teile, sondern eine übergeordnete Einheit (vgl. Ganze 2013). Die Unterscheidung von einheitlicher Ganzheit und zusammengesetzter Gesamtheit findet sich schon in den Platonischen Dialogen Timaios, Parmenides und Theaitetos. Im Timaios etwa ist zu lesen:

„Haben wir also mit Recht von einem Himmel gesprochen, oder war es richtiger, von vielen und unendlichen zu reden? Von einem, soll er nach seinem Vorbilde auferbaut sein; denn was da alle durch die Vernunft erkennbaren Lebewesen umfaßt, dürfte wohl nimmer als zweites neben einem andern sein.“ (Platon, Timaios, 31a).

Im Parmenides schreibt Platon: „Nicht also von dem Vielen oder Gesamten ist der Teil Teil, sondern nur von der einen Idee und von dem Einen, das, aus allem Gesamten ein Vollständiges geworden, das Ganze genannt wird“ (Platon, Parmenides, 157d-e). In dieser Stelle aus dem Parmenides tritt die vielzitierte Differenzierung von Ganzem (holon) und Gesamtem oder Vollständigem (pan) zutage. Ähnliches findet sich im Theaitetos, wenn von der Kenntnis eines Wagens als Ganzem gesprochen wird, selbst ohne die Gesamtheit der Teile zu kennen:

„Wie Hesiodos vom Wagen sagt, die ‚hundert Hölzer des Wagens‘, die ich freilich nicht zu nennen wüßte, und ich glaube auch du nicht, sondern wir würden uns begnügen, wenn wir gefragt würden, was ein Wagen ist, daß wir zu antworten wüßten, Räder, Achsen, Obergestelle, Sitz, Joch.“ (Platon, Theaitetos, 207a).

Die Ganzheit des Wagens kennen Sokrates und Theaitetos, ohne jedoch die Gesamtheit seiner Teile zu kennen. Das dahinterliegende platonische Begehren nach der Idee, der Wunsch holon in demiurgischer Weise zu ergreifen, ist der Wunsch Anfang und Ende der Welt ein für alle Mal zu verbinden. Dieses metaphysisch-philosophisch konstruierte Bedürfnis nach der Wiedererlangung der verlorenen ursprünglich-vollständigen Einheit zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte von Platon bis zu Heidegger. Im Bereich des ausdrücklich mythischen Denkens lässt es sich gar bis zum Bahman Yašt (Kapitel III, Vers 61-62) aus dem Avesta, der heiligen Schrift des Zoroastrismus, zurückverfolgen; dort wird von der Auferstehung und dem künftigen Körper gesprochen (vgl. Widengren 1961, S. 208).6 Innerhalb der belast- und belegbaren philosophischen Quellen liegt der grundlegende Mythos zum Wiedererlangen des vollständigen Körpers in der Rede Aristophanes' im Symposion. Schon in seinem Gründungsmoment legt der Mythos eine historische Invariante: Das Zurückfinden zur Einheit, der Wunsch nach Einheit und Einheitlichkeit, bedarf einer retrospektiven Konstruktion ebenjener makellosen Einheit. In dieser Konstruktion schließlich ist das (philosophische) Begehren nach Einheit abhängig von einem Gründungsmythos oder einer Schöpfungsgeschichte, historisch meist verbunden mit einer gegenüberliegenden apokalyptischen Erzählung vom Ende. Darin ist es dem Einheitsstreben notwendig von partikularen Einzelphänomenen sich abzuwenden, um das vergangene aber vermeintlich perfekte Ganze zu rekonstruieren. Es geht buchstäblich – und darin liegt zweifellos eine erkenntnistheoretische Hybris – um das Ganze. Erst in der Hybris wird die Grundlage der angesprochenen Nostalgie deutlich: das Fehlerhafte, das Defizitäre und nicht Vorhandene:

„Indem der Mythos die Gestaltwerdung des heutigen Menschen in zwei Schritten vonstatten gehen lässt, wird der Blick darauf gelenkt, was beim ersten Schritt fehlte, und die Maßnahme des zweiten Schrittes im Sinne dieses Resümees besonders akzentuiert: Eros – als im Menschen wirkende Kraft verstanden – ist in der Lage, die Defizienz der geteilten Menschenauszugleichen und wenigstens zeitweise die verlorene Ganzheit wiederherzustellen.“ (Manuwald 2012, S. 97).

Um dieser Hybris nun, der Fehlerbeseitigung des Gegenwärtigen hin zum perfekten Vergangenen, welches gleichermaßen die letzte Zukunft darstellt, ist es dem im Symposion thematischen Eros zu tun. Wieder Eines zu werden, ist das Ziel. Ursprüngliche Einheit und nachträgliche Vereinigung werden dabei einander gleichgesetzt; dafür wird im platonischen Text gar das Wirken Hephaistos' und seiner Schmiedekünste bemüht:7

„Um das Ziel des erahnten Begehrens der Liebenden näher zu definieren, lässt Platon Aristophanes mit der Vorstellung argumentieren, dass Hephaistos mit seinen Werkzeugen erschiene und die Liebenden nach ihrem eigentlichen Verlangen befragte. Und heraus käme, dass sie im Leben und im Tode in eins ‚zusammengeschweißt‘ sein wollten. Der Grund dafür ist, wie Aristophanes erläutert, dass unsere ursprüngliche Natur so war und wir ein Ganzes waren. Daher habe das Streben nach Ganzheit den Namen ‚Eros‘ (192d2-193a1).“ (Manuwald 2012, S. 98).8

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir Menschen haben unsere einheitliche Ganzheit verloren, sind deshalb mangel- und fehlerhaft, woraus sich eine Situation ergibt, erzwungen durch unser (wohlgemerkt) rein thetisches Bedürfnis nach ganzer Einheit, etwas Verlorenes in einer Zukunft wiederherstellen zu wollen, von denen wir wissen, dass diese und jenes unmöglich zu erreichen sind. Trotzdem davon überzeugt zu sein – das heißt, den Mythos lebendig zu halten –, bedeutet jene Hybris, die in der Aristophanesrede den Eros definieren soll. Bleibt das arbiträr gesetzte und schlechthin nur artifizielle Bedürfnis nach Einheit aus, so bleibt auch jegliche Konsequenz daraus unentwickelt, sich mit dem Anderen hephaistisch zu einem Mythos zusammenschweißen lassen zu können. Doch wie verhält es sich mit dem Sich-mit-sich-selbst-Vereinigen? Was passiert, wenn die Aristophanesrede als Subjekttheorie verstanden wird?

„Damit liegt die Eros-Konzeption der Aristophanes-Rede klar zutage: […] Er ist ein seelisches Phänomen, transzendiert die einzelne Person und stellt so weit wie gegenwärtig möglich die verlorengegangene Ganzheit und Vollkommenheit als das ‚Eigene‘ wieder her, worauf das eigentliche Streben des Eros gerichtet ist. Die bei entsprechender Verehrung der Götter in Aussicht gestellte Wiedergewinnung des eigenen, ursprünglichen Wesens verheißt schließlich Glückseligkeit (193d4 f.)“ (Manuwald 2012, S. 100).

In Bezug auf Carvalho verneint Manuwald an dieser Stelle die Vermutung, wonach das Subjekt in seinem Streben auf sich selbst abziele. „Vielmehr dürfte das Eigene als etwas Zugehöriges zu verstehen sein, das zur Wiederherstellung der ‚alten Natur‘ im Sinne einer physischen Vollkommenheit notwendig ist“ (Manuwald 2012, S. 100). Manuwald stellt darüber hinaus zur Debatte, ob Aristophanes überhaupt ein einziges und für alle gleiches transzendentes Ziel definiere (vgl. Manuwald 2012, S. 100 f.). Damit entfiele die Möglichkeit, Aristophanes' Rede als Subjekttheorie zur Subjektkonstitution zu interpretieren.

Was bleibt, sind letztlich und lediglich mythologische Glaubenssätze, wie, dass es gelte „die ursprüngliche (und wahre) Natur des Menschen zu entwerfen“ (Manuwald 2012, S. 101) oder „ein Streben der Menschen nach Vollkommenheit“ (Manuwald 2012 S. 101 f.) auszudrücken. Der Beweis oder auch nur eine Beschäftigung mit der Prämisse, dem Bedürfnis und seinem Grund, bleibt aus.

Einen gleichzeitig überschwänglich romantischen, wie umgekehrt kühl beschreibenden Weg der (indirekten) Betrachtung wählt Friedrich Hölderlin in seinem lyrischen Briefroman Hyperion. Nicht nur spielt mit Diotima eine zentrale Figur aus Platons Symposion eine große Rolle, sondern es wird darüber hinaus die Sache selbst angegangen. „Eins zu sein mit Allem das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen“ (Hölderlin 1979, S. 13), stellt der Hölderlinsche Hyperion fest. Es ist dies aber eine weitaus weniger vollständige Einheit als noch bei Aristophanes, wenn jener fragt: „Was ists denn, daß der Mensch so viel will? fragt ich oft; was soll denn die Unendlichkeit in seiner Brust?“ (Hölderlin 1979, S. 53). Hölderlin spaltet auf, was bei Platon als uniform inszeniert wird: Einheit und in Unendlichkeit gegründete Ganzheit. So fordert Hölderlin zwar das erste, doch beim zweiten meldet sich der im Kern religionskritische Ansatz der europäischen Aufklärung an. Es ist der Wunsch nach Versöhnung des Unterschiedenen oder zumindest dessen Vermittlung. Darin bildet dieser Wunsch ein philosophisches Fundament, welches über das ebenso präexistente wie unerreichbare Feld des von Alpha bis Omega, wie wir es in der Aristophanesrede vorbereitet finden, hinausgeht und somit das Differente, Unterschiedliche, Endliche und Widersprüchliche in die Philosophie zurückholt. „Das große Wort das εν διαφερον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie“ (Hölderlin 1979, S. 103). Zurückholen kann es Hyperion – und mit ihm Hölderlin, Kant, Hegel und viel später Adorno – deshalb, weil der Gedanke, der dem Bedürfnis nach Einheit widerspricht, selbst schon im Altertum und noch vor Platon angelegt war. In derselben Bewegung, und darin wird vielleicht der erste Schritt Hölderlins klar, wird die Einheit, das Ganze und Umfassende dem Göttlichen überantwortet: „Es wird nur Eine Schönheit sein; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit“ (Hölderlin 1979, S. 114). Den Menschen aber bleibt das Unvollständige, Endliche und Widersprüchliche. Und darin schließlich ist der Menschen anthropologische Befreiung zu sehen; sie sind nicht gezwungen dem Mythos der Einheit und mit diesem Mythos dem Begehren nach Vereinheitlichung Folge zu leisten. Sie müssen nicht göttlich, sondern dürfen menschlich sein. Und so endet Hölderlins höherer (Ὑπερίων) Held mit dem Allzumenschlichen: „[‚]Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. | Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles.‘ | So dacht ich. Nächstens mehr“ (Hölderlin 1979, S. 197). Philosophisch ausformuliert hat diese Gedanken Georg Wilhelm Friedrich Hegel:

„Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbst-werden zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine.“ (Hegel 1986, S. 24).

Der Anfang ist eben nur das Allgemeine. Jegliche Werdensmetaphysik, die dem Hegelschen Gedanken zugrunde liegt, ist darin vorerst nicht, das heißt nur in einem speziellen, dialektischen Sinn, enthalten. Das ist auch der Grund, warum die Passage gerne Missverständnisse produziert und all Jenen, die dem sich entwickelnden Werden – aus welchen Gründen auch immer – wenig Beachtung schenken (möchten), der Satz „Das Wahre ist das Ganze“ im Handumdrehen zum „Das Ganze ist das Wahre“ wird. Hierbei ächzt nicht nur die texttreue Hegel-Lektüre. Unter diesem Einheitsstreben ächzt die gesamte Philosophiegeschichte – jedenfalls die europäische. Es ächzt darunter jeder Gedanke von Differenz, vom halbpersischen Ephesos, über die italienischen Städte des Quattrocento, bis hinein in die Moderne; es wird jeder Gedanke schon kritisch und potentiell anrüchig, der sich nur der ursprünglichen Einheit verwehrt. Das erwägend, ist der oftmals als Umkehrschluss propagierte Satz Adornos, wonach das Ganze das Unwahre sei (vgl. Adorno 2014, S. 55), nicht so weit von Hegels eigenem Ansatz entfernt, wie es vermeintlich spitzfindig behauptet wird. Denn bei Hegel lässt sich dank der dialektischen Verschränkung von Subjekt und Objekt nicht ohne Weiteres die platonische Einheit von Anfang und Ende herausdeklinieren. Anscheinend lässt sich aber andernorts gerade über die Subjektkonzeption, welche als Konstitutionsmoment bei der antiken Textstelle ausgefallen ist, in moderner Zeit die Brücke schlagen zwischen Anfang und Ende:

„Das Bedürfnis, das Absolute als Subjekt vorzustellen, bediente sich der Sätze: Gott ist das Ewige, oder die moralische Weltordnung, oder die Liebe usf. In solchen Sätzen ist das Wahre nur geradezu als Subjekt gesetzt, nicht aber als die Bewegung des sich in sich selbst Reflektierens dargestellt. Es wird in einem Satze der Art mit dem Worte ‚Gott‘ angefangen. Dies für sich ist ein sinnloser Laut, ein bloßer Name; erst das Prädikat sagt, was er ist, ist seine Erfüllung und Bedeutung; der leere Anfang wird nur in diesem Ende ein wirkliches Wissen.“ (Hegel 1986, S. 26 f.).

Man könnte also sagen, das grundlegende Missverständnis des Begehrens nach Einheit in der Geschichte der Philosophie liegt in der Faulheit begründet. Anstatt sich nämlich auf den beschwerlichen Weg Richtung Resultat zu machen, wird dieses mit seiner Grundlegung im Anfang verwechselt. Man schreitet mit dem mythischen Einheitsdenken der Aristophanesrede von Anfang zu Anfang und präsentiert ein lupenreines Quasi-Ergebnis von letzter Einheit. Auf der Strecke bleibt allerdings nichts weniger als die Philosophie in all ihrem Werden selbst.

An der Hybris, Eines werden zu können, scheitert letztlich nicht nur die mythologische Einheit selbst, sondern es geht jeglicher Bezug zur faktischen Vielheit der Realität verloren. Doch zeigt sich auch in dieser Hybris schließlich das Potential der Aristophanesrede. Vorausgesetzt sie wird als Komödie und nicht als Bekenntnis gelesen.

Der Vorteil der komödiantischen Lesart ist es, den Mythos als der Wirklichkeit zugewandte Bestandsaufnahme und im strengsten Sinne deskriptiv zu verstehen, während die daraus folgende Konsequenz mit derselben Deskription die Verfehlungen dessen zu Tage fördert, was als Logos nur scheinhaft präsentiert wird.

Wird der Mythos als Bekenntnis gelesen, so schreiten wir den Pfad der realen Philosophiegeschichte in ihrer Entwicklung zu den spezialisierten Wissenschaften entlang. Wissenschaft in ihrer heutigen Ausprägung – so die weiterentwickelte gewagte These – folgt meist derselben Figur. Zuerst gilt es ein schöpfendes Ur-Moment zu definieren, etwa ein Axiom, ein Urteil oder irgendein absolut Festes, von dem aus losgeforscht werden kann. Damit verschlungen tritt die obligatorische Forderung des Abschlusses auf. Ob der Wunsch nach Abschluss in einer alles lösenden Weltformel, wie in der Physik um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, oder in der zeitgenössischen Frage nach abschließender Verwertbarkeit auftritt, tut wenig zur Sache. Übrigens wissen formale Systeme spätestens seit Kurt Gödel von ihrer eigenen Unvollständigkeit, auch wenn dies weiterhin in den genannten formalen Wissenschaften im Alltag eher als paradoxe Rüsche und exotisches Kuriosum auftritt. Den mathematisierten und spezialisierten Wissenschaften schadet dieser Umstand nicht, oder zumindest nicht vordergründig in ihrer alltäglichen Forschungsleistung. Die Philosophie aber ringt seit ihrem Anbeginn mit dem mythologischen Residuum von Anfang und Ende und dessen in der Einheit mündende totale Ganzheit. Beachtlich ist jedenfalls, dass die Philosophie – zumindest aus historischer Sicht und wenn sie als Bewegung des Gedankens verstanden wird – meist dann einen Konjunkturschub bekommen hat und bekommt, wenn sie sich von ebendieser totalen Erzählung entfernt, so etwa in der Ionischen Aufklärung, in der Renaissance oder in der europäischen Aufklärung der Neuzeit, während Phasen der engen Bindung an die Einheit der Totalität die Philosophie hinter andere Wissenschaften und Techniken zurücktreten lässt, so etwa während der Monarchisierung des Römischen Reiches, der Hegemonie des Heiligen Stuhls9 über das europäische Denken, oder der spätestens seit dem 20. Jahrhundert sich durchsetzenden Anmaßung, wir seien methodologisch und inhaltlich am Ende menschlichen Wissens angelangt. Dass Philosophie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung längst hinter Gehirnbiologie, computergesteuerte statistische Soziologie und vermeintlich allumfassende Algorithmen zurückgetreten ist, ist beileibe keine anekdotische Überhöhung besorgter Philosoph:innen mehr. Das Schicksal der Selbstaufgabe ereilt die Philosophie jedoch nur dann, wenn sie selbst an jener Totalität festhält und ruhig die Wieder-Ankunft des Kugelmenschen erwartet. Doch dazu ist die Philosophie in ihrem, wenn auch schwankenden Zwang sich selbst zu reflektieren, – glücklicherweise – viel zu stur.

 

4. Fazit

Wir haben es bei der Aristophanesrede im Symposion mit einer im besten Sinne paradoxen philosophischen Abhandlung zu tun. Ein und derselbe Text kann, genealogisch gelesen, ein den Mythos verächtlich machendes Pamphlet des kritischen Fortschritts und gleichzeitig, wenn es so gelesen wird, wie es seine faktisch-historische Wirkung entfalten konnte, ein mythenbildendes Konstrukt und Rekonstrukt höchst anti-aufklärerischer Art sein. Vielleicht ist die Problematik der zweiten Lesart eher in der vermeintlichen Nüchternheit der Philosophie selbst, als in der Rede des Aristophanes vor trunkenem Publikum zu suchen.

Wie Aristophanes es gemeint haben könnte, wenn er selbst und nicht Platon zu Wort gekommen wäre; wie der platonische Aristophanes es ge-meint habe; all das sind Fragen, die der Philologie zur Bearbeitung stan-den und stehen. Abseits jeglicher Beantwortung dieser Fragen, abseits ihres Stellens, bleibt allerdings der philosophische und philosophiehisto-rische Gehalt unangetastet. Dieser Gehalt drückt sich im Wunsch aus, nun wieder und endlich nicht mehr partikular und different, sondern zu guter Letzt ganz und einheitlich zu sein.

Das ganze Begehren der Philosophie, das heißt, dort wo sie noch im Mythos verharrt, ist, das Ganze zu begehren. Dieses Begehren nach dem Ganzen schreckt weder vor der Wirklichkeit des Partikularen, noch vor den absehbaren Folgen der Vereinheitlichung zurück. Das Eine, Ganze ist ein offenkundig mythisches Relikt, welchem bis heute aus unterschiedlichen Gründen, seien es Faulheit, Angst oder Vorsatz, Glauben geschenkt wird. Philosophie kann diesem ersten und letzten großen Mythos des Einen entkommen, doch das geschieht nicht notwendigerweise, sondern ist ein Akt der Aufklärung.

 


1„Denn die Notwendigkeit hält es [das Seiende; MEH] in den Banden der Gesetze, die es ringts umzirkt, weil das Seiende nicht ohne Abschluß sein darf; denn es ist unbedürftig, fehlte ihm aber der, so würde es des ‚ganz‘ bedürfen. […] Es ist ja nichts und wird nichts anderes sein außerhalb des Seienden, da es ja die Moira daran gebunden hat, ein Ganzes und unbeweglich zu sein“ (DK 28B8).

2Kenneth Reckford etwa macht darauf aufmerksam: „It is hard to convey the special flavor of these comic daydreams, with their mix of splendor and silliness“ (Reckford 1987, S. 91).

3„In comedy, I have been arguing, the nostalgic images of escape are also forward-looking, and they even point to a transformation both of our inner selves and of the outer world“ (Reckford 1987, S. 327).
Reckford weist darüber hinaus auf die weitreichenden Konsequenzen der bedürfnisproduzierenden Momente des Mythos' hin: „Since the harmony thus achieved is a comic harmony, it most emphatically must include our lower, nonrespectable wishes along with our higher flights of imaginative aspiration and artistic creation.“ (Reckford 1987, S. 335).

4„Denn das Ironische gehört, bis an das Ende der Klassik, noch durchaus zum tragischen und nicht zum komischen Bereich. Erst der platonische Sokrates bedeutet auch hierin, wie in so vielem, einen Wandel. Von dem neuen Geiste des Ironischen wird dann, jedoch erst nachträglich, auch der platonische Aristophanes, der Mythendichter des platonischen Symposions, mitergriffen“ (Reinhardt 1960, S. 263).

5„There is an extraordinarily close parallel between the problem of the shape of the whole creatures in the Symposium and the problem of the shape of the earth in the Phaedo“ (Morrison 1964, S. 48).
Das ganze Begehren, das Ganze zu begehren.

6Allerdings handelt es sich bei der Verschriftlichung des Avesta um ein erst später in der mittelpersischen Sprache verfasstes Dokument einer vormals mündlich überlieferten mythischen Erzählung.

7„Und wenn, indem sie zusammenliegen, Hephaistos vor sie hinträte, seine Werkzeuge in der Hand, und sie fragte: Was ist es denn eigentlich, was ihr wollt, ihr Leute, voneinander, und wenn sie dann nicht zu antworten wüßten, sie weiter fragte: Begehrt ihr etwa dieses, soviel wie möglich zusammen zu sein, daß ihr euch Tag und Nacht nicht verlassen dürftet? Denn wenn das euer Begehren ist, so will ich euch zusammenschmelzen und in eins zusammenschweißen, so daß ihr statt zweier einer seid, und solange ihr lebt, beide zusammen als einer lebt und, wenn ihr gestorben seid, auch dort in der Unterwelt nicht zwei, sondern, gemeinsam gestorben, ein Toter seid. Also seht zu, ob ihr dies liebt und zufrieden sein werdet, wenn ihr es erreicht. Dies hörend, das wissen wir gewiß, würde auch nicht einer sich weigern oder zu erkennen geben, daß er etwas anderes wolle, sondern jeder würde eben das gehört zu haben glauben, wonach er immer schon strebte, durch Nahesein und Verschmelzung mit dem Geliebten aus zweien einer zu werden“ (Platon, Symposion, 192d-e).

8 In Bezug auf die Ernsthaftigkeit in der Ausgestaltung dieses Beispiels findet sich bei Christopher James Rowe: „It is – I suggest – on this fine-sounding generalization, to which his whole story has in a way been leading, that any pretensions to seriousness on Aristophanes' part are likely to depend“ (Rowe 1988, S. 159).

9Hier lässt sich eine begriffliche Finesse kaum übersehen: In Bezug auf die katholische Hegemonie über das europäische Denken des Mittelalters sei auf das griechische Wort καθολικός verweisen, welches das Ganze des holon sogar noch einmal überhöht (katá). In „katholisch“ steckt ebendieses katá-holon. Zumindest aus katholischer Eigenperspektive geht es folglich um eine Alleinherrschaft im emphatischen Sinne; was realiter (zumindest regional) jedoch durchaus bestritten werden kann.


Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Platon: Parmenides. In: Diels, Hermann u. Kranz, Walther (Hg.) (1951/1952): Die Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bände. Berlin: Weidmann.

Platon: Symposion. In: Eigler, Gunther (Hg.) (1999 [1977]): Platon. Werke in acht Bänden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Platon: Timaios. In: Eigler, Gunther (Hg.) (1999 [1977]): Platon. Werke in acht Bänden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Platon: Theaitetos. In: Eigler, Gunther (Hg.) (1999 [1977]): Platon. Werke in acht Bänden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

 

Forschungsliteratur:

Adorno, Theodor W. (2014): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Carvalho, Mário Jorge de (2009): Die Aristophanesrede in Platons Symposium. Die Verfassung des Selbst. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Freud, Sigmund (1940): „Jenseits des Lustprinzips“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 13. Frankfurt/M.: Fischer.

Ganze, das (2013): In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.

Hölderlin, Friedrich (1979): Hyperion oder Der Eremit in Griechenland. Berlin: Insel.

Manuwald, Bernd (2012): „Die Rede des Aristophanes“. In: Christoph Horn (Hg.): Platon. Symposion. Berlin: Akademie Verlag, S. 89-104.

Morrison, John Sinclair (1964): „Four Notes on Plato's Symposium“. In: Classical Quarterly, 14(1), S. 42-55.

Reckford, Kenneth J. (1987): Aristophanes' Old-and-New Comedy (Bd. 1). Chapel Hill: North Carolina Press.

Reinhardt, Karl (1960): Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Rowe, Christopher James (1988): Plato. Symposium. Warminster: Aris & Phillips.

Widengren, Geo (1961): Iranische Geisteswelt. Von den Anfängen bis zum Islam. Gütersloh: Bertelsmann.

 

Autor:in: Markus E. Hodec, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft, Soziologie sowie Ethik an der Universität Wien, forschte an der Akademie der Wissenschaften Buenos Aires (ANCBA) und promovierte im Jahr 2023 mit seiner Dissertation Das Phänomen des Neuen an der Karlsuniversität Prag und der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Derzeit ist er Senior Fellow am IPPK (Berlin) und arbeitet an der Medizinischen Universität Wien. 2021 veröffentlichte er mit Alex seinen in Y besprochenen Debütroman.

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