Im Garten der Tugend und Harmonie
Norman Marquardt
Y – Z Atop Denk 2025, 5(3), 1.
Abstract: Im März 2024 reiste Norman Marquardt im Zuge des Chinakollegs der Studienstiftung des deutschen Volkes nach Shanghai, Nanjing und Peking. Die Eindrücke hielt er in Tagebucheinträgen fest, aus denen er am letzten Tag einen längeren Bericht zusammenschrieb. Gemein haben die Texte den Versuch, das Unbehagen besser zu verstehen, das sich in Gesprächen mit locals immer Bahn brach. So versammeln sich im gekürzten Bericht einige Stichworte zum chinesischen „Gefühlsregime“.
Keywords: Harmonie, Geschichte, Geste, Ware, Reisebericht, China
Copyright: Norman Marquardt | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.04.2025
Artikel als Download: Y - Z Atop Denk 2025, 5(3), 1
Ich sitze im Dehe Yuan, dem Garten der Tugend und Harmonie, und aus verborgenen Lautsprechern tönt blecherne Flötenmusik. Vor mir steht die Daxie Lou, eine dreistöckige Bühne im Sommerpalast vor den Toren Pekings, in der Kaiserwitwe Cixi um 1900 die Schauspiel-Stars ihrer Zeit empfangen hat. Eine zweite der „drei großen Bühnen“ der Qing-Zeit habe ich vorgestern in der verbotenen Stadt gesehen – den Pavillon der Freien Töne, der auch vier Jahre nach der Pandemie noch immer abgesperrt ist.
Ich wäre gerne mit Bertolt Brecht nach China gereist. Was ihn fasziniert hätte, wäre nicht das Spektakel gewesen oder die Zerstreuung, sondern der Gestus dieser Kultur, dieses aus jeder Straßenecke sprechende Verlangen nach eineinhalb Jahrhundert chaotischer Umbrüche endlich zu sich selbst zu finden. Das moderne China, treibt dafür das Spiel mit den Zeichen in einer Systematik voran, das ich von meinen bisherigen Reisen in dieser Form nicht kenne.
Nehmen wir einmal den Sommerpalast selbst, der in den letzten 150 Jahren nicht einmal, sondern gleich zweimal zerstört und wieder aufgebaut wurde. Zum ersten Mal von den Briten und Franzosen 1860 im Zweiten Opiumkrieg geschliffen, brannte er ein zweites Mal beim Boxeraufstand. Nichts an dem, was ich und die etwas hektisch staunenden Inlandstouristen hier sehen, ist authentisch oder historisch. Aber das soll es auch nicht sein. Wir bewegen uns in einer gewissenhaft restaurierten Reproduktion, bei der selbst die Farbe, die hier und da bröckelt, neuer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Das ist das eigentliche Versprechen der kommunistischen Partei: Wir können heilen, was andere beschädigt haben.
Beim Abendessen mit Xinxin, die Literatur studiert, sich aber für internationales Management beworben hatte, redeten wir nach dem obligatorischen Trauma-Bonding über das Ende des Kapitalismus und auch ein bisschen über Kultur. Ich habe irgendwann zu ihr gesagt, Kultur sei das, was im Zwischenspiel von Material und Mensch entsteht, das, was man mit den Dingen tut, aber auch das, was dieses Tun selbst bedeutet. Sie antwortete, dass sie den Eindruck hat ihrem China fehle dieser zweite Teil. Die Partei, sagte sie und schob ihr Smartphone dabei etwas zur Seite, stelle das kulturelle Inventar zwar aus, aber was sie dann in Museen und historischen Stätten zeige, bleibt trotzdem seltsam tot. So kann man zwar im Museum gut auf Dates gehen, sagte sie, und sich die Zeit vertreiben, aber die Kunst wird dabei ihrer eigenen Stimme beraubt. Zu tief ist der Riss zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, als dass sich irgendwer noch daran erinnern kann, was man mit den Gütern einmal tat. Brecht, mein Reisebegleiter, hätte daraufhin gelacht und vielleicht geantwortet: „Aber die Gesten sprechen doch für sich.“. Stattdessen schwieg ich und trank meinen Lassi.
In den vergangenen Wochen habe ich Unmengen an Jade, Porzellan, traditioneller Möbel und Kleidung gesehen. Das war alles sehr schön, aber anders als zum Beispiel im Wikingermuseum Haithabu wurde der Alltag, in den diese Objekte eingebunden waren, nicht gezeigt. Wie in einem Online Alibaba-Katalog standen die Gegenstände nach verschiedenen Kategorien sortiert, weitestgehend für sich und von parallel laufenden politischen Slogans und Narrativen flankiert. Was eigentlich ausgestellt wird, sind Waren, die auf das politische Großprojekte wie die neue Seidenstraße verweisen. Dadurch heilt an der Vergangenheit aber nichts. Sie spannt an und mobilisiert für die nächste Transformation.
Ironischerweise gelingt ausgerechnet einem amerikanischen Film, der von chinesischen Expats in einer Kleinstadt handelt, dieses charakteristische Schwanken zwischen Trauma und Kommodifizierung der Kultur künstlerisch zu entfalten, nämlich Everything Everywhere All at Once (2022). Die mit der ökonomischen Prekarität der Protagonistin begründete Kultur der Geste wird hier in ein solches Extrem gesteigert, bis sie sich schließlich zu einer Weisheit entfaltet, die es wert wäre von einer ganzen Zivilisation vertreten zu werden: Am Boden der Selbstreferentialität, wo die chinesische Tourismus- und Kulturbehörden noch nach Geschichten und Bedeutung suchen, findet die Wäschereiinhaberin Evelyn Wang das absolute Nichts. Eine depressive Tochter, die schließlich die Zerstörung all dessen mündet, was zwar nett aussieht, aber im Grunde genommen völlig austauschbar erscheint. Kein Slogan, kein Putz, kein blecherner Lautsprecher kann die Auseinandersetzung mit dieser Leere ersetzen.
Am Urgrund von all den Zeichen, Waren, Monumenten, das wäre eine sozialistische Antwort auf die traumatische Entrückung, liegt die alltägliche Arbeit, die den Laden wiederaufbaut, repariert vor allem aber irgendwie am Laufen hält – nur eben nicht um jeden Preis. Wohl hätte Brecht die Kaiserin Cixi gemocht, die sich im Garten der Tugend und der Harmonie eine dreistöckige Bühne baute. Doch hätte er ihr auch vorgeschlagen, vielleicht einmal eine Leinwand aufzustellen und zur Abwechslung statt Peking-Opern auch mal einen Film zu zeigen.
Filmverzeichnis
Everything Everywhere All at Once. USA 2022. Regie: Daniel Kwan/Daniel Scheinert. 139 Minuten.
Literaturverzeichnis
Brecht, Bertolt (1949/1964): „Kleines Organon für das Theater“. In: Ders.: Schriften zum Theater 7. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-67.
Marx, Karl (1890/1962): Die Ware. In: Ders.: MEW 23, S. 49-98.
Nordin, Astrid H. M. (2012): „Taking Baudrillard to the Fair. Exhibiting China in the World at the Shanghai Expo“. In: Alternatives 37(2), 106-120.
Sontag, Susan (1977/2018): „Die Bilderwelt“. In: Ders.: Über Photographie. 23. Auflage. Frankfurt/M.: Fischer, S. 146-172.
Zornosa, Laura (2022): „How ‘Everything Everywhere All at Once’ Helps to Heal Generational Trauma“. In: The New York Times 15.04.2022. https://www.nytimes.com/2022/04/15/movies/everything-everywhere-all-atonce-interviews.html [21.03.25]
Autor:in: Norman Marquardt, M.A., promoviert am Lehrstuhl Wissenschaftsphilosophie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel zur Genealogie der Harmoniebegriffes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturphilosophie, der interkulturellen Begriffsgeschichte und der Neuen Phänomenologie. Seit November 2023 setzt er sich als Mitglied im Geschäftsführenden Landesvorstand der GEW Schleswig-Holstein für ein gewerkschaftliches Verständnis von Wissenschaftsfreiheit ein, das die komplexen Beschäftigungsstrukturen von Hochschulen angemessen widerspiegelt.
Kontaktinformation: