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01/2016 "Kreative Zerstörung"

Kafkas Folter

von Franz Kaltenbeck

Aber Qual, das heißt einen Pflug durch
den Schlaf – durch den Tag – führen,
das ist nicht zu ertragen.

Franz Kafka, Briefe an Milena (November, 1920).1

Die physische Folter hat in Kafkas Werk zwei Plätze. Diese hängen natürlich miteinander zusammen. Einerseits ist sie ein Extrem der beim Prager Dichter so wichtigen Sonder-Gerichtsbarkeit, also des Schauplatzes seiner Erzählung In der Strafkolonie, die er im Oktober 1914 schrieb, als er eigentlich seinen Roman Der Prozess vorantreiben wollte, in welchem körperliche Misshandlung (des Gerichtsdieners, den Joseph K denunziert hat) bekanntlich nur in der „Prügler“-Episode und in Joseph K.s Hinrichtung vorkommt. Der andere Ort der Folter bleibt intim, und auf seine Briefe beschränkt, vor allem die Briefe an Milena. Peter-André Alt zitiert aber auch einen Felice Bauer betreffenden Brief2, in welchem Kafka Felices „kühle Zurückhaltung“ als eine extreme Folter empfindet.

In den Briefen an Milena bezeichnet er sich zwar ein Mal als das Opfer, ein anderes Mal als den Agenten der Folter, jedoch nicht ausschließlich, was jede Reduzierung des Problems auf Masochismus und Sadismus ausschließt.3

Folter knüpft sich bei Kafka also einerseits an den Diskurs des (Un-)Rechts, natürlich auch an den im Sommer 1914 von Österreich und Deutschland erklärten Krieg, dem Todes-Urteil für das alte Europa, und, auf der subjektiven Ebene, an die Liebe.

Und dieser Knoten verbindet zusätzlich auch das Recht mit der Liebe. Am Anfang seines Seminars Encore – es fand in einem Hörsaal der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Paris-Panthéon statt – erinnert Lacan daran, „dass im Grunde das Recht […] vom Genießen spricht“4, wobei er sich die Frauen und Männer, die ihm zuhören, auch im Bett vorstellt. „Genießen“ (jouissance) und usus fructus sind im Grunde juristische Begriffe.

1. Eine „schmutzige Geschichte“

Vor fast hundert Jahren, am 10. November 1916, las Franz Kafka seine Erzählung In der Strafkolonie in der Münchener Galerie Neue Kunst Hans Goltz, eines Förderers Wassily Kandinskys, vor.5 Der ihm sehr gewogene Rainer Maria Rilke war bei diesem Ereignis zugegen, schätzte diese Erzählung aber geringer als Die Verwandlung oder den Heizer. Die anwesenden Kritiker verdammten das Werk. Zu ihrem vernichtenden Urteil mag auch beigetragen haben, dass der Autor in München nicht sehr gut las. „Ich hätte meine kleine schmutzige Geschichte nicht lesen sollen“, schrieb Kafka danach. Das mit dem Schmutz stimmt. Bei dieser Geschichte kann einem schlecht werden. Kafka hat schon in dieser Erzählung die andere Seite des zivilisatorischen Fortschritts, also Verbreitung von Abfall und Schmutz beschrieben, die Zivilisation als die Kanalisation6, wie sie Lacan bezeichnen wird. Die Münchner Lesung mitten im Krieg hatte eine gewisse Wirkung auf sein Publikum. Mehrere Leute verließen den Saal, obwohl niemand in Ohnmacht fiel, wie ein Sensation heischender Schweizer Schriftsteller behauptete. Jedenfalls stellte Kafka die schmutzige Seite der kolonialistischen Sondergerichte bloß. War das aber das Ziel seiner Geschichte? Mit der Prager Lesung im Dezember 1914, also zwei Monate nach der Fertigstellung der ersten Fassung der Erzählung, dieses Mal in Gegenwart von Franz Werfel und Max Brod, war Kafka „nicht ganz unzufrieden, bis auf die überdeutlichen unverwischbaren Fehler“.7 Zu diesen gehört warscheinlich das Ende des Textes, mit dem sich Kafka nie abfinden konnte, das er aber resigniert in der Erstausgabe stehen ließ. Sie erschien im Jahr 1919 trotz starker Bedenken und des Widerwillens seines Verlegers Kurt Wolff. Vielleicht ist aber gerade der Schluss, nicht das Ende dieser Erzählung, das Erstaunlichste an ihr.

2. Zusammenfassung

Ein Forschungsreisender soll in einer Strafkolonie der Exekution eines Soldaten beiwohnen, „der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten verurteilt worden war“.8 Er kommt dieser Einladung nur ungern nach und in der Kolonie stoßen die Exekutionen nur mehr auf geringes Interesse, während früher alle wussten: „Jetzt geschieht Gerechtigkeit“. Ein dem neuen Kommandanten untergeordneter Offizier wird dem Reisenden den „eigentümlichen Apparat“ erklären, der die Hinrichtung ausführt. So befindet sich der Reisende in nur kleiner Gesellschaft; sie besteht, außer ihm selbst, nur aus dem das Gerät demonstrienden Offizier, dem verurteilten etwas stumpfsinnigen „hündisch ergeben aussehenden“ Soldaten in Ketten und einem ihn bewachenden Mann.

Der Apparat, so erklärt der beflissene Offizier, soll zwölf Stunden ununterbrochen im Gang sein und ist daher störungsanfällig; er besteht aus drei Teilen: dem Bett, auf das der nackte Verurteilte bäuchlings gelegt und angeschnallt wird, wobei ihm ein kleiner Filzstumpf in den Mund dringt, der ihn am Schreien und am Abbeißen seiner Zunge hindern soll, aus der mit Nadeln besetzten Egge und aus dem Schreiber, der mit seinem Räderwerk die Bewegung der Egge bestimmt, die ja mit ihren Nadeln den Wortlaut des Urteils auf den Rücken des Verurteilten schreibt. Das Urteil wurde dem Schreiber in Form einer Zeichnung eingegeben. Das Urteil ist in keiner einfachen Schrift abgefasst, denn diese soll ja nicht sofort töten, sondern erst nach zwölf Stunden. Der Schreiber erhält also vom Offizier das „Programm“, könnte man sagen, welches die Bewegung der Egge und des Bettes bestimmt. Nach zwei Stunden hat der Verurteilte keine Kraft zum Schreien mehr und daher wird der Filz aus seinem Mund entfernt. Nach der sechsten Stunde beginnt der Mann die Schrift mit seinen Wunden zu entziffern. Die eigentliche Schrift hat auf einem schmalen „Gürtel“ um den Leib Platz. Der übrige Körper trägt dann die Zierschrift, welche die Urteilsschrift umgibt.9 Nach zwölf Stunden spießt die Egge den Mann auf und kippt seinen Leichnam in die Grube unter dem Apparat. Damit ist das Urteil vollstreckt.

Der Reisende will wissen, wie das Urteil lautet. Dem gegenwärtigen Verurteilten soll der Satz „Ehre deinen Vorgesetzten!“ auf den Leib geschrieben werden. Er kennt das Urteil noch gar nicht. „Er erfährt es ja auf seinem Leib“, erklärt der Offizier. Der Verurteilte durfte sich weder verteidigen, noch weiß er, dass er verurteilt wurde. Der junge Offizier ist sein Richter, dessen Grundsatz lautet: „Die Schuld ist immer zweifellos.“10 Der gegenwärtige Schuldige hat seinen Dienst verschlafen und als der Hauptmann, dem er diente, mit seiner Peitsche über das Gesicht schlug, schrie er ihn an: „Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich.“11

Der Offizier erklärt dem Reisenden das Ausmaß der Folter: während der ersten sechs Stunden erleidet der Verurteilte nur Schmerzen. Danach hat er keine Kraft mehr, um zu schreien. Die Nadeln vertiefen ja die Schrift in den schon zugefügten Wunden. Da die Egge aus durchsichtigem Glas besteht, können die der Hinrichtung Zuschauenden auch die Egge beobachten, wenn sie auf dem Körper des Verurteilten schreibt. Während der Offizier dem Reisenden die Funktionen der Maschine in ihren grässlichen Details erklärt, bemerkt dieser mit Schrecken, dass der Verurteilte ihnen gefolgt war, um auch „die Einrichtung der Egge aus der Nähe anzusehen“.

Dann beginnt die Exekution des Verurteilten, bei der aber einiges schiefgeht: ein Riemen reißt und der Mann auf dem „Bett“ erbricht sich.

Der Reisende bedeutet dem Offizier, dass er solche Gerichtsbarkeit ablehne und das dem Kommandanten sagen werde. Der Offizier erkennt also, dass das Verfahren den Reisenden nicht überzeugt hat. Weil sein Bemühen gescheitert ist, befreit der Offizier den Verurteilten, er „bettet“ ein neues Schriftblatt in den Zeichner, und auf diesem steht: „Sei gerecht!“ Der Offizier macht sich noch einmal an der Maschine zu schaffen, zieht sich aus und legt sich nackt unter die Egge. Der Offizier lässt sich also selber hinrichten. Da geht die Maschine in Trümmer, die Egge ermordet den Offizier und kippt seinen Leichnam in die dafür vorgesehene Grube.

Der Reisende verlässt die Strafkolonie, nachdem er dem befreiten Verurteilten und dem Soldaten verboten hatte, auf sein Boot zu steigen.

3. Folter und privater Prozess

Man hat behauptet, Kafka habe sich von Octave Mirabeaus Le jardin des supplices für seine Erzählung In der Strafkolonie inspirieren lassen, weil auch dort die Kolonien zum Schauplatz von Grausamkeit werden. Die Erzählung wurde auch einfach auf sadistische und masochistische Fantasien zurückgeführt. Nicht zu unrecht verwies man auch auf den seit August 1914 tobenden Krieg als Hintergrund der Geschichte. Doch in diesem ersten Kriegsjahr äußert sich Kafka nur lakonisch zur Gewalt der Waffen.

Die im Oktober 1914 in erster Fassung geschriebene Geschichte vom seltsamen Apparat kommt auch aus einer viel intimeren Sphäre des Autors.

Kafka nahm sich damals 14 Tage Urlaub, um an seinem Roman Der Prozess zu arbeiten, verwendete diese Zeit allerdings für das kurze Werk In der Strafkolonie. Solche Sinnesänderungen kamen bei ihm nicht selten vor und einer seiner Biografen stellt zwischen diesen Abweichungen und seinen Beziehungen zu Frauen Analogien her.

Knapp nach seiner Verlobung mit Felice Bauer, die er wie eine Falle erlebte, lud er deren Freundin Grete Bloch zu einem Wochenende in Gmünd an der österreichisch-tschechischen Grenze ein. Wie Der Prozess blieb auch seine Beziehung zu Felice unvollendet, die Verlobung wurde aufgelöst und weitere Annäherungen zwischen dem Paar im Jahr 1916 blieben ohne ernsthafte Konsequenzen.

Noch etwas kündigt sich schon vier Monate vor der traumatischen „Gerichts“-Prozedur im Askanischen Hof, die zur Auflösung der Verlobung führt, an. Elias Canetti nennt diese Prozedur den „anderen Prozess“. Kafka erstattet Martin Buber bei diesem kurzen Berlin-Aufenthalt (Februar 1914) einen Besuch ab. Und von welchem „großen literarischen Thema“12 sprechen sie? Von „Gerichtsbarkeit ohne verbindliche Rechtsbasis“!

Felice kommt nicht einmal zum Bahnhof, um sich von Kafka zu verabschieden, der nach Prag zurück fährt. Alt schreibt: „Ihre kühle Zurückhaltung erscheint ihm wie eine Folter“. Dann zitiert der Biograph folgende Briefstelle des Dichters: „Es könnte nicht schlimmer sein. Jetzt käme das Pfählen dran.“

4. Schreiben, um zu existieren

Früh in seinen Briefe(n) an Felice, als er noch um ihre Post bettelt, entsteht zwischen seinem Briefschreiben an sie und „(s)einem anderen Schreiben“13 eine unerbittliche Konkurrenz. Seine Ablehnung des Briefes wird er erst in den Briefen an Milena voll aussprechen, ja geradezu theoretisch fundieren. In jener frühen Phase ihrer Beziehung klagt er Felices Briefe ein, wenn sie säumig ist, warnt sie aber zugleich über die „vielen Unmöglichkeiten“, die es in ihrer beiden Schreiben gibt.14 Vor allem lässt er aber keinen Zweifel bei ihr daran aufkommen, dass sein Leben „von jeher aus Versuchen zu schreiben“ besteht.15 Das Schreiben kommt vor jeder Beziehung. Und weil Felice diese Zurücksetzung offenbar nicht duldet, appelliert sie an eine Art Lustprinzip namens Mäßigung, und weiß dabei gar nicht, was sie damit bei ihm auslöst:

Mein Schreiben und mein Verhältnis16 zum Schreiben würden Sie dann vor allem anders ansehen und mir nicht mehr ‘Maß und Ziel’ anraten wollen. ‘Maß und Ziel’ setzt die menschliche Schwäche schon genug. Müsste ich mich nicht auf dem einzigen Fleck, wo ich stehen kann, mit allem einsetzen, was ich habe. Wenn ich das nicht täte, was für ein heilloser Narr wäre ich! Es ist möglich, dass mein Schreiben nichts ist, aber dann ist es auch ganz bestimmt und zweifellos, dass ich ganz und gar nichts bin. Schone ich mich darin, dann schone ich mich, richtig gesehen, eigentlich nicht, sondern bringe mich um.17

Kafka muss also nichts Geringeres als seine Existenz verteidigen und was sich in diesem Brief als Antwort auf Felices Aufruf zur Mäßigung, zum juste milieu, abzeichnet, ist bereits das pathologische Gesicht des Gesetzes, der fehlgeleiteten „praktischen Weisheit“18, dem er nur seine Beschreibung einer abwegigen Gerichtsbarkeit entgegensetzen wird können. Dem Aufruf zum Guten folgt die Beschwörung des Bösen.

5. Ein logischer Schluss

Kafka gibt dem Gesetz drei Gestalten: 1. Die der abseitigen Gerichtsbarkeit in seinem Roman Der Prozess, dessen Ausarbeitung er ja nach der Auflösung der Verlobung am 11. August 1914 beginnt19; 2. Die Richtigstellung der Universalität des Gesetzes in der Parabel „Vor dem Gesetz“: das Gesetz ist anscheinend unzugänglich und es gibt für einen jeden ein eigenes Tor durch das er in das Gesetz eintreten muss; 3. Die Sonder-Gerichtsbarkeit in der Strafkolonie.

Die abseitige Gerichtsbarkeit deutete Slavoj Žižek nach seiner Lektüre von Reiner Stachs Buch Kafkas erotischer Mythos20 als die andere Seite des hehren, universellen Gesetzes mit seiner Geltung für alle, nämlich das in seiner Gerichtsbarkeit herrschende obszöne Genießen. Die Parabel „Vor dem Gesetz“, die sich nicht mit All-Sätzen begnügt, sagt, dass es nur ein Gesetz gibt und dennoch jeder seine eigene Tür zu ihm öffnen muss, obwohl ihm der Eintritt von einem übermächtigen Türhüter verwehrt wird.

Die Zerstörung des „eigentümlichen Apparats“ in der Strafkolonie beruht auf seiner Abnützung und der Verweigerung des neuen Kommandanten, Ersatzteile für ihn anzuschaffen. Er fällt einfach auseinander. Aber das ist nicht der einzige Grund für seine Zerstörung. Nachdem der den Betrieb des Apparats fanatisch verteidigende Offizier verstanden hat, dass der Reisende sich beim Kommandanten nicht für ihn und seinen Hinrichtungsapparat einsetzen wird, weil er die Gerichtsbarkeit auf der Strafinsel ablehnt, unterbricht er die Hinrichtung des vorletzten Verurteilten, befreit diesen und legt sich an seiner Stelle auf das Exekutionsbett. Das ist schon ein Sabotageakt gegen die von ihm selbst so geschätzte grausame Gerichtsbarkeit in der Strafkolonie.

Bevor er aber seine eigene Hinrichtung in Gang setzt, gibt er dem Reisenden das Blatt für den Schreiber, auf welchem das Gebot steht, das auf seinen Körper graviert werden soll, weil er es nicht eingehalten hat. Der Reisende kann die Schrift nicht lesen21, daher liest der Offizier sie ihm vor: „Sei gerecht!“.

War er das nicht, als er den Verurteilten hinrichten wollte? Im Sinn des geltenden, positiven Strafrechts der Strafkolonie, war sein Urteil nicht ungerecht. Im Sinne der europäischen Rechtsprechung jener Zeit, in der die Geschichte spielt, war es ein grausames Fehlurteil. Im ersteren Fall, jenem der beschränkten Gesetzeshoheit auf der Insel, wäre also seine eigene Hinrichtung ein Fehlurteil. Im Falle einer europäischen Gesetzgebung, wäre die grausame Hinrichtung des Mannes, der seinem Vorgesetzten den Gehorsam verweigert hatte, eine schreiende Ungerechtigkeit gewesen. Er hatte also Recht, sich selbst hinzurichten. Aber mit seinem Selbsturteil hätte er dem geschriebenen Gebot eben entsprochen, er wäre gerecht gewesen und seine Hinrichtung war ungerecht! Nicht nur die Maschine fällt am Schluss auseinander, sondern auch das Gesetz, denn es erweist sich als inkonsistent.

Aber ist das Gebot „Sei gerecht!“ und sogar jenes, das befiehlt: “Du sollst deinen Vorgesetzten ehren“ nicht auch in einem europäischen Staat des frühen 20. Jahrhunderts ein akzeptierbares Prinzip?

Was der Reisende mit Recht verwirft, ist die Kombination der hoch moralischen Gebote mit der grauenhaften Strafe: der Veruteilte muss die Schrift des von ihm übertretenen Gebotes „mit seinen Wunden“ entziffern! Also ist der Offizier seit langem schuldig, er war ja nicht gerecht. Seine Selbstbestrafung entspräche jedoch nur dem Inselrecht.

Der Reisende hat, ohne auf Gerechtigkeit zu bestehen, ja ohne sich in die Angelegenheiten der Strafkolonie einmischen zu wollen, die vorletzte Hinrichtung verhindert. Zur letzten gab er wieder ohne es zu wollen, den Anstoß und konnte die den Offizier zerstückelnde Maschine dieses Mal nicht abschalten.

Das ist der logische Schluss der Erzählung, nicht ihr Ende, mit dem Kafka gar nicht zufrieden war. Der logische Schluss kommt zu einem Ergebnis, das man nicht überlesen sollte: Der erhabenste Wortlaut eines Gebotes (wie „sei gerecht!“) bleibt ein frommer Wunsch, weil er missbraucht werden kann, wenn die Gemeinschaft der dem Gesetz Unterworfenen bei der Ahndung der Gesetzesübertretung Grausamkeit walten lässt.

Insofern taugen die Gesetze der Strafkolonie ebenso wenig wie deren Maschine, welche die Zuwiderhandelnden exekutiert. Das Gesetz in der Strafkolonie ist also die Maschine und der Erzähler schafft es genauso ab, wie er den Apparat zerfallen lässt. Ausgelöst wurde diese Zerstörung von der kontingenten Anwesenheit des Reisenden im Wüstental der Insel.

Der von seinen Vorgesetzten geschätzte Jurist Franz Kafka attakiert und zerlegt also mit seinem Schreiben das Gesetz, nachdem seine Erzählung In der Strafkolonie dieses Gesetz als mit dem „eigentümlichen Apparat“ verschmolzen erwies.

6. Folter, Liebe, Brief

Die Liebe zu Felice bedrohte sein Schreiben. Kafka fühlte sich im Askanischen Hof vor ein obskures Sondergericht gestellt, und löste seine Verlobung auf. Die Thematik der Sondergerichtsbarkeit inspiriert sein Schreiben und Kafka macht die labyrinthische Form eines Gerichts der Willkür zum Schauplatz seines Romans Der Prozess.

1919 schreibt er seinen von ihm so genannten „Advokaten-Brief“ an seinen Vater. Dann, etwas später, im Jahr 1920 wird sein Brief-Schreiben selbst zum Schauplatz von Grausamkeit und Folter. Aber kein Gericht, kein Urteil hat diese als Verhörmethode befohlen oder als Strafe verhängt und obwohl er in einem Brief das Folteropfer ist, in einem anderen sich mit einem Folterknecht identifiziert, sollte man das Problem der Folter in seinen Briefen nicht auf ihn allein beschränken.

Es handelt sich natürlich um die zwischen April 1920 und Dezember 1923 geschriebenen Briefe an Milena, wobei man sagen muss, dass uns nur ein halbes Dutzend von Briefen nach November 1920 erhalten blieben. Milena ist auch die Depositärin seiner Tagebuchaufzeichnungen und seines Briefs an den Vater. Er kündigt ihn ihr mit dem Datum 4. bis 5. Juli 1920 von Prag aus an. Sie lebt in Wien:

Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, heb ihn bitte auf, ich könnte ihn vielleicht doch einmal dem Vater geben wollen. Lass ihn womöglich niemand lesen. Und verstehe beim Lesen alle advokatorischen Kniffe, es ist ein Advokatenbrief. Und vergiss dabei niemals Dein großes Trotzdem.22

Abgesehen von einem Tagebucheintrag zu einem „sonderbaren Gerichtsgebrauch“23 einer Hinrichtungsfantasie, die zum Prozess gehören dürfte, und den Nachträgen zum Ende der Erzählung In der Strafkolonie von August, 1917,24 ist der Vaterbrief als „Advokatenbrief“ wahrscheinlich sein letzter am juristischen Diskurs teilhabender persönlicher Text.

Der juristische Schauplatz (Gericht) fällt in Kafkas Briefe an Milena weg, die Grausamkeit bleibt. Die Folter auch.

Ja, das Foltern ist mir äußerst wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und mit Foltern.25

Und weiter unten:

Natürlich, auch kläglich ist das Foltern. Alexander hat den gordischen Knoten, als er sich nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert.

Zeigt nicht gerade diese Stelle zum Zerschlagen des gordischen Knotens, dass Kafka das Foltern mit dem Problem des Gebundenseins, in seinem Fall dem der Liebe assoziiert, eine Gebundenheit, die er dem Brief anlasten wird? Ist seine Besessenheit von der Folter nicht der symptomatische Versuch einer Antwort auf seine Qual, ein Versuch, in seinem Schreiben den Brief und seine Ansprüche auf Kommunikation zu überwinden?

7. Gegen den Brief

„Qual“ und „quälen“ sind Wörter, die gerade am Ende der Korrespondenz häufig fallen, und zwar weniger hinsichtlich der Krankheiten, seiner und der Milenas, sowie Milenas äußerst schwierigen Lebensumständen. Die Qual und das Quälen charakterisieren vielmehr Kafkas Verhältnis mit Milena:

Das was Du mir bist Milena mir hinter aller Welt bist in der wir leben, das steht auf den täglichen Fetzen Papier, die ich Dir geschrieben habe, nicht. Diese Briefe, so wie sie sind, helfen zu nichts, als zu quälen und quälen sie nicht, ist es noch schlimmer.26

Sie brächten „Missverständnisse, Schande, fast unvergängliche Schande“27 hervor. Zwei Tage später: „Und diese Briefe sind doch nur Qual, kommen aus Qual, unheilbarer, machen nur Qual, unheilbare, was soll das – und steigert sich gar noch – in diesem Winter.“28 Kafka fühlt sich ohnmächtig, „über die Briefe hinauszukommen.“29

Seine und ihre Briefe quälen ihn also. Aber Kafka impliziert an dieser Stelle auch, dass er, wäre er nicht ohnmächtig, über sie, die Briefe, hinauskommen könnte. Also sind sie gar nicht so mächtig! Liest man diese Stelle so, dann spräche sie auch für Kafkas Sprachskeptizismus, den sein Biograf Peter-André Alt hervorhebt. Der Sprache, also auch den Briefen, fehlt, laut Kafka, die Macht, weit genug (im Sagen und Zeigen) zu gehen. Kafka befindet sich in einer Zerreißprobe zwischen der Bindung durch die Briefe und seinem Ehrgeiz, mehr zu sagen, mehr zu zeigen als die Sprache, deren Träger diese Briefe sind, imstande ist. Er wird keine andere, neue Sprache erfinden, aber etwas, das über die Sprache hinausgeht: ein bildliches, kein abbildendes Schreiben, ein aufwühlendes, kein adressiertes Schreiben, ein Schreiben von Gesten, Aphorismen, Rätseln, Paradoxen, Entlarvungen, statt ein Schreiben von Zeichen, Lehren, Weisheiten, Geboten.

Eineinhalb Jahre später, Ende März 1922, schickt Kafka Milena, die er nun per Sie anspricht, seine große Anklagerede gegen den Brief als solchen. Man müsste seinen ganzen Brief zitieren. Er erinnert Milena daran, wie er Briefe hasst. Alles Unglück seines Lebens komme von Briefen.

Menschen haben mich kaum jemals betrogen, aber Briefe immer undzwar auch hier nicht fremde, sondern meine eigenen.30

Das Briefschreiben sei ja „ein Verkehr mit Gespenstern“. Er präzisiert: Es geht nicht nur um das Gespenst des Adressaten, das Briefschreiben ist auch ein Verkehr mit dem eigenen Gespenst!31 Dieses Gespenst entwickle sich „unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, oder gar in einer Folge von Briefen[…].“ Und dann beschuldigt er die Briefe einer Art von Voyeurismus und sexueller Gewalt:

Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken.

So ernähren sich die Gespenster. Die Gespenster verschärfen Kafkas Pessimismus. Er, der die technischen Errungenschaften seiner Zeit, trotz seiner Telefonphobie zu schätzen weiß, der die Erfindung des Computers begeistert aufgenommen hätte (und in einem Punkt schon In der Strafkolonie vorwegnahm), wenn er diese Erfindung noch erlebt hätte, glaubt, dass die heraufkommende Kommunikationstechnologie die Gespenster fördert. Die Menschheit […] hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den naürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern aber wir werden zugrundegehn.

Post, Telefon und Telegrafie führen zu keinem „natürlichen Verkehr“, nähren also die Gespenster. Deswegen wird sich Kafka aus der Korrespondenz mit Milena nach fünf weiteren Briefen und Postkarten Ende 1923 zurückziehen. Seine Grüße hätten nicht mehr die Kraft, an Milenas Adresse zu kommen.

Die Briefe stehen also in einer eklatanten Inadäquation zu dem, worauf es ihm ankommt und das heraus zu bekommen er viel radikalere Instrumente braucht als Briefe, nämlich Folter. Das hat mit Liebe zut un. Ab September 1920 wird er sich dazu erklären.

Er erklärt ihr seine Liebe am 14. September 1920. Aber wie!

Auch ist es nicht eigentlich Liebe wenn ich sage, dass Du mir das Liebste bist; Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle32.

Briefe ergeben keine Beziehung, entleeren sie eher. Die Liebenden müssen zusammenkommen (mit der Bahn, dem Flugzeug, Errungenschaften der neuen Zeit). Ihre sexuelle Begegnung lässt sich nicht als Beziehung beweisen, denn dieser Beweis müsste ja geschrieben werden. Daher verwandelt Kafka Milena in ein Messer, „mit dem (er) in sich wühlt“, sie wird zum Symptom.

Am 18. September 1920 antwortet er auf eine Bemerkung Milenas zur Auflösung seiner Verlobung (mit Julie Wohryzek) und bezichtigt sich eines „lüderlichen Lebens“, dem er abzuschwören hätte, weil man mit dem Kopf in einen Schraubstock käme, dessen Schrauben angezogen würden, wenn man dieser „Lüderlichkeit“ nicht abschwöre.33

Zwei Briefe später schickt er Milena die Zeichnung einer Maschine, die einen Menschen in der Mitte zerreißt und fügt ihr eine Erklärung bei, die mit dieser Bemerkung endet:

An der Säule lehnt der Erfinder und tut mit übereinandergeschlagenen Armen und Beinen sehr gross, so als ob das ganze eine Originalerfindung wäre, während er es doch nur dem Fleischhauer abgeschaut hat, der das ausgeweidete Schwein vor seinem Laden ausspannt.34

Warum schrieb Kafka in den Briefen an Milena von der Folter? Empfand er seine Beziehung zu ihr als Qual? Wollte er ihr seine sadistischen und masochistischen Fantasmen mitteilen? Wollte er sie abstoßen, sie demütigen, ihr Mitleid erregen? Keine dieser Begründungen kann uns überzeugen.

Wir müssen uns daher an die Logik seines Diskurses halten, wenn wir den Zusammenhang zwischen seiner Liebe und der Gewalt seiner Triebäußerungen in seinen Briefen erklären wollen. Wir konnten eine Parallele zwischen der Erzählung In der Strafkolonie von 1914 (1919) und der Korrepondenz von 1920-1923 herausarbeiten. In beiden Texten wird der Träger oder das Medium der Botschaft zerstört. In Die Strafkolonie zerfällt die Maschine und das Gesetz erweist sich als widersprüchlich und mit dem Folterapparat verschmolzen.

In Briefe an Milena attackiert Kafka das Medium seines Schreibens, den Brief. Er hasst Briefe, beschuldigt sie, die Gespenster des Briefschreibers wie seiner Adressatin zu ermuntern, ihren Inhalt auszutrinken, sich an ihnen zu ernähren, also das Reich des Todes zu vergrößern.

8. Schwäche und Verwünschung des Briefes. Der Sprache?

Obwohl Kafkas zwischen dem 20.9.1912 und dem 16.10.1917 geschriebene Briefe an Felice auf sieben hundert Seiten schreibt, entwickelt er eine große Abneigung gegen dieses Medium. Diese Abneigung wird er in seinen Briefen an Milena begründen. Briefe sind einerseits zu schwach, um eine Liebesbeziehung aufrecht zu erhalten, andererseits spalten sie sowohl den Briefschreiber als auch den Briefempfänger in ein Gespenst und ein menschliches Wesen. Das Gespenst wird dabei durch das Briefschreiben Oberhand gewinnen. Wenn Kafka auf physische Verkehrsmittel besteht, welche die Liebenden zusammenbringen, so sagt er nichts anderes, als dass eine Liebesbeziehung nur physisch bestehen kann. Auf Lacans Axiom von der unmöglichen sexuellen Beziehung angewendet heißt das: ein Schreiben dieser Beziehung ist unmöglich, es könnte nur von der physischen sexuellen Beziehung gesagt werden, dass es sie gibt. Aber als solche, ungeschriebene Beziehung, kann man nicht beweisen, dass es sie gibt.

Kafka schreibt also Hunderte von Briefen, er schreibt aber auch, dass er den Brief, besonders den Liebesbrief, abschaffen will, wie der Erzähler von In der Strafkolonie durch die Aussagen des Offiziers, der sich selbst verurteilt, das Gesetz sich widersprechen, und den Hinrichtungsapparat auseinander fallen lässt. Die Liebe muss für sich selber sorgen, könnte man in Abwandlung eines Satzes von Wittgenstein sagen.35

Kafka zieht wie Wittgenstein in seinem Tractatus die Leiter hoch: die weise Aussage des Gesetzes, „Sei gerecht!“ wird von der Folterstrafe als leerer Unsinn widerlegt. Der Brief kann kein sexuelles Verhältnis herstellen. Es bleibt die Geliebte, das Messer, mit dem Kafka in sich wühlt.

9. Das wahre Medium seines Schreibens

Mit dieser Zerstörung des falschen Gesetzes mit seiner Maschine und der Entwertung des Briefes als Sprachträger der Liebe entsteht eine Schwindel erregende Leere, klafft die wahre Freiheit als das Medium seines Schreibens auf. Keine Materialität des Buchstabens regiert dort mehr. Keine Sprachfigur hilft, seine Sätze zu verstehen.

Der Prozess und seine zeitgenössische Geschichte In der Strafkolonie spielen vor dem Hintergrund der „Gerichtsbarkeit ohne rechtliche Grundlage“ und die Folter geht als Extrem aus jener Gerichtsbarkeit36 hervor.

Warum aber drängt sich die Folter dem Autor während seiner kurzen Liebesbeziehung zu Milena auf? Milena will ihn nicht vom Schreiben abhalten, sie bestärkt ihn eher darin, indem sie ihn liest und einige seiner Texte übersetzt. Als sie einmal von ihrem Wunsch, mit ihm zu leben, spricht, schließt er diese Möglichkeit kategorisch aus. Gewiss leidet er schon im Jahr 1920 an seiner Lunge und auch Milena bräuchte einen Aufenthalt im Sanatorium. Aber als seine Tuberkulose schon sein Leben bedrohte, teilte er zwischen 1923 und 1924 drei Wohnungen in Berlin mit Dora Diamant, seiner letzten Geliebten.

Die verheiratete Milena, mit der er eigentlich nur zwei Mal zusammen kam, war eher eine ferne Geliebte, der er nur schreiben konnte. Im Laufe seiner Korrespondenz mit ihr, sagte er sich vom Brief als Medium seiner Liebe los. Der Brief besiegelte die Unmöglichkeit seines Verhältnisses zu ihr.

10. Ein neuer Knoten

Kafka trennte sich also auch von ihr. Damit ging einher – und es ist schwer zu sagen, ob als Ursache oder als Wirkung – dass sich auch sein Schreiben wandelte. Der Todestrieb war nicht mehr an Folterfantasien geknüpft. Kafka identifizierte sich fortan direkt mit ihm. Aber was ist der Todestrieb?

Der Todestrieb ist nicht die kirkegaardsche „Krankheit zum Tode“ und will auch nicht nur „das Ziel alles Lebens“, nämlich den Tod erreichen.37

Lacan stellt sich Freud entgegen, wenn dieser die Rückkehr zur Unbelebtheit als Ziel des Todestriebes erklärt. Lacan spielt dabei Sade, „den intelligentesten aller Materialisten“, gegen Freud aus. Für Saint Fond in Juliette „bleibt nach dem Tod alles vom Begehren nach Genießen belebt.“38

„Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen“, steht auf dem 5. „Zürauer Zettel“39. Die Zürauer Zettel hinterlassen die sprechendste Spur von Kafkas Sublimierung des Todestriebs. Der Todestrieb, ob in in seiner sublimierten Form oder als Motor des „Sinthomes“, verlangt einen Sprung ins Unbekannte.40

Ab seiner Brandrede gegen den Brief als Träger seiner Liebe, schien Kafka sich auch seine Rückzugswege zu dem in seinem Schreiben Erreichten abschneiden zu wollen, indem er Aphoristisches zu seinem Schreiben und Leben notierte. Gewiss begab er sich damit in seinen Zürauer Zetteln immer weiter in den Bereich der Abstraktion. Aber in seinen weiteren Arbeiten verschärfte er noch den ihm – und nur ihm   ̶  eigenen Bezug zum Realen. Zum Beispiel scheint der Landvermesser K. in seinem letzten Roman Das Schloss in das Zentrum der Macht des Schlosses gelangen zu wollen. In Wirklichkeit antwortet der Roman aber auf diese Absicht damit, dass K. seine Ausweglosigkeit im Dorf, das ja schon zum Schloss gehört, erkennen und durchlaufen muss. Es ist so, als würde auf sein Streben, zu den entscheidenden Behörden des Schlosses vorzudringen, um von ihnen als Landvermesser angestellt zu werden, nur sein erschöpfendes Durchqueren des Dorfes und seine erbärmlichen Abenteuer mit den Männern und Frauen des Dorfes antworten können. Kafkas Schrift hat einen vexierenden Effekt: Je mehr man das Schloss im Transzendentalen ansiedelt, desto stärker drängt sich einem die Wirklichkeit des Dorfes auf.

Wenn Kafkas Briefkritik auch eine Sprachkritik ist, eine Kritik nicht an der Über-Mächtigkeit der Sprache, sondern daran, dass sie ihn nicht weit genug gehen lässt zu sagen, was er zu sagen hat, so treibt ihn dieser Mangel dennoch zu keiner Reform der Sprache. Er will keine neue Sprache erfinden, er will die Sprache auch nicht zum Ausdruck bringen wie dei Expressionisten.

Er versucht eher eine neue Allianz, einen neuen Knoten, von Bild, Realem und Sprache. Er ist der wahre Zeitgenosse des gerade geborenen Kinos. Weit davon entfernt, die Welt zu beschreiben, zeigt er, wie er in ihr ist. Seine Zeichnungen in seinen Tagebüchern, sprechen zum Beispiel dafür, dass er manchmal sah, was er schrieb und bestätigen Reiner Stachs Auffassung, dass er sich insofern beeilen musste, zu schreiben, was er schon wie ein Traumbild entworfen hatte, weil es slapstick-artig vor seinem inneren Auge aufflackerte.

11. Ratlosigkeit

Mit seinen Mythenvariationen – Pometheus, Poseidon oder Das Schweigen der Sirenen – projiziert er Archaisches als nie Dagewesenes. Sein Hungerkünstler ist eigentlich ein Anachronismus, den er neu beschwört, denn um 1924, als er diese Erzählung schrieb, hatte das soziale Phänomen der Hungerkünstler gerade seine Popularität verloren, für den todkranken Kafka war sie aber nur zu aktuell. Das Symbol schafft er ab. Das Unheimliche und Fantastische bestand für ihn nur aus der realen Gier der Menschen danach.

Kafka nahm die Sprache voll in Anspruch, um eine unvergleichliche Welt zu schaffen, in der es keine Sicherheit gibt, und die dennoch jeden betrifft. Auch im Unbewussten gibt es keine Sicherheit. Der Unterschied zwischen Kafkas Welt und dem Unbewussten besteht aber darin, dass dieses sich deuten lässt und das Begehren des Subjekts manchmal sogar deutet, während, wie Adorno schrieb, „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden“. Kafkas Leser muss also seine Konsequenz aus der Ratlosigkeit ziehen, in welche ihn sein Text stürzt.

Fußnoten

  1. Born, Jürgen/ Müller, Michael (Hrsg.) [1991]: Franz Kafka – Briefe an Milena. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 301. Die Kritische Ausgabe datiert den Brief mit 20. September 1920.
  2. Alt, Peter-André [2005]: Franz Kafka: Der ewige Sohn, Beck Verlag, München, 336.
  3. In Triebe und Triebschicksale erklärt Freud, dass er Liebe und Hass nicht in seine „Darstellung der Triebe“ einreihen kann. Diese beiden „Gefühlsgegensätze“ stünden zwar in „innigster Beziehung“ zum „Sexualleben“, er sträube sich aber dagegen, „das Lieben als einen besonderen Partialtrieb der Sexualität […] aufzufassen“ (Freud, Sigmund [1915]: Triebe und Triebschicksale, In: Gesammelte Werke (GW) X, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1969, 225-226). Dann schreibt er: „Man möchte eher das Lieben als den Ausdruck der ganzen Sexualstrebung ansehen, kommt aber auch damit nicht zurecht und weiß nicht, wie man ein materielles Gegenteil dieser Strebung verstehen soll“. Diesen Satz hält Lacan für eine indirektes Eingeständnis Freuds, dass es „die ganze Sexualstrebung“ gar nicht gibt, sondern nur die Partialtriebe. (Lacan, Jacques [1964]: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Éditions du Seuil, Paris, 1973, 160). Liebe und Hass wirken also auf das Sexualleben ein, dieses kann auch Liebe oder Hass hervorbringen und sich dabei auch des Sadismus und des Masochismus bedienen, die Freud in Triebe und Triebschicksale als Triebe auffasst (GW, 220) und ab 1920 in Jenseits des Lustprinzips als Äußerungen des Todestriebs.
    Quälen und Gequält-Werden sind Vorgänge, die nicht nur auf Triebbefriedigung abzielen. Sie sind für Freud ja tatsächlich zwei Triebe. Aber Quälen und Gequält-Werden sind natürlich auch mit Liebe vereinbar. Dabei wird dem geliebten Wesen entweder die Funktion des Agens oder die des Opfers zugeschrieben. Folter geht aber dagegen auch unabhängig von einem unterstellten Sadismus des Folterknechts vor sich, wenn sie z. B. auf das Erpressen von Geständnissen oder anderen Informationen abzielt und der Folterknecht seine grauenhafte Tat in vollkommener Indifferenz ausführt.
  4. Lacan, Jacques [1972-73]: Encore. Seminar XX, Herausgegeben von Jacques-Alain Miller. Éditions du Seuil, Paris, 1975, 10.
  5. Stach, Reiner [2008]: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 149-157.
  6. Siehe auch Lacan, Jacques [1971]: Lituraterre. In: Autres Écrits, Éditions du Seuil, Paris, 2000, 11: „La civilisation, […] c’est l’égout“.
  7. Koch, Hans-Gerd (Hg.) [1990]: Franz Kafka. Kritische Ausgabe – Tagebücher, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 703.
  8. Kafka, Franz [1919]: In der Strafkolonie. In: Sämtliche Erzählungen, Herausgegeben von Paul Raabe. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1970, 100.
  9. Ebd. 107.
  10. In Lacans Angstseminar würde das eher von der Angst gelten.
  11. Kafka, Franz [1919]: In der Strafkolonie. In: Sämtliche Erzählungen, Herausgegeben von Paul Raabe. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1970, 105.
  12. Alt, Peter-André [2005]: Franz Kafka: Der ewige Sohn, Beck Verlag, München, 375.
  13. Born, J./ Heller, E. (Hrsg.) [1982]: Franz Kafka – Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M., 70 (3. XI.1912).
  14. Ebd. 63.
  15. Ebd. 65 und 66 (1. XI. 1912).
  16. Meine Hervorhebung (FK)
  17. Born, J./ Heller, E. (Hrsg.) [1982]: Franz Kafka – Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M., 76 (5. XI. 1912).
  18. Vgl. Crubellier, Michel/ Berti, Enrico [2016]: Lire Aristote, Puf, Paris, 172.
  19. Alt, Peter-André [2005]: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Beck Verlag, München, 387.
  20. Stach, Reiner [1987]: Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
  21. Diese Unleserlichkeit ist natürlich eine Absage an das anscheinend humane Gesetz.
  22. Born, Jürgen/ Müller, Michael (Hrsg.) [1991]: Franz Kafka – Briefe an Milena. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 85.
  23. Tagebucheintrag vom Juli 1916. In: Koch, Hans-Gerd (Hg.) [1990]: Franz Kafka. Kritische Ausgabe – Tagebücher, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 797 u. 800.
  24. Ebd. 825-827.
  25. Born, Jürgen/ Müller, Michael (Hrsg.) [1991]: Franz Kafka – Briefe an Milena. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 290. Kafka scheint sich hier mit Feldwebel Perkins, einer folternden Romanfigur aus Jimmy Higgins von Upton Sinclair (1919) zu identifizieren. Milena hatte ein Kapitel dieses Romans übersetzt. In der Kritischen Ausgabe dieser Briefe, die mir nur in ihrer französischen Übersetzung zur Verfügung steht, ist dieser Brief auf Mittwoch, den 3. November 1920 datiert.
  26. Ebd. 299.
  27. Ebd.
  28. Ebd. 301.
  29. Ebd. 299. Meine Hervorhebung (FK).
  30. Ebd. 301
  31. Ebd. 302.
  32. Meine Hervorhebung (FK).
  33. Born, Jürgen/ Müller, Michael (Hrsg.) [1991]: Franz Kafka – Briefe an Milena. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 267.
  34. Ebd. 271-272.
  35. „Die Logik muss für sich selber sorgen“. In: Wittgenstein, Ludwig [1929]: Tractatus logico-philosophicus, 5.473.
  36. Man kann ihr die Hinrichtung Joseph K’s durch Erstechen zurechnen.
  37. Freud, Sigmund [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In Gesammelte Werke XIII, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1969, 40.
  38. Lacan, Jacques [1969-70]: Le Séminaire. Livre XVII. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Éditions du Seuil, Paris, 1991, 75.
  39. Franz Kafka: Zürauer Zettel. 106 Zettel auf Einzelblättern im Faksimile, Stromfeld Verlag, Frankfurt am Main, 2011. Kafka trifft hier Wilhelm Müller und Franz Schubert’s Winterreise. Siehe die letzte Strophe des Liedes Der Wegweiser: „Einen Weiser seh’ ich stehen/Unverrückt vor meinem Blick; /Eine Straße muss ich gehen, / Die noch keiner ging zurück“. Diese Strophe habe ich vor Jahren bei einem Vortrag über den Todestrieb verwendet, zu dem mich Eckhard Rhode nach Hamburg eingeladen hatte.
  40. Und nicht aus dem Fenster!

Literatur

Adorno, Theodor W. [1953]: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10-1, Herausgegeben von Tiedemann, Rolf, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1997

Alt, Peter-André [2005]: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Beck Verlag, München

Born, J./ Heller, E. (Hrsg.) [1982]: Franz Kafka – Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M.

Born, J./ Müller, M. (Hrsg.) [1991]: Franz Kafka – Briefe an Milena. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M.

Kafka, Franz [1919]: In der Strafkolonie, In: Sämtliche Erzählungen, Herausgegeben von Paul Raabe. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1970

Franz Kafka, Zürauer Zettel. 106 Zettel auf Einzelblättern im Faksimile, Stromfeld Verlag, Frankfurt am Main, 2011

Koch, Hans-Gerd (Hg.) [1990]: Franz Kafka. Kritische Ausgabe – Tagebücher, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

Freud, Sigmund [1915]: Triebe und Triebschicksale, In: Gesammelte Werke (GW) X, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1969
—[1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke XIII, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1969

Lacan, Jacques [1964]: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Éditions du Seuil, Paris, 1973.
—[1969-70]: Le Séminaire. Livre XVII. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Éditions du Seuil, Paris, 1991
—[1971]: Lituraterre. In: Autres Écrits, Éditions du Seuil, Paris, 2000
—[1972-73]: Encore. Seminar XX, Herausgegeben von Jacques-Alain Miller. Éditions du Seuil, Paris, 1975

Stach, Reiner [1987]: Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
—[2008]: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.

 

Schreiben, um erneut das Wort zu ergreifen…

von Michèle Jung

Übersetzung aus dem Französischen von Dominique Janin-Pilz und Dieter Pilz

„Schreiben, um erneut das Wort zu ergreifen…“1

Ausgehen werde ich von meinen eigenen Nachforschungen:
Die Perversion in der Schreibweise Heinrich von Kleists.

Zunächst möchte ich versuchen, das Wort „Perversion“ herauszulösen aus einem Insgesamt von pseudo-ethischen Betrachtungen, von forensischen Sanktionen oder aus normativen Konzepten, die der Tatsache geschuldet ist, dass es eine Verwechslung der Begriffe „Perversion“ und „Perversität“ immer noch gibt.2

Die Definition der Perversion, auf die ich mich beziehe, geht von Freud aus und in dessen Nachfolge auf Lacan; sie ist ebenso beeinflusst durch die Überlegungen der Psychoanalytiker der „Fondation du Champ freudien“, wo die Züge der Perversion beschrieben werden als

die Voraussetzungen, auf die Männer wie Frauen zurückgreifen, um ihr sexuelles Leben zu verwirklichen – im weitesten Sinne des Wortes.3

Die Perversion besitzt eine enge Affinität zu den philosophischen Arbeiten von Alain de Juranville (über Lacan) und denen von Gilles Deleuze, die sich mit den Beziehungen eines Schriftstellers zu seiner Sprache auseinandersetzen.

In diesem Rahmen, definiere ich die Perversion als einen Modus der psychischen Organisation – eine Struktur, die einem bestimmten Seinsmodus des Individuums entspricht – eine existenziale Struktur.

Bei den Subjekten, die nach dem perversen Modus strukturiert sind, gibt es eine Dynamik, die diese Subjekte hin zu einer Transgression der Regeln und der festgesetzten Normen drängt. Es handelt sich dabei um eine Strategie, die das schreibende Individuum anstelle des Gesetzes entwickelt.4

Das Gesetz in der Psychoanalyse: es ist das Instrument der ersten Artikulation, wie wir es zunächst im Sprechakt finden. Denn Sprechen ist das Artikulieren von Wörtern mit- und untereinander, von Wörtern mit den Dingen und von Dingen mit den Daseienden. Und wenn dem so ist, dass es das ist, was sich artikuliert, so ist es das Gesetz des Sprechens, das sich unter-sagt (s’inter-dit), dass sich zwischen den Wörtern sagt, zwischen den Wörtern und den Dingen (die Artikulation des Imaginären und des Realen), zwischen den Subjekten (in der Unterschiedenheit, die diese in ihrer Identität gründet).

Kleist analysiert diesen Prozess in der „Familie Schroffenstein“.5

Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.6

Ich habe festgestellt, dass Kleist unfähig ist, in der deutschen Sprache flüssig zu sprechen: er stottert – ganz anders als im Französischen – hier stottert er nicht.

Zurück zur Klinik: ein Stottern, das Kleist auszeichnet – das schlecht Verstandene bringt die Sprache, die er niederschreibt in ein fortwährendes Ungleichgewicht. Dieses Ungleichgewicht lässt die Sprache delirieren, aus der Bahn geraten. Seine Schreibweise treibt die Sprache an seine Grenze und lässt so das Leben herein.

Dazu Lacan:

Stolperstein, Ausfall, Riss. In einem artikulierten oder geschriebenen Satz stolpern wir immer wieder über etwas (…). Und dieses Etwas, das vom anderen kommt, verlangt fortwährend sich zu realisieren – es taucht sicher als etwas Intentionales auf, ist jedoch von einer befremdlichen Zeitlichkeit.7

Kleists Schrift enthüllt die Ambivalenz der Worte und damit deren Macht. Der mögliche Lapsus – Rhythmus und Syntax als Charakteristika der Schrift – ist wie seine Umsetzungen ein Ausdruck des inneren Konflikts des Autors. (Hüten wir uns vor dem von Psychoanalytikern immer wieder gemachten Exzess, dies wie das Gesamtwerk wie ein Symptom des Autors zu betrachten).

Um ein Beispiel dieses inneren Konfliktes Kleists zu geben, sehen wir uns die Vorsilbe „ver“ im Deutschen an. Egal mit welchem Verb diese Vorsilbe in Verbindung tritt, weist sie immer auf eine Widersinnigkeit oder eine Fehleistung hin.

Freud sagt dazu:

Die gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe „ver“ deutet für die meisten dieser Phänomene die innere Gleichartigkeit sprachlich an.8

„Verhören“ bedeutet befragen, abfragen, analysieren. In diesem Wort gibt es einen Bezug zur Macht, denn „verhören“ heißt auch: jemanden einer Vernehmung zu unterziehen. Das ist für Kleist eine Form der Inquisition – sehr schwer für ihn zu akzeptieren, da er stets jede Form von Autorität verweigerte.9

So ent-zog er sich diesem Dilemma. Er spielt mit der Ambiguität, denn „sich verhören“ heißt, „schlecht gehört zu haben“, d.h. nicht begriffen zu haben, nicht begreifen, was sich sagt: es wird schwer sein, „sich zu verstehen“. Tatsächlich spricht man bei Kleist und versteht sich nicht.

Der Prinz Friedrich von Homburg, z.B., antwortet niemals auf Fragen, die man ihm stellt, als ob er falsch verstanden hätte:

“Was war’s schon, was der Dörfling, mich betreffend, bei der Parol’ hat gestern
vorgebracht?” (Vers 417)10

Hohenzollern: „(…) Dir ist aufgegeben, hier zu halten,
Im Tal, schlagfertig mit der Reuterei,
Bis man zum Angriff den Befehl dir schickt.“ (Vers 425, 426, 427).

Der Prinz von Homburg (nach einer Pause, in der er vor sich niedergeträumt hat)
– „Ein wunderlicher Vorfall!“ (Vers 429)

Dieses „verhören“ ist bei Kleist sehr wichtig, denn die Figuren werden von einer Stimme ohne Timbre von innen heraus gesprochen und diese Stimme, die in ihnen widerhallt, verdammt sie dazu, nicht gehört zu werden.

Die Sprache ist nicht länger Verbindungsglied eines reziproken Hörens, sie scheitert als Mittel Personen zu konstituieren, die sich gegenseitig anerkennen.11

Kleist benutzt mit Genuss diese Worte verdoppelten Hörens, um die Spaltung, die Dualität und das Doppel zu verstärken, das sich in jeder seiner Persönlichkeiten finden lässt.

„Wie manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb’ihn, o so sehr,
Dass sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin!
Gesättigt sein zum Eckel ist sie schon.
nun Du gelibter, so verfuhr ich nicht.
Sieh her: als ich an deine Halse hieng
Hab ich’s wahrhaftig Wort für Wort gethan“. (Vers 2991 bis 3000)12

Das Versehen, der Irrtum den Penthesilea begeht, ist, „Küsse“ und „Bisse“ zu verwechseln. 13(Vers 2980…). Dies führt sie zu einer totalen Zustimmung zu ihrem eigenen Diskurs („Wort für Wort“). Ist es übertrieben, wenn wir schlussfolgern, dass Penthesilea – voll identifiziert mit ihrer Sprache – zu reiner Sprache wird, zu einer reinen Projektion der kleistschen Dichtung? Ist das Tragische nicht mehr die Intrige, sondern vielmehr die Schrift als solche?

Kleists Schrift, sein geschriebener Text, enthüllt tatsächlich die Streichung, die Prothoe von ihrem Todesbett her zeichnet. Im Widerspruch zum Gesetz der Amazonen, welches verbietet, auf dem Schlachtfeld seinen Partner auszuwählen, erwählt sie diesen – Achilles – in der Schlacht an Penthesilea.
Durch diese Übertretung gibt sie der Amazone den Schlüssel zur Konstituierung einer perversen Struktur.

„Die Mutter lag, die bleiche, scheidende,
Mir in den Armen eben, als die Sendung
Des Mars mir feierlich im Palast erschien. (Vers 2110 bis 2113)

…Doch sie, die würdige Königin, die längst
Mich schon ins Feld gewünscht (Vers 2133…)

Sie sagte:
…“Geh, mein süsses Kind! Mars ruft dich!
Du wirst den Peleïden dir bekränzen:“ (Vers 2137…)14

Der Dichter organisiert sein Triebleben in seiner Schrift. Sein Schreiben wird zum unentbehrlichen Akt, zu einer lebensnotwendigen Forderung.

Ich fühle, das mancherlei Verstimmungen in meinem Gemüt sein mögen, die sich in dem Drang der widerwärtigen Verhältnisse in denen ich lebe, immer noch mehr verstimmen, und die ein recht heitrer Genuss des Lebens, wenn er mir einmal zuteil würde, vielleicht ganz leicht harmonisch auflösen würde. In diesem Fall würde ich mich an der Musik beschäftigen. Ich glaube, dass im Generalbass die wichtigsten Aufschluesse über die Dichtkunst enthalten sind.15

Häufig ist der Kampf des Künstlers für sein Werk nichts weniger als der Kampf um sein eigenes Leben.16

Kleist bestätigt dies:

Ich dichte bloss, weil ich es nicht lassen kann.17

Im selben Brief spricht er das erste Mal von Penthesilea – dem persönlichsten seiner Werke, dasjenige unter all seinen Werken, das er nicht nicht schreiben konnte.

…mein innerstes Wesen liegt darin (…): der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele.18

Diese doppelsinnigen Wörter muss man „festschrauben“, da sie sich zu leicht umkrempeln lassen und die Seite wechseln. Dafür benutzt Kleist die Interpunktion: Kommata, Semikola rahmen die Worte ein.
Diese Wörter (m-o-t-s) haben für Analytiker einen unersetzbaren Wert, da sie die Übel (m-a-u-x) enttarnen.
Der Stil, den Kleist erfindet, verstärkt das, was Serge André eine „perverse Hochstapelei“19  nennt, d.h. die Antwort des perversen Subjektes auf die Entdeckung einer ersten Hochstapelei (die Ur-täuschung), nämlich die der Realität.

Was kann die Kunst der psychoanalytischen Klinik beibringen?

Um auf diese Frage zu antworten, beziehe ich mich auf Penthesileas Worte:

„So war es ein Versehen,
Küsse, Bisse, das reimt sich,
und wer recht von Herzen liebt,
kann schon das eine
für das andre greifen.“ (Vers 2981)20

In dem Moment, in dem Penthesilea den fürchterlichsten Mord begeht und den auffrisst, den sie liebt, wird sie wie ein Wort betrachtet, wie eine Metapher als wäre sie das Wort eines fürchterlichen Rätsels:

„Hier kommt es, bleich wie eine Leiche, schon
Das Wort des Gräeul-Räthsels uns heran.“ (Vers 2600)21
„Es“, es ist: „Das Wort“.

Ihre Missetat wird von ihr selbst als einfache Konkretisierung des Reimes „Küsse/Bisse“ gedeutet.
So wird der Ausdruck „ich habe dich zum fressen lieb!“ von ihr buchstäblich genommen:

„Wie manche, die am Hals des Freundes hängt,
Sagt wohl das Wort: sie lieb ihn, o so sehr,
Dass sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;
Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrin!
Gesättigt sein zum Ekel ist sie schon.
nin gelibter, so verfuhr ich nicht, sieh her: als ich an deinen Halse hing,
Hab ich’s warhaftig Wort für Wort getan;“ (Vers 2991 bis 3000)22

Um jetzt den Kreis zu schließen und um zum Titel dieses Textes zurückzukommen: in den Confessions – geschrieben zwischen 1765 und 1770 – versucht Jean Jacques Rousseau23 zu beschreiben, wie er zum Schriftsteller wurde. Er beschreibt den Übergang zur Schrift als eine Art von Restauration – durch eine gewisse Abwesenheit und eine Art von kalkuliertem Auslöschen – der von sich enttäuschten Anwesenheit im Sprechen. Schreiben, sagt er, ist die einzige Möglichkeit, das Sprechen zu bewahren und wiederaufzunehmen, da es sich verweigert, in dem es sich gibt:

Rousseau betrachtet die Schrift als ein gefährliches Mittel, eine bedrohliche Hilfe, die kritische Antwort auf eine Notsituation. Wenn die Natur als Nähe zu sich selbst untersagt oder unterbrochen wird, wenn das Sprechen daran scheitert die Anwesenheit zu schützen, wird die Schrift nötig.24

Wenn uns ein Ereignis „fassungslos“ zurücklässt, fehlt uns die Sprache, wir sind „sprachlos“.
SCHREIBEN ist, wenn wir etwas buchstäblich nehmen, sagt uns Mallarmé25: wir nehmen es: “schwarz auf weiß“, d.h. wir „verdunkeln (es) mit dem Tintenfass des Unbewussten“, um „den Irrtum an seinem Ort“ einzuholen, an diesem Ort der Sprache, wo sich die Schrift befindet: da, wo wir gespielt werden.
SCHREIBEN, um aus dieser Sackgasse heraus zu kommen.

Fußnoten

  1. Rousseau, Jean -Jacques [1789]: Les confessions, Collection Folio classique (n° 2776), ED. Gallimard, 2009, Paris, 864.
  2. La Fondation du Champ freudien wurde von Lacan 1979 gegründet.
  3. Miller, D. [1990]: Traits de perversion dans les structures cliniques, Fondation du Champ freudien, Ed. Navarin, Paris, 510.
  4. Wenn wir Gesetz mit einem Großbuchstaben schreiben, handelt es sich für uns nicht um das Gesetz des Inzestverbots, sondern um das Gesetz, das im Unbewussten als symbolische Kastration funktioniert.
  5. Kleist, Heinrich von [1803]: Die Familie Schroffenstein, Band 1, Aufbau Verlag, Berlin, 1995.
  6. Ebd. Band 3.
  7. Lacan, Jacques [1964]: Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Sitzung vom 22.01.1964, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, Quadriga, Berlin, 1987.
  8. Freud, S. [1904]: Psychopathologie des Alltagslebens, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1992, 189.
  9. Sein Rücktritt von der Armee z.B.
  10. Kleist, Heinrich von [1822]: Prinz Friedrich von Homburg, Reclam Verlag, Ditzingen, 1966, 24.
  11. Nibbrig, Christian Hart [1986]: Revue Europe, juin- juillet 1986, n° 686-687, publié avec le concours du Centre national des Lettres.
  12. Kleist, Heinrich von [1808]: Penthesilea, Studienausgabe, Reclam Verlag, Ditzingen, 2012.
  13. Ebd.
  14. Ebd.
  15. Brief an Marie von Kleist, Berlin, Sommer 1811. In: Müller-Salget, K., Ormanns, S. [1997]: Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden – Band 4: Briefe von und an Kleist 1793-1811, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.
  16. Ebd.
  17. Brief an Otto August von Lilienstern vom 31.08.1806. In: Müller-Salget, K., Ormanns, S. [1997]: Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden – Band 4: Briefe von und an Kleist 1793-1811, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.
  18. Brief an Marie von Kleist, Dresden, Ende des Herbsts 1807. In: Müller-Salget, K., Ormanns, S. [1997]: Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden – Band 4: Briefe von und an Kleist 1793-1811, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.
  19. André, Serge [1993]: L’imposture perverse, Fondation du Champ freudien, Ed. Navarin, Paris, 432.
  20. Kleist, Heinrich von [1808]: Penthesilea, Studienausgabe, Reclam Verlag, Ditzingen, 2012.
  21. Ebd.
  22. Ebd.
  23. Rousseau, Jean -Jacques [1789]: Les confessions, Collection Folio classique (n° 2776), ED. Gallimard, 2009, Paris.
  24. Derrida, Jacques [1967]: De la grammatologie, Edition de Minuit, Paris, 207.
  25. Mallarmé, Stéphane [1897]: Divagations, Eugène Fasquelle éditeur, 255-262.

Literatur

André, Serge [1993]: L’imposture perverse, Fondation du Champ freudien, Ed. Navarin, Paris

Derrida, Jacques [1967]: De la grammatologie, Edition de Minuit, Paris

Freud, S. [1904]: Psychopathologie des Alltagslebens, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1992

Kleist, Heinrich von [1803]: Die Familie Schroffenstein, Band 1, Aufbau Verlag, Berlin, 1995
—[1808]: Penthesilea, Studienausgabe, Reclam Verlag, Ditzingen, 2012
—[1822]: Prinz Friedrich von Homburg, Reclam Verlag, Ditzingen, 1966

Lacan, Jacques [1964]: Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Sitzung vom 22.01.1964, Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, Quadriga, Berlin, 1987

Mallarmé, Stéphane [1897]: Divagations, Eugène Fasquelle éditeur

Miller, D. [1990]: Traits de perversion dans les structures cliniques, Fondation du Champ freudien, Ed. Navarin, Paris

Müller-Salget, K., Ormanns, S. [1997]: Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden – Band 4: Briefe von und an Kleist 1793-1811, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M.

Nibbrig, Christian Hart [1986]: Revue Europe, juin- juillet 1986, n° 686-687, publié avec le concours du Centre national des Lettres

Rousseau, Jean -Jacques [1789]: Les confessions, Collection Folio classique (n° 2776), ED. Gallimard, 2009, Paris

 

Fabianische Methoden.

Notizen zur Schachpartie Murphy – Endon in Samuel Becketts „Murphy“

von Eckhard Rhode

 

1.

Dass Samuel Beckett ein begeisterter Schachspieler war, wissen wir. Sein Biograph James Knowlson listet in einer interessanten Fußnote einige von Becketts Schachbüchern auf.1 Avigdor Arikha hat ihn beim Schachspielen gezeichnet.2 Sein bekanntes Stück „Endspiel“ trägt den Namen eines Begriffs, der die Endphase einer Schachpartie bezeichnet.3 Und sein Roman „Murphy“, zwischen August 1935 und Juni 1936 geschrieben4, mit dem er seine Analyse bei W.R. Bion beenden wollte, trägt – mit dem Unterschied der Differenz, der Verschiebung eines Buchstabens – , im und als Titel den Nachnamen des Schachgenies Paul Morphy5, über den Ernest Jones 1930 einen lesenswerten Text geschrieben hat.6

Aber nicht nur das; auf den letzten dreißig Seiten seines Romans, einem nicht einfach zu lesenden und sich dem Leser auch immer wieder entziehenden und verschließenden Text, findet sich die Schachpartie: „Weiß (MURPHY) Schwarz (Mr. ENDON)“; sie ist dreiundvierzig Züge lang und enthält achtzehn Anmerkungen, die mit den Buchstaben „a“ bis „r“ versehen sind. Sie nimmt in Becketts Buch drei Seiten ein.7 Beckett wünschte sich zudem – leider vergebens – auf den Umschlag von „Murphy“ eine Abbildung, die zwei Affen am Schachbrett zeigt, mehr und weniger in ein Spiel mit den Figuren vertieft.8

Da das Schachspiel, das Schachspielen9, genügend symbolische, imaginäre und reale Kräfte eines Subjekts mobilisieren kann, sowohl für als auch gegen es, ihm sowohl Zuflucht als auch Labyrinth, Lösung als auch Verstrickung im Daseinskampf sein kann und ist, ist es wertvoll10 und komplex genug, im Sinne der Psychoanalyse von Sigmund Freud und Jacques Lacan untersucht zu werden. Ich werde Ihnen hier nur einige Züge der von Samuel Beckett komponierten11 Schachpartie kommentieren; mit „Zügen“ bezeichne ich hier nicht nur die einzelnen, aufeinander folgenden Spielzüge der Partie, sondern auch die Merkmale der Partie, das, was für diese eine signifikant ist.

2.

Signifikant für diese Partie ist zum einen, dass – bis zu ihrem Ende – nicht eine der Spielfiguren geschlagen worden ist. Selbst, wenn sich Figuren, und selbst die wertvollsten, warum auch immer in eine Position manövriert haben, in der sie sofort und ohne Nachteil dessen, der am Zug ist, geschlagen werden könnten (nach dem 27. Zug von Weiß), passiert genau diese Aktion nicht. Dabei ist es doch das Ziel jeder Schachpartie, durch solche Aktionen einen Vorteil zu erzielen, dem Gegner damit zu schaden und ihn zur Aufgabe zu zwingen! Nichts von alledem passiert. Könnte es sein, dass der Spieler mit den schwarzen Steinen, (Mr. Endon), genau dies nicht tun will? Und wenn dem so sein sollte: warum ? Es sieht in jedem Fall im Verlauf dieser Partie mehrmals so aus, als würde er sich weigern, in eine Position zu geraten, die ihm Vorteil bietet; und er verspielt darüber hinaus mehr als einmal die Chance, diese Partie schnell und auf direktem Wege durch einen spielentscheidenden Zug zu gewinnen.

3.

Weiter: diese denkwürdige Partie beginnt mit dem merkwürdigen Zug, dass nach dem neunten Zug des Weißen genau die gleiche Position auf dem Brett entstanden ist wie nach dem ersten Zug des Weißen. Alle Züge – bis auf den ersten Zug des Weißen, der, da er ein Bauernzug war, nicht rückgängig gemacht werden konnte, und wahrscheinlich deshalb von Beckett im Kommentar zur Partie mit der Bemerkung „Die Ursache aller Schwierigkeiten des Weißen“12 versehen wurde –, alle Züge wurden also wieder rückgängig gemacht; die Position stellt sich so dar, als sei bisher auf dem Spielfeld – außer dem ersten Zug des Weißen – nichts geschehen. Acht Züge lang wurde von beiden Seiten nur hin und her manövriert, versuchten beide Spieler auch, die jeweiligen Züge des anderen auf dem Schachbrett wie im Spiegel nachzuäffen, anscheinend mit der bewussten Absicht, nach einigen Zügen wieder an den Anfang dieser Partie zu gelangen. Dieser merkwürdige Zug dieser Schachpartie, der jeder „normalen“ Schachstrategie und Schachtaktik Hohn spricht, stellt den Leser und den Schachspieler vor Rätsel. Dergleichen passiert aber in dieser Partie.

4.

Überhaupt fehlt dieser Partie – in ihrem Verlauf auch nach dem neunten Zug des Weißen – jeder Elan, jede Energie, einen Vorstoß in das gegnerische Lager zu unternehmen. Es herrscht eine Passivität, so als wolle man es regelrecht vermeiden, dem Gegner zu schaden, ihm wehe zu tun, ja, ihn überhaupt nur unter Druck zu setzen. Es stehen sich zwei geschlossene Formationen gegenüber, die sich weigern, sich zu berühren, sich in- und miteinander zu vermischen, zu verzahnen, zu begegnen. Auch jeder Figurentausch wird vermieden, auch jedes Figurenopfer. Alles scheint in dem erstarrt zu sein, was Beckett in der vierten Anmerkung zur Partie (zum achten Zug von Schwarz) den „Anlauf“13 nennt. Alles scheint in einer Vorbereitung zu einer Aktion begriffen zu sein, nur findet diese nicht statt. Es wird abgewartet. Züge finden zwar statt, aber ob und wenn ja, welchem Ziel sie dienen, zeigt sich­­ demjenigen, der diese Partie nachspielt, zunächst einmal nicht deutlich. Es ist ein wenig so, als werde Schach gespielt, aber dieser Form des Schachspielens fehlen mindestens zwei signifikante Züge des Schachspielens: Aggressivität  ̶  und der Wille zu siegen.14 „Was ist das?“, was beide Spieler da spielen, lässt sich fragen, Schach? Oder etwas ganz anderes?

5.

Weiter: Vorteile werden nicht genutzt, bzw. einfach am Wegrand dieser Partie liegengelassen oder vergessen oder gar nicht gesehen. „Vorzüglich gespielt“15: dieser Kommentar zielt auf einen beim besten Willen nicht als spielentscheidend zu bezeichnenden Zug des Schwarzen. Auch der Kommentator passt sich also dem paradoxen Spielgeschehen an. Nichts bedeutet hier also etwas; oder werden keine Folgen aus dem bisher Geschehenen gezogen? Alle schwarzen Steine – ohne die Bauern, die nicht rückwärts ziehen können – haben sich nach dem siebenundzwanzigsten Zug wieder auf die letzte (achte) Reihe des Schachbrettes zurückgezogen. Anstatt dass Schwarz in diesem siebenundzwanzigsten Zug die Entscheidung trifft, eine Dame (s.u.) und damit das Spiel zu gewinnen, was leicht möglich war, wird die Entscheidung getroffen, alle Figuren – bis auf die Bauern – auf die achte Reihe zurück zu ziehen. Also: Passivität pur. Bewegungslosigkeit. Erstarrung. Und damit wieder: zurück zum Anfang. Die Figuren versuchen so, sich unangreifbar zu machen, ziehen sich zumindest extrem zurück, igeln sich ein. Beckett kommentiert diese Situation in der elften Anmerkung paradox und deshalb treffend so: „Die Schwarzen haben nun ein unwiderstehliches Spiel“.16 Denn: wie kann, wie soll der Spieler mit den weißen Steinen dieser unwiderstehlichen Einigelung von Schwarz begegnen? Mit welchen Zügen kann er dem Spiel dieses Bartleby17 antworten?

6.

Zwischenbemerkung: kann es also eine „Destruktivität“ – wenn man diesen Begriff ins Spiel bringen will – geben, die darin besteht, abzuwarten, nicht zu tun, nichts zu tun, sich nicht bewegen zu können, sich nicht mehr bewegen zu wollen? Oder: wenn ja, in einem immer enger werdenden Spielraum? Interessant ist, dass „Destruktivität“ im Zusammenhang dieser Schachpartie nicht die Züge von „Vernichtung“ annimmt. Im Gegenteil. Alles bleibt heil, bleibt ganz, bleibt vollständig, keine Figur wird getauscht, alles bleibt möglichst unberührt. (Siehe Absatz 4.) Das Spiel von Schwarz hat Züge davon, als würde es ersticken, und als würde es sich immer bewegungsloser machen wollen. Gibt es Spielbewegungen, so führen sie anscheinend und zunächst erst einmal zu keinem Ziel, und bedeuten in diesem Sinne nicht und auch nichts oder etwas gänzlich anderes, das von dem, was man sich normalerweise unter einer „Bedeutung“ vorstellt, vollständig abweicht.18 Bedeuten sie also doch etwas? Was? Ein Warten? Ja, aber nicht nur das. Aber wenn nicht warten, dann was? Unbeweglichkeit? Gehen Unbeweglichkeit19 und Warten ineinander auf? Oder auch nicht?

7.

Weiter: oder passiert das, was passiert, nach der Logik eines Opfers? Weiß bietet ja zwei wertvolle Figuren zum Opfer an, nach wie vor die Dame (s.o., 27. Zug), dazu noch einen Läufer (29. Zug). Aber dieses Opfer nimmt Schwarz gar nicht an. Er kümmert sich überhaupt nicht darum, und ein Opfer wird es im Zusammenhang des Spiels ja auch erst in dem Moment, in dem Schwarz es annimmt! Weiß bietet aber eine weitere Figur zum Opfer an, einen Springer (30. Zug). Keine gezielte Reaktion darauf von Schwarz.

Im Gegenteil! Schwarz macht nur einen eher müden Königszug (30. Zug), und Beckett merkt zu diesem Zug an: “In diesem Moment stülpt Mr. Endon, ohne überhaupt ‚ j’adoube’ zu sagen, seinen König und den Turm seiner Dame um, um für den Rest des Spiels diese Stellung beizubehalten.“20 „J’adoube“ sagt aber ein Spieler nur dann, wenn er einen Spielstein berührt hat, ohne ihn ziehen zu wollen; er will ihn z.B. nur auf dem Feld, auf dem er steht, zurecht rücken. Den König und den Turm seiner Dame umstülpen – was bedeutet das? Der König kann nicht auf dem Kopf stehen, der Turm ja. Was will Beckett hier andeuten? Verlieren die Spielsteine mit diesem Umstülpen ihren Wert als Spielsteine? Spielen sie also nicht mehr mit? Oder sollen sie – wie in manchen Symbolnotationen im Problemschach – zu einer Figur mit mehreren Funktionen (erlaubten Möglichkeiten zu ziehen) im Spiel umgewandelt werden?

Becketts Anmerkung erinnert aber an einen Satz aus Büchners „Lenz“: „[…] nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“21 Haben wir es hier mit einer Schachpartie zu tun, die in gewissem Sinne „auf dem Kopf geht“? Mit einer Umkehrung aller Werte und Normen? Es ist ein merkwürdiges Bild, wenn man die Spielsteine so, wie die Anmerkung des Autors es fordert, auf das Brett legt. Es erinnert zum einen an die normale Geste eines Schachspielers, zum Zeichen der Aufgabe den König umzukippen und so auf das Brett zu legen. Beckett schreibt aber vom „Umstülpen“22 von zwei Figuren, und dass sie danach weiter am Spiel teilnehmen. Zumindest sollen sie „[…]für den Rest des Spiels diese Stellung beibehalten.“23 An ein geordnetes Weiterspielen im Sinne der Schachregeln ist aber spätestens seit dieser Bemerkung des Kommentators dieser Partie nicht mehr zu denken. Die Partie scheint sich ab jetzt eher selbst zu zersetzen, sich langsam aufzulösen, eine „Skulptur“24 zu sein, die sich selbst zerstört. Trotzdem geht diese Schachpartie noch dreizehn Züge weiter. Vielleicht wollen sich die umgestülpten Figuren ja auch nur vom Spiel und während des Spiels ausruhen. Oder sie streiken.25 Machen sich unbenutzbar so, unbrauchbar. Auch ein Zeichen von Rebellion, dies. Wir wissen es noch nicht genauer.

8.

Weiß beginnt nun mit einer sehr ungewöhnlichen Aktion: bei vollbesetztem Brett allein mit seinem König in die gegnerische Hälfte zu marschieren (34. und 35. Zug). Normalerweise passiert eine solche Aktion erst im Endspiel einer Partie und auf einem wesentlich leereren Schachbrett. Aber – in gewissem Sinne – befinden wir uns bereits im Endspiel dieser Partie. Diese Aktion von Weiß mutet sehr eigenwillig an und ist überdies für den weißen König sehr gefährlich. Aber das interessiert Schwarz wenig. Er schlägt sowohl die weiße Dame als auch den weißen Springer nicht, nimmt also das Opferangebot von Weiß weiterhin nicht an, sondern verbarrikadiert sich stur auf den letzten drei Reihen (sechste bis achte) des Spielfelds. Überhaupt hat Schwarz im Verlaufe der ganzen Partie nur ein einziges Mal, mit seinem vierten Zug, die sechste Reihe auf dem Schachbrett überschritten in Richtung der weißen Steine! Nach wie vor versucht er, seine Figuren so zu stellen, dass er wieder mit ihnen zurückkehren kann in die Ausgangsstellung vor seinem ersten Zug. Und genau das passiert – fast.

Denn als Weiß nach dem dreiundvierzigsten Zug des Schwarzen aufgibt, kann Schwarz, sofern Weiß seine Dame von der offenen Linie a4 – f8 entfernen wird, im nächsten Zug seinen König wieder in seine Ausgangsstellung platzieren und hat seine Figuren damit so angeordnet, wie sie vor dem ersten Zug standen. Nur beide Mittelbauern des Schwarzen haben irreversibel einen Zug, jeweils nur einen Schritt (e7 – e6 im 9. Zug, d7 – d6 im 13. Zug) gemacht. Das Motiv seiner ersten acht Züge, immer nur so zu ziehen, dass möglichst alle seine Züge wieder rückgängig zu machen sind, hat Schwarz insgesamt durch alle dreiundvierzig Züge dieser Partie – mit der Ausnahme von zwei einfachen Bauernzügen – durchgehalten. Davor muss Weiß (Murphy) kapitulieren, und Beckett kommentiert: „Es wäre vermessen und ärgerlich, noch beharren zu wollen, und Murphy gibt auf.“26 Gegen diesen Plan, der den anderen (Weiß) konsequent aus dem Spiel ausschließt, gar nicht ins Spiel kommen lässt, hat Weiß hier keine Mittel mehr; Schwarz würde ihn nur endlos weiter so an der Nase herumführen. Zwei können nicht miteinander spielen, wenn einer permanent nicht mitspielen will. Und Schach ist ein Spiel, das – im Sinne einer Struktur – zu zweit gespielt wird.

9.

In welchem Sinne ließe sich nun ein Begriff der „Destruktivität“ auf die von Samuel Beckett sehr genau komponierte Schachpartie beziehen?

Destruktiv ist die Spielführung von Schwarz ganz deutlich darin, dass sie Weiß überhaupt nicht ins Spiel kommen lässt. Sie zerstört nicht das Spiel des Weißen, sondern Schwarz spielt in gewissem Sinne überhaupt nicht mit, spielt ein anderes, ein eigenes, sein einzelnes Spiel. Er weigert sich in gewissem Sinne, überhaupt einen Zug zu machen; da er aber – im Rahmen dieses Spiels – ziehen muss, und das scheint er zu wissen, dass er ziehen muss, entscheidet er sich, so zu ziehen, dass alle seine Züge wieder rückgängig gemacht werden können. Obwohl also Züge gezogen worden sind, sind sie letztendlich also nicht gezogen worden. Das ist sein Spiel, das ist seine Strategie und seine Taktik, und, so schädlich und entnervend sie für den anderen Spieler sein kann und auch ist, für den Spieler mit den schwarzen Steinen geht sie – im Rahmen dieses Spieles – auf.

10.

Beckett komponierte diese Schachpartie jedoch so, – dies ebenfalls ein signifikanter Zug in diesem Spiel –, dass Weiß nicht mit allerletzter Entschlossenheit gegen diese Strategie des Spielers mit den schwarzen Figuren vorgeht. Er demaskiert sie eher. Weiß versucht zunächst alles Mögliche, dieser Taktik zu begegnen; er spielt zunächst einmal mit, lässt sich auf eine Art Spiegelbeziehung des Aufbaues der Positionen ein – bis zum neunten Zug; danach bietet er Opfer an (27., 29. und 30. Zug), macht im Rahmen einer Schachpartie äußerst ungewöhnliche Züge, um Schwarz damit aus der Reserve zu locken – ; all das prallt jedoch an dem Plan des Schwarzen ab.

Weiß vermeidet es aber weiterhin bewusst, Schwarz brutal unter Druck zu setzen; er bricht nicht in die schwarze Stellung ein, zerstört sie nicht mit gewalttätigen Figurenopfern, sondern spielt das Spiel des Schwarzen zumindest so lange mit, bis sich herausstellt, was dessen Plan ist: gar nicht mitzuspielen. Anders formuliert: er spielt die Partie mit, um sie nicht mitzuspielen. Und: er spielt die Partie nicht mit, nur so kann er sie spielen. Genau an dieser Stelle beendet Weiß die Partie. Warum, ist nicht endgültig zu klären, der Zeitpunkt dafür ist aber signifikant. Denn: wahrscheinlich hätte diese für Weiß auch zermürbende Partie wirklich sehr sehr lange so weiter gehen können; wir erinnern uns: nach dem achten Zug hatte Schwarz erst nur einen nicht wieder rückgängig gemachten Zug gespielt; nun, nach dreiundvierzig Zügen, insgesamt erst den zweiten. Also: Schnitt!

11.

Beckett geht in seiner Komposition der Partie analytisch vor. Obwohl Weiß am Ende dieser Partie diese Partie aufgibt, hat er durch seine Züge den Plan des Spielers mit den schwarzen Steinen aufdecken können; dieser lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1.) Jeder Zug seines Spiels soll möglichst wieder rückgängig gemacht werden können.

2.) Jeder Zug seines Spiels soll möglichst dazu dienen, die Ausgangsstellung des Spiels wieder zu erreichen.

3.) Alles, was diesem Plan (1. und 2.) entgegensteht, muss unverzüglich verhindert werden.

4.) Wenn eine Partie dadurch (1. – 3.) lange Zeiträume in Anspruch nimmt, passiert das nicht zu seinem Nachteil.27, passiert das nicht zu seinem Nachteil.28

Weiß hat Schwarz seine Partie spielen lassen, und uns, den Lesern von Becketts Komposition, damit ein großes Vergnügen bereitet. Er hat aber Schwarz – ­der seinen Spielplan zielstrebig und in diesem Sinne offensiv29 verfolgt, so defensiv, ja: destruktiv die Spielzüge auf dem Brett auch wirken und sind – ; er hat aber Schwarz nicht nur seine Partie spielen lassen, sondern erst durch seine Züge haben die von Schwarz ihren Sinn und ihre Bedeutung bekommen.

Becketts Komposition ist subversiv in der Demaskierung – und damit auch: Bestimmung! – des Plans von Schwarz (Endon); und Weiß (Murphy) ist seine Strategie und seine Taktik nicht vorzuwerfen, denn: was kann er angesichts der destruktiven Haltung von Schwarz anderes unternehmen, wenn er weiter im Spiel bleiben will, und auch nicht einfach nur demolierend und vernichtend die Position von Schwarz zerstören will? Er muss weiter mitspielen! Er kann die Absichten, die Strategie und Taktik von Endons Kalkül nur im Spiel selbst versuchen zu entschlüsseln, er muss dafür, so lange das dauert, im Spiel bleiben, und damit muss er sich begnügen.

12.

Dass Weiß diese Partie beizeiten aufgibt, ist ihm nicht vorzuwerfen, denn, zum einen: endloses Beharren wäre – mit Becketts Worten – „vermessen und ärgerlich“30; zum anderen: Sieg und Niederlage haben hier eine andere Bedeutung als sie es gewöhnlich im Schach haben. Mit der Entschlüsselung der Strategie des Schwarzen hat sich seine Aufgabe in dieser Partie erst einmal erfüllt. Mehr geht erst einmal nicht. Es geht ja auch eher um ein „weniger machen“ in dieser Partie als um ein „mehr“. Beckett wusste davon, denn er kommentiert bereits den fünften Zug von Weiß wie folgt: „Offenbar nichts Besseres, so schlecht es ist.“31

Fußnoten

  1. James Knowlson [2001]: Samuel Beckett – eine Biographie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1017.
  2. Arikha, Avigdor: Samuel Beckett jouant aux échecs avec Noga, 20. Octobre 1980, abgedruckt in: Ausst. Kat. Avigdor Arikha: Paris sur le vif, encres et dessins, Palais des Beaux Arts, Lille, Frankreich, 12. Juni – 12. September 1999, Editions de la Réunion des musées nationaux, 45.
  3. Dass sich in Becketts Bibliothek ein Schachbuch befand, das sich mit den sog. „Endspielen“ befasste, dazu siehe Knowlson, James [2001]: Samuel Beckett – eine Biographie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1017. Es sind die „150 Endspielstudien“ von Henri Rinck [1909]: „150 Fin de partie“, Veit Verlag, Leipzig.
  4. „Zeittafel 1935“ und „Zeittafel 1936“ in: Craig, G./ Dow Fehsenfeld, M./ Gunn, D./ More Overbeck, L. (Hrsg.) [2013]: Samuel Beckett. Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929 – 1940, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M., 313 und 365.
  5. Paul Morphys Großvater Michael war irischer Abstammung und schrieb sich „Murphy“. Als er 1753 die spanische Staatsbürgerschaft annahm, änderte er den Nachnamen in „Morphy“. Paul Morphy wurde 1837 in New Orleans geboren und starb 1884 dort.
  6. Jones, Ernest [1930]: Das Problem Paul Morphy, ein Beitrag zur Psychoanalyse des Schachspiels, In: Ernest Jones [1978]: Die Theorie der Symbolik und andere Aufsätze, Ullstein Verlag, Frankfurt a.M. – Berlin – Wien, 216-242.
  7. Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 190-192. Hier die Partie zum Nachspielen und -prüfen: Weiß (MURPPHY) Schwarz (Mr. ENDON). 1. e4 Sh6 2. Sh3 Tg8 3. Tg1 Sc6 4. Sc3 Se5 5. Sd5 Th8 6. Th1 Sc6 7. Sc3 Sg8 8. Sb1 Sb8 9. Sg1 e6 10. g3 Se7 11. Se2 Sg6 12. g4 Le7 13. Sg3 d6 14. Le2 Dd7 15. d3 Kd8 16. Dd2 De8 17. Kd1 Sd7 18. Sc3 Tb8 19. Tb1 Sb6 20. Sa4 Ld7 21. b3 Tg8 22. Tg1 Kc8 23. Lb2 Df8 24. Kc1 Le8 25. Lc3 Sh8 26. b4 Ld8 27. Dh6 Sa8 28. Df6 Sg6 29. Le5 Le7 30. Sc5 Kd8 31. Sh1 Ld7 32. Kb2 Th8 33. Kb3 Lc8 34. Ka4 De8 35. Ka5 Sb6 36. Lf4 Sd7 37. Dc3 Ta8 38. Sa6 Lf8 39. Kb5 Se7 40. Ka5 Sb8 41. Dc6 Sg8 42. Kb5 Ke7 43. Ka5 Dd8 Und Weiß gibt auf. – Es ist interessant – und in gewissem Sinne zu vergleichen mit dem Begreifen der Lacan‘schen Knotentheorie – , dass – es sei denn, man ist ein geübter Spieler im Blindspielen – , die einzelnen Züge auf dem Schachbrett auch wirklich Zug für Zug nachgespielt werden müssen, um sich einen Begriff vom Spielgeschehen machen zu können.
  8. Rathjen, Friedhelm [2006]: Samuel Beckett, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 51. Ich gehe nicht davon aus, dass Samuel Beckett mit dieser Abbildung auf dem Buchumschlag auf die sog. „Orang-Utang-Eröffnung“ (1.b2 – b4) hinweisen wollte.
  9. wie das Klavierspielen?
  10. Sigmund Freud nannte das Schachspiel „edel“. Freud, Sigmund [1913]: Zur Einleitung der Behandlung, In: Gesammelte Werke Bd. VIII, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1999, 454.
  11. Mir ist nicht bekannt, dass genau diese Partie schon einmal gespielt worden ist. Deshalb nenne ich sie – wie immer auch vorläufig – eine Komposition Becketts.
  12. Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 191.
  13. Ebd. 192.
  14. „Schach ist ein Kampf, und nur ein Sieg zählt.“; so der dreizehnjährige Bobby Fischer. In: Brady, Frank [2012]: Endspiel – Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer, Riva Verlag, München, 67. Oder: „Hans, Sie werden nie ein guter Spieler sein, weil Sie nicht kompetetiv genug sind. Sie müssen den Wunsch haben, Ihren Gegner zu zermalmen, zu töten.“ (Duchamp in einer Pause nach einer Partie zu Richter. Siehe: Cleve Gray, Art in America, 7/1969. In: Strouhal, Ernst [1994]: Duchamps Spiel, Sonderzahl Verlag, Wien, 95.
  15. Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 192.
  16. Ebd.
  17. Der gute Hinweis auf Herman Melvilles „Bartleby the Scrivener“ kommt von Franz Kaltenbeck. (Sitzung vom 18. September 2015).
  18. Davon, dass „[…] die Schizophrenen doch kaum unsere Bedeutungen[…] teilen?“ hat Franz Kaltenbeck in seinem Text „Sesselschlingen“ geschrieben. Dieser Text liegt mir nur als Abschrift vor. Siehe auch: Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 139-140: „Für ihn (Murphy) würde hinfort Gas Chaos und Chaos Gas sein“. Sowie: „[…]es war seine Bedeutung.“ (Ebd. 145).
  19. „Unbeweglichkeit warf man uns vor und das Verpassen der Rebellion draußen auf den Pflasterstränden; aber unsere Unbeweglichkeit war ja die Rebellion, und die Pflasterstrände liegen heute noch da.“ In: Fauser, Jörg [2014]: Marlon Brando – Der versilberte Rebell, eine Biographie; Alexander Verlag, Berlin, 34.
  20. Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 192.
  21. Büchner, Georg [1835]: Lenz, In: Werke und Briefe, Münchner Ausgabe Herausgegeben von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997, 137.
  22. Im Original: “[…] turned his King and Queen’s Rook upside down […]”. (Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Faber und Faber Verlag, London 2009, 153). “to turn upside down”: umkippen, überschlagen, auf den Kopf stellen.
  23. Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992,192.
  24. Zum Zusammenhang von Schachspiel und Skulptur im Denken und in den Werken Marcel Duchamps siehe Strouhal, Ernst [1994]: Duchamps Spiel, Sonderzahl Verlag, Wien, 95. Es gibt mehrere Bemerkungen von Duchamp dazu.
  25. Beckett schreibt von dem „[…]langen Streik seines [Murphys] Lebens.“ In: Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 146.
  26. Ebd. 192.
  27. Die Zeit spielt in den Partien Murphy – Endon eine andere Rolle als in einer „normalen“ Turnierpartie, denn beide Spieler benutzen keine Schachuhr. Eine Partie zwischen Murphy und Endon kann, schreibt Beckett, „[…]acht oder neun Stunden[…]“ (Ebd. 149) dauern. Zum Rhythmus des Ziehens der Züge in einer Partie, der von Murphys Rundgängen im Spital sowie seiner jeweils auf einen Rundgang folgenden Pause in Mr. Endons Zelle, in der die Partie stattfindet, bestimmt wird, siehe Ebd. 189-190. Die Funktion der Zeit in der Partie Murphy – Endon ist aber durch die Angabe der reinen Spieldauer einer Partie klar unterbestimmt.
  28. Ob und inwieweit sich diese Strategie des Mr. Endon mit einem unbewussten Wunsch oder der plötzlichen Erkenntnis eines Subjekts decken kann, gar nicht geboren worden zu sein, obwohl es bereits geboren worden ist, kann Gegenstand eines anderen Textes sein bzw. werden. In seiner Beckett-Biographie zitiert Friedhelm Rathjen aus den „Gesprächen mit Samuel Beckett“ von Charles Juliet Becketts Satz: „Ich hatte immer das Gefühl, als wäre auch ich nie geboren worden.“, den Beckett auf eine im Oktober 1935 gemeinsam mit W.R. Bion in London gehörte Vorlesung von C.G. Jung bezieht. (Rathjen, Friedhelm [2006]: Samuel Beckett, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 53).
  29. Beckett nennt das Spiel ja auch – nicht nur spöttisch – „eine Endons Offensive“ (Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992, 190.
  30. Ebd. 192.
  31. Ebd. Samuel Beckett hat die Begleitumstände des Schachspielens zwischen Murphy und Mr. Endon auf den Seiten 148-149, 189-190 und auf Seite 193 beschrieben, und für Spielanlage, Strategie und Taktik beider Spieler den einleuchtenden Begriff „fabianische Methoden, die beide anwandten […]“ (Ebd.149) gefunden. Im Original: “[…] the very Fabian Methods that both adopted.“ (Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Faber und Faber Verlag, London 2009, 117). Beckett erklärt den Begriff „fabianische Methoden“ nicht weiter, denn das, was im Falle seiner Komposition Mr. Endon, zum Teil auch Murphy als Schachspiel und im Schachspielen praktizieren, das sind fabianische Methoden. Inwieweit dieser bisher eher im Feld des Politischen gebrauchte Begriff für Theorie und Praxis einer sich grundlegend auf Freud und Lacan beziehenden Psychoanalyse, für die Arbeit des Analytikers und des Analysanten von Nutzen sein kann, kann weiter untersucht werden.

    Dieser Text kann auch als eine Art Fortsetzung, eine Folge meines Textes „Winchester“ (2014, bisher unveröffentlicht) gelesen werden.

Literatur

Arikha, Avigdor [1980]: Samuel Becket jouant aux échecs avec Noga, 20. Octobre 1980, abgedruckt in: Ausst. Kat. Avigdor Arikha: Paris sur le vif, encres et dessins, Palais des Beaux Arts, Lille, Frankreich, 12. Juni – 12. September 1999, Editions de la Réunion des musées nationaux, 1999

Beckett, Samuel [1938]: Murphy, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1992

Brady, Frank [2012]: Endspiel – Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer, Riva Verlag, München

Büchner, Georg [1835]: Lenz. In: Werke und Briefe, Münchner Ausgabe Herausgegeben von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997

Craig, G./ Dow Fehsenfeld, M./ Gunn, D./ More Overbeck, L. (Hrsg.) [2013]: Samuel Beckett. Weitermachen ist mehr, als ich tun kann – Briefe 1929 – 1940, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.

Jones, Ernest [1930]: Das Problem Paul Morphy, ein Beitrag zur Psychoanalyse des Schachspiels. In: Ernest Jones [1978]: Die Theorie der Symbolik und andere Aufsätze, Ullstein Verlag, Frankfurt a.M. – Berlin – Wien, 216-242

Freud, Sigmund [1913]: Zur Einleitung der Behandlung. In: Gesammelte Werke Bd. VIII, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1999

Knowlson, James [2001]: Samuel Beckett – eine Biographie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.

Rathjen, Friedhelm [2006]: Samuel Beckett, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Strouhal, Ernst [1994]: Duchamps Spiel, Sonderzahl Verlag, Wien

 

Destruktivität, Leidenschaft und Vernunft.

Notizen zu Sade mit Bataille

von Martin Seidensticker

 

Destruktivität, Leidenschaft und Vernunft. Notizen zu Sade mit Bataille 1

Von alters her, die Platonische Moral – dass die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften (oder gar der Materie) das Gute sei, und das Böse deren Umkehrung.

Und nun aber, Sade umgekehrt – das moralisch Böse liegt in der Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft, das Gute hingegen in der Umkehrung.

Zwar gibt es bei Sade noch den Versuch, aus der Leidenschaft ein Projekt zu machen; allerdings kann er dabei nicht mehr die Vernunft der Entfesselung der Leidenschaften entgegensetzen, vielmehr fungiert sie als dieser untergeordnet.

Nach Bataille könnte deren Opposition heute höchste Bedeutung annehmen. Und Sade zeigt in gewisser Weise beides – das wechselseitige Opfer als Nichterlösung, und damit die Identität der einen Destruktivität.

Beide Formen der Moral entblößen sich (gleich Materialismus und Idealismus) als Dogmen der Gewalt, der notwendig Identität schaffenden und Differenz beseitigenden, zugleich aber eben nihilistischen, das heißt sich in sich selbst nur verbrauchen könnenden, Utopiegestalten.

Im Mitgang durch Batailles Sade lösen sich aber auch Atopien aus, immanente Auswege, die ihre Bedeutung auch für die lacansche Analyse haben, wie mit aufscheinen können wird – gehen wir mit Bataille durch Sade, nehmen wir Notiz:

„Wenn man die Kontrolle der Vernunft über die Gewalt (das Sakrale) verliert, schwindet die Möglichkeit des Menschen. Wer diese Kontrolle vollständig verloren hat, ist kein Mensch mehr: Er ist verrückt.“2

Die Kontrolle der Vernunft aber verheißt die Beseitigung der Angst, ähnlich darin, andersherum, ihrem Ausagieren – letztlich tödliche Differenzvernichtungen aber beiderseits.

Die Angst imponiert als Barriere und end-gültiger Schutz zugleich. Es ergeht der Apell, der Angst nicht zu erliegen und ruft die Not-wendigkeit, der Angst zu antworten hervor. Das Brauchen jener Gewissheit, letztlich nicht von der Angst beherrscht, sondern über sie hinaus und aufgrund ihrer lebendig zu sein. (Die Erotik „als das Jasagen zum Leben bis in den Tod“3)

Es handelt sich um Aufschiebungen: der Todesangelegenheit und -konfrontation, des Angst-Aufschubs sowie der Nacktheits-Provokation; Ahnungen des Todes des Gottes sowie der Vernunft; Sterblichkeits‑Geschichten; initiale Narrative: Ein-weihungen – in Geschichte wie Existenz; Zeit‍–‍lich–keiten, immerzu.

Bataille entdeckt sie als Vorbereitungen des Sprungs – als Proto-Sexualitäten, überläufige, im Hinblick auf Sprünge im Sinne todestrieblicher Returns, Erkundungen immanenten Jenseits.

Sprünge, die ihre Kraft aus einem Zurückweichen nehmen – um zu springen, besser zu springen; mit dem Sprung Sades als perversem Vorbild: als Auf- und Anrufung, in und zum andern, sowie (je) einzigen Sprung …

Das thematisiert eine Brutalität, die über alle Grenze geht (Sade) – versus jener Brutalitäts-Aus-setzungen; Gewaltfreiheiten, nicht nur zur, sondern dann auch von der Gewalt, von dieser ab.

[Freiheiten – mit und zu der Gewalt (letztlich der Todesabwehr), diese verbrauchend, immanentisierend in zulassender Wahrnehmung, Fühl- und Denkbarkeit, Meditation sowie transzendierend in Kreativität, ausgiebig-loslassender Schöpfung – beide, Deutung und Transformation, sich wohl bedingend; sowie not-wendig rückvermittelt Ding-generativ.]

Zuletzt erwägt Bataille die ausufernde Brutalität Sades als Maßnahme auch für unseren Sprung, jenseits der Schaffung seiner Ungeheuer und Monstren – ließe sich sich nicht an der Breite seines Sprungs (nicht mehr aber auch nicht weniger als) auch die Breite des unsrigen ermessen? Unseres not-wendigen Sprungs, im Sinne einer Ethik der Verkehrung der Moralen und einer immanenten Auskehr aus diesen? Aus ihren notwendigen und notwendig gegenläufigen Moralen: der Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften und/gegen ihre Umkehrung immer?

„Die Entfesselung der Leidenschaften steht auf dem Spiel“ – als Gutes, das „niemals der kalten Nützlichkeit des Gesetzes unterworfen werden kann“ („dem zu dienen die Gesetze vielmehr gemacht wurden“4) – aber gleichsam nicht das Produkt ihrer Herrschaft sein kann; vielmehr ein anderes aufruft: das Sein und das Begehren – als zeitweilige, persistierende.

„Die Entfesselung der Leidenschaften ist das einzig Gute – das ist, was ich zu sagen hatte.“ („Von dem Moment an, da die Vernunft nicht mehr göttlich ist, gibt es auch keinen Gott mehr.“5)

Die Arbeit ist immer und immer nur unterwegs, das heißt ihr Sinn ist bleibend ausständig – in ihr weilt beständig der Bezug „auf ein Jenseits der Reflexion und der Arbeit“6 – es ist die Ausständigkeit der am Schädel abständig befestigten Karotte, der Esels-Möhre.

Der Vortäuschungsbetrug der Erfüllung impliziert eine notwendige Augenblicks-Hascherei, deren not-wendige Schwäche nach Bataille zudem für jedes Sprechen gilt: „dass der Augenblick, von dem ich spreche, nicht der Augenblick sein kann, in dem ich spreche“7, der Augenblick der Erfüllung stets im Aufschub ist.

Von ihm zu sprechen, setzt folglich die sprachlich-differenzierende Unterwerfung voraus, ihn nicht zu leben – als Einschreibung in die symbolische Ordnung (symbolische Kastration) – als differenz-schaffende Befreiung – einer Weile – vom und zum – Leben und Tod.

Das Sprechen bedeutet die Nicht-Entfesselung, die Kettung an das Gesetz der Sprache – was sich bisweilen in einem Stöhnen verlauten mag.

Auch insgesamt: im Sprechen als dem Verlieren und Finden der Leidenschaft auf der Suche nach Worten und deren Vergessen, als Eruierungen der Fühlbarkeit zugleich – Signifikationen, schon.

Der Ausdruck der gefühlten Leidenschaft bedürfte allerdings zumindest den Übergang in die Poesie, als Prophylaxe der Verkettung, der Verhütung von Notwendigkeit und der Berufung einer Quasi-Selbstzweckhaftigkeit, vor allem aber einer Aufgabe der Bereinigung des Bewusstseins, im Sinne eines Zulassens und einer Anerkennung des Unbewussten – das heißt ihrer Kreuzungen.
Das bedeutete aber dennoch eine Unterwerfung unter die Schwere, trotz des Spiels – die nur ein Schweigen zu lösen vermöchte: zu lösen jene Schwere, die auch mit zu ersprechen war.

Die Antwort kann folglich anders nicht, als in einem Transit des Sprechens zum Schweigen und umgekehrt zumal liegen; Umkehrungen, die sich in sich verkehren sollten, maßgeblich …

Freilich, am Ende, noch einmal, sei wiederholt, die Frage nach einer Verkehrung und Verquerung der Moralen des Guten und Bösen: wie exekutieren? Mit Lacan imponiert dies im Anschluss an Bataille als die Frage einer Ethik der Psychoanalyse mithin, das ist seiner Ethik des Begehrens und Genießens.

Die Frage nach der Identität der einen Destruktivität (jener beiden umfassenden Moralen) weiß sich hier zu wiederholen, naturgemäß als Frage des Begehrens gleichsam: die Frage nach dem „unbenennbaren Feld des radikalen Begehrens“ als dem „Feld absoluter Destruktion“8 am Ende des Todestriebskapitels in seiner ‚Ethik der Psychoanalyse‘, sowie der „Frage nach der vollkommenden Destruktivität des Begehrens“9 am Ende seines Seminars über ‚Die Übertragung‘.

Naturgemäß als Frage nach der Aufrechterhaltung sowohl eines Begehrens wie eines Genießens, unter ihren not-wendigen und notwendigen Be-ding-ungen sowie Gesetzen und Gesetztheiten (das heißt auch ‚jenseits‘10), vermag das Begehren der Analyse nur ein unreines Begehren sein – davon bestimmt sich not-wendig auch noch, die Frage nach dem ethischen Akt …

(Heterologische Autonomie, Nicht-Identität des Subjekts – Eröffnung eines Feldes jenseits in der Entfesselung des Begehrens im Durchgang durch die Differenz …)

Das wird man lernen können, mit Batailles Sade, mit Lacan gegen Lacan, mit Kant gegen Kant, mit Ödipus gegen Antigone, und sowieso gegen den Nazismus und allen seinen Wiedergängern.

Fußnoten

  1. Auch ein Hinweis auf eine relative Neuerscheinung, auf deren Titeltext ich insbesondere referiere: Bataille, Georges [1929-1970]: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015. Bislang lag schon in Übersetzung vor (und in der Neuerscheinung nicht enthalten): Bataille, Georges [1947]: Sade. In: Bataille, Georges: Die Literatur und das Böse, Matthes & Seitz, München, 1987, S. 91-114.
  2. Bataille, Georges [1948]: Sade und die Moral. In: Bataille, Georges: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015, S. 49.
  3. Bataille, Georges [1957]: Die Erotik, Matthes & Seitz, München, 1994, S. 13.
  4. Bataille, Georges [1948]: Sade und die Moral. In: Bataille, Georges: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015, S. 52.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Lacan, Jacques [1986]: Das Seminar. Buch VII (1959–1960): Die Ethik der Psychoanalyse, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1996, S. 262.
  9. Lacan, Jacques [2001]: Das Seminar. Buch VIII (1960–1961): Die Übertragung, Passagen, Wien, 2008, S. 481.
  10. Jenes ‚jenseits‘ meint sowohl das ‚jenseits des Lustprinzips‘ wie auch das „jenseits des Phallus“ (Lacan, Jacques [1975]: Das Seminar. Buch XX (1972–1973): Encore, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986, S. 81.) noch, mithin das ‚phallische Genießen‘ wie auch das ‘Genießen des Anderen‘ auch.

Literatur

Bataille, Georges [1947]: Sade, In: Bataille, Georges: Die Literatur und das Böse, Matthes & Seitz, München, 1987, 91-114
—[1957]: Die Erotik, Matthes & Seitz, München, 1994
—[1929-1970]: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015

Lacan, Jacques [1975]: Das Seminar. Buch XX (1972–1973): Encore, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986
—[1986]: Das Seminar. Buch VII (1959–1960): Die Ethik der Psychoanalyse, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1996
—[2001]: Das Seminar. Buch VIII (1960–1961): Die Übertragung, Passagen, Wien, 2008

 

Wahn, Tod und Teufel:

Das Böse in der Spätantike und in der Spätmoderne

von Thanos Lipowatz

Abstract:

Das Thema Destruktivität, Todestrieb ist ideengeschichtlich mit der Erkenntnislehre der Gnosis verbunden, in deren Dualismus – in den antiken wie modernen Varianten – die Spannung zwischen den Gegenpolen von Gut und Böse das Thema ist.

 

1. Gnosis und Existentialismus. Stichworte

In der Spätantike werden seit dem ersten Jahrhundert Veränderungen im Gefühlsinhalt des Begriffs „Kosmos“ spürbar, sie äußern sich als gnostische Entwertung des bis dahin göttlichen Teils der sichtbaren Welt, der Himmelssphären als des Garanten der Harmonie im Weltall. Der Mensch wurde sich seiner Einsamkeit unter einem Himmel bewusst, der ohne göttliche Wesen, die Sterne, dämonisch geworden war. Wegen der adeligen Herkunft seiner Seele steht der Mensch gleichwohl über der Welt, auch wenn er nicht weiß, dass er ihr als Geist nicht angehört, sondern ein Gefangener des „Systems“ ist, in das er als Anderer, als Fremder hineingeworfen ist.

Seine Andersheit in der Welt zwingt den Menschen dazu, seine Einsamkeit zu entdecken, er versinkt in der Angst. Die Angst ist die Antwort der Seele auf den Zustand des „In-der-Welt-Seins“. Gleichzeitig ist die Angst selbst ein Teil dieser Entdeckung, denn sie kennzeichnet die Erweckung des inneren Selbst aus dem Schlaf oder Rausch der Welt, dem Kosmos. Indessen umfasst die Herrschaft der Welt nicht nur den physischen, äußeren Zwang, sondern bezieht auch die innere Entfremdung des Selbst mit ein. Das Subjekt entdeckt, dass es ungewollt der Vollstrecker der kosmischen Gesetze ist. Allein die mystische Erkenntnis (Gnosis) der Dinge kann das Subjekt befreien. Kein Glaube oder Handeln gibt ihm die Handhabe dazu.1

Das Ziel der Befreiung ist jedoch nicht auf die Eingliederung in das Ganze der Welt gerichtet, wie es die stoische Weisheit verlangte. Die Gnostiker waren vielmehr der Überzeugung, dass die Entfremdung bis an ihre Grenzen zu treiben sei und nur auf diese Weise der Zusammenbruch und die Erlösung der inneren Welt zu erreichen seien. Die Welt, die zu einem Herrschaftssystem reduziert worden ist, müsse überwunden werden, was allein mit den Machtmitteln des „Erkennens“ gelinge.

Erlösung indessen erfolgt durch die Herrschaft des kosmischen „Erlösers“, der radikal fremd in dieser Welt, von außen in das geschlossene System der Welt eindringt. Andererseits ergibt sich Erlösung durch die Macht der mystischen Erkenntnis, mit deren Hilfe der Mensch das magische Instrument, den Zwang, den die Sterne auf das Schicksal der Menschen ausüben, seinerseits bezwingt. Die Konfrontation, in der sich die Macht des Gnostikers der Sternenmacht entgegenstellt – durch seine Verstellung, das Böse zu überlisten – blieb die einzige Beziehung der Menschen zum Ganzen der Natur.2

In dieser katastrophischen Entwertung des Weltalls – die in keiner Weise der neuzeitlichen Wissenschaft ähnlich ist – ist die Welt durch und durch dämonisiert. Die in der Antike fundamentale Lehre vom Primat des Ganzen über die Teile hat ihre Bedeutung eingebüßt, wofür es soziale und politische Gründe gibt: Das politische Verschwinden der Autonomie der Städte und der Demokratie zählen ebenso dazu wie der soziale Abstieg der (höheren) freien, gebildeten Schichten, die ihr Träger waren. Unbesehen davon geht der Stoizismus von der „Kosmopolis“ und der „Ökumene“, d.h. von der Gesamtheit der bewohnten Erde aus. In der Stoa ist das Ganze jedoch eine künstliche abstrakte Idee. Das zeigt sich in den in der Stoa verwendeten Theatermetaphern von Position und Rolle, welche die Vorsehung des Schicksals (Heimarmene) jedem zuteilt. In der hierarchischen, geschlossenen Gesellschaft der Spätantike wie im Kosmos spielen alle eine vorherbestimmte Rolle, das Ich des Individuums ist unbedeutend. Wobei die Rolle des Individuums an die Stelle eines wirklichen Ziels tritt. Alle spielen, „als ob“ es ihre Entscheidung wäre. Die Agierenden sind zugleich Agierte und Zuschauer ihrer selbst. Eine tiefe Resignation und Passivität macht sich damit breit. Beides wird konterkariert durch eine bei den Intellektuellen der Zeit auftauchende Präferenz für heroische Leidenschaften, mit der die Würde der „Person“ gewahrt bleiben soll.3

Die neuen, individualisierten und entwurzelten Massen der absteigenden Schichten und der Intellektuellengruppen, die ihren sozialen und politischen Status im imperialen Rom verloren hatten, sowie bestimmte neureiche Schichten reagierten jedoch anders. Sie fühlten, dass sie als Individuen ein unbedeutender Teil geworden waren und das Ganze jetzt fremd gegenüber seinen Teilen stand. Das Ziel der Gnostiker war es nicht mehr, den Teil darzustellen, den das Ganze ihnen auferlegte, sondern nun ihr „eigentliches“, „authentisches“ Selbst zu verkörpern, indem sie unpolitisch wurden. In der Sicht der Gnostiker wurde das Gesetz des Imperiums, welches gleichzeitig das Gesetz des kosmischen Ganzen repräsentierte, jetzt mit der Gewalt identisch. Das Gleiche galt für die gnadenlose, kosmische Moira, das Schicksal, das den Makrokosmos des Weltalls regiert. Die „Heimarmene“ wurde entwertet, sie wurde zu etwas Negativem.4

Die Unterminierung der Idee des Gesetzes hatte indessen negative ethische Folgen. Sie machen die nihilistische Komponente des gnostischen Akosmismus und Antinomismus aus. (Bewusste Weltlosigkeit, bewusste Gesetzlosigkeit). Im psychoanalytischen Sinne könnte man sie als Verleugnung jeglicher Bindung an das ethische und politische Gesetz bezeichnen oder als eine Flucht aus der Welt, eine bewusst, provozierende Übertretung (Transgression) jeglichen Gesetzes und jeglicher Ethik mit dem Ziel der Abtötung von Körper und Begehren. In der antiken Gnosis, die mit der mittelalterlichen und modernen Gnosis nicht identisch ist, begann auf diese Weise ab dem ersten Jahrhundert die Auflösung und Unterminierung der tausendjährigen Erbschaft der antiken, griechisch-römischen Kultur.

Der Verlust von Werten, welche die Individuen ethisch verpflichten, war unumkehrbar geworden. Daran änderte der dem Manichäismus zugrunde liegende extreme Dualismus, der das genaue Gegenteil des Verzichts auf Transzendenz war, nichts. Denn diese Transzendenz hatte anders als in der Welt der Ideen Platons, anders auch als die Transzendenz des „Herrn der Welt“ im Judentum jetzt kein positives Verhältnis zur empirischen Welt mehr: Sie war ihre Negation und Verwerfung. Der gnostische gute Gott ist, anders als der böse Schöpfergott der Welt, als der gänzlich andere, fremde, „unbekannte“ Gott. Er steht näher zum Nichts als zum Einen. Es gibt hier eine Transzendenz ohne normativen Bezug zur Welt, eine Transzendenz, die ohnmächtig und kraftlos ist. In der Neuzeit ist der nicht geoffenbarte, „verborgene Gott“ (Deus absconditus) dann ein nihilistisches Konzept geworden: kein ethisches Gesetz folgt aus ihm.5

Die antike Gnosis war subjektivistisch und antinomistisch: Die Dinge sind indifferent, nichts ist von Natur aus gut oder böse, nur die menschlichen Meinungen (doxa) unterscheiden sie. Der „geistige Mensch“, der die Wurzel „des Bösen“ – d.h. die Sinne und das (phallische) Machtbegehren – in sich getötet hat, hat die Macht, „alles“ zu gebrauchen. Er ist ein „Übermensch“ geworden. Der auferweckte, göttliche Funke in ihm, der mystische „Geist“, verselbstständigt sich von jeglichem natürlichen oder menschlichem Gesetz; der Mensch ist nun auto-nom.

Dennoch bleibt der Ursprung der Meinungen, die Welt und ihr Schöpfer, dem sich die Seele zunächst unterwirft.

Im 3. Jahrhundert erkannte dann Plotin, dass das Fehlen einer ethischen Lehre mit der vollen Verachtung der Welt und der Übertretung jeglichen Gesetzes identisch ist. Im Rahmen eines kosmischen Determinismus identifizierten die Gnostiker das ethische Gesetz mit dem Naturgesetz. Mit der Folge, dass der jüdische Gott, der als Schöpfer und Gesetzgeber auftritt, nun der böse Gott wird. An dieser Stelle hat der Antijudaismus als eine gnostisch–paganistische Reaktion auf den Monotheismus seine Wurzel, und zwar innerhalb wie außerhalb des Christentums.6

Die antike Gnosis stand in Bezug zu einer mythischen, jedoch rationalisierten und apokalyptischen Geschichtsspekulation, in deren Rahmen die mystische Erkenntnis über die Ersten und die Letzten Dinge, ein „kritisches Ereignis“ bildeten. Es beantwortet existentielle Fragen folgender Art: Wo kommen wir her, wohin wurden wir geworfen, wohin eilen wir? Daneben gibt es einen dynamischen Begriff der Bewegung, die hier als eine rein subjektive, „therapeutische“, innere Bewegung zutage tritt, keine äußere, gesellschaftliche Bewegung ist, sondern eine passive Haltung impliziert. D.h. es gibt kein Verweilen im Sein, keine Atempause, nur noch das Werden schlechthin. Für die Gegenwart ist kein Platz mehr, sie ist selbst nur noch ein Moment der Erkenntnis.7

2. Gnosis und Moderne. Existentieller Nihilismus

Der innerweltliche Nihilismus der Moderne hat mit der antiken Gnosis wenige Gemeinsamkeiten. Denn die antike Gnosis „kennt“ noch unterschiedliche Zeiten der Vergangenheit und Zukunft, ähnlich wie sie die Ewigkeit als ihren Ursprung und ihr Ziel betrachtet.8

Der Unterschied zwischen dem gnostischen und dem existentialistischen Nihilismus besteht im Wesentlichen darin, dass der existentialistische Nihilismus radikaler ist und tiefer geht, insofern er auf die absolute Leere, den Abgrund und die Indifferenz der Natur ausgerichtet ist. Im Gegensatz dazu wendet sich die antike Gnosis gegen die unmenschliche Natur und es gibt für sie das Dämonische, das noch anthropomorph ist. In der antiken Gnosis gibt es außerdem ein Begehren, das gegen die physikalische Wissenschaft und gegen die Herrschaft der Kontingenz gerichtet ist.

Der moderne Nihilismus der positiven Wissenschaft – der, nebenbei gesagt, den Buddhismus und den Neopaganismus als ideologische Kompensation der „kalten“ Wissenschaft begünstigt – ist sodann in Heideggers Begriff von der „Geworfenheit in der Welt“ anzutreffen, wo er als ein Rest der dualistischen Metaphysik verstanden werden kann, denn es gibt keinen Wurf ohne einen Werfer.9

Im modernen Existentialismus des 19. und 20./21. Jahrhunderts (der nicht mit dem Denken der Existenz zu verwechseln ist) wurde dann die traditionelle christliche Metaphysik und die Idee eines ethischen Gesetzes aufgelöst und verleugnet. Insbesondere F. Nietzsches Dekret vom „Tod Gottes“ hat hier zur Entwertung der höchsten Werte beigetragen.

Spätestens mit dem Auftauchen des Rationalismus (nicht des Atheismus!) ist diese Tendenz aber im Rückzug begriffen. Die Folge ist, es gibt keine „Wunder“ mehr, die als Zeichen Gottes firmieren. Dem Menschen, der nunmehr verlassen, nur auf sich selbst angewiesen ist, bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst anzunehmen. Er ist nichts anderes mehr als sein eigener Entwurf: „alles ist erlaubt“. Es handelt sich jedoch um eine verzweifelte Freiheit, um ein Projekt ohne Richtung und Sinn, das eine selbstdestruktive Angst erzeugt.10

Der Existenzialist spricht auf paradoxe Weise: „Der Mensch ist ein Wurf der Natur“. Er wird von einer nicht mehr teleologischen, sondern kontingent verfahrenden Natur erzeugt und zwar als ein teleologisches Wesen, das sich um sich selbst sorgt. Parallel dazu behauptet der Reduktionismus der physikalischen Wissenschaft seine Notwendigkeit und führt theoretisch wie ethisch-politisch „alles“ auf die indifferente, unpersönliche, anorganische Natur zurück.

An dieser Stelle lässt sich mit Max Weber darauf hinweisen, dass die Human- und Geisteswissenschaften, die die Produktion von Sinn und von Werten zum Gegenstand haben, nicht auf physikalisch-chemische Weise „erklärt“ werden können, sondern mittels Sprache „verstanden“ und „interpretiert“ werden. (Eine Position, die auch vom Heidegger unterstrichen wird, bei dem es heißt, dass das, was uns „angeht“, nicht nur das ist, „dass“ wir existieren, sondern auch „wie“ wir existieren. Es muss ein Interesse, einen Sinn in der Natur, im Menschen, im Ganzen der Welt geben. Heidegger bleibt hier wie anderenorts philosophisch-pantheistisch).11

Vereinfacht gesagt, lässt sich die Moderne durch eine fundamental utopische Denkweise kennzeichnen. Stichworte dafür sind: das Phantasma der Selbsterzeugung und der Unschuld des Menschen, die Idee der moralischen „Vervollkommnung“ und der „Herstellbarkeit“ von Welt und Menschen. (Technologie als „Wille zur Macht“ (Nietzsche) oder als „Wille zum Willen“ (Schopenhauer)). Überwiegend handelt es sich um Ideologien der kontinuierlichen, immanenten Vervollkommnung, d. h. um Ideologien der Evolution, des Fortschritts und der Selbsterlösung des Menschen. Weiters um solche der Nutzenmaxierung (Bentham) mittels Technologie. Alle miteinander stehen sie im Namen des Menschenwohls.

Mit der Wendung gegen die klassischen Ideale der Moderne in der Spätmoderne, d. h. gegen Rationalität, Freiheit, Menschenwürde sowie gegen die Idee der Gerechtigkeit steht die Suche nach der Allmacht (Design des Menschen durch Handhabung der Gene) dann im Zeichen der Biotechnologien und im Dienste der Biopolitik. Hier lässt sich von einer auf paradoxe Weise selbstzerstörerischen, phantasmatischen Mischung aus Idealismus und Materialismus sprechen, die neue hybride Formen des Paganismus und der Gnosis produziert und ihrerseits dem Ziel der „Selbsterlösung“ des Menschen huldigt. Diese Haltung reagiert allergisch auf alles, was die Utopie der Moderne kritisch in Frage stellt. Sie ist, nebenbei gesagt, mit dem Wiedererstarken eines militanten, fundamentalistischen Atheismus der Wissenschaftler verbunden.12

Das Unbehagen in der Kultur hat indessen kein Ende. Im Gegenteil, die Verwunderung über die Weiterexistenz des unausrottbaren „Dunklen“ im Menschen nimmt Formen an. Künste und Medien reproduzieren beständig neue Figuren eines unvorstellbaren, allgegenwärtigen Bösen13, dessen Verwirklichung selbst die schlimmsten Befürchtungen übersteigt (brutale Kriege, Kinderpornographie, Missbrauch und Kinderkriminalität, Drogenabhängigkeit der Jugend, gesellschaftliche Korruption u.a.m.) Gleichzeitig nimmt die allgemeine Erschütterung über die zerstörerischen Kräfte der Natur zu und die Illusion einer „Harmonie“, die auf der Negation der Kontingenz und des Bösen sowie des Destruktionstsriebs beruht, verliert zunehmend an Kraft, und zwar ungeachtet aller öffentlichen Selbstzufriedenheit.

Noch einmal wird damit nach der Periode von 1914-1954 der idealistisch-humanistische, naive Optimismus widerlegt, dass wir uns auf der höchsten Stufe der Zivilisation befinden und Formen des Bösen „allmählich eliminiert“ wären. An der Oberfläche mag der alte Fortschrittsglaube deshalb weiter bestehen, vor allem in den Teilen der Bevölkerung, die in Selbstzufriedenheit, Moralisierungstendenz, „politischer Korrektheit“ oder auch amoralischer Permissivität kein Übel zu sehen vermögen. Gleichwohl wäre es absurd zu glauben, dass mit der humanistischen Ideologie der partikularistisch verstandenen, abstrakten Menschenrechte die Probleme der sozialdarwinistisch hedonistischen und individualistischen Kultur gelöst werden könnten.

3. Das Unheimliche im 20. und 21. Jahrhundert

Der Krieg von 1914-18 und seine Folgen waren das traumatische Ereignis par excellence; sie konstituierten die fundamentale Krise der Spätmoderne und sind der Anfang vom Ende der europäischen Hegemonie in der Welt. Die damals junge Generation der Intellektuellen stellte das Ende der Herrschaft der bürgerlich-liberalen und der sozialdemokratischen Ideologie des linearen Geschichtsfortschritts fest, denn diese Ideologien absorbierten und verschwiegen jeden Riss und jedes Versagen in den Erwartungen der Einzelnen.

Wie viele andere junge Denker seiner Generation übte Franz Rosenzweig radikale Kritik an dem dominierenden optimistischen Diskurs der Vernunft, der seinerzeit die Geschichte bewegte.

Dieser Diskurs war gebildet durch Begriffe wie Kontinuität, physikalische Kausalität, evolutionistischer und quantitativer Fortschritt, Selbsterlösung und Rettung wie Rationalisierung des Bösen. Ebenso wie der Moment der Gegenwart, der vor der Zukunft unbedeutend und flüchtig ist, hierbei von Bedeutung ist, der die Vergangenheit verdrängt.

Im Gegensatz zu der auf Hegel und Marx wie die liberale Utopie gestützten Auffassung von Zeit, wonach Zeitlichkeit eine Kategorie der Notwendigkeit ist, betonte Rosenzweig, dass der Erste Weltkrieg nicht mehr als ein Moment in der Dialektik des Geistes wie bei Hegel betrachtet werden könne, sondern die totale Zerstörung und einen schlechten Bruch im hegelschen Begriff der Weltgeschichte bedeutet.14

Wie viele andere mit ihm führte Rosenzweig daher den Begriff der Diskontinuität in die Geschichte ein; insofern die Brüche, Krisen und Katastrophen der Geschichte eine emphatische, symptomatische Bedeutung erlangt hatten. Inspiriert durch das Denken von S. Kierkegaard betonte er, dass Zeitlichkeit außerdem einen qualitativen Charakter besitze. Die „Verschränkung“ der drei Momente der Zeit und ihre Verdichtung in der Gegenwart verleihe erst der Vergangenheit wie der Zukunft einen Sinn. Erst zeitlich verschränkt werden das Elend, der Schmerz, die Vernichtung der Individuen wie die Verbrechen der Kriege und die Revolutionen der Vergangenheit nicht mehr durch die Zukunft „absorbiert“ (W. Benjamin).

Die Zeitlichkeit der Diskontinuität steht für die jungen Denker 1920 sodann im Zeichen unterschiedlicher Möglichkeiten. Wobei insbesondere für Rosenzweig hinter den Möglichkeiten des unvorhersehbar Neuen die Kategorie des zweideutigen Unmöglichen, des Absoluten steht. Letzteres stützt sich auf die transzendente oder quasi transzendente, eschatologische Hoffnung auf das Ereignis des Bruchs in der Geschichte. D.h. es geht um die Ankunft der messianischen Zeit (die in jedem Moment eintreffen kann), um einen Riss, der einen unvorhersehbaren Schnitt in die Kontinuität des Alltags einführt. Die Hoffnung auf das Eintreffen dieser Zeit lasse die (gläubigen) Menschen wirkliche Veränderung und das Erscheinen des Neuen erwarten. Sie konstituiert damit das Ereignis, das hier und jetzt stattfindet und das ein Fragment des Absoluten darstellt, das nicht im gewöhnlichen Fluss der Geschichte aufgeht.15

4. Hannah Arendt

Man kann das Denken von Hannah Arendt nicht richtig verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, dass sie in ständigem Dialog mit der damaligen Intelligenz stand, bei der es außer oben erwähnten radikalen, auch liberale und konservative Tendenzen gab. In diesem Sinn ist zu verstehen, dass H. Arendt den Begriff des unvorhersehbar Neuen von Rosenzweig wie auch den des „Schwindels vor der Freiheit“ (Kierkegaard) aufgreift und in ihr Denken Momente einbezieht, die aus dem „Nichts heraus kommen“, d.h. Ursprünge, Gründungen, Zusammenbrüche, Neugründungen, die das Neue implizieren. Gleichwohl teilte Arendt die Erwartung des eschatologischen, messianischen Ereignisses von Rosenzweig nicht.

Das radikale Neue hat immer einen ambivalenten und zweideutigen Charakter. Es kann immer zu Gewalt, Chaos, Diktatur und zur Katastrophe führen. Es kann stets eine radikale Gestalt des Bösen (Totalitarismus, Fundamentalismus) annehmen, wie es auch zu einer flüchtigen Form des Guten werden kann. Weil beide Ausgänge offen stehen, sollte keine von beiden Formen, am allerwenigsten Letztere, das Gute, in der Welt der Immanenz und Endlichkeit verabsolutiert werden. Denn die Präsenz des Unmöglichen, des charismatischen Moments, die Ausnahme von der Kontinuität bedeutet niemals die Abschaffung der Alltäglichkeit. Im Gegenteil, der Ausnahme verdankt die Alltäglichkeit erst ihre Existenz. Gerät dieser Zusammenhang in Vergessenheit, wird eine umso schlimmere Form des Bösen entstehen.

Arendt hat diese Zusammenhänge klar gesehen, insbesondere da, wo sie den friedlichen, aber kurzlebigen, demokratischen Aufständen seit 1950 Bedeutung beimisst, ohne diese zu idealisieren. (Ich ergänze die Liste für die Zeit nach ihrem Tode im Jahre 1975: Berlin 1953, Budapest 1956, Berkeley 1964-68, Westberlin 1966-69, Paris 1968, Prag 1968, Polen 1980, Berlin und Osteuropa 1989, Peking 1989, Iran 2009, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jemen, Bahrain, Syrien 2011, usw.)

Alle diese Versuche “misslangen“, degenerierten, waren nur partiell erfolgreich, wurden verzerrt realisiert oder waren nicht das, was die Akteure erwartet hatten.16  16

All dies ist die Regel in der Geschichte, was jedoch die Bedeutung der Ereignisse nicht mindert, da die Ereignisse stets zu Symbolen erhoben werden. Und die Macht der Symbole ist schließlich stärker als die leichten Erfolge in der Geschichte. Symbole schreiben sich nämlich in das Gedächtnis der Generationen ein, sie kommen als Forderungen zurück. Aber H. Arendt ist keine Anhängerin des Spontaneismus, sie denkt differenziert. In ihrem ganzen Werk betont sie die Bedeutung der Institutionen und die Notwendigkeit der Institutionalisierung von Revolutionen, etwas, was das Studium der Geschichte nur bestätigt.

In besonderer Weise betont sie die Bedeutung, die die Enthüllung der Wahrheit in der Politik besitzt, (Eichmann-Prozess 1961, Watergate-Skandal 1974), insofern sich an diesen Stellen die Widerstandsmöglichkeiten zeigen, die gegen das Böse in der Politik existieren. Bei aller Bedeutung, die das charismatische Element für die Mobilisierung der Individuen hat, ist es H. Arendt bewusst, dass die Veralltäglichung des Charismas, d.h. seine Institutionalisierung, genauso notwendig ist, da ohne diese kein kollektives Gedächtnis, keine Geschichte und keine Zukunft existieren würden.17 Für Arendt ist deshalb unzweifelhaft, dass die wahre Mobilisierung stets „im Namen“ eines Ereignisses, einer Idee, eines Symbols steht. Es gibt eine Dialektik des charismatischen Ereignisses und der Institutionalisierung, und zwar im Rahmen der Wiederholung. Einer Wiederholung, an der W. Benjamin die Pflicht der Lebenden gegenüber den Toten betont, insofern die Lebenden in der messianischen Zeit dazu aufgerufen sind, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

5. Krise

Seit dem 19. Jahrhundert ist die Krise dauerpräsent. Bereits 1948 lieferten der junge Marx und Kierkegaard eine klassische, kritische Beschreibung der ambivalenten Gefühle, die die unheimlichen historischen und biographischen Ereignisse und ihre Symptome begleiten. Demzufolge wirkt sich eine Krise immer auf zwei Seiten aus. Einmal auf die subjektive Lage der Individuen (in Gestalt von Verzweiflung), zum anderen auf den kollektiven Zustand der sozialen Gruppen und Schichten (als Entfremdung). Krise hat ein Proteus-Gesicht, sie produziert immer neue Symptome, sie wird wiederholt von Verschärfungen begleitet oder geht in einen latenten Zustand über. Die Krise ist das Schicksal der Moderne. Hinter den Einzelfällen finden sich immer die gleichen Züge wieder.18

Ende des 19. /Anfang des 20. Jahrhunderts dominierte in der allgemeinen Wahrnehmung der beruhigend optimistische, aber trügerische Eindruck, dass Europa die Ideale der Aufklärung endlich verwirklicht hätte: „Fortschritt“, „Wohlstand“, „Freiheit“ und „Friede“.

Doch die große allgemeine Krise kommt in Europa (s.o.) Ende des ersten Weltkrieges zum Ausbruch. Das besiegte Deutschland machte die kumulierte Leidenserfahrung aller Übel: von der Auflösung der Wirtschaft und des Staates bis hin zur Auflösung der Werte und Identitäten. Die große Wirtschaftskrise von 1929 gibt der Weimarer Republik nur noch den Gnadenstoß, da die Republik längst von innen her zersetzt war. Alle, die jetzt eine radikale, extreme Lösung vorschlugen, waren längst selbst ein Teil des Problems geworden.

Arendt erlebte die Krise in früher Jugend, beginnt aber erst nach dem zweiten Weltkrieg sich über die Folgen, die sich zwischen 1945 und 1970 manifestieren, zu äußern. Vor allem sieht sie einen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, der zur Wiedergeburt des demokratischen Rechtsstaats in Westeuropa führte, im Alltag aber seine leisen Spuren hinterließ; Spuren, die nur von denen, die Augen zu sehen und Ohren zu hören hatten, wahrgenommen wurden.

6. H. Arendt, Die Banalität des Bösen

In ihrem Text über das Böse (Vorlesungen im Jahre 1965, USA), konzentriert sich Arendt auf die moralischen Werte, von denen die Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts noch glaubten, dass sie unveränderlich und von vitaler Bedeutung seien, nach dem ersten Weltkrieg jedoch zusammengebrochen sind.19

Es geht um Fragen, die das individuelle Verhalten und die wenigen Regeln und Normen betreffen, durch welche Menschen normalerweise das Rechte vom Unrechten unterscheiden. Sie dienen dazu, sich selbst und die anderen als Teile eines göttlichen Gesetzes oder eines Natur-Gesetzes zu rechtfertigen, wenn nicht, sich selbst in Frage zu stellen. Das galt bis zu dem Moment, an dem all diese Normen, in einer Nacht, ohne Vorwarnung, zusammenbrachen. Etwas Unheimliches schien sich plötzlich ereignet zu haben.

In der Zeit zwischen 1933-45 erlebten die Menschen den totalen Zusammenbruch aller ethischen Gesinnungen. Die Normen im öffentlichen und privaten Leben lösten sich auf. Insbesondere in Deutschland – aber auch in Russland wie anderenorts – wurden neue Regeln gegen die bisherigen Werte der Aufklärung, des Christentums und Judentums eingeführt. Die Ethik reduzierte sich plötzlich auf eine Reihe von Sitten, Gewohnheiten und Konventionen. Bemerkenswerterweise passierte dieser Wandel aber nicht nur bei kriminellen Individuen, sondern bei den ganz gewöhnlichen Menschen, die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges sofort wieder zur „Normalität“ zurückgekehrt waren.20

In Westdeutschland folgte bis 1960 eine Verdrängungsperiode, während die ethische Frage in Zusammenhang mit den Monstrositäten der vorhergehenden Zeit in der Schwebe blieb. (Im totalitären Regime Ostdeutschlands gab es nie eine offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die kollektiv verdrängt wurde). Indessen ging es um etwas, wozu es noch keinerlei ethische und rechtliche Norm gab, die man zur Beurteilung hätte heranziehen können.

Arendt betont, dass das, was geschehen war, der Genozid an den Juden und Zigeunern, die Versklavung und Vernichtung von Russen und Polen, etwas war, das nie hätte geschehen dürfen (das Unheimliche). Sie stellt fest, dass es dabei nicht einfach um Kriegsverbrechen von gewöhnlichen Mördern ging. (Juristisch wurde das Problem mit der Einführung des Begriffs „Verbrechens gegen die Menschheit“ durch die UNO gelöst, d.h. durch den Begriff von Verbrechen, die jedes andere Verbrechen übersteigen. Nach 1945 fanden solche Verbrechen gegen die Menschheit in Kambodscha, Ruanda und Bosnien (Srebrenica) statt.21

Was Deutschland betrifft, so gab es nach H. Arendts Beobachtung damals viele „falsche“, weil rein gefühlsmäßige Reaktionen auf die Verbrechen. Beispielsweise Reaktionen, bei denen die Konfrontation mit den Verbrechern rein gefühlsmäßig auf Entrüstung und Schuldgefühl reduziert wurde. Arendt unterstreicht indessen positiv die Tatsache, dass die nach 1960 einsetzenden Prozesse gegen die nationalsozialistischen Verbrecher bedeutende Folgen für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hatten. Die Verurteilungen hatten als solche große politische und ethische Bedeutung für die neuerliche Etablierung des Gefühls der Gerechtigkeit in der Gesellschaft.

So konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die konkrete Person der Angeklagten in der Massengesellschaft, d.h. in einer Gesellschaft, in der es ideologisch und praktisch vorgegeben ist, die eigene Verantwortung auf die „Gesellschaft“, die „Partei“, das „Unbewusste“ oder die „Natur“ abzuschieben. In den Prozessen wurde jedoch die Frage gestellt, warum der Angeklagte zu einem Machtträger in der Organisation des Staates oder der Partei geworden war. Arendt besteht darauf, dass die Mehrzahl der NS-Täter keine gewöhnlichen Kriminellen, sondern ganz „normale Menschen“ waren, die Befehle anderer exekutierten oder ihren Mund und ihre Ohren gegenüber allem, was sie sahen oder hörten aus Karrieregründen und Opportunismus verschlossen hatten.

Die Prozesse brachten ein starkes Interesse der Öffentlichkeit für ethische Fragen zutage.22

Als Folge der Identifizierung vieler integrer Menschen mit den Angeklagten gab es mancherlei ethische Konfusion. So wurde das Argument geltend gemacht, dass „in jedem von uns ein Eichmann steckt“. Ein Argument, das auf falsche Weise die wesentlichen Unterschiede zwischen Schuldigen und Unschuldigen verwischte und für Konfusion zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sorgte, d.h. die Tatsache verwischte, dass ein Individuum nur in der Wirklichkeit durch seine Tat schuldig wird.

Arendt betont in dem Zusammenhang, dass heute (1965) kein Mensch mehr daran glaubt, dass ethische Regeln selbstverständlich sind, alles ist relativ geworden. Genau diese Situation ist seit 1980 wieder gegeben, seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist sie sogar verstärkt da. Sie ist das Ergebnis der weltweiten Herrschaft des „Casino-Kapitalismus“ und des relativistischen, nihilistischen Amoralismus der sogenannten Postmoderne.23

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch H. Arendts Bemerkung, dass viele Menschen, die es damals vermieden, verbrecherische Taten zu begehen, nach 1945 ihre Haltung nicht mit einer religiösen Weigerung erklärten, sondern sie subjektiv „ethisch“ legitimierten: „Denn sie konnten nicht die Verantwortung für jene Handlungen übernehmen“. Arendt sieht hier eine Konsequenz der Tatsache, dass im 20. Jahrhundert die Furcht vor der Strafe im Jenseits abhanden gekommen ist.

Diejenigen, die während des III. Reichs das ethische Gesetz nicht übertreten hatten, betrachteten das als „Selbstverständlichkeit“: „Ich konnte es nicht tun“. Das bedeutet eine Haltung, die einerseits als Enthaltung vom Handeln eine Ohnmacht anzeigt und auf Enthaltung in der kollektiven Sache hinweist. Andererseits läuft diese Haltung auf eine Grundentscheidung hinaus, die von dem Moment an getroffen ist, ab dem das ethische Gesetz real als etwas Absolutes, ohne Alternative anerkannt ist, so dass man nichts anderes mehr tun konnte. (Es gab eine Minderheit von Christen, die aktiv am Widerstand gegen das III. Reich teilnahmen, wofür sie mit dem Leben bezahlten.)

H. Arendts Interesse gilt auch den philosophischen Kriterien, mit denen das Böse im politischen Raum lokalisiert werden kann. Es ist von Bedeutung, dass sie im Zuge ihrer Überlegungen das Denken vom Erinnern unterscheidet und festhält, dass nur die Erinnerung und das Gedächtnis in der Lage sind, die Spuren der Vergangenheit aufzubewahren. Wenn ich mich weigere, mich zu erinnern, kann ich alles Mögliche tun. Der Zusammenhang verweist auf die Rolle der Wahrheit in der Politik. Andererseits ist die unbewusste Weigerung, sich zu erinnern, die Basis der Neurosen.24

Was die verzweifelten und verstockten Verbrecherfiguren – mit literarischer „Aura“ – angeht, so bilden sie für Arendt nicht die höchste Form des Bösen. Das höchste Böse wird vielmehr durch denjenigen verkörpert, der sich nicht mit sich selbst unterhält und sich nicht erinnert: Das höchste Böse ist für Arendt in diesem Sinne nicht radikaler Natur; es hat im Gegenteil weder Wurzeln noch Grenzen. Es findet sich bei Individuen, die sich selbst verlassen haben, die unfähig sind, ein „zwei-in-einem-Individuum“ zu sein. Das betrifft beispielsweise alle gewissenlosen, verstockten Kriegsverbrecher, die nachträglich nie Reuegefühle und Symptome gezeigt haben. Bei ihnen kommt zu den Verbrechen gegen die Menschheit noch die durch Ideologie und Rationalisierung vermittelte Dimension der – kollektiven, stammes- oder klassenmäßigen – grenzenlosen Vernichtung des Anderen hinzu.25

Arendt betont ferner, dass in bestimmten Grenzsituationen, das was zählt, nicht das objektive Böse, sondern das subjektive Böse ist. Der Urheber und das „wie“ der Tat zählen, nicht das „was“, die Tat und ihre Folgen allein. Die Tat bestimmt dann das höchstmögliche Böse als das, was von „Nichtpersonen“ getan wurde (Banalität des Bösen), d.h. von jenen, die willentlich auf das Attribut des Personseins verzichtet haben. Das meint all jene, die sich weigerten, sich an ihre Taten zu erinnern und die nicht mit anderen kommunizierten. Ebenso wie sie sich weigerten, in den inneren Dialog mit sich selbst einzutreten und so zu blinden Vollstreckern der Befehle der anderen wurden.26

Indessen hat die Forschung um die Person von Eichmann ans Licht gebracht, dass Eichmann keinesfalls eine Marionette im allgemeinen Vernichtungsapparat war, sondern er sich selbst als „Idealisten“ betrachtete, der bewusst an das, was er aus Überzeugung tat, glaubte und darin seine Befriedigung fand.

Arendt betont schließlich, dass die größte Gefahr der Spätmoderne in der Indifferenz gegenüber dem Anderen liegt. Diese Gefahr äußere sich als Indifferenz gegenüber der Ohnmacht des Anderen wie als Indifferenz gegenüber der moralischen Qualität der Menschen, mit denen man Umgang pflegt. H. Arendt denunziert ebenfalls die spätmoderne Tendenz der Weigerung oder des Verzichts auf Beurteilung der öffentlichen Dinge und Personen wie die Weigerung, überhaupt Stellung zu beziehen. In all diesen Fällen handele es sich um Verleugnungen der Wahrheit. In solchen Haltungen sind auch die Stolpersteine (Skandale) begriffen, über die Individuen tatsächlich ins Straucheln geraten, insofern hier nicht bewusste und verständliche Motiven zugrunde liegen. Letztlich liegen hierin auch der Horror des Bösen und gleichzeitig seine Banalität im 20/21. Jahrhundert.27

7. Fazit und Schluss

In der Spätmoderne sind die Individuen zur ständigen Veränderung der Institutionen wie zur Beschleunigung der gelebten Zeit gezwungen. Sie leben in angstbesetzter Ungewissheit und existentieller Unsicherheit. Sie werden vom Zwang dominiert, die Phantasmen der sogenannten „Authentizität“ und „Selbstverwirklichung“ zu realisieren und dieses im Rahmen der Immanenz einer eindimensionalen, herzustellenden und zu konsumierenden Welt zu tun. So wird jedem Glauben an die Transzendenz der Garaus gemacht.

Die Folgen all dessen, der beschleunigten Zeit, der inflationären Akkumulation von „Müll-Informationen“, von ständiger Zerstreuung, Unfähigkeit zur Selbstkonzentration etc. sind vielfältig. Sie zeichnen sich ab durch ein „Ausbleiben“ der gelebten Zeitlichkeit und des kollektiven Gedächtnisses, durch das Ausbleiben einer Zeit der Ruhe und Besinnung wie der Zeit zur Selbstkritik.28 Aktuell politisch betrachtet könnte man sogar der Auffassung sein, dass das höchste Ziel der links-liberalen Kulturideologie darin besteht, programmatisch auf die Abschaffung des strukturellen, existentiellen „Mangels“ hinzuarbeiten. Die Folgen dieses Programms sind jedenfalls offensichtlich. Sie sind anzutreffen in der Instrumentalisierung des Lebens und der Sexualität, die heute die symbolischen Grundlagen des monotheistischen, kritisch philosophischen und psychoanalytischen Diskurses unübersehbar unterminieren. Zustande gekommen sind damit ein Werterelativismus, nivellierender Massenkonsum wie insgesamt die Banalisierung und Eklipse des Sinns der Kulturerbschaft.29

Fußnoten

  1. Vgl. Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 12 und 13. Vgl. auch Jonas, H. [1999]: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Insel Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig und Brumlik, M. [1994]: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Eichborn, Frankfurt a.M.
  2. Vgl. Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 14.
  3. Ebd. 15 und 16. Etwas Homologes fand auch in der geschlossenen Welt des Hofstaats im absolutistischen 17. Jahrhundert statt. Die Würde der Person ist aber auch ein Hauptbegriff der (neu-stoischen) Ethik Kants. Weber, M. [1922]: Soziologie der Religion. In: Ders. [1922]: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage, Tübingen, 1972, S. 307-8.
  4. Heimarmene und Ananke sind in der nicht monotheistischen Religion Namen des kosmischen Gesetzes. Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
  5. Ebd. 16 und 17.
  6. Ebd. 18.
  7. Ebd. 20.
  8. Ebd. 9. Noch für Pascal ist die Kontingenz des Menschen mit dem Willen Gottes konform. Der Wille Gottes hat „mich in diese unendlich kleine Ecke der Natur ‚geworfen‘“. Der verborgene Gott-Vater ist Geist, Wille, Macht und Liebe. Der „Tod“ Gottes im 19. Jahrhundert führte dennoch zum „Tod des Menschen“, der danach nur noch ein Wille zur Macht ist. Obwohl Pascal auf authentische Weise an die Erlösung durch Christus glaubte, litt er darunter, dass der „Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesus“ nicht mehr der „Gott der Philosophen“ war.
  9. Ebd. 23 und 24.
  10. Ebd. 17 und 18.
  11. Weber, M. [1922]: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, 508 und ders. [1922]: Soziologie der Religion. In: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie der Religion, Tübingen, 1972, 23-27.
  12. Kehl, M. [1986]: Eschatologie, Echter Verlag, Würzburg, 268 und Taubes, J. (Hg.) [1984]: Gnosis und Politik, 2. Bd. der Reihe Religionstheorie und Politische Theorie, Fink Verlag, München und Schöning, Paderborn
  13. Kehl, M. [1986]: Eschatologie, Echter Verlag, Würzburg, 269
  14. Mosès, S. [1992]: L´Ange de l´Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Seuil, Paris, 21-2, 66 und 313-351. Lipowatz, T. [2014]: Die trügerische Verführung und die unheimliche Enthüllung des Bösen, Weidler Verlag, Berlin
  15. Mosès, S. [1992]: L´Ange de l´Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Seuil, Paris, 23-24. Voegelin, E. [1938]: Die politischen Religionen, Fink Verlag, München, 1993.
  16. Arendt, H. [1963]: Über die Revolution, Piper, München, 1974 und diess. [1970]: Macht und Gewalt, Piper, München, 1981.
  17. Arendt, H. [1963]: Eichmann in Jerusalem. A report on the banality of evil, New York. Diess. [1972]: Wahrheit und Lüge in der Politik, Frankfurt a. M.
  18. Vgl. Ahrendt, H. [1968]: La crise de la culture, Gallimard, Paris, 1973, Koselleck, R. [1954]: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1974 und Adorno, Th. W., Horkheimer, M. [1947]: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1986
  19. Vgl. Ahrendt, H. [1965]: Über das Böse, Piper, München, 2008
  20. Ebd. 10 und 14-15.
  21. Ebd. 17-18.
  22. Ebd. 19-23.
  23. Ebd. 24-26.
  24. Ebd. 30, 51-53 und 75.
  25. Ebd. 76-77.
  26. Ebd. 101.
  27. Ebd. 150.
  28. Hervieu-Léger, D. [2002]: Une crise dont l´Eglise pourrait ne pas sortir. In: Rémond, R., Delumeau, J., Gauchet, M., Hervieu-Léger, D., Valadier, P. (Hrsg.) [2002]: Chrétiens tournez la page. Bayard, Paris 91 und 96.
  29. Ebd. 97.

Literatur

Adorno, Th. W., Horkheimer, M. [1947]: Dialektik der Aufklärung, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1986

Arendt, H. [1963]: Eichmann in Jerusalem. A report on the banality of evil, Viking Press, New York

—[1963]: Über die Revolution, Piper, München, 1974

—[1965]: Über das Böse, Piper, München, 2008

—[1968]: La crise de la culture, Gallimard, Paris, 1973

—[1970]: Macht und Gewalt, Piper, München, 1981

—[1972]: Wahrheit und Lüge in der Politik, Piper, München

Brumlik, M. [1994]: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Eichborn Verlag, Frankfurt a.M.

Hervieu-Léger, D. [2002]: Une crise dont l´Eglise pourrait ne pas sortir. In: Rémond, R., Delumeau, J., Gauchet, M., Hervieu-Léger, D., Valadier, P. (Hrsg.) [2002]: Chrétiens tournez la page. Bayard, Paris

Jonas, H. [1952]: Gnosis, Existentialismus, Nihilismus. In: Ders. [1963]: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen

—[1999]: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Insel Verlag, Frankfurt a.M. und Leipzig

Kehl, M. [1986]: Eschatologie, Echter Verlag, Würzburg

Koselleck, R. [1954]: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Surhkamp Verlag, Frankfurt a. M., 1974

Lipowatz, T. [2014]: Die trügerische Verführung und die unheimliche Enthüllung des Bösen, Weidler-Verlag, Berlin

Mosès, S. [1992]: L´Ange de l´Histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Seuil, Paris, 21-2, 66 und 313-351.

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Weber, M. [1922]: Soziologie der Religion. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Auflage, Tübingen, 1972.

—[1922]: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 1968

Voegelin, E. [1938]: Die politischen Religionen, Fink Verlag, München, 1993

 

  1. Brief an einen deutschen Freund
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