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01/2016 "Kreative Zerstörung"

Editorial

von Michael Meyer zum Wischen

Die erste elektronische Ausgabe von Y wird die im Laufe der Geschichte der Psychoanalyse immer wieder leidenschaftlich diskutierten Fragen um Todestrieb und Destruktivität aufgreifen. Die Beiträge dieser Nummer zeigen dabei auf verschiedene Weise, wie die Zerstörung im Zentrum des Lebens selber wirkt, womit der Freudsche Gedanke der Triebmischung besonderes Gewicht erhält. Ohne Entbindung sind dem Subjekt keine neuen Bindungen möglich.Diesen Gedanken findet wir bereits im ersten Beitrag dieses Heftes, in dem Birgit Meyer zum Wischen in die Komplexität des Freudschen Todestriebkonzeptes einführt. Sie macht deutlich, dass trotz der dem Todestrieb inhärenten Gewalt gerade erst dieser den Eros als seinseröffnendes Moment begründet und so der Todestrieb im Dienste der Lebenstriebe wirkt. Über die theoretische Auseinandersetzung mit dem logischen Primat des Todestriebes hinaus weist Birgit Meyer zum Wischen auf die klinische Relevanz dieser Idee  hin, da sie ermöglicht, eine Lockerung der Identifikationen des Subjekts in der Kur zu konzeptualisieren. Das betrifft “Verklebungen” aller Art, auch im kollektiven Bereich.

War Birgit Meyer zum Wischens Ausgangspunkt der Freudsche Text “Jenseits des Lustprinzips”, so finden wir in der folgenden Arbeit von Mai Wegener “Das bleierne Kästchen” ebenfalls eine genaue Lektüre einer Schrift Freuds, hier von “Das Motiv der Kästchenwahl.” Mai Wegener schlägt den Bogen zur Lacanschen Differenzierung von Realem, Symbolischem und Imaginärem und bringt so Tod und Todestrieb mit dem Realen, einer Lücke im Psychischem, in Verbindung. Hier ist auch Lacans These, dass es kein logifizierbares Geschlechterverhältnis gibt, zu verorten.

In Edith Seiferts Beitrag über das Nichtverstehen, den Todestrieb und andere Todesmomente in der Analyse lässt sich eben diese Nähe von Realem, Tod und Todestrieb im Kontext ihrer eigenen subjektiven Theoriegeschichte und klinischen Erfahrung wieder entdecken. Über die klassische Lacansche Signifikantentheorie hinausgehend fragt sie nach dem Platz des Nicht-Sagbaren und Sinn-losen in der Kur (der Lücke im Psychischen, von der Mai Wegener spricht; auch auch dem, was die Identifikationen auflöst, auf das Birgit Meyer zum Wischen hinweist). Edith Seifert stellt die für die weitere psychoanalytische Arbeit entscheidende Frage, wie es zu einem Umgang mit dem nicht Symbolisierbaren in der Kur kommen kann, der ein ritualisiertes Schweigen angesichts des Unsagbaren übersteigt.

Die folgenden Aufsätze des Bandes widmen sich literarischen Werken und ihrem Bezug zum Todestrieb. In “Ein Schreiben jenseits des Gesetzes. Das Geschick des Buchstabens und die Krankheit Tod” geht Michael Meyer zum Wischen auf die Entstehungsgeschichte und intertextuellen Bezüge des Textes “Die Krankheit Tod” von Marguerite Duras ein. Er zeigt, dass das Schreiben für diese Dichterin eine Möglichkeit bot, den Todestrieb zu sublimieren und untersucht, wie es zur Transformation eines zerstörerischen Genießens werden konnte. Dabei geht es sowohl um die potentiell destruktiven Folgen der Kluft im Geschlechterverhältniss, aber auch um die traumatische Dimension der konkreten historischen Situation, aus der heraus das Werk entstand (besonders die Konsequenzen der Shoah für Marguerite Duras).

In “Kafkas Folter” geht Franz Kaltenbeck dem quälerischen Aspekt der Liebe bei Kafka nach und zeigt, wie sich diese Qual in seinem Schreiben finden lässt. Franz Kaltenbeck zitiert den Dichter, wenn dieser an Milena schreibt: “Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle”, und macht in seinem Aufsatz deutlich, wie diese geradezu zerfleischende Liebe zum Medium seines Schreibens werden konnte und eben darin sublimiert wurde.

In “Schreiben, um erneut das Wort zu ergreifen” widmet sich Michèle Jung dem Schreiben Heinrich von Kleists. Es wird als eine Möglichkeit der Wiederherstellung von Sprache gedeutet, einer Bewahrung mit den Mitteln kalkulierter Auslöschung, die eine Wiederaufnahme des Sprechens erlaubt. Auch in diesem Text taucht die Verschränkung von Lebens- und Todestrieben auf und wird direkt auf den Schreibprozess bezogen.

Eckhard Rhode führt uns in eine Lektüre von Becketts “Murphy” ein. In “Fabianische Methoden” geht er der Frage nach, wie sich in einer Textpassage über ein Schachspiel Destruktivität nicht in Vernichtung zeigt, sondern in Stillstand, Verengung des Spielraums, Bewegungslosigkeit und Erstickung.

Martin Seidenticker nähert sich der Destruktivität von der Philosophie. In “Destruktivität. Leidenschaft und Vernunft. Notizen zu Sade mit Bataille.” wird die Frage nach der Destruktivität der Entfesselung der Leidenschaften gestellt, wie sie de Sade propagierte und mit der psychoanalytischen Ethik des Begehrens bei Lacan kontrastiert. Inwieweit kann das Sprechen, gerade auch in der Kur, einer solchen Entfesselung etwas entgegensetzen?

Dass Destruktivität nicht mit dem Bösen gleichgesetzt werden kann, macht Thanos Lipowatz mit einem philosophischen Spannungsbogen deutlich, der von der Gnosis der Spätantike bis zur Spätmoderne reicht. In  seinem Text “Wahn, Tod und Teufel”  findet sich die Idee, dass das Böse unserer Zeit sich bei denen finden lässt, die sich weder mit sich selbst unterhalten können, noch in der Lage sind, sich zu erinnern. Der Bezug zur eigenen Subjektivität und die Fähigkeit zur Erinnerung sind allerdings auch Momente einer psychoanalytischen Ethik. Thanos Lipowatz kann sich in vielem auf Hannah Arendt stützen, was dazu ermuntern kann, ihr Denken auch psychoanalytisch stärker zu würdigen.

Wir veröffentlichen auch einen Brief von Nazir Hamad an einen deutschen Freund, der angesichts der ersten Entwicklungen der sogenannten “Flüchtlingskrise” entstand und die Frage danach aufwirft, was Angst und Hass in einer paranoid aufgeladenen politischen Situation entgegen gesetzt werden kann. Ob Hamads positive Einschätzung der Position der deutschen Kanzlerin auch nach den späteren Entwicklungen gehalten werden könnte?

Barbara Buhl weist mit “24 Stunden” auf einen sehr direkten und provokanten Film über eine Spätabtreibung hin. Da der Film stilistisch die Grenzen von Fiktion und Realität durchbricht wird der Zuschauer selbst in das Gewaltsame des gezeigten Geschehens hineingezogen. Das Medium Film zeigt sich hier sowohl als Möglichkeit der Verarbeitung von Gewalt, wie zugleich auch selbst in seiner ihm eigenen Gewalt.

Über das Todestriebkonzept

von Birgit Meyer zum Wischen

Abstract:
Das Todestriebkonzept ist ein hartes Geschoss innerhalb der Psychoanalyse und Freud selbst sagt über den Todestrieb, dass er wesentlich stumm sei. Dennoch soll in dieser Vorlesung viel von ihm gesprochen werden. Über Freuds "Jenseits des Lustprinzips" von 1920 und Lacans Lesart des dort ausformulierten Begriffs des Todestriebs hinaus, werde ich es auch wagen, mich trotz dieses sperrigen Konzepts dem klinischen Bereich zu nähern und Fragen aufwerfen nach dem Genießen bzw. danach, was das für eine paradoxe Befriedigung ist, die das Subjekt aus seinem Symptom gewinnt und ob man diese jemals gänzlich wird aufgeben können (auch als Analytikersubjekt etwa). Die unmittelbar daraus resultierende Frage ist, was Analyse dann - angesichts des Todestriebs - überhaupt bewirken kann. Weiter werde ich darauf zu sprechen kommen, inwiefern Vergesellschaftung und Institutionalisierung, sprich: die Unterwerfung mehrerer Subjekte unter einen Signifikanten (Identifizierung) mit dem Todestrieb zusammenhängen und - last but not least - auch darauf, wieso gerade bei den kulturschaffensten Menschen (KünstlerInnen, SchriftstellerInnen beispielsweise) oft ein hohes Maß an Leiden mitschwingt. Denn schließlich ist das Werk des Todestriebs nicht der Kurzschluss mit dem Tod, der Selbstmord etwa, sondern Produktivität schlechthin.

 

1. Der Todestrieb im Dienst des Lebens

Das Konzept des Todestriebs ist kein sehr beliebtes und ein hartes Geschoss innerhalb der Psychoanalyse. Freud sagt in großartigen Textpassagen, der Todestrieb sei wesentlich stumm. Und trotzdem muss von ihm gesprochen werden, weil er für die Triebkonzeption der Psychoanalyse und auch für die psychoanalytische Praxis eine grundlegende Bedeutung hat.

Die Schwierigkeit liegt darin, wie von ihm/ über ihn gesprochen werden kann, weil es sich um einen von Freud in einer sehr eigentümlichen Weise eingeführten und konstruierten Begriff handelt, um – wie er auch selbst sagt – Spekulationen in Form eines „wissenschaftlichen Mythos“. Die Frage nach dem Wissen in der Psychoanalyse im Kontrast zum universitären Wissen spielt hier eine Rolle.

Der Todestrieb – das sei auch noch vorweg gesagt – ist nicht identisch mit dem Tod und er ist sogar am weitesten vom Tod entfernt, weil es bei ihm gerade um triebhafte und, wie Freud sagt, sogar „dämonische“ Aktivität, um einen Zwang zur Wiederholung geht und um Kultur stiftende Gewalt par excellence.

In dem Maß wie die Triebe Versuche darstellen, das Lustprinzip auf der Suche nach dem Genießen zu durchbrechen, sind sie alle Todestriebe. Der Lacansche Terminus „Genießen“, französisch jouissance, hängt unmittelbar mit dem Todestrieb zusammen und ist also für diese Ausführungen heute zentral. Die heutige Vorlesung handelt also nicht nur vom Konzept des Todestriebs, sondern in einem weiteren Sinne auch von dem des Genießens, das geradezu das Gegenteil zur Lust bildet und daher jenseits des Lustprinzips ist.

Aber kommen wir zunächst zurück zu Freud. Freud hat die Todestriebtheorie 1920 in seinem Text „Jenseits des Lustprinzips“ entwickelt. Auch vorher macht er bereits Andeutungen zu dieser Problematik, aber der Begriff wird erst in diesem Werk ausformuliert.

Bis zu diesem Punkt hatte er – so recht ausführlich in dem Aufsatz „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ von 1911 – als Grundlage der Trieblehre das Paar von Lust- und Realitätsprinzip verwendet. Der von Freud konstruierte psychische Apparat funktioniert in dieser Konzeption so, dass Spannungen mit Unlust verbunden sind und er diese Spannungen auf ein möglichst niedriges Niveau zu bringen bestrebt ist. Das angestrebte niedrigste Niveau kann nicht Null sein, denn dies würde den Tod bedeuten. Die Psyche arbeitet also nach dem Prinzip der Homöostase. Das Realitätsprinzip steht im Dienst der Selbsterhaltung und verhindert eine Befriedigung auf dem kürzesten Wege, wie sie das Lustprinzip verlangt. Es schiebt die Befriedigung auf, um über einen Umweg eine spätere Befriedigung in der Realität zu erlangen. Die Außenwelt legt Bedingungen auf, die bewirken, dass die Suche nach Befriedigung aufgeschoben wird. Das Realitätsprinzip bildet in der Freud’schen Triebtheorie insgesamt keinen wirklichen Gegensatz zum Lustprinzip, da im Gegenteil in ihm notwendig immer auch das Lustprinzip enthal­ten ist.

In der Traumtheorie entspricht dem Lustprinzip der Satz, jeder Traum sei eine Wunscherfüllung, oder genauer: die Darstellung einer Wunscherfüllung. Auch unlustvolle Träume, die Freud natürlich kennt und analysiert, widersprechen diesem Satz zunächst nicht, weil Freud der bewussten Unlust eine verdrängte unbewusste Lust an einer anderen Stelle des zusammengesetzten psychischen Apparats zuordnet.

In „Jenseits des Lustprinzips“ geht Freud von verschiedenen Fällen eines sogenannten „Wiederholungszwangs“ aus. Er hatte diesen Begriff bereits 1914 in dem Text „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ eingeführt, in dem es um die Schwierigkeiten der psychoanalytischen Kur geht. Wichtig ist zunächst die „traumatische Neurose“ oder Schreckneurose, in der ein unlustvolles, unvorbereitetes, überraschendes Erlebnis zwanghaft in den Träumen des Betroffenen wiederkehrt. Das von Freud am ausführ­lichsten beschriebene Beispiel ist das von ihm beobachtete Spiel eines eineinhalbjährigen Jungen (Freuds Enkel), das „Fort-Da-Spiel“, auf das ich später noch zurückkommen werde.

Der dritte Abschnitt von „Jenseits der Lust“ beginnt mit einem großartigen zusammenfassenden Rückblick auf die Entwicklung der Psychoanalyse.

Fünfundzwanzig Jahre intensiver Arbeit haben es mit sich gebracht, dass die nächsten Ziele der psychoanalytischen Technik heute ganz andere sind als zu Anfang.1

Diesen Anfang beschreibt Freud so: „Die Psychoanalyse war zunächst eine Deutungskunst.“2 Man könnte dies so umschreiben: sie ging von einem manifesten Inhalt aus und zielte auf das Erschließen des verborgenen latenten Inhalts ab. Sie versuchte, die Rätsel der Bildungen des Unbewussten zu lösen. Auch die beste Kunst des Rätsellösens verbleibt aber auf der Ebene des Ausgesagten, wogegen das Rätsel auch und vielleicht vor allem auf der Ebene des Aussagens, also der Subjektposition, aufgefasst werden kann. Diese stellt dann auch das Problem des Verfahrens dar: die Bestätigung der Konstruktion durch die Erinnerung des Analysanten. Es schält sich für Freud heraus, dass diese Bestätigung durch den Analysanten oft nicht erfolgt, ja, gerade das Wesentliche kann vielleicht nicht erinnert werden und das Verdrängte wird stattdessen in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker als gegenwärtiges Erlebnis wiederholt.3 Das ist der „Wiederholungszwang“, von dem Freud schreibt, dass er „auch solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedigungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen, gewesen sein können.“4 Er nennt diesen Zwang „ursprünglicher, elementarer, triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip.“5

Später verschärft Freud das Problem, indem er die „negative therapeutische Reaktion“ anführt. Damit ist das Verhalten von Analysanten gemeint, bei denen jeder teilweise Fortschritt, jede Auflösung von Symptombildungen zu einer Verschlimmerung führt. Er führt diese negative Reaktion auf ein „unbewußtes Schuldgefühl“ oder „Strafbedürfnis“ zurück und sieht darin letztlich ein Wirken des Todestriebs, der vom Über-Ich gegen das Ich gewendet wird.6

Jetzt komme ich zum eigentlichen theoretischen Teil des Freud-Textes, in dem er seine „Spekulation“ ausführt. In seinem Ansatz beeinflusst von der Theorie Fechners7 führt Freud zunächst ein Konstanzprinzip ein. Darunter ist das Bestre­ben des „psychophysischen Apparats“ vorzustellen, die in ihm vorhandene Erregungs­quantität konstant möglichst niedrig zu halten. Von diesem Konstanzprinzip leitet Freud dann das Lustprinzip ab, wobei er sich bereits wieder von Fechner entfernt. Denn, obwohl eine starke Tendenz hin zum Lustprinzip gibt, existieren in der Psyche auch gewisse Kräfte, die sich dieser Tendenz widersetzen, so dass das Ergebnis nicht immer der Lust­tendenz entsprechen kann.

Die „gewissen Kräfte“ deuten bereits den Todestrieb an. Dieser ist dann definiert als „ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte aufgeben mußte.“8 Die Triebe sind demzufolge konservativ. Sie streben die Rückkehr in einen früheren Zustand an. Der sich über das Lustprinzip hinwegsetzende Wiederho­lungszwang leitet sich direkt aus dieser grundlegenden Eigenschaft der Triebe ab.

Freud lässt nun diesen konservativen Charakter die Grenze des Lebens überschreiten. Ziel allen Lebens ist damit nicht ein bisher nie erreichter Zustand, sondern die Rückkehr in den zeitlich früheren Zustand des Anorganischen: „[…] so können wir nur sagen: Das Ziel allen Lebens ist der Tod.“9 In diesem unvorstellbaren Grund des Anorganischen bedarf es der Setzung einer ersten Differenz, um das Leben in Gang zu bringen – von die­sem unvorstellbaren (nicht widerspruchsfrei repräsentierbaren) Vorgang kann Freud nur erzählen (etwa in Art eines „wissenschaftlichen Mythus“, als den er seine Erzählung vom Urvatermord bezeichnet).10

Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften des Lebenden erweckt. […] Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten Stoff trachtete danach, sich abzugleichen; es war der erste Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren.11

Die bereits als triebhafte Spannung gefasste, das Leben ausmachende Differenz bezieht sich auf sich selbst, um sich in einem unmöglichen Unternehmen durchzustreichen und produziert so neue Differenzen bis der so generierte selbstreferentielle Prozess in einem gleicherweise eigentlich unvorstellbaren Ereignis wieder zusammenbricht. In dem Auf­satz „Das ökonomische Problem des Masochismus“ tritt zu dem unmöglichen Urzu­stand des rein auf sich selbst gerichteten Todestriebs, des mit dem „primären Masochis­mus“ zusammenfallenden „Ursadismus“,12 der aufschiebende, Differenzen setzende Lebenstrieb Eros hinzu, indem er einen Teil der Destruktionspotentiale vom Ich weg zum Außenobjekt hin ableitet.

Die Libido trifft in (vielzelligen) Lebewesen auf den dort herrschenden Todes- oder Destruktionstrieb, welcher dies Zellenwesen zersetzen und je­den einzelnen Elementarorganismus in den Zustand der anorganischen Stabilität (wenn diese auch nur relativ sein mag) überführen möchte. Sie hat die Aufgabe, diesen destruie­renden Trieb unschädlich zu machen, und entledigt sich ihrer, indem sie ihn zum großen Teil und bald mit Hilfe eines besonderen Organsystems, der Muskulatur, nach außen ab­leitet, gegen die Objekte der Außenwelt richtet.13

Der Aufschub dieses ursprünglichen Triebs, der unmittelbare Todesaufschub als Werk des Eros, ist als Umwandlung in den „ursprünglichen Sadismus“14 der entscheidende Einschnitt. Dieser erste Umweg zum Tod,15 die Umwendung des „Ursadismus“ in den „ursprünglichen Sadismus“, ist die fundamentale von Freud herausgestellte Bewegung. Die beiden Grundtriebe erreichen ihre Ziele nur mit Hilfe des jeweils anderen. Der Selbsterhaltungstrieb, der erotischer Natur ist, braucht die Aggression, um seine Absichten durchzusetzen; Eros setzt sich gegen den Todestrieb mit Hilfe von Sadismusakten zur Wehr. Der ursprüngliche Sadismus stellt sich so als Abwehr und Umwendung des Sterblichkeitsvollzugs in Gewalt dar. Leistung des Lebenstriebs Eros ist in provisorischer Weise die Umwendung des Todessogs in Le­ben, in Kultur.

Die Beziehung zwischen Eros und – dem erst postfreudianisch so genannten – Thanatos ist das Bemerkenswerte an dieser Theorie: Der Todestrieb verläuft kontinuierlich und vollkommen zielgerichtet, während sich die Eros-Aufschübe permanent wiederholen müssen. Sie haben als einziges Ziel, den Tod, als Endpunkt des Todestriebs, hinauszuzö­gern, indem sie versuchen, immer kompliziertere Umwege zu diesem Endpunkt einzu­führen. Sie haben kein vom Todestrieb unabhängiges triebhaftes Streben; sie bewegen sich nicht in eine Richtung nach vorwärts, sondern „krebsen“ vor und zurück, vom To­destrieb selbst der Wiederholung unterworfen. Eros ist Zusammensetzung und Unterbre­chung des Triebstrebens. Die beiden Triebe finden sich nie in reiner Form, sondern immer verbunden und vermischt zu individuell veränderlichen Teilen. Wir würden den Todestrieb gar nicht wahrnehmen, wenn er nicht mit Eros verbunden wäre. Insofern Eros im Dienste des Todestriebs steht, ist also nicht nur der Todestrieb, sondern das Gesamtgebilde konservativ.

Ein Teil des im ursprünglichen Sadismus nach außen gedrängten Destruktionspotentials tritt wieder unmittelbar in den Dienst der (psychoanalytisch erweiterten) Sexualfunktion als wesentlicher Eros-Leistung. Dieser Eros-Einschub führt auf die Ebene des Lebensvoll­zugs (in all seinen Aspekten) in Form des „eigentlichen Sadismus“. Freud schreibt über den Destruktionstrieb:
Ein Anteil dieses Triebes wird direkt in den Dienst der Sexual­funktion gestellt, wo er Wichtiges zu leisten hat. Dies ist der eigentliche Sadismus.16

Die von der Psychoanalyse beschriebene Entwicklungsgeschichte der Libido wird erst auf der Grundlage des herausgedrängten Todestriebs möglich. Die Sexualtriebe bahnen sich ih­ren Weg schließlich zum Objekt hin. Eros legiert auf dieser Stufe mit ihm unterge­ordneten Anteilen des Todestriebs. Es gilt also, dass eine sehr ausgiebige, in ihren Ver­hältnissen variable Vermischung und Verquickung der beiden Triebarten zustande kommt, so daß wir eben überhaupt nicht mit reinen Todes- und Lebenstrieben, sondern nur mit verschiedenwertigen Vermengungen derselben rechnen sollten.17

Die gesamte psycho­analytische Theorie der erweiterten Sexualität lässt sich hier einfügen und die Folge der Rollen, in denen die universelle Mitwirkung der subsidiären Todestriebkomponenten sich manifestiert, reicht von der oralen Vernichtung von Objekten durch Einverleibung (Essen, Verzehr) über den Analsadismus bis zur Funktion innerhalb der genitalen Sexualität, dem Geschlechtsakt, bei dem das Sexualobjekt bis zu einem erforderlichen Grad bewältigt werden muss. Nun ist es naheliegend, umgekehrt den derart innig mit dem Todestrieb verbundenen Eros als Lustanreiz und –beglaubigung der Gewaltakte des ursprünglichen Sadismus anzusehen.18 Diese bis hierher erfolgte Le­bensleistung kann schließlich kollabieren. Freud spricht hier von „Sadismus als Perver­sion“,19 der in der psychiatrischen Literatur als Pathologiefall beschrieben wird. Es han­delt sich hierbei um den Zusammenbruch der instabilen Bändigung des Todestriebs im beschriebenen „eigentlichen Sadismus“, um offene Gewalt, die sich nicht länger ver­schließen kann oder will. Der „Sadismus als Perversion“ hat sich von Eros getrennt, um sich im Rücktritt einer (partiellen) Entmischung der beiden Triebarten wieder direkt in den Dienst des Todestriebs zu stellen.

Freuds Streben nach Verwissenschaftlichung, sein Versuch, sich in den naturwissen­schaftlichen Diskurs einzureihen, erscheint nie so vergeblich wie hier und es ist auch oft kritisiert worden, worauf ich jetzt nicht weiter eingehen will. Die Biologie versagt die Unterstützung bei der Begründung der Konstruktion des Seelischen, was Freud aber nicht von seiner „Hypothese“ abbringen kann. Statt ein Scheitern zu konstatieren, kann man an dieser Stelle einen Wechsel auf die Ebene des Repräsentationsvermögens vollziehen.

Der Schritt vom Ursadismus zum ursprünglichen Sadismus kann nicht nur auf eine Angelegenheit des speziellen Organsystems der Muskulatur20 eingeschränkt werden. Er ist auf der Ebene einer Ab­fuhr durch Organsysteme nicht beschreibbar, da er nicht weniger „bewirkt“ als dass „überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts“. Der ursprüngliche Sadismus ist zu iden­tifizieren mit dem Repräsentationsvermögen, das die ontologische Konstitution von Welt erst ermöglicht.21 Im Unterschied zur Metaphysik „fundiert“ die Todestriebtheorie die­ses also im Gewaltakt der Umwendung des Ursadismus. Alles, was wir tun, ist Ableistung dieses ursprünglichen Sadismus (der prinzipiell jederzeit zum Sadismus als Perversion zusammenbrechen kann). Die gesamte menschliche Existenz, die sich im Vollzug des Repräsentationsvermögens manifestiert, tritt genau hier hervor: Wahrnehmen, Den­ken, Fühlen, Handeln, usw.

Die Freud’schen Todes- und Lebenstriebe können nun nicht länger als biologische In­stinkte angesehen werden. Denn der Mensch besitzt keine rein biologischen Instinkte und Bedürfnisse. Er befindet sich stattdessen immer schon in der Ordnung der Repräsentation oder der Ordnung des Begehrens. Wenn dann versucht wird, die Konstitution des Repräsenta­tionsvermögens selbst als biologische Genese zu beschreiben, kommt es zu derart para­doxen Gebilden wie den Freudschen „Ursprungs-Erzählungen“. Die Todestriebtheorie wirft die Frage nach dem Status der Psychoanalyse im Verhältnis zur Wissen­schaft in besonders drastischer Weise auf. Es ist zu fragen, ob ein Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht die in der Todestriebtheorie vorgenommene Aufdeckung tendenziell wieder verdeckend rückgängig macht, wie es partiell bei Freud und nach-freudianisch in der weitgehenden „Bereinigung“ der Psychoanalyse von diesem un-wissenschaftlichen Theorieelement zu konstatieren ist. Jedes Streben von Wissenschaft nach reiner Selbstgründung arbeitet jedenfalls einer Aufdeckung der eigenen Todestriebfundiertheit genau ent­gegen.

Mit dem Sadismusvokabular will Freud wohl darauf hinweisen, dass alles, was wir kulturell leisten, eine Angelegenheit von Gewalt ist, was wiederum auf die Hypothek unserer Sterblichkeit zurückfällt. In diesem Sinne ist jeder Wunsch nach Gewaltfreiheit illusorisch, insofern es aller Kulturarbeit zuwi­derläuft.

Widerstände gegen Veränderungen und Fortschritte, am Ende gegen eine Besserung durch die Analyse,22 belegen gerade die Macht des Todestriebs. Das einzige, was dem Todestrieb in einem gewissen Sinn entgegengesetzt wer­den kann, ist seine Anerkennung, die ihrerseits im System der Sadismen verbleibt. Den­noch ist das ganze Gebilde der Todestriebtheorie implizit auf unterschiedlichen Ebenen durch Gegensatzpaare gekennzeichnet: zum einen auf der Ebene eines Lust- und Reali­tätsprinzips, von An- und Abwesenheit, zum anderen auf der von Bewusstem und Unbe­wusstem und schließlich auf der von Gründung und Grundlosigkeit.

Bei aller Gewalt steht der Tod im Dienst des Lebens, insofern er der Grund ist für Eros als seins-eröffnendes Moment. Das Leben muss sich mit Bezug auf den Tod am Leben halten, sich – wie Derrida ausführt – mit aller Anstrengung selbst schützen, indem es die gefährliche Besetzung aufschiebt, das heißt,

indem es einen ‚Vorrat’ anlegt. Die bedrohliche Verausgabung oder Präsenz werden mit Hilfe der Bahnung und der Wiederholung hinausgeschoben. Ist das nicht schon der ‚Aufschub’, der das Verhältnis der Lust zur Realität instauriert? Ist das nicht schon der Tod im Dienst eines Lebens, das sich vor dem Tod nur durch die Ökonomie des Todes, den Aufschub, die Wiederholung und den Vorrat schützen kann?23

Die Kon­sequenz dieser Derridaschen Überlegung ist, dass es nie ein erstes Mal gegeben haben kann, womit auch der Begriff der Wiederholung ins Wanken gerät, denn es gibt nichts Ursprüngliches, – außer der Wiederholung selbst – das wieder(herge)holt werden könnte. Der präsente Ursprung entpuppt sich also als Mythos. Der Aufschub (différance) ist das einzig Ursprüngliche.

Die Wiederholung trifft nämlich nicht zum ersten Eindruck hinzu, ihre Möglich­keit ist bereits im Widerstand da, den die psychischen Neuronen beim ersten Mal auf­bieten. Der Widerstand selbst ist nur möglich, wenn der Widerstand der Kräfte fortdauert oder sich ursprünglich wiederholt. Die Vorstellung eines ersten Mals ist es, die an sich rätselhaft wird.24

Der Sinn der Wiederholung ist, durch die ganze Epoche der Metaphy­sik hindurch, der Aufschub der Präsenz, die seit Beginn der Neuzeit als Bewusstsein erscheint, als Selbstvergegenwärtigung. Auf das Rätsel des „ersten Mals“ werde ich gleich noch zurückkommen.

Die Todestriebtheorie skizziert also das Bestreben, sich selbst zum Ursprung zu werden. Gleichwohl zeigt die Todestriebtheorie, dass es kein von Gewalt freies Leben gibt.

Da Le­ben und Tod untrennbar miteinander verwoben sind, stehen sie nicht in einem Kampf zueinander – eine solche Annahme der Todestriebtheorie anzulasten, wäre m. E. ein funda­mentales Missverständnis. Der Anspruch auf ein vom Tod befreites, grenzenloses Leben vermag aber gerade, weil seine Erfüllung aussichtslos ist, ein Begehren hervorzubringen, das zu neuen kulturellen Erfindungen führen kann und letzten Endes gar keine andere Wahl hat als dies zu tun. Sie merken: die Todestriebtheorie geht aufs Ganze und berührt sehr grundlegende Fragen, die Freud bis zu seinem Tod nicht in Ruhe gelassen haben und auf die er keine befriedigenden Antworten mehr gefunden hat.

Ich möchte noch auf Freuds Analyse des bereits erwähnten Fort-Da-Spiels und auf den, bei Freud eher angedeuteten, Zusammenhang dieser Analyse mit der Todestriebtheorie eingehen. La­can, für den „Jenseits des Lustprinzips“ ein zentraler Text Freuds war, hat mehrmals auf dieses Fort-Da-Spiel zurückgegriffen. Ein Aspekt, der ihn dabei interessiert hat, ist sicherlich sein zentraler Satz, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist. Man kann das Fort-Da-Spiel als eine eindrückliche Szene sehen, in der es um den Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung geht. Bekanntlich setzt Lacan eine Dreiheit aus dem Realen, dem Symbolischen und dem Imaginären an. Er hat so am Anfang seiner Seminartätigkeit den Freudschen Wiederholungszwang als „Insistenz der signifikanten Kette“25 interpretiert, ihn also auf die Dimension des Symbolischen bezogen. Später hat er, ohne diese Interpretation einfach aufzugeben, sie um die anderen Dimensionen ergänzt und den Bezug zum Realen herausgestellt.

Der von Freud beschriebene Junge wiederholte permanent das Verschwinden und Wiederzurückholen seines Spiel­zeugs – eine Spule – und kommentierte dies jeweils mit den Lauten eines langen, melancholischen o-o-o-o (gedeutet als fort) und eines prägnanten, erfreuten da. Dasselbe Spiel wiederholte der kleine Junge später auch mit seinem eigenen Spiegelbild und kommentierte dies mit Bebi – o-o-o-o. Der Vorgang spielte sich immer wieder während der Abwesenheit der Mutter ab. Das Fortgehen der Mutter muss daher für den Kleinen mit Unlust verbunden gewesen sein, doch gerade dann – meint Freud – sei es doch verwunderlich, dass er diesen Akt im Spiel immer wiederhole. Zunächst deutet Freud dieses Verhalten als Ausdruck eines Ra­cheimpulses gegen die Mutter nach dem Motto: „Ja geh’ nur fort, ich brauch’ dich so­wieso nicht, ich schick’ dich sogar selber weg“.26 Im Spiel verschaffe sich das Kind die Abfuhr seiner enttäuschenden Eindrücke, um sich in seiner tatsächlichen Hilflosigkeit darüber hinwegzusetzen.

Von Lacan wird die Bedeutung der Sprache für das „Fort-Da“ Spiel thematisiert. In einer ersten groben Annäherung lässt sich sagen: in der elementaren Wiederholung der zwei Phoneme „o“ und „a“ eignet sich das Kind das Sprachsystem an, das laut Saussure aus solchen Differenzen besteht. Durch die Sprache – als Umweg der Symbolisierung – eröffnet es sich so die Möglichkeit, sich der Unmittel­barkeit der Verlustsituation, der es ausgeliefert ist, zu entziehen. Die Sprache schafft die Möglichkeit, sich von der Macht der Dinge, der realen Existenz der seienden Dinge, zu entfernen. In der Negation der realen Ebene (im Verschwindenlassen des Objekts) er­schließt sich die symbolische Ebene, auf der Anwesenheit und Abwesenheit nicht mehr bloß isoliert einander gegenüberstehen, sondern sich vielmehr aufeinander beziehen, in­dem sie bezeichnet werden, indem das anwesende Zeichen auf die abwesende Sache verweist.

Durch das Wort, das bereits eine Anwesenheit darstellt, die auf Abwesenheit gründet, erhält in einem besonderen Augenblick die Abwesenheit selbst einen Na­men.27

Der Gewaltcharakter dieser Umwendung wird von Lacan betont, verbunden mit der ursprünglichen Entfremdung von jedem biologischen, auf ein festes, es befriedigen­des Ziel gerichteten Bedürfnis hin zum prinzipiell unendlichen Begehren, wie es sich im Wiederholungszwang zeigt. „Das Symbol stellt sich so zunächst als Mord der Sache dar, und dieser Tod konstituiert im Subjekt die Verewigung seines Begehrens.“28

Im „Seminar über den entwendeten Brief“ schreibt Lacan über das Fort-Da-Spiel: „[D]ieses Spiel, sagen wir, manifestiert in seinen radikalen Zügen die Determinierung, die das Menschentier von der symbolischen Ordnung empfängt.“29 Die Ordnung des Symbolischen konstituiert erst, wenn man so will, den Menschen und nicht umgekehrt. Sie funktioniert zunächst ohne Bezug auf das Leben und ohne Rücksicht auf es. Daher besteht die Bezeichnung „Todestrieb“ für Lacan zu recht: die Determinierung durch das Symbolische kommt aus einem Jenseits des Lebens. Lacan hat hier seine Maschinenmodelle und Schreibspiele angeschlossen – die Welt des Symbolischen als Welt der Maschine30 – und ist bis zu der Formulierung gegangen:

Das Programm, das sich für uns abzeichnet, besteht folglich darin, zu erkennen, wie eine formale Sprache das Subjekt bestimmt.31

Deshalb steht die Wiederholung auch in einem direkten Gegensatz zu Gedächtnis und Erinnerung im gewöhnlichen Sinne.

Diese Auffassung wird von Lacan später noch wesentlich erweitert. Sie adressiert nämlich so noch nicht, worauf der Wiederholungszwang eigentlich abzielt, also seinen Triebcharakter, um den es hier ja gehen soll. Von Lacans Seminar XI ausgehend schreibt Norbert Haas: „In dem Fort-Da-Spiel des Kindes geht es um das Wiederholen einer absoluten Abwesenheit.“32 Auch wenn Abwesenheit stets als Anwesenheit vorgestellt wird, als ein „Fort im Da“, muss hier im Kern dieses Wiederholungsvorgangs ein „absolutes Fort“, ein uneinholbares Loch im Symbolischen, wo es mit dem Realen verknüpft ist, angesetzt werden.

Diesem Signifikanten, einem Zufälligen […], urverdrängt, gilt, im Spiel, in der Erzählung, im Notorischen von Handlungen, ein Vorgang in der Zeit, den wir im Wiederholungszwang erkennen: ein serieller Ablauf, dessen Bedeutung unbestimmt bleibt. Daß es dem Subjekt nicht gelingt, in diesem den Signifikanten einzuholen, dass es vielmehr das Subjekt selbst ist, was als Produkt dieser Serie begriffen werden muß, macht an der Wiederholung eine spezifische Bewegung begreifbar, die einem Etwas gilt, das, da es den psychischen Vorgängen nicht integrierbar, weder Lust noch Unlust sein kann, oder aber, vielleicht, das eine sowohl, als das andere: der Schnitt beider.33

2. Todestrieb und Kollektiv

Ich möchte jetzt auf eine andere Ebene wechseln oder eher zum Ausgangspunkt Freuds zurückkehren und mich wieder der Praxis – oder Klinik – nähern:

Es ist eine sehr individuelle Frage, was den Einzelnen antreibt, lebendig macht. Es gibt auf der einen Seite den alltäglichen Trott, das artige Tagewerk [A. B.], Projekte, „das Glück der Ruhe“; auf der andern Seite gibt es auch ungute Beziehungen, Süchte, perverse Handlungen, usw., an denen manch einer klebt – Probleme, ein Unwohlsein, Fragen, die einige bewegen, einen Analytiker aufzusuchen.

Man kann sicherlich sagen, dass bei all diesen Verstrickungen der Todestrieb am Werk ist. Er ist immer dann mit von der Partie, wenn die Frage kursiert: warum mache ich das denn jetzt schon wieder…?

Das unbewusste Wissen, das Wissen als Signifikantenverknüpfung, um das es in der Analyse geht, ist Mittel des Genießens. Lacan spricht davon, dass die Wiederholung auf der Wiederkehr des Genießens begründet ist, dieses Genießen aber, zeigt sich nur als Schwund, als Verlust in dieser Wiederholung.34 Der Todestrieb ist der Name für den steten Wunsch danach, das Lustprinzip hin zum Ding und zu einem gewissen Überfluss an Genießen, an jouissance, zu durchbrechen. Das Genießen, rein als solches genommen, wäre also der Weg zum Tod. Und es ist jenseits des Lustprinzips. Das Lustprinzip fungiert als ein Gesetz, das dem Subjekt befiehlt, so wenig wie möglich zu genießen. Das Hinwegsetzen über das Lustprinzip bedeutet Schmerz, weil jedes Subjekt nur ein gewisses Maß an Lust ertragen kann. Jenseits der Grenze wird die Lust zum Schmerz und diese schmerzhafte Lust nennt Lacan „Genießen“. Dieser Terminus benennt auch ganz klar die paradoxe Befriedigung, die das Subjekt aus seinem Symptom gewinnt oder andersrum formuliert: das Leiden, das es aus seiner Befriedigung gewinnt.

Aber was soll die Analyse da bewirken? Linderung schaffen? Versprechungen machen? Trösten? – Das ist alles Therapie (Therapeutikos = Seelenbeistand), aber nicht Analyse. Freud schreibt:

Der Kampf gegen das Hindernis des unbewußten Schuldgefühls wird dem Analytiker nicht leicht gemacht. […] Er hängt in erster Linie von der Intensität des Schuldgefühls ab […]. Vielleicht auch davon, ob die Person des Analytikers es zulässt, dass sie vom Kranken an die Stelle seines Ichideals gesetzt werde, womit die Versuchung verbunden ist, gegen den Kranken die Rolle des Propheten, Seelenretters, Heilands zu spielen. Da die Regeln der Analyse einer solchen Verwendung der ärztlichen Persönlichkeit entschieden widerstreben, ist ehrlich zuzugeben, dass hier eine neue Schranke für die Wirkung der Analyse gegeben ist, die ja die krankhaften Reaktionen nicht unmöglich machen, sondern dem Ich des Kranken die Freiheit schaffen soll, sich so oder anders zu entscheiden.35

In der Analyse geht es nicht in erster Linie um Befreiung von den Symptomen und nicht um Heilsversprechungen. Es kann sein, dass es einem nach Jahren analytischer Arbeit besser geht, es kann auch sein, dass man jahrelang kommt und nichts passiert.

Nichts wird so sehr verteidigt wie das Symptom, weil es einem wenigstens eine Befriedigung garantiert. Man kann am Anfang das Gefühl haben, wenn man in Analyse kommt, irgendwie ausgeschlossen zu sein, ausgeschlossen von der Gesellschaft der anderen, auf irgendeine Weise. Das muss gar nicht heißen, dass man unbeliebt ist, ganz im Gegenteil. Das Gefühl anders zu sein als die anderen, das sich da oft breit macht, das kann Angst auslösen. Dennoch ist die Vergesellschaftung, die etwas von dieser Angst nimmt, der Tod der Besonderheit des Subjekts.

Ich biete gerade in Berlin eine Lektüregrüppe zu Laurence Batailles Buch „Der Nabel des Traums“ an. Dort, im 4. Kapitel dieses wunderbaren Bändchens – das ich Ihnen sehr zur Lektüre empfehle – in diesem Kapitel mit dem Titel „Perinde ac cadaver“, setzt Laurence Bataille diese Unterwerfung mit dem Todestrieb in Beziehung. Es ist sehr interessant, dass sie den Todestrieb so pointiert mit der Identifizierung zusammen denkt. Lacan hatte schon betont, dass das Genießen mit dem einzigen Zug, der Markierung als Ursprung des Signifikanten zusammenhängt36, auf der ja die Identifizierung beruht.

Batailles Text beginnt wie gesagt mit einer Beschreibung des Klebens von Individuen an Kollektiven – einem Anhängen, das trotz allem Unbefriedigtseins, das damit verbunden ist, sehr stabil sein kann. Nach einer sehr ausführlichen Diskussion des Warentauschs bei Marx kommt sie auf den Begriff der Identifizierung und greift Freuds Theorie aus „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ auf: Die Individuen einer Masse gleichen sich aufgrund der Tatsache, dass sie ihr Ichideal sämtlich durch dasselbe Objekt ersetzt haben.37 Bataille bezieht sich auf den „einzigen Zug“:

Dieser Zug ist aber gerade der Grund dafür, dass das Subjekt sich als zur Anzahl der menschlichen Lebewesen gehörig und in die Kollektivität eingeschlossen betrachten kann. Eben deshalb macht es sich an dieser fest. Und um sich festzumachen, muß es die phantomhafte Seite der Angelegenheit verlassen und ihr Körper geben. Den Körper des Christus zum Beispiel, des Lammes Gottes. Ironischerweise ist der Effekt dieses Signifikanten im Realen, ist sein Signifikat die Schafsnatur.38

Das Wort von der „Schafsnatur des Christen“ (mit den zugehörigen Pastoren) greift Bataille von Marx auf, um es zu verallgemeinern: „Sie [also die „Schafsnatur“] produziert sich, wo immer mehrere Individuen sich mit einem Signifikanten identifizieren.“39

Bataille erwähnt an dieser Stelle die „freiwillige Knechtschaft“ aus der Streitschrift des Montaigne-Freunds Etienne de La Boétie (1530-1563). Sie setzt diese dann direkt in eine Parallele zum „primären Masochismus“ Freuds. Es geht hier um die Frage: warum gehorchen die Leute einem Tyrannen und stürzen ihn nicht einfach, wo es sich doch nur um einen einzelnen Menschen handelt? Warum macht man das weiter, was man immer schon gemacht hat? Es muss da etwas im Unbewussten sein, sonst würde das nicht klappen; der Wunsch, sich mit etwas zu identifizieren, etwas zu finden, was einem Halt gibt.

Das Sich-zur-Kollektivität-Zählen ist die Unterwerfung unter den Signifikanten. Es gibt da eine phantomhafte Seite, die ist vielleicht im Imaginären und dann gibt es als Effekt im Realen diese Unterordnung („Schafsnatur“), die Unterordnung in der Institution.
Bataille schließt das Kapitel so:

Den Psychoanalytikern geht der Begriff Individuum gegen den Strich, denn das Subjekt ist ja geteilt. Einerseits strebt es danach, das eigene Begehren zu befriedigen und so sein Danebensein wettzumachen; andererseits sieht es sich gedrängt, sich unter einem Signifikanten zu mortifizieren, um nicht vom Feld der anderen ausgeschlossen zu sein. Es ist aber auch ein Individuum in dem Sinn, dass es sich von dem Teil in sich nicht freizumachen vermag, der sich als Leibeigener des Signifikanten versteht. Es kann seinem Todestrieb, der es in der Gesellschaft der menschlichen Lebewesen hält, nicht entgehen. Allein der Tod könnte es von ihr ausschließen, weshalb es Grabmäler errichtet.40

Man muss in die symbolische Ordnung hineinkommen, um zu existieren. Das Lustprinzip – also das Verbot des Genießens – ist der symbolischen Struktur der Sprache inhärent. Deshalb spricht der Genießende nicht und umgekehrt ist dem Sprechenden das Genießen untersagt. Der Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung bedingt zunächst einen Verzicht auf das Genießen, bedeutet Kastration, Verbot des Genießens. Das führt aber in the long run dazu, dass das Subjekt zum Begehren überwechseln kann.

Der Todestrieb ist das sich unter einen Signifikanten mortifizieren (gestraft sein). Es gibt einen Teil im Subjekt, der immer aufs Kollektiv geht oder zum Kollektiv hin drängt, was daran liegt, dass der Signifikant immer aufs Kollektiv geht. Daraus ziehen die Institutionen ihre Beständigkeit. Und die Psychoanalyse versucht, da etwas dagegen zu setzen, was nicht so einfach ist, aber umso notwendiger. Lacan greift am Schluss des Seminars XI die Theorie Freuds auf, der die imaginäre Klebewirkung der Institution mit der Hypnose assoziiert, und zwar wie gesagt als Gleichsetzung des Ichideals und des Objekts. Lacan positioniert die Analyse gerade genau entgegengesetzt. Hier geht es darum, die Positionen des Ichideals oder „des idealen Signifikanten, in dem das Subjekt sich auszeichnet“41 und des Objekts a, des unmöglich einzuholenden Objekts als Grund des Begehrens, gerade auseinanderzuhalten, oder sogar, sie in „größtmögliche Distanz“42 zu bringen.

Wie kann ein Analytiker überhaupt diese Forderung erfüllen? Muss der Analytiker sein eigenes Genießen losgeworden sein? Angesichts all dieser Fragen möchte ich mit Ihnen über die Konsequenzen für die analytische Praxis gerne weiter diskutieren.

Fußnoten

  1. Freud, S. [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 16.
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Ebd. 18.
  5. Ebd. 22.
  6. Freud, S. [1923]: Das Es, das Ich und das Über-Ich. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 277f.
  7. Die Fechnersche Theorie von 1873 läuft darauf hinaus, dass Lust oder Unlust mit Stabilitäts- und Insta­bilitätsverhältnissen in psychophysischer Beziehung gedacht werden. Auf Stabilität gerichtete psychophy­sische Bewegung bedeutet demnach Lustgewinn, während von Stabilität abweichende Unlust zur Folge hat (Vgl. Freud, S. [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M, 4).
  8. Ebd. 38.
  9. Ebd. 40.
  10. Freud, S. [1921]: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 151.
  11. Freud, S. [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M, 40.
  12. Ebd. 59 und Freud, S. [1924]: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 377.
  13. Ebd. 376.
  14. Freud S. [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 58.
  15. Ebd. 41.
  16.  Freud S. [1924]: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 376.
  17. Ebd.
  18. Vgl. Heinz, R. [1990]: Pathognostische Studien III. Genealogica, Essen, 109.
  19. Freud, S. [1923]: Das Es, das Ich und das Über-Ich. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 270.
  20. Freud, S. [1924]: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 376.
  21. „Demnach wäre […] der ursprüngliche Sadismus das Repräsentationsvermögen“ (Heinz, R. [1990]: Pathognostische Studien III. Genealogica, Essen, 109).
  22. Freud, S. [1937]: Die endliche und die unendliche Analogie. In: Gesammelte Werke, Bd. XVI, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 85.
  23. Derrida, J. [1966]: Freud und der Schauplatz der Schrift. In : Ders.: Die Schrift und die Differenz, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a.M, 310.
  24. Ebd.
  25. Lacan, J. [1957]: Das Seminar über den entwendeten Brief. In: Schriften I, hrsg. Von Norbert Haas, Walter-Verlag, Olten/Freiburg, 1973, 9
  26. Freud, S. [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 14.
  27. Lacan, J. [1953]: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, Walter-Verlag, Olten/ Freiburg, 1973, 116.
  28. Ebd. 166.
  29. Lacan, J. [1957]: Das Seminar über den entwendeten Brief. In: Schriften I, hrsg. Von Norbert Haas, Walter-Verlag, Olten/Freiburg, 1973, 46.
  30. Ebd. 64.
  31. Ebd. 42.
  32. Haas, N. [1982]: Fort/Da als Methode. In: Dieter Hombach (Hg.): ZETA 02 /mit Lacan, Berlin, 44
  33. Ebd. 45.
  34. Vgl. Lacan, J. [1969/70]: L’envers de la psychanalyse. Seuil, Paris, 1991
  35. Freud, S. [1923]: Das Es, das Ich und das Über-Ich. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 279.
  36. Vgl. Lacan, J. [1969/70]: L’envers de la psychanalyse. Seuil, Paris, 1991, 54
  37. Bataille, L. [1987]: Der Nabel des Traums. Quadriga, Weinheim/Berlin, 24
  38. Ebd. 25.
  39. Ebd.
  40. Ebd. 25-26.
  41. Lacan, J. [1964]: Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. 3., korrigierte Auflage, Quadriga, Weinheim/ Berlin, 1991, 278.
  42. Ebd.

Literatur

Bataille, Laurence [1987]: Der Nabel des Traums. Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin
Derrida, Jacques [1966]: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz, 7. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
Freud, Sigmund [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
— [1921]: Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
— [1923]: Das Es, das Ich und das Über-Ich. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
— [1924]: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
— [1937]: Die endliche und die unendliche Analogie. In: Gesammelte Werke, Bd. XVI, Fischer Verlag, Frankfurt a.M.
Haas, Norbert [1982]: Fort/Da als Methode. In: Hombach, Dieter (Hg.): ZETA 02/mit Lacan, Rotation Verlag, Berlin
Heinz, Rudolf [1990]: Pathognostische Studien III. Genealogica, Essen
Lacan, Jacques [1953]: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Haas, Norbert (Hg.): Schriften I, Walter-Verlag, Olten/ Freiburg, 1973
— [1957]: Das Seminar über den entwendeten Brief. In: Haas, Norbert (Hg.): Schriften I, Walter-Verlag, Olten/Freiburg, 1973
— [1954/55]: Das Seminar, Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. 3. korrigierte Auflage, Quadriga, Weinheim/Berlin, 1991
— [1964]: Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. 3. korrigierte Auflage, Quadriga, Weinheim/ Berlin, 1991
— [1969/70]: L’envers de la psychanalyse. Seuil, Paris, 1991

 

Das bleierne Kästchen – zum Realen bei Freud

von Mai Wegener

Das Reale ist kein Terminus Freuds, es gehört dem theoretischen Vokabular Lacans an. Gleichwohl wird es im Folgenden um das Reale bei Freud gehen. Bevor aber Freuds Text Das Motiv der Kästchenwahl und das Reale, das er umkreist, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, möchte ich einige Grundzüge des Terminus bei Lacan skizzieren, zunächst dessen erstes Auftauchen in der Ausarbeitung seiner Theorie aber auch dessen Gewicht.

1. Das Auftauchen des Realen bei Lacan

Im Juli 1953 in einem Vortrag vor der grade neu gegründeten Société français de psychanalyse, stellte Lacan erstmals seine Trias von Symbolischem, Imaginärem und Realem vor. Lacan hatte die Termini vorher schon einzeln gebraucht, aber erst jetzt, in diesem Vortrag vernetzt er sie zu einer Triade und bezeichnet sie als die drei „wesentlichen Register der menschlichen Realität“.1 Die Art und Weise, in der er diese Triade entfaltet, brachte Lacan allerdings in der Diskussion seines Vortrags die folgende Nachfrage Serge Leclairs ein: „Sie haben zu uns vom Symbolischen, vom Imaginären gesprochen. Aber da war auch das Reale, von dem Sie nicht gesprochen haben.“2 Tatsächlich glänzt in diesem Vortrag das Reale durch Abwesenheit. Im Gegensatz zu den anderen beiden Registern spricht Lacan kaum von ihm, er macht eher Bemerkungen, bzw. flicht das Wort in seinen Text ein, ohne dass man den Eindruck gewinnt, er gebrauche es als neuen Terminus. So ist einmal vom „reinen und schlichten Realen“3 die Rede, das der Phantasie entgegenstehe und in dem allein gefunden werden könne, was den Hunger wirklich stillt. Lacan ist ganz bei Woody Allens Satz: „Ich hasse die Wirklichkeit, aber sie ist der einzige Ort an dem man ein gutes Steak bekommt.“ Seine Antwort auf Leclaires Frage geht dann aber doch in eine andere Richtung. Sie eröffnet ein von dieser Zweiteilung Reales – Phantasie ganz verschiedenes Feld. Lacan antwortet: „Ich habe dennoch ein wenig davon gesprochen. Das Reale ist entweder die Totalität oder der entschwundene Augenblick. In der analytischen Erfahrung ist es für das Subjekt stets der Zusammenstoß mit etwas, zum Beispiel dem Schweigen des Analytikers.“4 Das Reale entzieht sich. Das immerhin deutete sich im Vortrag bereits performativ an. Das Reale entzieht sich entweder, weil es zu umfassend ist, zu total, oder, weil es zu minimal, schon zerronnen ist wie der „entschwundene Augenblick“. Von einer „verfehlte[n] Begegnung“5 wird Lacan später sprechen, um die Unmöglichkeit hervorzuheben, die jeder Begegnung mit dem Realen anhaftet. Die analytische Erfahrung aber bringt Zusammenstöße mit ihm hervor. Zusammenstöße mit etwas, das sich entzieht, mithin – zum Beispiel mit dem Schweigen des Analytikers. Sich am Schweigen stoßen kann dabei nur heißen, dass der Analysand das Schweigen des Analytikers plötzlich vernimmt, dass plötzlich die Aufmerksam darauf fällt, dass es etwas am oder im Analytiker gibt, das sich entzieht. Tatsächlich gehört das Schweigen ja durchaus zu den Kennzeichen des Analytikers.6 Der Psychoanalytiker, bzw. die Psychoanalytikerin, stellt sich als Anderer zur Verfügung, er tritt mit seiner Person zurück und lässt die Übertragung Raum nehmen – mit all ihren Unterstellungen, Überstürzungen und Anwandlungen. Er weiß, dass er nur Stellvertreter ist für jenen „prähistorischen unvergeßlichen Anderen, den kein Späterer mehr erreicht“7, wie es bei Freud einmal heißt, an den das unbewusste Subjekt sich in letzter Instanz wendet. Er zeigt Präsenz und schweigt. Der Analytiker hält sich zurück, lässt keinen Dialog entstehen, sondern gibt den Worten dieses besonderen Einzelnen Raum und Gewicht. Dafür muss er da sein, offenen Ohres, und die Klappe halten, um es deutlich zu sagen. Er darf nicht dazwischen reden, damit sich die Rede des Analysanten in der ihr eigenen Gangart entfalten kann, man könnte sagen die buchstäbliche Bewegungsweise des Subjekts. Hier bleibt das Schweigen des Analytikers aber gewissermaßen gedeckt, eingekleidet in zugewandte Aufmerksamkeit. Der Zusammenstoß mit seinem Schweigen ereignet sich anderswo. Zusammenstoß mit dem Schweigen des Psychoanalytikers gibt es, wenn desse abgewandte Seite auftaucht, also nicht das offene Ohr, sondern die Präsenz von etwas Verschlossenem, von einer Fremdheit, die nicht so einfach integriert werden kann. Das Subjekt stößt dann gewissermaßen auf den Verschluss, dessentwegen es die Psychoanalyse überhaupt aufgesucht hatte: etwas, das schweigt und doch da ist, woran es sich den Kopf einrennt, eine Insistenz, die jetzt auf Seiten des Analytikers in Erscheinung tritt, der dafür einsteht, dass es das Unbewusste gibt, ja, der dieses Unbewusste verkörpert. Zusammenzustoßen mit dem Schweigen des Analytikers heißt also, dass eine Unterbrechung passiert, eine Öffnung oder doch eher ein Einbruch des Anderen Schauplatzes – nicht über einem neuen unerwarteten Sinn, sondern in Form des Entzugs von Sinn. Eine Präsenz des Anderen, die um so körperlicher ist. Da gibt es ein Aufblitzen des Realen.

2. Das Reale der psychoanalytischen Erfahrung

Lacan hebt einmal hervor, dass es um das „Reale der psychoanalytischen Erfahrung“8 gehe. Auf dieses Reale der psychoanalytischen Erfahrung, sagt er, müsste sich im Kern die Übermittlung der Psychoanalyse stützen, das heißt also: auf die Praxis der Analyse, auf die sogenannte Lehranalyse. Aber Lacan sagt eben nicht einfach: ‚auf die psychoanalytische Erfahrung‘, sondern: ‚auf das Reale dieser Erfahrung‘. Die Frage insistiert: Was ist dieses Reale? Es ist die Basis, der Dreh- und Angelpunkt dieser Erfahrung. Man kann es so hören, wie Freud vom Unbewussten sagte: „Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt“9. Lacan nimmt das auf, wenn er sagt, dass das Unbewusste das Reale sei. Er spitzt dabei jedoch etwas zu, denn er fügt hinzu: „Das Reale, sofern unmöglich zu sagen, das heißt, sofern das Reale das Unmögliche ist“10. Die Passage lautet vollständig:

Das Unbewußte bleibt der Kern des Seins für die einen, andere werden mir zu folgen glauben, wenn sie aus ihm das andere der Realität machen. Die einzige Art, sich da herauszuziehen, ist die Setzung, daß es das Reale ist, was nicht heißen will, keinerlei Realität. Das Reale, sofern unmöglich zu sagen, das heißt, sofern das Reale das Unmögliche ist, ganz einfach.11

Das Unbewusste sei weder „der Kern des Seins“ noch „das andere der Realität“, so stellt Lacan hier klar, mit anderen Worten heißt das: Die Lehre vom Unbewussten ist weder eine Ontologie noch eine Esoterik. Die Psychoanalyse behauptet vielmehr eine Negativität als solche und Lacan stellt diese Behauptung in das Feld der Ethik.12 Das Reale der psychoanalytischen Erfahrung kennzeichnet das Unbewusste in seiner verschlossensten, abgewiesensten Form – die Bleikammern, das Bleikästchen des Unbewussten, so liesse sich vorgreifend sagen. Diesem Realen ist nicht leicht beizukommen. Es führt, so Lacan, „zu seiner eigenen Verkennung, ja es bringt sogar seine systematische Negation hervor.“13 Das trifft einen Kern, eine Unmöglichkeit im Herzen der Psychoanalyse selbst. Die Psychoanalyse hat es mit etwas Unerträglichem, nicht Assimilierbarem im Menschen selbst zu tun – auf einer höheren, verfeinerteren Stufe der Abwehr und nüchterner formuliert mit dem Verneinten: mit dem, von dem er nicht wissen will. Es ist nicht erst Lacan, der das so zuspitzt. In einem Brief an Ludwig Binswanger schrieb Freud 1911: „In Wahrheit gibt es für den Menschen nichts, wozu ihn seine Organisation weniger befähigen würde als die Beschäftigung mit der Psychoanalyse.“14

3. Freud liest Shakespeare

Freud umkreist in seinem Text Das Motiv der Kästchenwahl dieses nicht assimilierbare, unerträgliche Reale – dies zumindest ist meine Behauptung, die ich im Folgenden entfalten möchte. Ich trage also Lacans Terminus des Realen in Freuds Arbeit ein. Auch das Schweigen spielt hier wieder eine Rolle.

Freud schrieb diesen kurzen Text zwischen 1912 und 1913. Er beginnt leicht und fast lapidar, als ein zweckfreies Spiel: „Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und eine tragische, haben mir kürzlich den Anlass zu einer kleinen Problemstellung und Lösung gegeben.“15 Zunächst schildert Freud die Szene, die er die heitere nennt: Es ist die der Kästchenwahl aus Shakespeares Kaufmann von Venedig, die seinem Text den Titel gab. Der Vater der schönen und reichen Portia hat, bevor er starb, der Eheschließung seiner Tochter eine Prüfung vorangestellt, die bestehen muss, wer Portia zur Frau nehmen will. Nur derjenige Brautwerber, der zwischen den drei Kästchen, die ihm vorgesetzt werden, – einem goldenen, einem silbernen und einem bleiernen – das richtig wählt, darf Portia ehelichen. Es ist Bassanio, der dritte Freier (auf den Portias Liebe bereits vorher gefallen war), der das richtige, nämlich das bleierne Kästchen wählt, und so Portia zur Frau gewinnt. Die Rätselhaftigkeit dieser Aufgabe und Lösung ist Freuds Ausgangspunkt: Warum das bleierne Kästchen?

Die erste naheliegende Deutung, dass der Freier damit unter Beweis stellen sollte, Portia nicht um ihres Goldes oder Geldes, d.h. ihres Reichtums wegen zu wählen, also nicht dem glänzenden Schein zu erliegen, übergeht Freud mit Recht. Nicht nur der mythische Hintergrund des Motivs lässt eine solche vordergründig moralisierende Interpretation höchstens als einen späteren Aufsatz erscheinen. Shakespeare hat dieses Motiv den Gesta Romanorum entliehen, und dieser Tatsache kann Freud entnehmen, dass das Motiv ein alt überliefertes ist. Doch auch die astralmythische Deutung dieser drei Kästchen, die hier angeknüpft wurde, weist er ausdrücklich zurück. Es geht nicht um Sonne, Mond und Sterne – was ihn interessiere seien nicht die himmlischen Belange, sondern die menschlichen, die die Psychoanalyse schon immer in den Mythen aufgedeckt habe, schreibt Freud. Er liest Shakespeares Szene wie einen Traum: „Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten“, so schreibt Freud, „würden wir sofort daran denken, daß die Kästchen auch Frauen sind, Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie Büchsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw.“16 So eröffnet Freud die Spur, der sein Text folgt. Es geht, so nochmal Freud, um „die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen“17, oder, wie ich es formulieren würde, um einen Mann, der sich mit drei Facetten der Weiblichkeit, spezieller des weiblichen Geschlechts konfrontiert sieht – von denen ihm eine besonders zusetzt.

An dieser Stelle geht Freud zur zweiten Szene Shakespeares über, die King Lear entstammt, einem „der erschütterndsten seiner Dramen“18, wie er sogleich hinzufügt. Und tatsächlich ist es dieses Drama, das den offensichtlichen Anlass zu seiner Arbeit gegeben hat und weniger der Kaufmann von Venedig, über dessen weitere Dramenhandlung und Personage Freud kein Wort verliert, obgleich diese ihn bestimmt nicht kalt gelassen hat. Das aber ist nicht die Spur, der Freud folgt. Würde Shakespeares‘ Stück selbst im Mittelpunkt stehen, um der Frage des Realen nachzugehen, so würde die Aufmerksamkeit wohl nicht allein auf dem bleiernen Kästchen liegen, sondern auch und vor allem auf dem Pfund Fleisch, das der Jude Shylock von Antonio als Pfand verlangt und von welchem Lacan sagt, dass jeder dieses Pfund Fleisch zu zahlen hat beim Eintritt in die symbolische Ordnung.19 Doch ich folge hier nicht Shakespeare, sondern Freuds Spur – und die geht von Erschütterung durch das Drama König Lear aus, von dessen „packender Macht“, um jene Formulierung zu gebrauchen, die Freud auf ein anderes Königsdrama gemünzt hat: auf König Ödipus.20 Die angekündigte zweite Szene ist, man ahnt es schon, jene Anfangsszene des King Lear, in der der alternde König beschließt, sein Erbe unter den drei Töchtern aufzuteilen und sie zu diesem Anlass auffordert, ihm ihre Liebe zu bekunden. Nachdem die beiden ersten Töchter ihm in schmeichelnden Worten von ihrer Liebe gesprochen haben, schweigt die jüngste Tochter, Cordelia – Lear enterbt sie daraufhin und verstößt sie, worauf das Unglück seinen Lauf nimmt. Diese Tochter hätte er erhören müssen, „diese unscheinbare, wortlose Liebe der Dritten [hätte er] erkennen und belohnen sollen“.21 Dass er dies versäumt, ist der Ausgangspunkt der ganzen bekannten Tragik des darauf folgenden Geschehens.

Die beiden Szenen sind für Freud strukturverwandt. Hier wie dort: Die Wahl zwischen Dreien und die besonderen Eigenschaften der Dritten, bzw. des dritten Elements, auf welche(s) die Wahl fallen muss. Beide Male zeichnet sich dieses oder diese Dritte dadurch aus, dass sie am wenigsten um die Neigung des Wählenden wirbt, ja dass sie sich lieblos und verschlossen zeigt, abweisend. Die Verwandtschaft des bleiernen Kästchens und Cordelias – dieser beiden „vorzügliche[n] Dritte[n]“22 – liegt, wie Freud herausstellt, in ihrer Unscheinbarkeit und Stummheit: das glanzlose „Blei ist stumm, wirklich wie Cordelia, die ‚liebt und schweigt‘“.23 Indem Freud die beiden Szenen übereinander blendet, gewinnt er bestimmte Betonungen und kann andere Elemente als akzidentell zurückweisen. Die Dreiheit, die Weiblichkeit und die zu lösende Aufgabe einer Wahl, die nicht wirklich frei ist, bilden die Grundpfeiler seiner Interpretation. In der Konstellierung, die er hier schafft, sieht Freud sich berechtigt, die Tatsache, dass es sich im Lear um eine Vater-Tochter Relation handelt, zurückzustellen und den Fall als einen Sonderfall des allgemeineren Mann-Frau Relation zu behandeln: „Es soll uns nicht irre machen, wenn es bei Lear die drei Töchter des Wählenden sind, das bedeutet vielleicht nichts anderes als daß Lear als alter Mann dargestellt werden soll.“24 Er schützt damit auch seine eigene Involviertheit, denn in einem Brief an Ferenczi vom 9. Juli 1913 erwähnt er seine Tochter als „subjektive Bedingung“ der Schrift.25 Von Anfang an geht Freud vor, indem er die verschiedenen Ausformulierungen des Mythos – dann so muss man es nennen, aber, welches Mythos‘?, das ist hier die Frage – zusammen liest, die er jeweils zerlegt, um in der Folge das Wiederkehrende vom Wechselnden zu trennen und so etwas wie das Grundelement, den Kern herauszuschälen. Dazu versammelt er in diesem doch nur zehn Seiten kurzen Textes beeindruckend viel Material. Tatsächlich ist das, neben dem Dichterischen (den zwei Shakespeare-Szenen) vor allem Mythenmaterial, auf das wir noch kommen werden. Die Frage, die sich mir in Bezug auf die vorliegende Arbeit Freuds stellt, ist: Analysiert er hier wirklich einen Mythos, oder konstruiert er nicht vielmehr selber einen solchen?

Verfolgen wir weiter den Text. Für Freud ist der entscheidende gemeinsame Zug der/des Dritten das Schweigen bzw. die Stummheit. Er knüpft daran eine sehr prompte Folgerung, die er ohne weitere Einleitung vorbringt: „Entschließen wir uns, die Eigentümlichkeit unserer Dritten in der ‚Stummheit‘ konzentriert zu sehen, so sagt uns die Psychoanalyse: Stummheit ist im Traume eine gebräuchliche Darstellung des Todes.“26 Das ist eine starke Deutung27. Zu ihrer Stützung beruft sich Freud auf Material aus der Traumdeutung sowie auf Märchenstoffe der Grimms.28 Worauf er aber abzielt, ist eine Verknüpfung dieser Beziehung zum Tod mit dem Aspekt der Dreiheit. Freud steuert zielstrebig auf eine bestimmte Verkörperung des Todes zu: auf „die Schicksalsschwestern, die Moiren oder Parzen oder Nornen, deren dritte Atropos heißt: die Unerbittliche.“29 Hier kommt Freud an. Dies ist, worauf seine Deutung zusteuerte und der Kern seiner Interpretations-Arbeit: die Verknüpftheit der beiden Shakespeare-Szenen mit den drei Schicksalsgöttinnen und die herausragende Position der dritten dieser Frauengestalten. Von hier aus unternimmt er dann, wie auf einem Plateau, einen Gang durch die Wandlungen der Gestalten dieser drei Göttinnen und markiert ihre Herkunft aus nur Einer. Freud beginnt seine Skizze mit den Horen, die zunächst Verkörperungen der Jahreszeiten waren, um (ich kürze ab) von dort irgendwann „„zu Hüterinnen der Naturgesetze und der heiligen Ordnung [zu werden], welche mit unabänderlicher Reihenfolge in der Natur das gleiche wiederkehren läßt.“““30 Diese Formulierung ist, nebenbei bemerkt, nicht allzu weit entfernt von Lacans frühster Definition des Realen als dem, „„was stets an derselben Stelle wiederkehrt““.31 Aus ihnen, so Freud weiter, wurden später die Moiren,

die über die notwendige Ordnung im Menschenleben so unerbittlich wachen wie die Horen über die Gesetzmäßigkeiten der Natur. Das unabwendbar Strenge des Gesetzes, die Beziehung zu Tod und Untergang, die an den lieblichen Gestalten der Horen vermieden worden waren, sie prägten sich nun an den Moiren aus, als ob der Mensch den ganzen Ernst des Naturgesetzes erst dann empfände, wenn er ihm die eigene Person unterordnen soll. Die Namen der drei Spinnerinnen haben auch bei den Mythologen bedeutsames Verständnis gefunden. Die zweite Lachesis scheint das ‚innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Schicksals Zufällige‘ zu bezeichnen – wir würden sagen: das Erleben – wie Atropos das Unabwendbare, den Tod, und dann bliebe für Klotho die Bedeutung der verhängnisvollen, mitgebrachten Anlage.32

Freud erzählt die historischen Verwandlungen des mythischen Dreigespanns als Geschichte einer schrittweisen Anerkennung, die jedoch nur widerwillig und unvollständig erfolgte: Widerwillig und unvollständig gelangte der Mensch des Abendlandes dazu, seine Sterblichkeit anzuerkennen. In der dritten der Schicksalsgöttinen, in Atropos hat diese Anerkennung dann schließlich eine Gestaltung gefunden – die in der Dichtung eines Shakespeare wiederauflebt. Freud handelt hier vom Tod als dem, was sich der Symbolisierung entzieht und daher diesen ungeheuren Aufwand an mythischer Bearbeitung, umwegiger und verschobener Symbolisierungen hervorbringt. Diese Anerkennung gelingt nur gegen äußersten Widerstand und ist nicht von Dauer – deswegen die immer zu erneuernde Wahl, die ja alles andere als frei ist, sondern ein Sich-fügen. Auch diese Weise, vom Tod zu handeln, gemahnt an das Lacansche Reale.

Dass die Dritte in den verschiedenen Texten, die Freud als Ausformungen und Varianten der mythischen Umspinnung des Todes liest, in so widersprüchlicher Gestalt erscheint – als Todesgöttin, aber auch (im Parisurteil) als Liebesgöttin, als schönste und klügste Frau und als einzig treue Tochter – macht Freuds Deutung jetzt „„keine ernsthafte Schwierigkeit““33 mehr: „„Die Schöpfung der Moiren ist der Erfolg einer Einsicht, welche den Menschen mahnt, auch er sei ein Stück der Natur und darum dem unabänderlichen Gesetz des Todes unterworfen.“““34“ Aber die Auflehnung dagegen blieb dennoch wach und schuf nach Freud die Umdeutung der Todesgöttin in die „„schönste, beste, begehrenswerteste, liebenswerteste der Frauen“““.“35 Diese Beste aber „„hat Züge behalten, die ans Unheimliche streifen““.““36 Es bleibt eine Doppelgesichtigkeit, es ist „eine alte Ambivalenz“37, schreibt Freud, und – noch ein Stück weiter in der mythischen (Re-)Konstruktion gehend– es ist „„die uralte Identität“““ von „„Zeugerinnen“““ und „„Vernichterinnen“““.38

Zurück zu Shakespeare. Freud schließt seinen Aufsatz, indem er seine Deutung der Gestalt der Dritten in die King Lear-Interpretation einträgt. Wenn das Stück heraustellt, dass König Lear Cordelia hätte wählen müssen, dann heißt das mit Freuds Deutung: Lear hätte in Cordelia die verschleierte Darstellung der Todesgöttin wählen müssen. Wie ist das zu verstehen? „Lear ist ein alter Mann“39, betont Freud, und dies ist die entscheidende Spur. Statt den Schmeicheleien zu folgen, den Stimmen der ersten beiden Töchter, wäre er gut beraten gewesen, „„sich mit der Notwendigkeit der Sterbens zu befreunden“40“. Doch statt sich Cordelia, der Schweigenden, zuzuwenden, will „„dieser dem Tode verfallene […] auf die Liebe des Weibes nicht verzichten, er will hören, wie sehr er geliebt wird““41“, schreibt Freud. Cordelia, die Schweigende, sie als die dritte der Parzen, die für das Unabwendbare, den Tod steht, zu wählen, wäre seinem Stand im Leben angemessen gewesen, der ihn heißt, sich dem Sterben, dem Tod zuzuwenden – so wie er es am Anfang des Stückes auf eine Weise durchaus tut, indem er sein Erbe verteilt. Aber der König erliegt in dem Moment der Verführung und verleugnet, ja, verstößt den Tod – daher das Unheil. Freud geht so weit, die erschütternde letzte Szene das Dramas, in der König Lear seine tote Tochter von der Bühne trägt, als entstellte Umkehrung der Szene zu lesen, die hier eigentlich hätte stattfinden müssen: Die Todesgöttin/Cordelia hätte den Leichnam Lears von der Bühne zu tragen gehabt.42

Auf die Brautwahl im Kaufmann von Venedig kommt Freud nach all dem nicht wieder zurück. Das ist höchst erstaunlich, denn es ist doch diese Szene – die Kästchenwahl –, die Freud in den Titel seines Textes gehoben hat! Paradoxerweise hält so der Titel – Das Motiv der Kästchenwahl – gerade die Uneingelöstheit der Aufklärung fest. Die Szene der Brautwahl ist nicht erhellt. Das Motiv bleibt im Dunkeln. Und Freud hätte es damit in der Tat nicht ganz einfach, denn in dieser Szene entfällt ein wesentlicher Umstand, der das Schreckliche seiner Deutung, Cordelia stehe für die Todesgöttin und so für den Tod, wieder beruhigt und eingefasst hat: die Tatsache nämlich, dass der König alt war, dass hier ein Mann zu wählen hatte, der wirklich auf den Tod zugeht und dem es daher gut ansteht, sich mit der Tatsache des Sterben-müssens zu befreunden. Wechselt man nun vom King Lear zum Kaufmann von Venedig, so ist klar: Von Bassanio kann man keineswegs ähnliches behaupten, im Gegenteil. Bassanio steht mitten im Leben und vielmehr vor einem neuen Schritt in seinem Leben: er freit seine Braut zweifelsohne als junger Mann. Warum also soll auch er die letzte der Moiren, Atropos in Gestalt des bleiernen Kästchen wählen? Dazu schweigt Freud.

Am Schluss seines Textes bringt er statt dessen „„eine flächenhafte, allegorische Deutung der drei Frauengestalten des Motivs“43“ vor, wie er sie nennt, die andeutet, dass Freud mit einer für ihn ganz grundlegend bestehenden Dreifaltigkeit der Frau beschäftigt ist. Er schreibt:

Man könnte sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Lauf des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild wählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt.44

Freud ringt nach wie vor mit der Weiblichkeit. Ihr Sujet war nach der Eröffnung nur nicht immer im Vordergrund gewesen. Und man muss sagen: Er ringt in diesem Text mit der Weiblichkeit, sofern sie ihm einen Horror einflößt – so sehr, dass er das wesentliche Stück seiner Konstruktion unter den Tisch fallen lässt. Man kann es jedoch erschließen, was ich im Folgenden tun möchte.

4. Die Öffnung des bleiernen Kästchens

Freud hat gleich am Anfang deutlich benannt, was die Kästchen für ihn sind: das weibliche Genital.45 Und er hat einen Zug herausgestellt, welcher der Besten und Schönsten, der Erwählen anhaftet: unheimlich, nennt er ihn. 1912 in seiner Abhandlung über Die Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens hielt er fest: „Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war.“46 Es gibt da etwas Unheimliches, Tierisches und diese Bemerkungen führen nun näher an die Prüfung heran, die Bassanio bei der Begegnung mit der strahlend idealen Braut zu bestehen hat. Es geht um die drohende Schädigung, eventuell den Zusammenbruch des Ideals, d.h. es droht der Einsturz der idealisierten Weiblichkeit. In dem Moment, in dem die Unnahbarkeit endet und es um die sexuelle Begegnung geht, ist diese Idealisierung unhaltbar (oder führt zur Impotenz). Es geht also darum, diesen Einbruch zu überstehen, ohne die Neigung zu verlieren. An mehreren Stellen seiner Schriften hat Freud von der „Kastration des Weibes“47 gesprochen – eine Ausdrucksweise, die er an die Wahrnehmung des weiblichen Genitals knüpfte und deren Bezug zur „reichlich mit Geringschätzung versetzten Ablehnung des Weibes durch den Mann“ ihm nicht entgangen ist.48 In seinem Text Das Tabu der Virginität handelt er von der Angst des Mannes vor der Entjungferung der Frau und bringt diese eng mit der Kastrationsangst zusammen. Denn das Gewahrwerden des weiblichen Geschlechtes konfrontiert den Knaben und hier den Mann mit der Möglichkeit seiner eigenen Kastration. Vor eben diesem Moment findet im Stück die Kästchenwahl statt. Bassanio muss durch diese Entidealisierung gehen, die Berührung des Realen zulassen – Berührung mit dem Realen des (anderen) Geschlechts.49

Was also bildet das Motiv der Kästchenwahl? Man könnte es so sagen: Der Freiende muss in dieser Wahl, die ja eine Probe ist, unter Beweis stellen, dass er an seiner Liebe zur Erwählten trotz ‚ihres bleiernen Kästchens‘ festhalten wird. Ich deute hier wohlgemerkt Freud, nicht Shakespeare. Freud macht im Motiv der Kästchenwahl ein Stück Analyse, so meine These, deshalb ist dieser Text so intim. Meine These ist außerdem, dass er hier einen Analysefaden wieder aufnimmt, den er zuvor schon einmal kurz erfasst und wieder fallen gelassen hatte, und zwar an einem sehr markanten Punkt: in der Traumdeutung beim Traum von Irmas Injektion und genauer an der Stelle, die er den „Nabel des Traums“ nennt. Freuds Aufsatz zur Kästchenwahl ist die, wiederum unvollständige, abbrechende Fortsetzung der Analyse, die er hier nicht ausführt, aber als bedeutsam andeutet. Es gibt ein mehrmaliges Abbrechen, Neuaufnahme und wieder Abbrechen. Diese Bewegung sei hier nachgezeichnet.

Die besagte Passage steht im Zusammenhang von Freuds Deutung des ersten Höhe- und Wendepunktes seines Traums, des berühmten Blicks in den Schlund. Den Traum von Irmas Injektion träumte Freud bekanntlich am 24/25. Juli 1895 auf dem „Bellevue“. Er wurde zum Inauguraltraum der Traumdeutung, zum „Paradigmata“, wie Freud ihn auch genannt hat.50 Freud begegnet, um nur einige Punkte des manifesten Traumes in Erinnerung zu rufen, seiner Patientin Irma auf einem großen Empfang. Er nimmt sie beiseite, macht ihr Vorwürfe: Sie akzeptiere die Lösung noch nicht, es ist ihre Schuld, wenn sie noch Schmerzen hat. Sie hebt an, „Wenn Du wüßtest…“, und spricht von ihren Schmerzen. Freud schaut ihr in den Hals. Dies ist der erste Höhepunkt und entscheidende Wendepunkt des Traums, es heißt im Traumtext:„Ich finde rechts einen großen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgrauer Schorfe“51. Freud holt schnell Dr. M hinzu, Otto und Leopold. Es folgen weitere Untersuchungen, eine Perkussion, und Überlegungen. Dr. M. meint, es ist eine Infektion. Otto hat ihr eine Injektion gegeben, mit einem Propylpräparat …: Trimethylamin, dessen Formel Freud fett gedruckt vor sich sieht. Dies ist der zweite Höhe- und Schlusspunkt des Traums. Der letzte Satz lautet: „Wahrscheinlich war die Spritze auch nicht rein.“52 Die Passage, um die es in unserem Zusammenhang geht, ist die seiner größten, körperlichen Annäherung an Irma: die Szene der Untersuchung. Sie lautet wörtlich:

Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. –
Der Mund geht dann auch gut auf.53

Freud hält in seiner Deutung fest, dass es drei Frauen sind, die der Traum hier miteinander verdichtet. Bei der folgenden Aufzählung geben ich die Klarnamen hinzu,54 damit später ein Briefzitat, in dem Freud diese benutzt, verständlich wird. Es handelt sich bei diesen drei Frauen: erstens um Irma, die im manifesten Traum dominiert – im Klartext Anna Hammerschlag, eine junge Witwe und Patientin Freuds. Mit ihr verknüpft ist zweitens, über die Situation am Fenster und die Diagnose, deren Freundin und Cousine – Sophie Pannet, die ebenfalls Witwe ist, ihr Mann war Freuds Kollege bei Brücke. Und drittens ist, über das Element der falschen Zähne, Freuds Frau Martha hier hereingemischt, die sich, wie er schreibt, ebenfalls sträuben würde. Zu dieser Triade gesellt sich in den Traumgedanken ein weiteres Frauentrio, das Freud aus anderen Details des manifesten Traumes erschließt. Es sind die drei Mathilden: Mathilde Breuer; Mathilde S. – eine Patientin mit erotischem Wahn, die an einer Überdosis Sulfonal starb – und drittens seine Tochter Mathilde, die 1893 an Diphterie erkrankt war. Es fällt also auf: wieder zerlegt sich für Freud die erscheinende Frau in drei. Der Traumsatz, ‚Der Mund geht dann auch gut auf‘, macht dem Sträuben in der zitierten Szene ein Ende. Er würde, so Freud, am ehesten zu Irmas Freundin passen, die er für klüger hält, die also nachgebe würde. „Sie würde mehr erzählen als Irma“55, schreibt er. Und hier nun – an der Klippe, an der die begehrte Öffnung des Mundes umschlägt in das, was der unheimliche Schlund in der Folge zu sehen gibt – macht Freud die berühmte Fußnote, in der er den Nabel des Traums einführt:

Ich ahne, dass die Deutung dieses Stücks nicht weit genug geführt ist, um allem verborgenen Sinn zu folgen. Wollte ich die Vergleichung der drei Frauen fortsetzen, so käme ich weit ab. – Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam einen Nabel, durch den er mit dem Unerkannten zusammenhängt.56

Freud markiert hier eine Grenze der Deutung. Eine Grenze, die zugleich absolut ist57 und zumindest hier auch ambivalent bleibt, denn offenkundig sagt Freud nicht alles, was ihm in den Sinn kommt. Er bricht die öffentliche Mitteilung seiner Deutung ab, stoppt hier. Dass er durchaus weiter gehen konnte, zeigt ein Brief an Abraham, in dem er auf dessen Nachfrage zum Irma-Traum am 8. Januar 1908 antwortet:

Im Paradigmata ist von Lues nicht die Rede. Sexueller Größenwahn steckt dahinter, die drei Frauen, Mathilde, Sophie, Anna sind die drei Patinnen meiner Töchter, und ich habe sie alle! Für die Witwenschaft gäbe es natürlich eine einfache Therapie. Allerlei Intima natürlich.58

Die Dreiheit der Frauen ist also kein Nebenumstand, sie wird hier erneut und bedeutsam von Freud herausgestellt, und sie ist direkt verknüpft mit seinem sexuellem Interesse. Öffentlich aber hält er es so, wie er es an anderer Stelle seiner Deutung des Irma-Traumes formuliert: „Das Weitere ist mir dunkel, ich habe, offen gesagt, keine Neigung, mich hier tiefer einzulassen.“59

„Wollte ich die Vergleichung der drei Frauen fortsetzen“, so hielt er in der zitierten Fußnote fest, „käme ich weit ab.“60 Bezeichnet dies nicht präzise die Stelle, an der Freud mit seiner Arbeit zur Kästchenwahl viele Jahre später wieder ansetzt? In der Tat kommt er dann „weit ab“: seine Überlegungen tragen ihn bis in die griechische Mythologie. Ja, „allerlei Intima“ – das ist spürbar in dem Text, in dem es dann ein erneutes Ausweichen gibt.

Zwei Momente, die die beiden Texte verbinden, lassen sich besonders herausheben: erstens das Moment des Schreckens, des Unheimlichen und zweitens das Moment der Zerlegung, das sich im Traum von Irmas Injektion an eben derselben Stelle ereignet. In dem Augenblick, in dem es um die Öffnung des Mundes geht, also am Nabelpunkt des Traums, zerlegt sich für Freud die Traumfrau in drei. Beide Momente tauchen im Kästchenwahl-Text als zentrale Bestandteile wieder auf. Die dreifache Zerlegung steht jetzt sogar im Vordergund. Sie ist es, von der Freud sich in die Mythologie führen lässt. Aber auch das unheimliche Moment durchzieht den Text deutlich: die Unheimlichkeit der Weiblicheit. Ich möchte das Link zwischen den beiden Texten der Traumdeutung und der Kästchenwahl folgendermassen formulieren: Der Blick in den Schlund ist die Öffnung des bleiernen Kästchens. An dieser Stelle lässt sich nachträglich das Kästchen in den Irma-Traum eintragen: Hier, im Traum, ist offener Schrecken, was dort stumm verpackt und gebannt ist. Hier besteht die Heldenhaftigkeit Freuds darin, dass er nicht erwacht, dass er es wagt weiterzutäumen, der Spur des Unbewussten weiterhin zu folgen61, dort besteht die Heldenhaftigkeit Bassanios darin, dass er sich eben gerade diesem Kästchen zuwendet.

Lacan hat das Moment des Schreckens im Irma-Traum dramatisiert. Die berühmte Passage aus seinem Seminar 1955 sei hier wiedergegeben:

Das geht sehr weit. Nachdem er’s geschafft hat, dass die Patientin den Mund aufmacht – gerade darum geht’s in der Realität, dass sie den Mund nicht aufmacht –, sieht er auf dem Grund diese mit einem weißlichen Häutchen überzogenen Nasenmuscheln, ein scheußlicher Anblick. Es gibt zu diesem Mund alle Äquivalenzbeziehungen, alle Verdichtungen, die Sie nur wollen. Alles vermischt sich und assoziiert sich in diesem Bild, vom Mond bis zum weiblichen Geschlechtsorgan, und zwar vermittels über die Nase […]. Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellenc, das Fleisch, aus dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft. Vision der Angst, Identifikation der Angst, letzte Offenbarung des Du bist dies, was am weitesten entfernt ist von Dir, dies, welches das Unförmigste ist. Angesichts dieser Offenbarung vom Typ Mene Tekel Upharsin gelangt Freud auf den Gipfel seines Begehrens zu sehen, zu wissen, das sich bis dahin im Dialog des Ego mit dem Objekt ausgedrückt hat.62

5. Eine Lücke im Psychischen

Im Text zur Kästchenwahl, der anknüpft an die unvollständig gebliebene Analyse des Irma-Traums, nimmt Freud einen erneuten Anlauf das Reale des Geschlechts zu umkreisen, das ihm im Traum bereits zugesetzt hatte. Freud gebraucht Shakespeare um von etwas sprechen zu können, von dem er nicht anders als umwegig sprechen kann. Er gebraucht ihn im starken Wortsinn, sein Umgang mit dem Text ist alles andere als behutsam. Freud verstößt gegen alle Regeln der Kunst von Literaturinterpretation und auch der Psychoanalyse: nichts von schwebender Aufmerksamkeit gegen den Text Shakespeares, nichts von einer Rekonstruktion des inneren Textzusammenhanges.63 Immerhin greift Freud die beiden Szenen heraus ohne zu behaupten, dass er eine Stückinterpretation unternehme. Man versteht jetzt besser warum: Freud spricht als Analysand. Er nimmt Shakespeares Dramen – bzw. die Erschütterung, die sie in ihm ausgelöst haben – als Ausgangspunkt und Material für seine Analyse. Dabei gebraucht Freud die Dramen allerdings zugleich – sozusagen im Gegenzug und als Grenze seiner Zerlegungsarbeit –, um von ihnen aus zu einer mythischen Einkleidung des Realen fortzuschreiten. Das Beste an seinem Text ist, dass diese Einkleidung fadenscheinig bleibt. Das Reale scheint durch. Freuds Konstruktion ist hochsubjektiv, er spricht eher durch die mythische Konstruktion hindurch als dass er diese zerlegt. Sie ist immerhin an einer Stelle errichtet, an der keiner und keine Herr im eigenen Haus ist: über der Frage des Geschlechtsverhältnisses. Hier kann nur jeder und jede Einzelne (und kann nicht nicht – es geschieht unbewusst) eine Lösung finden, die seiner/ihrer Subjektivität entspricht und mehr noch: die seine/ihre Subjektivität allererst erschafft. Er/sie tut das nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Feld, in dem die intime Geschichte und die Gegebenheiten der jeweiligen Kultur untrennbar vermischt sind. Die Kultur hat seit jeher Mittel entwickelt und bereitgestellt, diese Lücke wett zu machen, die Differenz zu zähmen, d.h. das Geschlechtsverhältnis zu regulieren: sie hat Mythen, Bräuche und Institutionen herausgebildet. Von dort her kann die Subjektivität sich immer abstützen, sie bleibt gedeckt, solange der Einzelne sich in diese Verallgemeinerung einfügen kann und möchte – allerdings nur so lange. Freud nimmt diese Deckung im Kästchenwahltext erstaunlich weitgehend in Anspruch. Er stützt sich auf die mythischen Diskurse, knüpft an sie an und sich in sie ein. Freud anthropologisiert und er universalisiert in diesem Text.

Immerhin hat er, als er im Irma-Traum an diese heiße Stelle stieß – die Begegnung mit der Weiblichkeit und genauer dem weiblichen Geschlecht –, diese als den Nabel des Traums herausgehoben. Hier markiert Freuds Text ein Reales. Lacans Kommentar dieser Passage hebt darauf ab:

Ich glaube, dasjenige, wovor Freud im vorliegenden Fall als vor dem Nabel des Traums innehält (denn er gebraucht den Ausdruck ‚das Unerkannte‘ ja in diesem Zusammenhang) ist dasjenige, was er andernorts das Urverdrängte nennt und ausdrücklich bezeichnet.64

Er bringt den Freudschen Terminus der Urverdrängung ins Spiel und fährt fort, indem er das Urverdrängte,

spezifiziert als das in keinem Fall und bei keiner möglicher Annäherung Sagbare, – sozusagen an der Wurzel der Sprache [stehend]. […] Es ist ein Loch, etwas, das an der Grenze der Analyse steht. Es hat ersichtlich mit dem Realen zu tun.65

Man erinnere Lacans Definiton des Realen als des unmöglich zu Sagenden. Mitten im symbolischen Geflecht des Traums hat Freud so diese Grenze ausgemacht, die Lacan das Reale nennt. Freud nennt diesen Einfallspunkt hier den Nabel und erklärt ihn damit nicht nur zum Mittel- und Ursprungspunkt des Traums, sondern bringt auch noch einmal die mütterliche Sphäre – als verlorene – ins Spiel. Denn der Nabel immerhin ist jenes Mal, das das Neugeborene von der Abtrennung vom Körper der Mutter zurückbehält.

An dieser Stelle des Traums gab es (verfehlte) Begegnung mit dem Realen der Psychoanalyse, das heißt, um die Anfangsformulierung noch einmal aufzugreifen, mit dem Unbewussten in seiner verschlossensten, abgewiesensten Form. „Die Geschlechtlichkeit ist eine biologische Tatsache, die obwohl von außerordentlicher Bedeutung für das Seelenleben, psychologisch schwer zu fassen ist“, so drückt es Freud im Unbehagen aus,66 und sehr früh bereits hat er von der „Lücke im Psychischen“ gesprochen.67 Lacan sagt es bekanntlich weniger zaghaft mit seiner Formel „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis“,68 d.h. keine Möglichkeit das Verhältnis der Geschlechter befriedigend und in endlicher Zeit auszusagen – das ist der reale Kern des Unbewußten.

Fußnoten

  1. Jacques Lacan [1953]: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. In: Ders., Namen-des-Vaters. Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien 2006, 15.
  2. Ebd. 51.
  3. Ebd. 19.
  4. Ebd. 51f. – Es gibt keine Stelle im Vortrag, auf die diese Sätze direkt verweisen würden.
  5. Jacques Lacan [1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: Jacques -Alain Miller, Übers.: Norbert Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987, 61.
  6. Vgl. Mai Wegener: L’enveloppe-silence oder Das Schweigen des Analytikers. In: Hartmut von Sass (Hg.): Stille Tropen. Zur Rethorik und Grammatik des Schweigens. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2013, 158-173.
  7. Freud schreibt in einem Brief vom 6.12.1896: „Der hysterische Anfall ist keine Entladung sondern eine Aktion […] alles ist auf den Anderen berechnet, meist aber auf jenen prähistorischen unvergeßlichen Anderen, den kein Späterer mehr erreicht.“ Sigmund Freud [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt a. M., 223f., Hervorh. i. O.
  8. Jacques Lacan: Première Version de la ›Propositon du 9 Octobre 1967 sur le psychanalyste de L’École. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris, 2001, 578. Deutsch: Erste Version des ›Vorschlags vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule. Übersetzung: Jean Clam & Tobias Finis, unpubliziertes Skript.
  9. Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 617f., Herv. i. Orig.
  10. Jacques Lacan [1977]: Beim Lesen Freuds…, Übers.: Norbert Haas. In: Der Wunderblock, Nr. 1, 1978, 12.
  11. Ebd.
  12. Vgl. Jacques Lacan [1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: N. Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987, 39: „Das Unbewusste, dass sich auf der ontischen Ebene so zerbrechlich zeigt, ist tatsächlich ethisch verfasst.“
  13. Jacques Lacan: Première Version de la ›Propositon du 9 Octobre 1967 sur le psychanalyste de L’École. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris, 2001, 578. Deutsche Übersetzung nach: Erste Version des ›Vorschlags vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule. Übers. v. Jean Clam & Tobias Finis, unpubliziertes Skript.
  14. Sigmund Freud & Ludwig Binswanger: Briefwechsel 1908–1938. Hg. v. G. Fichtner, S. Fischer, Frankfurt am Main, 1992, 80.
  15. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 24.
  16. Ebd. 26.
  17. Ebd.
  18. Ebd.
  19. Vgl. Jacques Lacan [1958]: Die Ausrichtung der Kur, Übers.: Norbert Haas. In: Schriften I, Suhrkamp Frankfurt M. 1975, 221 – wo von „dem Pfund Fleisch“ die Rede ist, „das das Leben zahlt, um daraus den Signifikanten der Signifikanten zu machen, und das als solches unmöglich dem imaginären Körper wiedererstattet werden kann; es ist der verlorene Phallus des einbalsamierten Osiris.“ Vgl. auch: Jacques Lacan [2004]: Das Seminar Buch X (1962-1963): Die Angst. Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien Berlin, 2010, 157; sowie außerdem dazu: Eva Maria Jobst [1992]: Le livre de chair. In: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zu begreifen, Sonderheft 3, Reader zu Tagung „Geld“, Dezember 1992, 60-77.
  20. Sigmund Freud [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt a. M, 293: „Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit […] Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des König Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern mußte. Gegen jeden willkürlichen Einzelzwang […] bäumt sich unsere Empfindung, aber die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat.“ ( Brief vom 15.10.1897). Vgl. auch: Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 269ff.
  21. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 26.
  22. Ebd. 27.
  23. Ebd. 28.
  24. Ebd. 27.
  25. Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel, Band I/2, Hg.: E. Braband, E. Falzeder, P. Giampieri-Deutsch, Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1993, 235: „Für jeden von uns nimmt das Schicksal die Gestalt einer (oder mehrere) Frauen an, und Ihr Schicksal hat einige selten kostbare Züge. Sie wissen, ich habe heuer Emden[s] abgesagt, so liebenswürdige Gesellschafter sie auch sind, um in Marienbad einige Wochen analysefrei zu leben. Mein nächster Verkehr wird meine kleine Tochter sein, die sich jetzt so erfreulich entwickelt (diese subjektive Bedingung der ‘Kästchenwahl’ haben Sie gewiss erraten).“ Die jüngste Tochter Freuds war Anna.
  26. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 29.
  27. Auf diese Deutung war ich in meinem Text zum Schweigen (vgl. Anm. 6) zugegangen. Von ihr ausgehend kam überhaupt diese hier vorliegende Arbeit in Gang.
  28. Vgl. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 29f., u.a. auf „Die zwölf Brüder“ und „Die sechs Schwäne“.
  29. Ebd. 31.
  30. Ebd. 32.
  31. Jacques Lacan [1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: Jacques -Alain Miller, Übers.: Norbert Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987, 48 und 56.
  32. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 32f. Herv.i.O.
  33. Ebd. 33.
  34. Ebd. 33f.
  35. Ebd. 34.
  36. Ebd. 35.
  37. Ebd. 33.
  38. Ebd. 34.
  39. Ebd. 36.
  40. Ebd.
  41. Ebd.
  42. Dieser Gedanke gehört zu den frühsten Bausteinen von Freuds Text, er formuliert ihn bereits am 23.6.1912 in einem Brief an Ferenczi über die Idee zur Kästchenwahl. Vgl.: Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel, Band I/2, Hg.: E. Braband, E. Falzeder, P. Giampieri-Deutsch, Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1993,103.
  43. Ebd. 37.
  44. Ebd.
  45. Ein Kasten bildet im übrigen auch das Zentrum von Freuds im 4. Kapitel der Psychopathologie des Alltagslebens überlieferten Deckerinnerung. Er ist dort eng mit seiner Mutter und seiner Kinderfrau verknüpft und mit der Frage, woher die Kinder kommen, mit welcher nach Freud die kindliche Sexualforschung ihren Anfang nimmt. Vgl. Sigmund Freud [1904], Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW IV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 58-60.
  46. Sigmund Freud [1912], Über die Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, GW VIII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 90.
  47. Vgl. besonders: Sigmund Freud [1927]: Fetischismus, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 315 und 316.
  48. Sigmund Freud [1918]: Das Tabu der Virginität, GW XII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 169: „Von der Begründung der narzißtischen, reichlich mit Geringschätzung versetzten Ablehnung des Weibes durch den Mann glaubt die Psychoanalyse ein Hauptstück erraten zu haben, indem sie auf den Kastrationskomplex und dessen Einfluß auf die Beurteilung des Weibes verweist.“
  49. Das Gewahrwerden der Kastration und die Berührung des Realen fallen in der Freudschen Theoretisierung, die den Terminus des Realen nicht kennt, zusammen. Bei Lacan sind diese Momente theoretisch geschieden, was jedoch nicht heißt, dass sie in der Erfahrung des Subjekts nicht übereinanderliegen können. Ihre Unterscheidung führt allerdings zu einer differenzierteren Theorie der Kastration. Während die Kastration sich in das Register des Symbolischen einschreibt, setzt in der Begegnung des Realen – d.h. im Angstmoment – die Möglichkeit der symbolischen Einschreibung gerade aus. Dieser reale Einschnitt ist der Kastration notwendig vorgängig. Die Kastration, d.h. die Errichtung des Phallus (-φ), ist bereits angstlindernd. Im Seminar über die Angst formulierte es Lacan zugespitzt so: „Es gibt keine Kastration, weil es an dem Ort, an dem sie sich zu vollziehen hat, kein zu kastrierendes Objekt gibt. Dafür müsste der Phallus da sein, nun ist er aber nur da, damit es keine Angst gibt.“ (Jacques Lacan [2004]: Das Seminar Buch X (1962-1963): Die Angst. Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Hans-Dieter Gondeck, Turia + Kant, Wien 2010, 337.)
  50. Sigmund Freud [1965], Sigmund Freud. Karl Abraham. Briefe 1907-1926, Hg.: H.C. Abraham, E. L. Freud, Frankfurt am Main, 1980, 34.
  51. Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 111f., kursiv i.O.
  52. Ebd. 112, kursiv i.O.
  53. Ebd. 111, kursiv i.O.
  54. Nach Lisa Appignanesi, John Forrester [1992]: Die Frauen Sigmund Freuds, Übers.: Brigitte Rapp, Uta Szyszkowitz, List Verlag München Leipzig 1994.
  55. Ebd. 116.
  56. Ebd.
  57. Vgl. Freuds zweite Bemerkung zum Nabel des Traums (Ebd. 530): „In den bestgedeuteten Träumen muss man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, dass dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluss bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.“
  58. Sigmund Freud [1965], Sigmund Freud. Karl Abraham. Briefe 1907-1926, Hg.: H.C. Abraham, E. L. Freud, Frankfurt am Main, 1980, 34.
  59. Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 118.
  60. Ebd. 116.
  61. Vgl. Jacques Lacan [1978]: Das Seminar Buch II (1954-1955), Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: H. J. Metzger, Freiburg im Breisgau, 1980, 200 sowie die Bemerkung Eriksons, die Lacan hier aufnimmt: H. Erik Erikson [1954], Das Traummuster der Psychoanalyse, in: Psyche, VIII. Jahrgang, 10. Heft, Januar 1955, 587: „An dieser Stelle würde wohl ein Träumer mit weniger elastischen Abwehrmitteln vor Schrecken über das, was er in der klaffenden Höhle erblickt, aufwachen.“
  62. Jacques Lacan [1978]: Das Seminar Buch II (1954-1955), Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: H. J. Metzger, Freiburg im Breisgau, 1980, 199f.
  63. Wie dies sehr spannend Sigrid Weigel in ihrem Ausfatz macht. Vgl. Dies.[1996]: „Shylock“ und „Das Motiv der Kästchenwahl“: die Differenz von Gabe, Tausch und Konversion im „Kaufmann von Venedig“. In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Rowohlt, Reinbek, 1996, 112-133.
  64. Jacques Lacan [1976]: Réponse de Jacques Lacan à une question de Marcel Ritter (26.1.1975). In: Lettres de l’École freudienne. No. 18. Strasbourg, 7-12, (im Netz unter: http://www.ecole-lacanienne.net//pictures/mynews/6D947CCD521655006B8FA1292DC92A37/1926%201981%20Pas-tout%20Lacan.pdf , 1662-1667 (Stand: 22.02.2016).
  65. Ebd.
  66. Sigmund Freud [1930]: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 465. Vgl. auch Freuds Insistenz: „Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges“. Sigmund Freud [1916]: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XI, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 331 (XXI.Vorlesung).
  67. Sigmund Freud [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt am Main, 1986, S.178. Freud gebraucht diese Formulierung im Zusammenhang der Hysterie, vgl. ebd., 177: „Die Hysterie beginnt mit Überwältigung des Ich […] Ihr Primärsymptom ist die Schreckäußerung bei psychischer Lücke.“ Herv.i.O.
  68. Frz.: „Il n’y a pas de rapport sexuel.“ Vgl. etwa: Jacques Lacan [1975]: Das Seminar Buch XX (1972-1973), Encore, Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Norbert Haas, Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986, 17, 157f. u.a.

Literatur

Appignanesi, Lisa; Forrester, John [1992]: Die Frauen Sigmund Freuds, Übers.: Brigitte Rapp, Uta Szyszkowitz, List Verlag, München, Leipzig, 1994

Erikson, H. Erik [1954]: Das Traummuster der Psychoanalyse. In: Psyche, VIII. Jahrgang, 10. Heft, Januar 1955, 561-604

Freud, Sigmund [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1904]: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW IV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1912]: Über die Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, GW VIII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1916]: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XI, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1918]: Das Tabu der Virginität, GW XII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1927]: Fetischismus, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1930]: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999

Freud, Sigmund [1965]: Sigmund Freud. Karl Abraham. Briefe 1907-1926, Hg.: H.C. Abraham, E. L. Freud, Frankfurt am Main, 1980

Freud, Sigmund [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt am Main, 1986

Freud, Sigmund & Binswanger, Ludwig [1992]: Briefwechsel 1908–1938. Hg. v. G. Fichtner, S. Fischer, Frankfurt am Main

Jobst, Eva Maria [1992]: Le livre de chair. In: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zu begreifen, Sonderheft 3, Reader zu Tagung „Geld“, Dezember 1992, 60-70

Lacan, Jacques [1953]: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale, In: Ders., Namen-des-Vaters. Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien 2006, 11-61
—[1958]: Die Ausrichtung der Kur, Übers.: Norbert Haas, in: Schriften I, Suhrkamp Frankfurt a.M. 1975
—[1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: N. Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987
—[1975]: Das Seminar Buch XX (1972-1973), Encore, Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Norbert Haas,Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986
—[1976]: Réponse de Jacques Lacan à une question de Marcel Ritter (26.1.1975). In: Lettres de l’École freudienne. No. 18. Strasbourg, S. 7-12, (im Netz unter: http://www.ecole-lacanienne.net//pictures/mynews/6D947CCD521655006B8FA1292DC92A37/1926%201981%20Pas-tout%20Lacan.pdf (Stand: 22.02.2016)
—[1977]: Beim Lesen Freuds…, Übers.: N. Haas. In: Der Wunderblock, Nr. 1, Berlin, 1978
—[1978]: Das Seminar Buch II (1954-1955), Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: H. J. Metzger, Freiburg im Breisgau, 1980
—[1978]: Première Version de la ›Propositon du 9 Octobre 1967 sur le psychanalyste de L’École. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris, 2001, 575–591. Dtsch.: Erste Version des ›Vorschlags vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule‹. Übers. v. J. Clam & T. Finis, unpubliziertes Skript

Lacan, Jacques [2004]: Das Seminar Buch X (1962-1963), Die Angst. Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2010

Weigel, Sigrid [1996]: „Shylock“ und „Das Motiv der Kästchenwahl“: die Differenz von Gabe, Tausch und Konversion im „Kaufmann von Venedig“. In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Rowohlt, Reinbek, 112-133

Wegener, Mai [2013]: L’enveloppe-silence oder Das Schweigen des Analytikers. In: Hartmut von Sass (Hg.): Stille Tropen. Zur Rethorik und Grammatik des Schweigens. Verlag Karl Alber, Freiburg, München, 158-173

 

Vom Nichtverstehen, dem Todestrieb und anderen Todesphänomenen der Psychoanalyse.

Eine persönliche Theoriegeschichte

von Edith Seifert

Abstract:
Im Folgendem soll vom Nichtverstehen die Rede sein sowie vom Todestrieb und anderen metapsychologischen Todeskonzepten. Ferner geht es um eine persönliche Konfrontation mit dem Todesthema. Es folgt ein Apercu aus der psychoanalytischen Praxis. Zum Schluss wird angeschnitten, wie der Psychoanalytiker in der Kur dem Irreduziblen begegnen kann.

 

Das Nichtverstehen als Todesmoment und Einstieg in die Psychoanalyse

Mein Interesse an der Psychoanalyse hängt eng mit einigen Erfahrungen zusammen, die ich an der legendären „Sigmund Freud Schule Berlin“ gemacht habe. Ich erinnere mich, wie ich dort neben Vorträgen, erstmalig zu Lacan, etwa der Lacanschen Signifikantentheorie,1 dem „Ich in der Technik der Psychoanalyse“ oder zu Gödels Unvollständigkeitstheorem eine Reihe literaturwissenschaftlicher Vorträge zu hören bekam, mit denen ich trotz eines romanistischen Literaturstudiums so gut wie nichts anfangen konnte. Meiner Erinnerung nach lag das nicht allein an der Neuheit der behandelten Gegenstände, sondern hatte vor allem mit der Art und Weise zu tun, wie ich als Hörerin aufnahm, was es da zu hören war. Zum größten Teil verstand ich es nämlich gar nicht. Ich möchte fast sagen, mein damaliges Hören war so eingeschränkt, dass an alle den vernommenen Reden nur Grammatik und Semantik Wiedererkennungswert hatten. Vielleicht gab es noch einige literarische Zusammenhänge, die mir bekannt vorkamen, doch das Allermeiste schien mir ein Buch mit sieben Siegeln zu sein. Obwohl solche Eindrücke unbehagliche Gefühle hinterließen, zähle ich sie heute zu den faszinierendsten, die ich im Laufe der Zeit gemacht habe.

Von heute aus betrachtet, ließe sich sagen: Mir ging es auf einer lebenszeitlich fortgeschrittenen Stufe beinahe wie einem Kind beim Sprechenlernen, und wie dieses war ich nicht in der Lage, die Bedeutungen des Gesprochenen zu erfassen, nahm nur an, dass das Gesagte einen Sinn machen müßte und mußte erst lernen, aus dem Fluss des Gehörten Signifikanten heraus zu hören und dazwischen Beziehungen zu erkennen.

Was den Hintergrund dieses entscheidenden Nichtverstehens angeht, über das für mich paradoxerweise die Tür zur Psychoanalyse aufging, so muß natürlich auch die berühmt-berüchtigte „Unleserlichkeit/illisibilité“ des Lacanschen Sprechens erwähnt werden, mit der an die eigentümliche Qualität des Unbewußten, namentlich seine Unzugänglichkeit erinnert sein soll. Mit einiger Berechtigung möchte ich annehmen, dass den damaligen Vortragenden der „Sigmund Freud Schule“ daran gelegen, ihre Zuhörer genau darauf einzustimmen; auf das Unbewusste nämlich, das schon bei Freud als topische Größe diese unzugängliche Todesdimension darstellt und sich, mit Lacan gelesen, vollends als die andere, fremde Dimension erweist, die sich dem Zugriff des verstehenden Hörens entzieht. Schließlich verhält es sich mit dem Unbewussten partiell nicht anders als energetisch mit den Trieben, die als Todestriebe ja ihrerseits stumm und an sich nicht zugänglich sind.

Das ungefähr könnte ich heute als Erklärung meiner damaligen Hörerfahrungen anführen. Und genau das wäre, nebenbei gesagt, manchmal weiterhin wert, sich in Erinnerung zu rufen, wenn einem nach Jahrzehnten des Arbeitens mit der Psychoanalyse immer noch solches Nichtverstehen widerfährt.

Allerdings macht das Wissen um die Gründe des Nichtverstehens die Sache nicht annehmbarer. Denn dass im Seelenleben der Tod, bzw. das Tote, alias das Unbewußte die Regie führt, braucht seine Zeit zum Verstehen. Für mich jedenfalls war Einiges an Theoriearbeit und konkreten Erfahrungen nötig, bis ich verstand, dass das Nichtverstehen in der Natur des Psychischen liegt.

An erster Stelle gehörte dazu die Beschäftigung mit dem Freudschen Todestrieb, für den ich naiverweise die Studenten in meinen frühen soziologischen Seminaren zu gewinnen versuchte, nicht ahnend, wie umstritten und affektiv aufgeladen, zumal in den Ausläuferzeiten der soziologisch und politisch dominierten Rezeption der Psychoanalyse, gerade dieser Begriff war. Dass ich mit einer Lacanschen Definition wie „Das Leben denkt nur ans Sterben“2 in den Geruch Heideggerianischer Ontologisierungstendenzen geraten könnte, hätte ich so nicht für möglich gehalten – ebensowenig, dass man deshalb sozial isoliert werden könnte. Da halfen weder elaborierte Theorien noch die Haus- und Volksmärchen der Gebrüder Grimm, bei denen ja auf ähnliche Weise von Leben und Tod erzählt wird, wie etwa im Märchen von Schneewittchen, in dem es um nichts anderes als um die Tatsache des symbolischen Todes geht, um den man im Leben nicht herum kommt.3 Jeder Versuch dazu ist unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Im Märchen wird noch erzählt, was geschieht, wenn man das nicht wahrhaben will, dass es nämlich nichts nützt, dabei von anderen unterstützt werden, etwa von einem mitleidigen Jäger, der zum Beweis für den Tod des Subjekts die Stiefmutter mit Simulacren zu täuschen versucht. Das Märchen lässt keinen Zweifel daran, dass solche Unterfangen nicht gelingen, sondern das Subjekt, Schneewittchen, unvermeidlich an einem Ort tot ist – obwohl das im Märchen immer noch gut ausgeht und die Liebe über den Tod siegt.

Naive Begeisterung meinerseits dennoch für die neue Idee von der unentrinnbaren Verschränkung von Tod und Leben. Möglich, dass zuweilen ein genießerischer Umgang mit einfloss, vielleicht auch eine kleine Theoriekoketterie.

Und an Stoff zum Genießen war in der psychoanalytischen Theorie wahrlich kein Mangel. Im Gegenteil: Ein Theorem wie die “Kastration”, diese Bedingung der Sexualität, bot ausgiebig Gelegenheit, sich über lange Zeit daran zu erfreuen. Ich habe dem Thema mit der Ausarbeitung der Frage nach der weiblichen Sexualität denn auch einige Jahre gewidmet. Auch hier stellte sich dasselbe Faszinosum von Unzugänglichkeit und Unverständlichkeit ein, und war erneut diese Ambivalenz aus Anziehung und Abstoßung zu verspüren, wenngleich nach meinem Dafürhalten die Frage der Sexualität nicht mehr auf der Ebene abstrakter Begrifflichkeiten zu halten war, sondern zu praktischen Stellungnahmen herausforderte, nämlich bekämpft oder angenommen werden musste. In meiner theoretischen Biografie unterlag das einigen Schwankungen: Von der Verteidigung der These von der dem Weiblichen zugeschriebenen Todesdimension gegen die rein lebensbejahenden, feministischen Kritikerinnen über Versuche, die Zuschreibung inner-lacanianisch als einseitig zu entlarven bis zu dem Nachweis, dass weibliche Sexualität beim späten Lacan als diskursbegründend verstanden wird. Gleichwohl war ein Restunbehagen an der Konstruktion nie ganz aufzulösen, sondern blieb der Eindruck zurück, dass das Weibliche wegen der kulturellen Phantasmen aus seinem Todesschatten wohl nicht herauszulösen war. 4

Doch das Todesthema blieb weiterhin anziehend. Als ich vor kurzem alte Texte, die sich bei mir angesammelt hatten, durchsah, wurde mir das noch einmal deutlich. Unter all diesen Notizen, Vorträgen und Aufsätzen tauchte immer wieder, in unterschiedlicher Ausgestaltung, das nämliche Thema auf.

Auch meine Langzeitbeschäftigung mit dem wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse lief darauf hinaus. Es stellte sich hier heraus, dass die Psychoanalyse, insofern sie nicht derselben Logik wie die Naturwissenschaften gehorcht – weshalb sie nebenbei gesagt auch nicht mit den Neurowissenschaften vereinbar ist – schon in ihren Konzepten und Begriffen (Sprechen, psychischer Apparat, Trieb, Verdrängung) durch die Alterität des Unbewussten eingeschränkt wird, genauer gesagt, durch das Nicht Passende, Nicht-Einzupassende, Unassimilierbare der Psyche, das Tote. Womit sich das Tote jetzt als der Grenzpunkt der psychoanalytischen Wissenschaftlichkeit herausstellte.5

An der Insistenz des Freudschen Todesgedankens bestand mithin kein Zweifel.

Texte wie “Totem und Tabu”,6 der „Untergang des Ödipuskomplexes“,7 aber auch der „Entwurf einer Psychologie“ von 18958 machten das immer schon deutlich. Sie gaben überdies zu erkennen, warum der Tod für die Psychoanalyse so bedeutungsvoll ist und seine Theoretisierung überhaupt erst der Sondersituation der menschlichen Individuen Rechnung trägt, also der der menschlichen Hilflosigkeit geschuldeten „Not des Lebens“. Gleichzeitig wurde deutlich, wie auf der Grundlage des Toten die Freiheit des Begehrens und Wünschen garantiert werden kann, die ja das Ziel aller praktischen Psychoanalyse darstellt. Auf allen Ebenen wiederholte sich also der eine Gedanke, wonach das Leben, das psychische Leben, aus den Ablagerungen des Todes entspringt, dass Leben überhaupt als ein „Überlebsel“ des Todes zu betrachten ist.

Man konnte fast den Eindruck bekommen, bei der Philosophie Schopenhauers gelandet zu sein. Und in der Tat, mit der Idee des Todes als absolutes Nichts, dem Nirvanaprinzip lehnt Freud sich ausdrücklich an den Philosophen an,9 auch wenn seine Vorstellung vom Tod ganz anderer Natur ist, nämlich eine Absage an Glückseligkeits- und Erlösungswünsche darstellt (und der stummen „Not des Lebens“ ) und stattdessen dem Widerstreit der im Seelenleben regierenden Kräfte, “Eros” und „Thanatos“, Lebens-und Todestrieb Raum gibt. Nicht ohne doch genau auf diese Weise das Leben aufrecht zu erhalten. Zu sehen ist das inbesonders in der Apparatekonzeption der Psyche, in der Freud, zunächst klassisch-philosophisch, die Lust zum Prinzip erhebt (Lustprinzip), um sogleich eine innere Gegenläufigkeit, Tendenz zur Abfuhr daran herauszustellen, das Nirvanaprinzip.10 Mit der Folge, dass Lust nicht mehr zur Erfüllung führt, sondern, Lacanianisch formuliert, wegen ihrer toten Restspuren partiell immer unbefriedigt ausfällt. Interessant ist, dass solche Setzungen nicht zwangsläufig einen nekrophilen Pessimismus oder ein Verleugnen sozial repressiver Verhältnisse anzeigen – eine Annahme, die in der marxistischen Diskussion gerne gepflegt wurde – sondern (nach Auffassung Lacans) eher von einer Erfahrung zeugen, die Lacan als nichts weniger und nichts mehr als die moralische Erfahrung der Psychoanalyse bezeichnet.11

Wie dem auch sei, für mich hatte sich jedenfalls gezeigt, dass das (partielle) Misslingen der Lust mit der Begründung des Psychischen im Tod zu tun hatte und durch den Umstand verursacht ist, dass Wünsche und Lust nicht einfach zum Wohl der Wünschenden gemacht sind, sondern die Individuen manchmal wahrhaft untergraben.

Das Unsagbare

Anfang 1995, kurz nach der Wende, war ich zu einem Vortrag vor dem Wittenberger Kreis für christliche und jüdische Gespräche eingeladen. Bezugnehmend auf die damals beunruhigende Gewaltwelle im Osten des Landes stand die Tagung unter dem Thema: „Umgang mit Haß und Gewalt in Judentum und Christentum“. Da ich zu jener Zeit sowohl mit Aggressivität und Gewalt wie mit Freuds „Moses“ beschäftigt war, kam mir das Thema nicht ungelegen, und ich kam gut vorbereitet mit einem ausführlichen Beitrag angereist. Dennoch wurde die Tagung für mich zu einem Erlebnis der besonderen Art. Es fing an mit der Verwunderung über eine, so noch nie gesehen, heruntergekommene Stadt, immerhin schon sechs Jahre nach der Wende; machte sich fest bei den Umständen der Unterbringung, setzte sich fort im Erstaunen über die Zusammensetzung der Teilnehmer – unter denen neben zahlreichen Christen auch vier zu DDR-Zeiten im Amt gewesene Rabbiner waren – und kulminierte im regelrechten Erschrecken über den Verlauf der Diskussionen.

Was mich so verstörte: In meinem Beitrag hatte ich, ausgehend von dem Verhältnis von Psychoanalyse und Religion, versucht, eine Skizze der psychoanalytischen Schuld-Ethik vorzustellen, also Freuds Einspruch gegen die Überforderung durch das Gebot der Nächstenliebe, um diesem Züge einer jüdischen Ethik entgegenzuhalten und zum Schluss mit einigen Erklärungen zu Angst und Aggressivität zu enden. Alles in allem ein ambitioniertes Programm, mit dessen Ausführung ich nicht unzufrieden war. Es wurde denn auch sehr höflich, sehr freundlich aufgenommen und mit einigen, wenigen Fragen honoriert, wonach man zum nächsten Beitrag überging.

Befremdet und regelrecht vor den Kopf gestoßen fühlte ich mich jedoch, nachdem mein anfängliches Befremden über den mir ungewohnten DDR-Diskurs gewichen war, als alle Erklärungsangebote nicht ankommen wollten und die Diskussion sich zunehmend auf die Frage zuspitzte: Wie konnte das geschehen, der Mord an fünf Millionen Juden? Wobei die Frage immer und immer wieder gestellt wurde, so als sei nie eine Antwort dazu versucht, nie eine gegeben worden, als wären dazu hier und jetzt überhaupt keine Sätze gefallen.

Nach der Tagung, als einige der Teilnehmer noch zusammensaßen, getraute ich mich, meiner Verwunderung Ausdruck zu geben; woraufhin ich mich seitens eines prominenten jüdischen Referenten umgehend mit der Frage konfrontiert fand, ob wohl auch Juden zu meinen Freunden zählten. Ich verstand immer weniger. In der Nacht darauf dachte ich ernsthaft an vorzeitige Abreise. Nur die Höflichkeit gegenüber meinen Gastgebern hielt mich davon ab. Doch die Wirkung der rätselhaften Botschaft dieser Tagung sollte noch einsetzen. Mit einiger Verspätung meinte ich, doch etwas von ihrem Sinn verstanden zu haben: Hier hatte zum einen die Tatsache des Sprechen an sich im Raum gestanden, der zufolge Sprechen unweigerlich auf der Erkenntnis des Todes beruht und alles Sprechen im Grunde auf Verbindungsabbruch (Kastration) und Wiederholungen hinausläuft. Das gilt besonders, wenn ein erlebtes Grauen zugrunde liegt. Zum anderen glaubte ich, auf extreme Weise, erneut auf das erwähnte Nichtverstehen, Nichtzuverstehende gestoßen zu sein, auf das Undenkbare, Unfassbare, Reale, das auf so extreme Weise durch den Holocaust verkörpert wird, auf den es deshalb keine Antwort geben kann und keine gibt.

Wenn eine Theoretisierung an dieser Stelle nicht unpassend wäre – obwohl das fragliche Theorem gerade aus Analyseerzählungen über den Holocaust stammen soll – so müsste hier der Lacansche Begriff des Realen zu Sprache gebracht werden/stehen, der für das nicht enden wollende Unfassbare steht, für das, was „nicht aufhört, sich nicht zu schreiben“.12 Auf Fragen, die das Reale berühren, wird man keine Antwort finden, kann man im besten Fall nur Gegenfragen erwarten.

Das zu meiner Lektion in Sachen Sprechen und Tod, von der aus ich besser verstanden habe, was Freud den „Wiederholungszwang“ nennt. – Das führt mich nun in die psychoanalytische Praxis.

Wiederholungszwang

Aus der Praxis der Psychoanalyse war mir das Wiederholungsphänomen nur allzu gut bekannt. Es hatte mir in der Arbeit mit Analysanten des Öfteren zu schaffen gemacht. Zahllose Beispiele ließen sich dazu anführen. Trotz allseitigen Bemühens, meines eigenen wie dessen der Analysanten, die bei mir die Kosten der Analyse selbst tragen müssen, war manchmal nämlich nicht zu übersehen, dass einiges nicht voranging. Im Gegenteil schien die Kur bei manchen Patienten auf der Stelle zu treten. Das mochte sich wie bei dem Mann, der Männer liebt, so auswirken, dass er sich zum wiederholten Male in einen Mann verliebte, der lieber mit Frauen zusammen war. Ein anderer fühlte sich auf jeder Arbeitsstelle aufs Neue von seinen Kollegen gemobbt und auf die Probe gestellt. Wieder ein anderer glaubte sich immer wieder von seinen Freunden ausgenutzt. Eine Analysantin schließlich kam jede zweite Stunde mit derselben Klage über den ungeliebten Beruf daher, ohne über die Jahre hinweg auch nur daran zu denken, etwas zu verändern.

Die Psychoanalytikerin fühlte sich zuweilen vor den Kopf gestoßen, es machte sie oft ratlos, zuweilen, offen gesagt, aber auch ärgerlich. Das geschah vor allem, wenn deutlich wurde, dass diesen Wiederholungen weder mit guten Ratschlägen noch klugen Erklärungen beizukommen war. Im Gegenteil, nach wohlmeinenden Hilfestellungen nahmen die Klagen beinahe zu, abgesehen davon, dass die Verantwortung für die ausweglose Situation nun plötzlich der Anderen, nämlich der Psychoanalytikerin zugeschoben wurde, was das Symptom zusätzlich verfestigte.

Es lag also kein Trost in der Erkenntnis, dass Wiederholungen dieser Art als Abkömmlinge des Todestriebs bezeichnet werden können.13 Einen freundlicheren Umgang mit dem Wiederholungszwang versprachen deshalb die Inszenierungen der masochistischen Symptome. Ein Alltagsbeispiel von der Couch mag das illustrieren.

Herr A. ist seit einiger Zeit in Psychoanalyse. Schon im Vorgespräch stellte sich der sanfte junge Mann als jemand vor, der Lust an perversen Inszenierungen hat. Er lebte in einer stabilen Beziehung, pflegte aber von Zeit zu Zeit in speziellen Clubs seinen erotischen Neigungen nachzugehen. Aber nicht deswegen war er zu mir gekommen, sondern weil er sich oft auf eine belastende Weise verantwortlich fühlte. Sein Freund bereitete ihm einige Sorge, da er gesundheitlich permanent in Gefahr war. Trotzdem war es nicht in erster Linie die Krankheit des Freundes, die ihm zu schaffen machte, als vielmehr die Annahme, für alles und jedes zuständig zu sein, alles regeln zu müssen. Zentraler Aspekt war dabei die Angst.

Aus seinen Erzählungen:

Ohne es zu wollen, kam Herr A. in die Lage, ein Telefongespräch seines Freundes mit anzuhören zu müssen. Zunächst wollte er aus dem Zimmer gehen, weniger aus Rücksichtnahme oder Diskretion, sondern weil er befürchtete, dass dabei für ihn unangenehme Dinge zur Sprache kommen könnten – „Der Lauscher an der Wand, hört seine eigne Schand’.“ Möglicherweise würde er ein heimliches Verhältnis seines Freundes entdecken. Er kennt ja dessen Schwäche für heimliche Liebschaften und hat schon das ein oder andere Mal, als er seine Kontrolllust nicht im Zaum halten konnte, eine derartige Liaison entdeckt. Auch dieses Mal ist er auf etwas Ähnliches gefasst. Trotzdem verlässt er seinen Horchposten nicht. Was das Merkwürdige daran ist, er empfindet dabei eine Art von genussvoller Angst. Das ist zwar nicht ganz neu, er kennt das in Abwandlung aus anderen Situationen, beispielsweise von Streitigkeiten, in denen es um die Frage geht, wer die größten Opfer für die Haushaltsführung bringt. Jedes Mal genießt er dann seinen Triumph, weil der Streit immer zu seinen Gunsten ausgeht. Am Ende muss sein Freund ihm nämlich immer recht geben, weil klar zutage tritt, dass er mehr Opfer bringt als er. Leider sind, wie er mit Bedauern hinzufügt, solche Situationen aber nicht sexuell.

Die Episode ist, wie gesagt, nicht besonders spektakulär, lässt aber erkennen, in welchem Maße hier die Angst vor dem unbeherrschbaren Zufall beteiligt ist. Das verdeutlicht in besonderem Maße eine Erinnerung, die dieser Analysant am Anfang seiner Psychoanalyse erzählte:

Im Anschluss an einen Traumbericht kam er darauf zu sprechen, dass er als junger Mensch mit KZ-Überlebenden in Kontakt gekommen war. Die Begegnung hatte fürchterliche Auswirkungen auf ihn. Er bekam das schreckliche Gefühl, er dürfe als Person gar nicht mehr da sein, habe keinerlei Recht dazu. Besonders bedrückend wurde das, als er bei einem alten Paar zum Abendessen eingeladen war. Es gab ein Gericht, das er einfach nicht essen konnte. Während des Essens erzählte die Frau des Hauses, dass sie im KZ alle nur an Essen gedacht hätten. Er saß da und würgte und wusste nicht, was er mit dem Essen machen sollte. Herunterschlucken konnte er es nicht, liegen lassen auch nicht, aber seinen Gastgebern sagen, dass er das nicht essen konnte, war ebenso wenig möglich. Ich weiß nicht mehr, wie das Problem gelöst wurde, aber Eines ist mir in Erinnerung geblieben: Dem jungen Mann wurde in dieser Situation klar, dass er, angesichts dessen, was diese Leute erlebt hatten, keine Befindlichkeit und keine Gefühle haben durfte. Gemessen an denen, die dem Tod ins Gesicht gesehen hatten, hatte er kein Existenzrecht.

Insofern dieses Erlebnis an eine speziell mit dem Vater zusammenhängende Beziehungsstruktur anschloss, war ich geneigt, das hier zutage liegende Unwertgefühl, das Gefühl von Nichtexistenz – zumal es immer wieder in Erscheinung trat – zu den psychischen Bedingungen dieses Analysanten zu zählen.

Bemerkenswert ist jedoch die oben genannte Lösung, die dieser Analysant im Umgang mit den verstörend-zerstörenden Begegnungen gefunden hatte. (Ich muss hinzufügen, dass seine Lösung mich zunächst befremdete, bis ich ihr meine Anerkennung schließlich nicht versagen konnte.) Er verfiel nämlich darauf, die Konfrontationen mit dem Schrecken gar nicht erst zu vermeiden. Wie das kleine Alltagsbeispiel mit dem Telefon vorführt, nimmt er Angst und Bedrohung und, sagen wir getrost, den Schrecken der Kastration, jetzt nämlich selbst in die Hand. Er nimmt das unliebsame, erschreckende Reale vorweg, antizipiert es. Damit ist er den Schrecken, wie er nach einem späteren Traum meinte, zwar nicht los, weiß aber, woran er ist und kann nicht mehr vom „Bösen“ überrascht werden.

Das ist auch ein Umgang mit der Kastration, und möglicherweise nicht der schlechteste. Vielleicht könnte man ihn, wie eine Analysantin meinte, die eine ähnliche Lösung gefunden hatte, sogar einen romantischen Umgang mit dem irreduzibel Realen nennen. Ich schließe diesen Teil mit der Versicherung, dass bei allem Einfallsreichtum der Part des Realen, des Toten gleichwohl nicht zu vermeiden ist. Wovon schon die Märchen erzählen.

Wie der Psychoanalytiker mit dem Realen, dem Tod konfrontiert

Es stellt sich nun die Frage, wie eine psychoanalytische Kur, von einem Psychoanalytiker zumal, der selbst davon getroffen ist, auf das Reale ausgerichtet werden kann. Ein kurzer theoretischer Ausblick auf das Lacansche Konzept der Übertragung, mit dem ich als Psychoanalytikerin arbeite, mag das zu guter Letzt andeuten.

In Lacans Verständnis der Übertragung ist nicht vorgesehen, dass der Psychoanalytiker einem Analysanten seine Gefühle mitteilt. Selbst noch so reflektierte und kontrollierte Gegenübertragungsgefühle sind davon nicht ausgenommen.14 Nicht dass die Realität von Gegenübertragungsgefühlen bestritten würde; denn selbstredend geht man auch in Lacanschen Kreisen davon aus, dass der Psychoanalytiker emotional reagiert. Man ist aber der Ansicht, dass die Mitteilung von Gefühlen des Pychoanalytikers dem Analysanten kaum zugute kommt, weil die Übertragungsbeziehung als ein Geschehen betrachtet wird, das grundlegend nur im Sprechen existiert. In diesem Sinne nehmen nicht nur Affekte wie Ärger, Freude oder Angst ausschließlich vermittelt durch ihre sprachliche Einbindung Gestalt an, sondern ist auch das Tote, Reale allein aufgrund seiner Einbindung in das Sprechen und die Sprache potentiell von Belang.

Weil nun aber das Reale nicht vollständig symbolisierbar ist, sondern – wie Freud schon bemerkte – weitgehend unzugänglich bleibt,15 muss es für den Psychoanalytiker selbst als ein unanalysierbares Element verstanden werden, das die Grenze seiner eigenen Analysierbarkeit und Selbstreflexion darstellt und laut Lacanscher Sicht erst durch seine Transformation zum Objekt des Begehrens einen Platz in der Kur beanspruchen kann. Todesgeprägt wie das Begehren ist, kann es der Kur dann die Richtung geben. Wie wichtig es ist, die Kur auf das Namenlose auszurichten, wird vor allem deutlich, wenn das Sprechen in seiner Zeichenfunktion verengt wird. Ich erinnere mich an den Fall einer anfallsweise paranoischen Analysantin, die ihre unbeherrschbare Angst vor dem Zufall dazu brachte, sich in belastenden Situationen immer wieder von Zeichen umgeben zu sehen, mit denen sie zur allseitigen Verzweiflung versuchte, das Auftreten von einem Ereignis A kausal auf die Intervention von Person B oder C zurückzuführen.

In solchen Situationen ist es mein vorderstes Bestreben, die Analysanten darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Sprechen eine von ihnen unabhängige, losgelöste Dimension darstellt. Niemand hat sie ganz in der Hand; sie führt neben dem Gemeinten vielmehr ein wahrhaftiges Eigenleben. Zum anderen versuche ich zu vermitteln, dass das Reden aus den besagten Gründen immer etwas Unabschließbares mit sich führt, so dass Ungenauigkeiten, Widersinn und Täuschung normale Begleiterscheinungen des Sprechens sind.

Gelassenheit und Mut auf der Seite des Analytikers vorausgesetzt, Mut und Vertrauen auf der anderen, kommt es vielleicht dazu, dass der Analysant dem Toten, Realen am Symbolischen die Anerkennung nicht weiter verweigert. Wenn das gelingt, werden wahre Wunder wahr. Der Sprache wäre ein Stück ihrer alten Zauberkraft wiedergegeben, die seit jeher seelische Veränderung hervorgerufen hat und dem Patienten nicht zuletzt einen Spielraum für sein Begehren.

So hatte ich anfangs gedacht und denke annähernd noch immer, streng nach der Devise, dass im Schweigen der Rede des Analytikers das Unnennbare, Zufällige des Toten berührt wird. Indessen habe ich im Laufe der Zeit die Erfahrung gemacht, dass die Erinnerung an das Unnennbare auch zu viel sein kann. Mein Eifer in Sachen Schweigen ist mit den Jahren deshalb abgekühlt. Der Not der Analysanten vielleicht auch mehr zugeneigt, gehe ich in der Kur deshalb heute weniger dogmatisch vor und stelle dem Realen ausdrücklicher als zuvor die Sprachgrenze entgegen. Gleichwohl meine ich verstanden zu haben, dass die sprachliche Grenzziehung nicht notwendigerweise ernst und gewichtig ausfallen muss. Im Gegenteil, je mehr sinnfreie Elemente sie aufweist, desto eher wird sie gelingen. (Ein „Hm, hm“, „Aha“, „Ach so“, ein Seufzer oder ein Lacher verleihen ihr ausreichende symbolische Anerkennung.) Unterstützt wird mein persönlicher Kurswechsel von einer Wendung in der deutschen Lacanrezeption, die seit Kurzem verstärkt dabei ist, die Grenzen der Signifikantentherapie auszumessen. Unabgeschlossenheit also noch einmal auf dem Forschungsfeld der Sprache, aber auch der Appell, mit den Sinnanstrengungen nachzulassen und auf diese Weise, sinnfrei, dem sinnlosen Ende zu trotzen.

Der Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der erstmals erschienen ist in: Hierdies, Helmwart (Hg.) [2014]: Wie hältst du´s mit dem Tod? Erfahrungen und Reflexionen in der Psychoanalyse, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht.

Fußnoten

  1. Lacan, 1986a, S. 19ff.
  2. Lacan, 1980, Kap. 18
  3. s. N. Haas, 1982, S. 38ff.
  4. Seifert, 2013
  5. Seifert, 2008
  6. Freud, 1912-13
  7. Freud, 1924
  8. Freud, 1950
  9. Freud, 1916-17, S. 540
  10. Seifert, 2008, S.183 ff.
  11. Lacan, 1986b, S. 7ff.
  12. Lacan, 1986a, S. 101ff.
  13. Freud, 1920
  14. Seifert, 2010
  15. Freud, 1940, S. 52

Literatur

Freud, Sigmund [1912-13]: Totem und Tabu. In: Gesammelte Werke, Bd. IX. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1954,

— [1915]: Triebe und Triebschicksale. In: Gesammelte Werke, Bd. X. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1946, S. 210-232.

— [1916-17]: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke, Bd. XI. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1944.

— [1920]: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1940, S. 3-69.

— [1924]: Der Untergang des Ödipuskomplexes. In: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1940, S. 395-402.

— [1940]: Abriß der Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke, Bd. XVII. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1941, S. 63-138.

— [1950]: Entwurf einer Psychologie. In: Gesammelte Werke, Nachtragsband. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1987, S. 375-486.

Haas, Norbert [1982]: Fort/Da als Methode. In: Hombach, Dieter (Hg.): ZETA 02/mit Lacan, Rotation Verlag, Berlin, S. 29-46.

Lacan, Jacques [1980]: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch II. Walter Verlag, Olten.

— [1986a]. Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII. Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin.

— [1986b]. Encore. Das Seminar Buch XX. Quadriga Verlag, Weinheim/Berlin.

Seifert, Edith [2008]: Seele-Subjekt-Körper. Psychosozial Verlag, Gießen.

— [2010]: Was hat Josef Breuer falsch gemacht? Zu Gegenübertragung oder Begehren des Psychoanalytikers. In: H. Hierdeis (Hrsg.), Der Gegenübertragungstraum in der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

— [2013]: Lieben bis zur Dornenkrone. Das Liebesopfer in der Psychoanalyse. In: RISS, Zeitschrift für Psychoanalyse, Wien, Heft 79, S. 81-108.

Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl [1990]: Zur Eigenständigkeit des Grundgedankens Freuds in der Rezeption der Philosophie Schopenhauers. In: Nagl, Ludwig et al. (Hgg.), Philosophie und Psychoanalyse: Symposion der Wiener Festwochen, Stroemfeld Verlag, Frankfurt a.M., S. 91-119.

 

Ein Schreiben jenseits des Gesetzes.

Das Geschick des Buchstabens und die Krankheit Tod

von Michael Meyer zum Wischen

Quand j’écris je ne meurs pas.1

Marguerite Duras, La Lettre (1987)

Ein Mann bittet eine Frau, gegen Bezahlung mit ihm für mehrere Tage ein Zimmer zu teilen: um, wie er ihr sagt, „[…]es versuchen, sich der Sache nähern, sie kennen lernen, sich gewöhnen, gewöhnen an diesen Körper […].“2
Die Frau fragt: „Was versuchen?“
Er antwortet: „Zu lieben.“3

So beginnt La Maladie de la mort von Marguerite Duras. Im Verlauf des Textes gesteht der Mann der Frau ein, dass er nicht liebe, woraufhin sie ihn als Toten adressiert, von Der Krankheit Tod befallen. Oft ist dieses Werk vor allem als eine Art Abrechnung mit einer unterstellten Liebesunfähigkeit der Männer verstanden worden. Ich möchte in meinem Vortrag dahingegen herauszuarbeiten versuchen, dass dieser Text in einer sehr komplexen und extrem verdichteten Weise vom Prozess des Schreibens, der Schrift und ihren Bezügen zum Tod und zur Weiblichkeit handelt. Er nimmt eine wichtige Stellung im Spätwerk der Dichterin ein und lässt vielfältige intertextuelle Verknüpfungen erkennen. Ich möchte auch auf die historische Situierung des Werkes und seine politische Relevanz, sowie seinen Platz in der Lebensgeschichte der Dichterin hinweisen.

Am 20. September 1979 wird in Paris Pierre Goldman ermordet. Die Täter werden nie gefasst, jedoch zuerst in der extremen rechten Szene vermutet.4 Goldmann war der Sohn jüdisch-polnischer Eltern, die während des Krieges an der Résistance in Lyon mitwirkten. Er selber war in der französischen extremen Linken aktiv und an einigen Einbrüchen beteiligt, von einem Mord an zwei Apothekerinnen im Dezember 1969 am Boulevard Richard Lenoir war er aber freigesprochen worden. Nach seiner Haftentlassung arbeitete er für die Temps modernes und die Libération. Marguerite Duras, die selber mit der Résistance in Verbindung stand, zeigte sich durch Goldmans Ermordung sehr erschüttert. 1980 verwandte sie im Zusammenhang mit der Ermordung Goldmans die Formulierung von der Maladie de la Mort und nahm damit den Titel ihres Textes von 1982 vorweg: „Die Mörder von Pierre Goldmann: von der gleichen Krankheit des Todes befallen. Sie sind tot und wissen es nicht. Sie sind lebende Tote und wissen es nicht. Sind ohne Leben.“5 Bereits 1977 hatte die Dichterin die Wendung La Maladie de la mort in einem Interview mit Michèle Manceaux verwandt. Duras kritisierte in dieser Zeit die Folgen der so genannten sexuellen Revolution, wie auch des Feminismus, die sie in einer Banalisierung von Liebe und sexuellem Begehren sah. In diesem Kontext stand auch ihre Infragestellung der Homosexualität, die sie aber durchaus nicht generell verurteilte. Was sie kritisierte, war zum einen die Tendenz homosexueller Gruppen, um sich selbst zu kreisen.6 Schwerwiegender erschien ihr jedoch noch die Gefahr, dass in der Homosexualität eine „Öffnung zum Unbekannten“ unmöglich werden könnte, was ihr dem Tod und völliger Verzweiflung gleich kam.7 In dem Gespräch mit Michèle Manceaux äußerte sie, La Maladie de la mort sei eine Krankheit der Liebe, die „in einer verflachten Welt“8 zu Grunde zu gehen drohe. Duras hat La Maladie de la mort bei Kierkegaard, der Krankheit zum Tode gefunden, einen der wenigen Philosophen, die sie ausdrücklich schätzte.9 Für Kierkegaard ist die schlimmste Verzweiflung diejenige, die nicht um sich selber weiß und gerade damit dem Tod das letzte Wort gibt. Den Platz eines Remediums gegen die Verzweiflung, den bei Kierkegaard die Religion einnimmt, räumt Duras jedoch dem Schreiben ein. Die Unerträglichkeit des Lebens, die aus einem Übermaß von Schmerz wie Lust resultiert, lässt sich nur durch das Schreiben ertragen.10 Dieser Überschuss lässt in einer psychoanalytischen Perspektive sich mit dem Todestrieb in Verbindung bringen. Das Schreiben wird in diesem Sinne zur Transformation des Todestriebes, sodass die Dichterin sagen kann, Anne-Marie Stretter hätte sich nicht im Meer getötet, Claire Lannes nicht gemordet, wären sie Schriftstellerinnen gewesen.11 Damit verortet Duras das Schreiben also im Bereich des Todes, wozu für sie die sexuelle Extase mit ihrer Todesnähe gehört.12 Diese Verknüpfung von Schreiben und Todestrieb erinnert an eine Formulierung des späten Lacans, der von ihm als „suprême de la jouissance de la vie“13 spricht. Schrift lässt sich so auch als Sublimierung eines bedrohlichen Genießens verstehen.

Es scheint wichtig, dass der Entstehung von La Maladie de la mort eine die Dichterin völlig verausgabende Auseinandersetzung mit der Shoah vorausging, die sie in eine zunehmende Melancholie und einen an die Grenze des Todes reichenden Alkoholkonsum führte, der durch eine große Dosis Antidepressiva noch bedrohlicher wurde.14 Das Trinken hat Duras an vielen Stellen mit der Abwesenheit Gottes in Verbindung gebracht. „Ich war von der Evidenz der Abwesenheit Gottes völlig geblendet.“15  Zu trinken hieß für die Dichterin, angesichts dieses Fehlens Gottes: „Mit dem Alkohol leben, heißt mit dem Tod in Reichweite leben.“16 Die lebensbedrohliche Krise, in die Duras Ende der 70er Jahre gerät, beginnt in etwa mit der Verfassung der drei Aurélia Steiner Texte, mit denen sie den deportierten und ermordeten Juden Stimme zu geben suchte. Sie hat dieses Werk selber in eine enge Verbindung mit der Ermordung Goldmans gebracht:

Zu diesem Zeitpunkt, als ich die erste Aurélia Melbourne beendet hatte, wurde Goldman umgebracht. Ich erinnere mich, dass er in einem Interview in Le Monde gesagt hatte: Unsere einzige Heimat ist das Schreiben, ist das Wort. Und das hat mich bestätigt in dem, was ich sehe: Diese Heimat ohne Land, ohne Nation, ist die solideste der Welt, die unzerstörbarste. Vielleicht kommt die Verfolgung der Juden auch daher: Ihr Land konnte man ihnen nicht nehmen, sie hatten keins, also in Ermangelung von Materiellem, auf das man sich hätte stürzen können, tötete man sie selbst.17

Judentum und Schrift waren für Duras eng verknüpft. Aurélia Steiner selber verkörpert ein Schreiben, das an den Platz eines fehlenden Gottes tritt: Ihr letztes Wort, ein „Ich schreibe“, „nimmt sich selbst gegenüber die Position Gottes ein.“18 Duras setzte das Schreiben als schöpferisches Lebensprinzip dem Horror von Zerstörung und Tod entgegen. Der Schriftsteller tritt an die Stelle Gottes. Selber ohne Heimat, dem jüdischen Gedanken der Diaspora und der Zerstreuung verbunden, war ihr das Schreiben zur Heimat geworden. Ferner schrieb sie den Juden hohe intellektuelle Klarsicht zu, wie sie in den Gestalten des Stein oder des Vizekonsuls zum Ausdruck kommt. Diese Erkenntnis zielt für sie auf „die Trennung, die Störung in der Einheit“.19 1987 äußerte sie:

Ich glaube, was mich an den Juden so stark beunruhigt, was ich in vollem Licht sehe und wovor ich in tödlicher Klarheit stehe, läuft auf das gleiche hinaus wie das Schreiben. Schreiben heißt, außerhalb von sich selbst zu suchen, was bereits in einem ist. Die Beunruhigung hat die Funktion, das latent über die Welt verbreitete Grauen, das ich erkenne, zu sammeln. Sie macht das Grauen von seiner Entstehung her sichtbar. Das Wort Jude/jüdisch drückt gleichzeitig die tödliche Macht aus, die der Mensch sich herausnehmen kann, und unser Erkennen dieser Macht. Weil die Nazis dieses Grauenvolle in sich selbst nicht erkannt haben, haben sie es begangen .Die Juden, dieses Beunruhigende, dieses Déjà vue muss für mich selber schon mit meiner Kindheit in Asien begonnen haben, die Lazarette außerhalb der Dörfer, das epidemische Auftreten von Pest, Cholera und Elend, die abgesperrten Strassen der Pestkranken waren die ersten Konzentrationslager, die ich gesehen habe. Damals klagte ich Gott dafür an.20

Marguerite Duras hat in der Shoah ein einzigartiges, nicht vergleichbares Verbrechen gesehen, „ein(en) Erlass, eine wohlüberlegte Entscheidung, eine logische Organisation, eine minutiöse, manische Vorkehrung für die Beseitigung einer Menschenrasse.“21 Die Erkenntnis der eigenen Gewalttätigkeit schien ihr eine Möglichkeit, einer absoluten Katastrophe wie der Shoah etwas entgegensetzen zu können. So hat die Eröffnung der Dichterin in La Douleur, selber an Folterungen nach dem Krieg beteiligt gewesen zu sein, Ablehnung und Unverständnis ausgelöst. Marguerite Duras hat in dem Hass auf das Ängstigende, Fremde, das radikal Andere bei sich und beim anderen die wichtigste Quelle von destruktiver Gewalt gesehen. Insofern schienen ihr Antisemitismus und Misogynie eng verwandt und sie konnte vom Mann im Camion sowohl als „écraseur de juifs“ („Zermalmer der Juden“), wie als „écraseur de femmes“ („Zermalmer der Frauen“)22 sprechen. Juden, wie Frauen, standen für sie am Platz des Fremden und Anderen.23 Ich möchte hier an eine Bemerkung Geneviève Morels erinnern:

Ein anderer Faktor, der genauso real ist wie der Kastrationskomplex, erklärt genauso die Misogynie. Es ist der Schrecken vor dem Anderen, als Fremdem, Nicht-Identifizierbarem, was man ebenfalls im Rassismus findet […].Es gibt Nicht-Interpretierbares, Nicht-Benennbares, von Realem, was sich nicht identifizieren lässt.24

In ihrer schweren Krise erhielt Marguerite Duras Briefe eines jungen Philosophiestudenten aus Caen, den sie Yann Andréa, später Yann Andréa Steiner nennen sollte. Sie hatte ihn bereits 1975 bei einer Vorführung von India Song kurz kennen gelernt, aber wieder vergessen.25 Die Korrespondenz mit Yann Andréa führte Duras dazu, ihr Aurélia Steiner Projekt fortführen zu können: „Ich glaube, den zweiten Aurélia Steiner Text habe ich für Sie geschrieben.“26 Als er schließlich am 29. Juli 198027 zu ihr kommt, beginnt eine Liebesgeschichte, in der er für sie der „Mann von Cabourg, Jude wie das Kind, die Schrift, Jude wie die Seele“28 werden soll. Der junge Mann bedrängt Duras, einen Text zu vollenden, den sie nicht zu Ende bringen kann: die Geschichte von Théodora Kats, „diese im Europa des Todes umherirrende Frau in Weiss“29, einer Jüdin, die im Bahnhof nicht in den Zug zu den Verbrennungsöfen verladen wird. Diese Frau hat eine Vorläuferin im Leben der Dichterin, ihre Nachbarin Madame Cats während des Krieges, die auf ihre deportierte Tochter wartete.30 Das Drängen des Liebhabers, die Geschichte von Théodora Kats, zu schreiben, dürfte bei Marguerite Duras die Erinnerung an ihre eigene Geschichte im Krieg wachgerufen haben, die schließlich 1985 zur Veröffentlichung von La Douleur führte. Dazu gehört, dass Marguerite Duras mit ihren Schuldgefühlen konfrontiert wurde31, erst durch das Schicksal ihres ersten Mannes, Robert Antelme, der nach Buchenwald deportiert war, auf die Vernichtung der Juden aufmerksam geworden zu sein:

Ich hatte jüdische Freunde, ich hatte einen jüdischen Liebhaber, zwei meiner besten Freunde waren Juden… Und dann, ganz plötzlich hatten sie einen gelben Stern. Und ich habe nicht darüber nachgedacht. Das ist unvergesslich, widerwärtig. Über Jahre wurde ich davon heimgesucht.32

Diese Heimsuchung der Dichterin führte sie zur Erkenntnis, dass die Shoah nicht nur von den Nazis durchgeführt, sondern auch von der Selbsttäuschung, der Blindheit der breiten Massen ermöglicht wurde, wie sie es an sich selbst erfahren hatte.33 Die Ignoranz, das Nicht-Wissen-Wollen, war für sie ein wesentliches Moment der Maladie de la Mort.

In der Begegnung mit Yann Andréa verbinden sich für Marguerite Duras entscheidende Momente ihres Lebens, die auf die Frage nach der Herkunft von Gewalt, Vernichtung und Tod hinauslaufen. Dies hat zu der Dramatik dieser Liebesbeziehung sicher beigetragen. Es wäre aber sicher zu kurz gegriffen, die Werke der Duras ab Beginn der 80er Jahre, die alle mehr oder weniger deutliche Bezüge zu ihrer Liebe mit Yann Andréa tragen, als Abbild eines Beziehungsdramas miss zu verstehen. Lohnend scheint mir jedoch, das, was Marguerite Duras mit Yann Andréa verbunden haben mag, etwas näher zu untersuchen.

1.

Wie schon erwähnt hat das besondere Interesse Yann Andréas für die Shoah und das Judentum eine große Rolle für die Liebesbeziehung mit Marguerite Duras gespielt. In Été 1980, den sie Yann Andréa widmet, schreibt sie:

Ich habe Ihnen die Briefe von Aurélia Steiner geschickt, ihre Briefe, verfasst von mir, und Sie haben mich angerufen und mir Ihre Liebe für Aurélia gestanden. Später habe ich weitere Briefe geschrieben, um Sie über Aurélia reden zu hören und über mich, die Ihnen Aurélia vorenthält und wieder ausliefert, so wie ich selbst mich Ihnen ausgeliefert hätte im mörderischen Wahnsinn, unserem Bund. Ich habe Ihnen Aurélia vermacht. Ich habe mich damals an Sie gewandt, damit Sie die werdende Aurélia betreuen, damit Sie zwischen ihr und mir stehen und so gleichsam zur Ursache ihres Daseins werden, verstehen Sie, so wie Sie auch die Ursache dafür hätten sein können, dass ich nichts schreibe, falls wir uns zum Beispiel geliebt hätten, so sehr dass die Worte Aurélias nie ans Licht gekommen wären, nur unsere eigenen Worte, unsere Namen.34

Die Bedeutung Yann Andréas für die Entstehung von Aurélia Steiner drückt sich auch in der späteren Namensgebung Yann Andréa Steiner aus, die vielerlei Bezüge zum Werk der Dichterin aufweist. Lol V. Stein, eine von Yann Andréa besonders geliebte Figur im Durasschen Werk, wird von ihr ebenfalls zur Jüdin erklärt.35 Der kleine jüdische Junge aus Été 80 wird in Yann Andréa Steiner zu Samuel Steiner36 und damit gleichzeitig zum Geliebten selbst. Die Figur des Stein in Detruire dit-elle verkörpert ebenfalls in besonderer Weise die Verbindung von Schrift und Judentum.37 Der ältere Bruder der Dichterin hieß im Übrigen Pierre (Stein).

2.

Eine weitere Gestalt, die als zentral für das Werk der Duras erscheint, ist der Vize-Konsul von Lahore, von là-dehors38. Vorbild dieser Gestalt war ein jüdischer Geliebter der Dichterin zu Beginn der dreißiger Jahre, der aus Neuilly stammte.39 Jean-Marc de H.40 verkörpert für Duras eine Figur außerhalb des Gesetzes und außerhalb jeder Norm, der sich der Unerträglichkeit der Welt aussetzt und gleichzeitig mit einer großen Gewalttätigkeit auf sie antwortet. So wird er in seiner wütenden Zurückweisung der Welt, die in den nächtlichen Schüssen auf die Leprösen gipfelt, zum Geliebten Anne-Marie Stretters, dem Inbegriff der nicht fassbaren Weiblichkeit. Wenn der Vice Consul gegen sich und die Welt wütet und anschreit, lässt sich Anne-Marie Stretter vom Absoluten des Schreckens wie von einem Strom durchfließen und begibt sich schlussendlich zum Sterben in das Meer. Der Vice Consul wird von Duras mit Attributen ausgestattet, wie wir sie später sowohl in ihrer Schilderung Yann Andréas‘ finden, wie auch zum Beispiel des Mannes in La Maladie de la mort. So hebt sie die „Jungfräulichkeit“ des Vice-Consuls hervor, der erst durch Anne-Marie Stretter zur Leidenschaft der Liebe findet – eine Hoffnung, die die Dichterin wohl auch in Hinblick auf ihren jungen homosexuellen Liebhaber hegte. Immer wieder finden sich Hinweise auf das Brüllen41 des Vice-Consuls, wie Yann Andréas, so vor allem in La pute de la côte normande42, ein Buch, das vor allem auf La Maladie de la mort und die Entstehung von Les yeux bleus cheveux noirs Bezug nimmt. Wenn nun Yann Andréa seine Geliebte als „Pute de la côte Normande“43 anschreit, ist dies wohl auch eine Anspielung auf Anne-Marie Stretter, „die Liebhaberin aller, die Prostituierte von Calcutta“44, wie er damit selbst zu Jean-Marc de H. wird. Ein weiterer Hinweis auf die Parallele zwischen der Szenerie von India Song und der Konstellation der Yann Andréa gewidmeten und zugeschriebenen Bücher ist folgende Stelle in Été 80:

Zwischen den Tankern und uns liegt die Bucht der Seine mit ihren vielen Fischerbooten, man hört das Geräusch der Motoren, des bewegten Wassers, des Lachen und Rufens der Fischer am Ganges.45

Bemerkenswert ist auch, dass Duras‘ India Song 1937 datiert, eine Zeit, von der sie schreibt, „dass alle Gründe sich zu suizidieren wirklich zusammen kamen […].“46 Liest man Été 80, findet man ebenfalls eine Anreihung von politischen Ereignissen, die das Werk des Todes betreiben: ihnen wird wie in India Song ein Liebespaar jenseits aller Vernunft entgegengesetzt, ein Liebespaar wohl, dass seinem eigenen Zeugnis nach in diesem Sommer 1980 am Rande der Verzweiflung und dem Suizid sehr nahe war, aber dann den Weg eines miteinander geteilten Schreibens fand.47

3.

In der Zeit als Marguerite Duras und Yann Andréa ihren Briefwechsel begannen, las die Dichterin Musils Der Mann ohne Eigenschaften.48 Die Konfrontation mit der inzestuösen Liebe zwischen Schwester und Bruder, Ulrich und Agatha, führte bei ihr zu einer Fülle von Werken, die um diese Liebe kreisen. Dabei erscheint sie durchaus als eine Gegenwelt zur leidenschaftslosen und korrupten Welt der Erwachsenen: Gegenüber einer eindrückenden „Pathologie des Gesetzes“, wie sie sich in der kolonialen Ausbeutung zeigte, erscheint die Übertretung des Inzestverbots, eine „amour criminel“49 zwischen den Geschwistern, als Form eines utopischen Aufbegehrens. Die Liebe zum Bruder Paul war angesichts eines toten Vaters und einer Mutter am Rande des Wahnsinns eine Möglichkeit des Überlebens, die später im Schreiben ihre Fortsetzung fand:

Mein ganzes persönliches Leben, mein Liebesleben, mein Sexualleben, hat davon abgehangen, dieser Liebe zwischen meinem kleinen Bruder und mir, diese Geschichte schläft oder erscheint in den Büchern.50

Andererseits macht Duras immer wieder die tödliche Gefahr des Inzestes deutlich51 und es ist gerade die Schwester in ihrem Werk Agatha, die darauf drängt, den Bruder verlassen zu müssen. Der Verzicht auf die inzestuöse Liebe führt zu etwas Neuem, einem Ersatz, dem Schreiben. In der Verfilmung des Buches Agatha übernahm übrigens Yann Andréa die Rolle des Bruders. So wie er einerseits durch seine Liebe zu Aurélia Steiner und Théodora Kats die Auseinandersetzung Marguerite Duras’ mit den Fragen des Nationalsozialismus und der Shoah vorantrieb und ihr Schreiben stütze, so war es wohl auch der Umstand, dass er die Dichterin immer wieder an den kleinen Bruder ihrer kindlichen Liebe erinnerte, der schließlich zu der Veröffentlichung von L’Amant führte. 1988 sagt sie in TF 1: „Der kleine Bruder war schlussendlich der Chinese. Genau das ist mein Geheimnis.“52 Frédérique Lebelly hat darauf hingewiesen, dass der junge Geliebte im Vietnamesischen als „petit frère“ bezeichnet wird.53 Duras meinte auch, dass ihr 1942 verstorbener Bruder gerade das Alter Yann Andreás bei ihrem Kennenlernen54 erreicht hätte. Hinzu kam, dass Duras im Mai 1942 eine Totgeburt erlitt, einige Monate vor der Todesnachricht Pauls. So trägt das immer wieder beschworene Kind der späten Werke der Dichterin Züge sowohl des toten kleinen Bruders, wie des toten Kindes. Ersteren setzte sie im L’amant, letzteren in La douleur einen dichterischen Grabstein, sodass beide Werke auch als eine Form der Trauerarbeit begriffen werden können.

Die Entstehung von La Maladie de la mort fällt in eine Zeit, in der sich Duras mit ihrem Geliebten in einem „Kampf ums Überleben“55 befand, dem Tode durch beständige Alkoholexzesse nahe, in einem Kampf darum, eine schwierige Liebe leben zu wollen und dabei immer wieder auf eine Unvereinbarkeit zu stoßen, die aber gleichzeitig zum Schreiben und zur Schrift drängte. Duras verfasste die ersten zwanzig Seiten des Textes vor einer Entziehungskur56, während derer sie fast gestorben wäre und psychotisch wurde. Die psychotischen Produktionen der Dichterin beziehen sich dabei vor allem auf Figuren und Themen des Indischen Zyklus. In ihren Halluzinationen und Wahngedanken taucht aber auch immer wieder die Bedrohung durch Hitler und die Faschisten auf.57 Wichtig dabei erscheint, dass die Entziehungskur im Amerikanischen Krankenhaus von Neuilly stattfand, dem Ort, aus dem der jüdische Geliebte der Dichterin gekommen war. In den Delirien der Dichterin enthüllt sich so auch der Abgrund, über den sie ihre Werke schrieb. La Maladie de la mort ist angesichts der äußersten Verzweiflung ein Werk über das Schreiben geworden. Duras sagt bei Vollendung des Buches: „Das einzige, was zählt, ist das Schreiben.“58. Die Dichterin signiert das Buch „M.D.“, die Buchstaben, die auch auf ihrem Grab stehen werden.59 Ins Englische übersetzt: Malady of Death.

La Maladie de la mort ist von einer extremen textuellen Verdichtung, einer sprachlichen Reduktion und Minimalisierung gekennzeichnet. Nach Erscheinen des Textes präzisierte die Autorin dies so, dass der Text

dem entspräche, was in Ihnen bliebe, nachdem sie ein Buch eben dieses Titels gelesen hätten […]. es kostete eine ganze Menge Arbeit, das Buch auf seine Magerkeit zu reduzieren, bis dahin, dass es nicht mehr möglich war, es auszulöschen […].60

Nicht zuletzt handelt es sich um ein Werk, welches das Schreiben selbst und die Lektüre zum Gegenstand hat, wie die Anweisungen zur theatralen Aufführung verdeutlichen: „Die zwei Schauspieler sollten also so sprechen, als wenn sie im Begriff wären, den Text in getrennten Zimmern zu schreiben, der eine vom anderen isoliert.“61 Der Text performiert einen Schreibprozess angesichts des Umstands, „daß der Mann und die Frau unversöhnlich sind“62, wobei sich diese Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeit aus der grundsätzlichen Alterität des Weiblichen herleitet. Das radikal Andere der Frau situiert die Dichterin als „gegen alle Gesetze der Welt, gegen alle Mächte der Moral“63. Der Körper der Frau ist dem Mann „fremder“64, es drängt ihn „zurückzukehren zu den Leibern der anderen, zu dem Ihren, zurückzukehren zu sich selbst.“65 Duras schildert keine Reziprozität zwischen den Geschlechtern. Es gibt keine Äquivalenz angesichts der radikalen Alterität, die vom Weiblichen, vom weiblichen Geschlecht ausgeht. Diese lässt den Mann verzweifeln und treibt ihn zur Gewalt. Hier findet sich die Duras‘sche These wieder, dass die Gewalttätigkeit, im Antisemitismus wie in der Frauenfeindlichkeit, ihre Wurzel im Hass auf das radikal Andere und Unbekannte hat.

Worin besteht La Maladie de la mort? Im Text heißt es:

Darin, dass der, der von ihr befallen ist, nicht weiss, dass er ihn in sich trägt, den Tod, ohne ein durch das Sterben im Voraus geweihtes Leben gelebt zu haben, ohne irgendein Bewusstsein von Tod, in gleichwelchem Leben.66

La Maladie de la mort besteht also darin, keinen Zugang zum Tod und zum Tödlichen in sich selbst zu haben und so auch keinen Zugang zur eigenen Verzweiflung. Dies führt zur exzessiven Gewalt gegen den anderen und sich selbst. Wir finden hier sowohl die Kierkegaard-Lektüre der Dichterin, wie auch ihre politischen Analysen in Été 80, angesichts der Ermordung von Pierre Goldman, vor allem aber bezüglich der Shoah, wieder. Es ist ein besonders wichtiges Moment dieses Textes, dass er die in ihm enthaltene Analyse der Gewalt mit dem fehlenden Geschlechterrapport verknüpft. Dort, wo es keine vorgegebene Relation zwischen den Geschlechtern geben kann, muss in der Liebe etwas erfunden werden, wenn es nicht zu Tod und Zerstörung kommen soll. Es gibt für die Liebe keine „définition extérieure“67. Insofern erstaunt nicht, dass Duras die Schrift immer wieder mit der Liebe verbindet. Sie verweist für sie auf ein Jenseits des phallischen Gesetzes, auf ein Anderes Genießen. Wenn der Mann die Frau des Textes danach fragt, woher eine solche Liebe kommen könne, antwortet diese: „Vielleicht durch einen jähen Riss in der Logik des Universums. Sie sagt: zum Beispiel durch einen Irrtum. Sie sagt: Niemals durch den Willen.“68 Der Text ist hier einer zentralen Formulierung einer Utopie nahe, die bei Duras das Schreiben, wie den politischen Raum und die Sexualität betrifft, Dimensionen, die in ihrem Werk stets zusammengehören69:

Man muss das Gesetz öffnen und offen lassen, damit etwas eindringt und das gewohnte Spiel der Freiheit stört. Es bedürfte einer Öffnung zum Gottlosen, Verbotenen, damit das Unbekannte eindringt und sich zeigt.70

Es geht darum, das Gesetz durch das Schreiben und die Lektüre durchlässig zu machen. Man hat in La Maladie de la mort immer wieder einen Prozess gegen die Homosexualität gesehen, eine Sicht, die Duras zeitweise zurückwies, dann wieder bejahte.71 Sofern sie die Homosexualität kritisierte, zielte dies auf eine Zurückweisung des Weiblichen als radikale Heterogenität. Das entspricht Lacans Wort: „Nennen wir per Definition den heterosexuell, der die Frauen liebt, was immer sein eigenes Geschlecht sei.“72 Es ist der narzißtische Selbstbezug, den Duras mit dem Tod in Verbindung bringt, die Tendenz mit sich gleich bleiben zu wollen und sich dem Anderen nicht zu öffnen. In einem anderen Werk von 1982, L’homme atlantique, adressiert sie sich an Yann Andréa:

Bereits sind Sie in Gefahr. Die größte Gefahr, der Sie jetzt ausgesetzt sind, ist die, dass Sie sich selber ähnlich sehen, ähnlich demjenigen aus der ersten Sequenz, die vor einer Stunde gedreht worden ist.73

Marguerite Duras betreibt in La Maladie de la mort keineswegs eine feministisch inspirierte Abrechnung an den Männern. Wie auch Maurice Blanchot hervorhebt, lesen wir im Text: „Sie entdecken, dass von hier, von ihr, die Krankheit Tod ausgeht, dass diese vor Ihnen ausgestreckte Gestalt es ist, welche die Krankheit Tod verfügt.“74 Dies lässt keine einseitige Identifizierung des Mannes mit der Maladie de la Mort zu. Sie ist keine fixe Eigenschaft des Mannes, sondern erweist sich als die zentrale Dimension, als Abgrund des Textes selbst. Eine vorschnelle sozialrealistische Bestimmung der Frau des Textes als Prostituierte im Dienste des Mannes, ist eine weitere übereilte Interpretation.75 Hier gilt zu bedenken, dass im Kontext des Indischen Zyklus die Prostituierte zur Metapher der Schriftstellerin wird. Das Geld führt einerseits eine symbolische Grenze ein, definiert einen Tauschwert. Andererseits ist die Prostituierte, gerade für Duras, mit einem rätselhaften, nicht bestimmbaren Genießen jenseits ihres Tauschwerts und des phallischen Genießens des Manns assoziiert, was sie mit der Schriftstellerin verbindet. Mann und Frau des Textes dürfen also nicht pseudorealistisch gegeneinander ausgespielt werden, sondern verkörpern unterschiedliche Momente im Hinblick auf das Genießen, wie auch hinsichtlich des Schreibprozesses. Man kann also mit Blanchot argumentieren,

dass von den beiden Protagonisten er es ist, der in seinem Versuch zu lieben, in seiner Suche ohne Unterlass der würdigere ist, derjenige, der diesem Absoluten näher ist, das er findet, indem er es nicht findet.76

Dafür spricht auch der Schluss des Werkes, in dem wir lesen:

Von der ganzen Begebenheit bleiben Ihnen nur gewisse Wörter, von ihr im Schlaf gesagt, jene Wörter, die benennen, wovon Sie befallen sind: Maladie de la Mort. Krankheit Tod, Mal des Todes…So haben Sie dennoch diese Liebe leben können, auf die einzige Ihnen entsprechende Weise: indem Sie, bevor sie eintraf, sie verloren.77

Hier taucht eine mögliche Form der Liebe auf, die mit dem Verschwinden der Frau verbunden ist, das heißt dem Verlust ihrer Definierbarkeit, Fixierbarkeit und Beherrschbarkeit. Der Mann behält einige Worte zurück, die ihn, wie es die Aufführungsanleitung der Autorin fordert, zum Schriftsteller werden lassen. Ein weiteres Moment, das doch eine Veränderung des Mannes im Text erkennbar werden lässt, ist der Satz: „Sie entdecken dieses Nichtwissen.“78 Die Entdeckung des eigenen Nicht-Wissen-Wollens stellt ein entscheidendes Moment der Ethik des Duras‘schen Werkes dar. Das Stück kann also als ein Kommentar zur Genese des Schreibens selbst gelesen werden: als ein phallisch-signifikativer Akt, der sich jedoch zum Unbekannten, Weiblichen hin öffnet. Das Unbestimmbare, ein Riss in der Logik eines phallischen, klassifikatorischen Denkens kann dann zugelassen werden. Die Worte werden dann zu einem Ufer des Meeres eines Anderen Genießens. So endet auch Les yeux bleus cheveux noirs, eine weitere Umschrift von La Maladie de la mort mit folgenden Worten:

Wenn in manchen Nächten die Stürme heftig waren, hörte man deutlich den Angriff der Wellen auf die Wand des Zimmers und wie sie sich in den Worten brachen.79

Das Meer und die Mauer des Zimmers, zentrale Orte des Textes, finden sich so in einer Topologie von Schrift und Lektüre situiert, bei der die Buchstaben ein Gestade gegenüber dem Heranbranden eines Genießens bilden, das gleichzeitig durch den Klang zu seinem Resonanzkörper, zum Klangkörper wird. Der Buchstabe ist Grenzort von Ent- und Begrenzung, schafft eine Öffnung zu einem Raum außerhalb des Sagbaren und umsäumt ihn zugleich. Dem entspricht die Regieanweisung der Autorin, den Text als Lektüre zu inszenieren, die den Schreibprozess performiert: angesichts eines ständig hörbaren „bruit de la mer“80. Jean Pierrot hat dabei unterstrichen, dass der Textkörper selbst sich wie der Körper der Frau öffnet und verschließt, Ebbe und Flut zu vergleichen.81 Eine ähnliche Bewegung bildet der Wechsel von Konjunktiv und Indikativ im Text, zwischen Öffnung und Festlegung. Schreiben also hieße, die Sprache auf ein Jenseits des Gesetzes zu öffnen, das Buch weit aufzuschlagen:

Ich weiss, dass es sich um ein Buch handelt, ich glaube aber auch, dass es sich um etwas anderes als ein Buch handelt, ich weiss, dass von nun an ein Buch nicht nur ein Buch ist, dass von nun an ein Buch mehr sein muss, als etwas zu lesen, und dass man sich damit zufrieden geben muss, nicht zu wissen, was.82

Fußnoten

  1. Duras Marguerite [1996]: Ley yeux verts, Edicións Cahiers du Cinéma, Paris, 12. Dt. Übersetzung: „Wenn ich schreibe, sterbe ich nicht.“ Duras, M. [1987] : Die grünen Augen. Texte zum Kino, Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien, 12.
  2. Duras, M. [2000]: La Maladie de la mort. Die Krankheit Tod. Übersetzung ins Deutsche von Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 9.
  3. Ebd. 11.
  4. Die „Honneur de la Police“ veröffentlichte nach der Tat ein Bekennerschreiben. Ein Artikel der Libération am 20. April 2006 legt jedoch nahe, dass der Mord an Goldman von der GAL verübt wurde, einer gegen die ETA gerichteten Untergrundgruppe.
  5. Duras, M. [1987]: Die grünen Augen. Texte zum Kino, Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien, 92.
  6. Ebd. 132-133.
  7. Duras, M. [1988]: Das tägliche Leben, Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 43 – 44.
  8. Meine Übersetzung, M.W., Original: „dans un monde livré à la fadeur“. Aus einem Interview mit Michèle Manceaux, in: Marie Claire, Numéro 297, Mai 1977.
  9. „Kierkegaard überlässt sich wenigstens seinem Schreiben, seinem Genie, Sartre nicht.“ [Meine Übersetzung, M.W., original: „Kierkegaard au moins se laisse aller à son écriture, à son génie, Sartre non.“ Duras, M. [1983]: Alternatives théatrales, in: Maison du spectacle, numéro 14, mars 1983, Bruxelles, 14]. Blot- Labarrère geht ebenfalls von einer Lektüre von Die Krankheit zum Tode durch Duras unmittelbar vor der Verfassung ihres eigenen Werkes La Maladie de la mort aus. Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris, 234.
  10. Vgl. Interview mit André Rollin, Lire, numéro 136, janvier 1987.
  11. Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris, 22-23.
  12. Hier sei auf die Nähe der Dichterin zum Werk George Batailles hingewiesen.
  13. Lacan, J. [1971]: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Le séminaire, Livre XVIII, in : Seuil, Paris, 2007.
  14. Duras, M. [2000]: Yann Andréa Steiner. Übersetzung ins Deutsche von Andrea Spingler, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 8.
  15. Meine Übersetzung, M.W., original: „L’absence de Dieu, j’ai été complètement éblouie par cette évidence.“. In: Le bon plaisir de Marguierite Duras, Émission de France Culture, 20. Oktober 1984.
  16. Duras, M. [1988]: Das tägliche Leben. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 21.
  17. Duras, M. [1987]: Die grünen Augen. Texte zum Kino. Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien, 115 -116.
  18. Ebd. 126-127.
  19. Meine Übersetzung, M.W., original: „la division, le trouble dans l’unité“. Duras, M. [1970]: Abahn Sabana David, Gallimard, Paris, 40.
  20. Duras, M. [1987]: Die grünen Augen. Texte zum Kino. Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien, 129-130.
  21. Ebd. 128.
  22. Lamy, S., Roy, A. [1981]: Marguerite Duras à Montréal, Solin, Quebec, 38.
  23. Christiane Blot-Labarrère unterstreicht, dass Duras die These von der natürlichen Überlegenheit der Männer mit der nationalsozialistischen, der natürlichen Überlegenheit der arischen Rasse in Verbindung brachte. Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris, 126.
  24. Meine Übersetzung, M.W., Original: Morel, G. [2000]: Ambiguités sexuelles, Anthropos, Paris, 84-85.
  25. Andréa, Y. [1999]: Cet amour-là, Le livre de Poche, Paris, 12.
  26. Duras, M. [2000]: Yann Andréa Steiner. Übersetzung ins Deutsche von Andrea Spingler, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 9.
  27. Andréa, Y. [1999]: Cet amour-là, Le livre de Poche, Paris, 19.
  28. Duras M. [2000]: Yann Andréa Steiner. Übersetzung ins Deutsche von Andrea Spingler, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 91.
  29. Ebd. 37.
  30. Duras, M. [2006]: Cahiers de la guerre et autres textes, P.O.L., Paris, 436.
  31. Christiane Blot-Labarrère berichtet, dass Marguerite Duras nach dem Krieg lange nicht durch das Marais gehen konnte, ohne in Tränen auszubrechen. Vgl. Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris, 72.
  32. Meine Übersetzung, M.W., Original: Lamy, S., Roy, A. [1981]: Marguerite Duras à Montréal, Solin, Quebec, 27.
  33. Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris, 76.
  34. Duras, M. [1984]: Sommer 1980. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp, Frankfurt a.M, 65-66.
  35. Duras, M. [1987]: Die grünen Augen. Texte zum Kino. Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien, 116.
  36. Duras, M. [2000]: Yann Andréa Steiner. Übersetzung ins Deutsche von Andrea Spingler, Suhrkamp, Frankfurt a.M, 72.
  37. Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris, 76.
  38. Duras, Marguerite [1966]: Le Vice-Consul, Gallimard, Paris.
  39. Duras, M. [1987]: Die grünen Augen. Texte zum Kino. Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien, 116.
  40. Der Vorname Yann ist der Taufname Yann Andréas, den Duras bei ihrer neuen Namensgebung beibehielt, mit Bezug auf den Namen Jean, der auf den Vice Consul verweist, wie Johannes den Täufer. Andréa war der Vorname der Mutter des geliebten, mit dem sie sein Patronym ersetzte. Dies unterstreicht den androgynen Aspekt, den die Dichterin dem Liebhaber verleiht, erinnert auch an ihre eigene Ersetzung des Patronyms. Vgl. Andréa, Y. [1999]: Cet amour-là, Le livre de Poche, Paris, 25.
  41. Der Schrei, cri, der Dichterin selbst zieht sich ebenfalls durch ihre Werke und ist bei ihr mit Schmerz und Angst eng verknüpft. Der Schrei, cri, transformiert sich dabei in écrit.
  42. Duras, M. [1986]: La pute de la côte normande, Minuit, Paris, 11.
  43. Ebd. 16.
  44. Meine Übersetzung, M.W., Original: Duras, M., Gauthier, X. [1974]: Les parleuses, Minuit, Paris, 168.
  45. Duras, M. [1984]: Sommer 1980. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 37.
  46. Meine Übersetzung, M.W., Original: „que toutes les raisons de se suicidér étaient vraiment réunis […].“ Bernheim, N. [1975]: Marguerite Duras tourne un film, Albatros, Paris, 118.
  47. Duras, M. [2000]: Yann Andréa Steiner. Übersetzung ins Deutsche von Andrea Spingler, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 16.
  48. Duras, M. [1984]: Sommer 1980. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 37.
  49. Duras, M. [1981]: Agatha. Französisch-deutsche Fassung, Stromfeld, Basel/ Frankfurt a. M., 1982, 60.
  50. Meine Übersetzung, M.W. Original: „Toute ma vie personelle, amoureuse, sexuelle a dépendue de ca, de cet amour qu’il y avait entre le petit frère et moi, cette histoire dort ou apparaît dans les livres“. Entretien avec Alain Veinstein, dans «Du jour au lendemain», émission France Culture, 16. März 1990.
  51. Vgl. Entretien avec Alain Veinstein, dans «Du jour au lendemain», émission France Culture, 16. März 1990.
  52. Meine Übersetzung, M.W. Original: „Le petit frère était le Chinois finalement. C’est ca mon secret.“ Aus der von Luce Perrot moderierten Sendung auf TF 1 „Au-delà de pages“ vom 26 Juni, 3., 10. und 17. Juli 1988.
  53. Lebelly, F. [1994]: Duras ou le poids d’une plume, Grasset, Paris, 48.
  54. „Agatha ou les lectures illimitées“. Aus einem Interview mit Jean Mascolo und Jérôme Beaujour, 1981.
  55. Andréa, Y. [1986]: M.D. Übersetzung ins Deutsche von Renate Hörisch-Helligrath, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 34.
  56. Ebd. 18.
  57. Ebd. 118.
  58. Ebd. 124.
  59. Ebd.
  60. Meine Übersetzung, M.W. Original: Pierrot, J. [1986]: Marguerite Duras, Corti, Paris, 323.
  61. Meine Übersetzung, M.W. Original: Duras, M. [1982]: La Maladie de la mort, Minuit, Paris, 60.
  62. Duras, M. [1988]: Das tägliche Leben. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 42.
  63. Duras, M. [2000]: La Maladie de la mort. Die Krankheit Tod. Übersetzung ins Deutsche von Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 55.
  64. Ebd. 45.
  65. Ebd. 21.
  66. Ebd. 30-31.
  67. Duras, M. [1986]: La pute de la côte normande, Minuit, Paris, 63. „keine äußere Bestimmung“ [Meine Übersetzung, M.W.].
  68. Duras, M. [2000]: La Maladie de la mort. Die Krankheit Tod. Übersetzung ins Deutsche von Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 65.
  69. Dahingegen hat Duras dem Übersetzer Peter Handke, der den Text auch verfilmte, eine romantische Tendenz unterstellt, wenn sie auch die Bilder des Filmes als „wunderbar“ bezeichnete. Die Übersetzung Das Mal des Todes kritisierte sie ebenfalls. Vgl. Duras, M. [1985]: Le scandale de la vérité. In: Cahiers du cinéma, Numéro 374, juillet-août.
  70. Duras, M. [1988]: Das tägliche Leben. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 44.
  71. „Im Gegensatz zu dem, was man glaubt, gibt es keinen Prozess in der Maladie de la Mort.“ [Meine Übersetzung, M.W., Original: „Contrairement à ce que l’on croit, il n’y a pas de procès dans La Maladie de la mort.“], in: Cahiers du cinéma, Numéro 374, juilet-août 1985. Später jedoch räumt sie das Gegenteil ein: „Doch Die Krankheit Tod war ein Prozess[…].“ Duras, M. [1988]: Das tägliche Leben. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 40.
  72. Meine Übersetzung, M.W., Original: „Disons hétérosexuel par définition, ce qui aime les femmes, quel que soit son sexe propre“, Lacan, J. [1973]: L’Étourdit, in: Scilicet 4, Paris, 23.
  73. Duras, M. [1982]: L’Homme Atlantique. Französisch-deutsche Fassung, Stromfeld, Basel/Frankfurt a.M., 1985, 38.
  74. Duras, M. [2000]: La Maladie de la mort. Die Krankheit Tod. Übersetzung ins Deutsche von Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 47.
  75. Vor dieser warnt auch Blanchot. Vgl. Blanchot, M. [1983]: La communauté inavouable, Minuit, Paris, 60.
  76. Meine Übersetzung, M.W., original: „que des deux protagonistes, c’est lui qui dans sa tentative d’aimer, dans sa recherche sans relâ che, est le plus digne, le plus proche de cet absolu qu’il trouve en ne le trouvant pas.“ Ebd. 66.
  77. Duras, M. [2000]: La Maladie de la mort. Die Krankheit Tod. Übersetzung ins Deutsche von Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 69-71.
  78. Ebd. 27.
  79. Duras, M. [1989]: Blaue Augen schwarzes Haar, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 177.
  80. Duras, M [1982]: La Maladie de la mort, Minuit, Paris, 60. „ein ständiges Geräusch des Meeres“ [Meine Übersetzung, M.W.].
  81. Pierrot, J. [1986]: Marguerite Duras, Corti, Paris, 328.
  82. Andréa, Y. [1986]: M.D. Übersetzung ins Deutsche von Renate Hörisch-Helligrath, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 139.

Literatur

Andréa, Y. [1986]: M.D. Übersetzung ins Deutsche von Renate Hörisch-Helligrath, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
—[1999]: Cet amour-là, Le livre de Poche, Paris

Bernheim, N. [1975]: Marguerite Duras tourne un film, Albatros, Paris

Blanchot, M. [1983]: La communauté inavouable, Minuit, Paris

Blot-Labarrère, C. [1992]: Marguerite Duras, Seuil, Paris

Duras, M. [1970]: Abahn Sabana David, Gallimard, Paris
—[1981]: Agatha. Französisch-deutsche Fassung, Stromfeld, Basel/ Frankfurt a. M., 1982
—[1982]: La Maladie de la mort, Minuit, Paris
—[1982]: L’Homme Atlantique. Französisch-deutsche Fassung, Stromfeld, Basel/Frankfurt a.M., 1985
—[1983]: Alternatives théatrales, in: Maison du spectacle, numéro 14, mars 1983, Bruxelles
—[1984]: Sommer 1980. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
—[1985]: Le scandale de la vérité. In: Cahiers du cinéma, Numéro 374, juillet-août
—[1986]: La pute de la côte normande, Minuit, Paris
—[1987]: Die grünen Augen. Texte zum Kino. Übersetzung ins Deutsche von Sigrid Vagt, Hanser Verlag, München/Wien
—[1988]: Das tägliche Leben. Übersetzung ins Deutsche von Ilma Rakusa, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
—[1989]: Blaue Augen schwarzes Haar, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
—[1996]: Ley yeux verts, Edicións Cahiers du Cinéma, Paris
—[2000]: La Maladie de la mort. Die Krankheit Tod. Übersetzung ins Deutsche von Peter Handke, Suhrkamp, Frankfurt a. M.
—[2000]: Yann Andréa Steiner. Übersetzung ins Deutsche von Andrea Spingler, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
—[2006]: Cahiers de la guerre et autres textes, P.O.L., Paris

Duras, M., Gauthier, X. [1974]: Les parleuses, Minuit, Paris

Lacan, J. [1971]: D’un discours qui ne serait pas du semblant, Le séminaire, Livre XVIII. In: Seuil, Paris, 2007
—[1973]: L’Étourdit. In: Scilicet 4, Paris

Lamy, S., Roy, A. [1981]: Marguerite Duras à Montréal, Solin, Quebec

Lebelly, F. [1994]: Duras ou le poids d’une plume, Grasset, Paris

Morel, G. [2000]: Ambiguités sexuelles, Anthropos, Paris

Pierrot, J. [1986]: Marguerite Duras, Corti, Paris

 

  1. Kafkas Folter
  2. Schreiben, um erneut das Wort zu ergreifen…
  3. Fabianische Methoden. Notizen zur Schachpartie Murphy – Endon in Samuel Becketts „Murphy“
  4. Destruktivität, Leidenschaft und Vernunft. Notizen zu Sade mit Bataille

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