Destruktivität, Leidenschaft und Vernunft.

Notizen zu Sade mit Bataille

von Martin Seidensticker

 

Destruktivität, Leidenschaft und Vernunft. Notizen zu Sade mit Bataille 1

Von alters her, die Platonische Moral – dass die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften (oder gar der Materie) das Gute sei, und das Böse deren Umkehrung.

Und nun aber, Sade umgekehrt – das moralisch Böse liegt in der Beherrschung der Leidenschaften durch die Vernunft, das Gute hingegen in der Umkehrung.

Zwar gibt es bei Sade noch den Versuch, aus der Leidenschaft ein Projekt zu machen; allerdings kann er dabei nicht mehr die Vernunft der Entfesselung der Leidenschaften entgegensetzen, vielmehr fungiert sie als dieser untergeordnet.

Nach Bataille könnte deren Opposition heute höchste Bedeutung annehmen. Und Sade zeigt in gewisser Weise beides – das wechselseitige Opfer als Nichterlösung, und damit die Identität der einen Destruktivität.

Beide Formen der Moral entblößen sich (gleich Materialismus und Idealismus) als Dogmen der Gewalt, der notwendig Identität schaffenden und Differenz beseitigenden, zugleich aber eben nihilistischen, das heißt sich in sich selbst nur verbrauchen könnenden, Utopiegestalten.

Im Mitgang durch Batailles Sade lösen sich aber auch Atopien aus, immanente Auswege, die ihre Bedeutung auch für die lacansche Analyse haben, wie mit aufscheinen können wird – gehen wir mit Bataille durch Sade, nehmen wir Notiz:

„Wenn man die Kontrolle der Vernunft über die Gewalt (das Sakrale) verliert, schwindet die Möglichkeit des Menschen. Wer diese Kontrolle vollständig verloren hat, ist kein Mensch mehr: Er ist verrückt.“2

Die Kontrolle der Vernunft aber verheißt die Beseitigung der Angst, ähnlich darin, andersherum, ihrem Ausagieren – letztlich tödliche Differenzvernichtungen aber beiderseits.

Die Angst imponiert als Barriere und end-gültiger Schutz zugleich. Es ergeht der Apell, der Angst nicht zu erliegen und ruft die Not-wendigkeit, der Angst zu antworten hervor. Das Brauchen jener Gewissheit, letztlich nicht von der Angst beherrscht, sondern über sie hinaus und aufgrund ihrer lebendig zu sein. (Die Erotik „als das Jasagen zum Leben bis in den Tod“3)

Es handelt sich um Aufschiebungen: der Todesangelegenheit und -konfrontation, des Angst-Aufschubs sowie der Nacktheits-Provokation; Ahnungen des Todes des Gottes sowie der Vernunft; Sterblichkeits‑Geschichten; initiale Narrative: Ein-weihungen – in Geschichte wie Existenz; Zeit‍–‍lich–keiten, immerzu.

Bataille entdeckt sie als Vorbereitungen des Sprungs – als Proto-Sexualitäten, überläufige, im Hinblick auf Sprünge im Sinne todestrieblicher Returns, Erkundungen immanenten Jenseits.

Sprünge, die ihre Kraft aus einem Zurückweichen nehmen – um zu springen, besser zu springen; mit dem Sprung Sades als perversem Vorbild: als Auf- und Anrufung, in und zum andern, sowie (je) einzigen Sprung …

Das thematisiert eine Brutalität, die über alle Grenze geht (Sade) – versus jener Brutalitäts-Aus-setzungen; Gewaltfreiheiten, nicht nur zur, sondern dann auch von der Gewalt, von dieser ab.

[Freiheiten – mit und zu der Gewalt (letztlich der Todesabwehr), diese verbrauchend, immanentisierend in zulassender Wahrnehmung, Fühl- und Denkbarkeit, Meditation sowie transzendierend in Kreativität, ausgiebig-loslassender Schöpfung – beide, Deutung und Transformation, sich wohl bedingend; sowie not-wendig rückvermittelt Ding-generativ.]

Zuletzt erwägt Bataille die ausufernde Brutalität Sades als Maßnahme auch für unseren Sprung, jenseits der Schaffung seiner Ungeheuer und Monstren – ließe sich sich nicht an der Breite seines Sprungs (nicht mehr aber auch nicht weniger als) auch die Breite des unsrigen ermessen? Unseres not-wendigen Sprungs, im Sinne einer Ethik der Verkehrung der Moralen und einer immanenten Auskehr aus diesen? Aus ihren notwendigen und notwendig gegenläufigen Moralen: der Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften und/gegen ihre Umkehrung immer?

„Die Entfesselung der Leidenschaften steht auf dem Spiel“ – als Gutes, das „niemals der kalten Nützlichkeit des Gesetzes unterworfen werden kann“ („dem zu dienen die Gesetze vielmehr gemacht wurden“4) – aber gleichsam nicht das Produkt ihrer Herrschaft sein kann; vielmehr ein anderes aufruft: das Sein und das Begehren – als zeitweilige, persistierende.

„Die Entfesselung der Leidenschaften ist das einzig Gute – das ist, was ich zu sagen hatte.“ („Von dem Moment an, da die Vernunft nicht mehr göttlich ist, gibt es auch keinen Gott mehr.“5)

Die Arbeit ist immer und immer nur unterwegs, das heißt ihr Sinn ist bleibend ausständig – in ihr weilt beständig der Bezug „auf ein Jenseits der Reflexion und der Arbeit“6 – es ist die Ausständigkeit der am Schädel abständig befestigten Karotte, der Esels-Möhre.

Der Vortäuschungsbetrug der Erfüllung impliziert eine notwendige Augenblicks-Hascherei, deren not-wendige Schwäche nach Bataille zudem für jedes Sprechen gilt: „dass der Augenblick, von dem ich spreche, nicht der Augenblick sein kann, in dem ich spreche“7, der Augenblick der Erfüllung stets im Aufschub ist.

Von ihm zu sprechen, setzt folglich die sprachlich-differenzierende Unterwerfung voraus, ihn nicht zu leben – als Einschreibung in die symbolische Ordnung (symbolische Kastration) – als differenz-schaffende Befreiung – einer Weile – vom und zum – Leben und Tod.

Das Sprechen bedeutet die Nicht-Entfesselung, die Kettung an das Gesetz der Sprache – was sich bisweilen in einem Stöhnen verlauten mag.

Auch insgesamt: im Sprechen als dem Verlieren und Finden der Leidenschaft auf der Suche nach Worten und deren Vergessen, als Eruierungen der Fühlbarkeit zugleich – Signifikationen, schon.

Der Ausdruck der gefühlten Leidenschaft bedürfte allerdings zumindest den Übergang in die Poesie, als Prophylaxe der Verkettung, der Verhütung von Notwendigkeit und der Berufung einer Quasi-Selbstzweckhaftigkeit, vor allem aber einer Aufgabe der Bereinigung des Bewusstseins, im Sinne eines Zulassens und einer Anerkennung des Unbewussten – das heißt ihrer Kreuzungen.
Das bedeutete aber dennoch eine Unterwerfung unter die Schwere, trotz des Spiels – die nur ein Schweigen zu lösen vermöchte: zu lösen jene Schwere, die auch mit zu ersprechen war.

Die Antwort kann folglich anders nicht, als in einem Transit des Sprechens zum Schweigen und umgekehrt zumal liegen; Umkehrungen, die sich in sich verkehren sollten, maßgeblich …

Freilich, am Ende, noch einmal, sei wiederholt, die Frage nach einer Verkehrung und Verquerung der Moralen des Guten und Bösen: wie exekutieren? Mit Lacan imponiert dies im Anschluss an Bataille als die Frage einer Ethik der Psychoanalyse mithin, das ist seiner Ethik des Begehrens und Genießens.

Die Frage nach der Identität der einen Destruktivität (jener beiden umfassenden Moralen) weiß sich hier zu wiederholen, naturgemäß als Frage des Begehrens gleichsam: die Frage nach dem „unbenennbaren Feld des radikalen Begehrens“ als dem „Feld absoluter Destruktion“8 am Ende des Todestriebskapitels in seiner ‚Ethik der Psychoanalyse‘, sowie der „Frage nach der vollkommenden Destruktivität des Begehrens“9 am Ende seines Seminars über ‚Die Übertragung‘.

Naturgemäß als Frage nach der Aufrechterhaltung sowohl eines Begehrens wie eines Genießens, unter ihren not-wendigen und notwendigen Be-ding-ungen sowie Gesetzen und Gesetztheiten (das heißt auch ‚jenseits‘10), vermag das Begehren der Analyse nur ein unreines Begehren sein – davon bestimmt sich not-wendig auch noch, die Frage nach dem ethischen Akt …

(Heterologische Autonomie, Nicht-Identität des Subjekts – Eröffnung eines Feldes jenseits in der Entfesselung des Begehrens im Durchgang durch die Differenz …)

Das wird man lernen können, mit Batailles Sade, mit Lacan gegen Lacan, mit Kant gegen Kant, mit Ödipus gegen Antigone, und sowieso gegen den Nazismus und allen seinen Wiedergängern.

Fußnoten

  1. Auch ein Hinweis auf eine relative Neuerscheinung, auf deren Titeltext ich insbesondere referiere: Bataille, Georges [1929-1970]: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015. Bislang lag schon in Übersetzung vor (und in der Neuerscheinung nicht enthalten): Bataille, Georges [1947]: Sade. In: Bataille, Georges: Die Literatur und das Böse, Matthes & Seitz, München, 1987, S. 91-114.
  2. Bataille, Georges [1948]: Sade und die Moral. In: Bataille, Georges: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015, S. 49.
  3. Bataille, Georges [1957]: Die Erotik, Matthes & Seitz, München, 1994, S. 13.
  4. Bataille, Georges [1948]: Sade und die Moral. In: Bataille, Georges: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015, S. 52.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Lacan, Jacques [1986]: Das Seminar. Buch VII (1959–1960): Die Ethik der Psychoanalyse, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1996, S. 262.
  9. Lacan, Jacques [2001]: Das Seminar. Buch VIII (1960–1961): Die Übertragung, Passagen, Wien, 2008, S. 481.
  10. Jenes ‚jenseits‘ meint sowohl das ‚jenseits des Lustprinzips‘ wie auch das „jenseits des Phallus“ (Lacan, Jacques [1975]: Das Seminar. Buch XX (1972–1973): Encore, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986, S. 81.) noch, mithin das ‚phallische Genießen‘ wie auch das ‘Genießen des Anderen‘ auch.

Literatur

Bataille, Georges [1947]: Sade, In: Bataille, Georges: Die Literatur und das Böse, Matthes & Seitz, München, 1987, 91-114
—[1957]: Die Erotik, Matthes & Seitz, München, 1994
—[1929-1970]: Sade und die Moral, Matthes & Seitz, Berlin, 2015

Lacan, Jacques [1975]: Das Seminar. Buch XX (1972–1973): Encore, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986
—[1986]: Das Seminar. Buch VII (1959–1960): Die Ethik der Psychoanalyse, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1996
—[2001]: Das Seminar. Buch VIII (1960–1961): Die Übertragung, Passagen, Wien, 2008