Eine Topologie der Wirkung des Realen und seiner Beziehung zur Jouissance und dem Wiederholungszwang

Jesko Vincent Schulz

Y – Z Atop Denk 2025, 5(12), 1.

Abstract: Ein Pferd, das sich vor seinem Schatten fürchtet, wird zum bekanntesten Pferd der europäischen Antike. Auf seinem Rücken reitet Alexander der Große nach Phrygien, wo er den gordischen Knoten zerschlägt und dann der Prophezeiung folgend den Großteil der damals bekannten Welt erobert (Arrian 1976). In einer psychoanalytischen Lesart, erscheint die Geste Alexanders des Großen, das Pferd zunächst zu beobachten und es dann in die Sonne zu drehen, als Deutung, die die Reise des Pferdes erst ermöglicht. Diese Geste enthält eine tiefe Weisheit und implizites Wissen über die Wirkung des Realen auf das Subjekt und seine Beziehung zur Jouissance, die sich in den iterativen Versuchen, den Schatten abzuschütteln, zeigt. So kann nachvollzogen werden, dass das Et cetera, verursacht durch das Reale – jene endlose Wiederholung des Scheiterns –, mithilfe einer Umpositionierung unterbrochen werden kann.

Keywords: Lacan, Psychoanalyse, Reales, Jouissance, Wiederholungszwang, Topologie, Phantasma, Subjektposition, Ethik der Psychoanalyse, Iteration

Copyright: Jesko Vincent Schulz | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.12.2025

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In der Kindheit erfüllte mich „Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser“ (Gombrich 2003), trotz einer zeitweisen Relektüre in Dauerschleife, jedes Mal wieder mit andächtiger Begeisterung und träumerischem Gleiten durch die großen Geschehnisse der Antike und des Mittelalters. Der Name eines Pferdes ist mir besonders in Gedanken, sodass er dann und wann bei der analytischen Arbeit über meine geistige Wiese galoppiert. Bucephalus, ein Pferd, gefürchtet für seine Wildheit, das von niemandem geritten werden konnte. Der junge Alexander, später Alexander der Große, reihte sich nicht ein in die Gruppe derjenigen, die das Pferd erziehen, domestizieren wollten. Er beobachtete es.

Erst so konnte er erkennen, dass Bucephalus vor seinem Schatten scheute, und ihn in die Sonne drehen (Plutarch 1977). Bucephalus wurde Alexanders treuster Weggefährte, der ihn bis in das heutige Pakistan begleitete, wo er dann starb. Zum Dank benannte Alexander der Große eine neu gegründete Stadt mit dem Namen „Bucephala“ (Arrian 1976). Eine Geschichte, die viel Weisheit in sich trägt und ihrer Hörerin oder ihrem Hörer auf so einfache Weise essenzielles psychoanalytisches Wissen vermittelt: Zunächst nimmt der Junge Alexander eine psychoanalytische Haltung ein. Er beobachtet, offensichtlich nicht getrieben von dem Wunsch, direkt mit den anderen, die versuchen Bucephalus zu domestizieren, zu konkurrieren. Dass das wilde Pferd sich dann von Alexander führen lässt, setzt eine Beziehung voraus. Auf dieser Basis kann Alexander sich mit Bucephalus in die Sonne drehen. Und so kann das Pferd sich neu zu seinem Schatten, den es nicht loswerden kann, positionieren. Die Angst ist nicht weg, sie kann aber aus einer anderen Position betrachtet werden.

Ich verstehe den Schatten des Pferdes als die Gegenwart des Realen, die etwas markiert, das nicht durch einen Signifikanten ausgedrückt werden kann. Dies zeigt sich in seinem bildhaften, optischen Charakter, weshalb er zum Register des Imaginären gehört und für sich keinen Sinn trägt (Lacan 2014). Man könnte ihn allerdings trotzdem als Signifikant bezeichnen, da er hier auf eine Lücke im Symbolischen verweist (Lacan 2017). Genau genommen bezeichnet er also nicht den Inhalt der Lücke, sondern ihre Anwesenheit, wie ein Loch in der Wand, das nur sichtbar ist, wenn die Wand existiert. Bucephalus ist durch seine bloße Existenz, seine Erfahrung, untrennbar durch diesen Signifikanten mit dem Realen konfrontiert, was zu einer Inszenierung des Wiederholungszwangs führt. Er kann den Schatten nicht abwimmeln, da er kein anderes Objekt, das als Symbol fungiert, darstellt, vor dem er davonlaufen kann. Die Flucht vor dem Schatten ist also nicht neurotisch, die Wiederholung führt nicht zu einer Erkenntnis, sondern vielmehr zu einem Scheitern (Freud 2010).

Hier besteht der entscheidende Unterschied zu Freuds Beobachtung seines Enkelkindes, das mithilfe des Fort-da-Spiels Sinn in das Erlebte bringt, es symbolisiert und deshalb besser ertragen kann (Freud 2010). So betrachtet, bezeichnet das Beispiel von Bucephalus also eine radikale Form der Wiederholung, ein et cetera, das kein Mehrwissen erzeugt (Feldstein et al. 1994). Lacan (2017) bezeichnet dies auch als Iteration, also als eine Fortschreibung des Realen. Die Iteration zeichnet sich, so wie Bucephalus Versuche, den Schatten loszuwerden, durch ihre sich wiederholende Erstmaligkeit aus. Jacques-Alain Miller verwendet hier den Begriff „semelfactif“ (o. J.). Hier kann die Jouissance verortet werden, denn sie beginnt jenseits des Lustprinzips und ist ein Genießen am Schmerz (Lacan 2015). Wichtig ist, die Differenzierung zwischen der phallischen Jouissance und einer anderen Jouissance, die durch das Reale vermittelt ist und von Lacan in Encore (2015b) als „autre Jouissance“ beschrieben wird. Im Gegensatz zu der phallischen Jouissance liegt sie eben außerhalb des Symbolisierbaren und beschreibt eine iterative Bewegung, die sich am Körper realisiert (Lacan 2015b).

Bucephalus versucht den Schatten von sich abzuwimmeln. Immer wieder aufs Neue. Die zunächst endlose Wiederholung der Erstmaligkeit, aus der keine Erkenntnis hervorgeht, findet ihren Antrieb in der lustvoll besetzten Phantasie, den Schatten doch noch abwimmeln zu können, es doch irgendwie schaffen zu können, in Bewegung zu sein, nicht aufzugeben. Gleichzeitig entstehen immer wieder aufs Neue die Angst und das Scheitern, was Schmerz und Lust auf scheinbar paradoxe Art und Weise miteinander in Beziehung setzt.

Der Akt Alexanders des Großen, Bucephalus in die Sonne zu drehen, entspricht der Ethik der Psychoanalyse und kann als Deutung verstanden werden, die es Bucephalus ermöglicht, sich zu seinem Schatten neu zu positionieren. Das Beispiel zeigt also, dass eine Bewegung des Subjekts nicht gelingt, wenn es versucht, das Reale zu überwinden (Lacan 2015b). Vielmehr geht es darum, seine Stellung dazu zu verändern und so einen anderen Zugang zu der Jouissance zu erlangen (Lacan 2015b). In dem Moment, in dem Bucephalus in die Sonne gedreht wird, verlagert sich die Jouissance zurück in die Ordnung des Phallischen und wird so wieder symbolisch gefasst (Lacan 2015b). Die Sonne als Signifikant, steht wahrscheinlich für die gefundene Orientierung und das neue Wissen von Bucephalus, wohingegen der Schatten für das Reale steht. Wie auch im menschlichen Leben bleiben der Schatten und auch die Dunkelheit ein Begleiter von Bucephalus, mit denen er sich immer wieder neu auseinandersetzen muss. Durch das neue Wissen besteht aber ein Spielraum, ein Ort, an dem Bewegung möglich ist.

Das Dargelegte ist bereits in dem Namen des Pferdes enthalten. Bucephalus bedeutet so etwas wie „Stierkopf“ (vgl. Plutarch 1977), was neben dem homophonen Phallus auf die Kraft, Potenz und nicht Domestizierbarkeit des Pferdes verweist. Es stellt also einen phallischen Signifikanten dar, der durch seine Begegnung mit dem Schatten zugleich das Reale und die Jouissance verkörpert (Lacan 2014, 2015b). Indem Alexander der Große den „Phalus [sic]“ ans Licht bringt, ohne ihn und seine Wildheit zu verleugnen, nimmt er nicht die Position des Meisters, sondern die des Analytikers ein und führt ihn zur „phalischen [sic]“ Jouissance (Lacan 2015b, 2023).

 


Literaturverzeichnis

Arrian, Lucius Flavius (1976): The Campaigns of Alexander. Washington/D.C.: National Geographic Books.

Feldstein, Richard, Fink, Bruce und Jaanus, Maud (1994): Reading Seminar XI: Lacan’s Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis – The Paris Seminars in English. Albany/ NY: State University of New York Press.

Freud, Sigmund (2010 [1920–1924]): Jenseits des Lustprinzips / Massenpsychologie und Ich-Analyse / Das Ich und das Es: Und andere Werke aus den Jahren 1920–1924. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag.

Lacan, Jacques (2014): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar, Buch XI. Wien: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (2015a): Die Ethik der Psychoanalyse: Das Seminar, Buch VII. Wien: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (2015b): Encore: Das Seminar, Buch XX. Wien: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (2017): Das Sinthom: Das Seminar, Buch XXIII. Wien: Turia + Kant.

Lacan Circle of Australia (o. D.): „Iteration of the Symptom: Of the One of Jouissance“. In: Psychoanalysis Lacan Journalhttps://lacancircle.com.au/psychoanalysislacan-journal/psychoanalysislacan-volume-1/iteration-of-the-symptom-of-the-one-of-jouissance/ [15.10.2025].

Plutarch (1977): The Age of Alexander: Nine Greek Lives. London: Penguin Books.

 

Autor:in: Jesko Vincent Schulz ist klinischer Psychologe, M. Sc., und in Weiterbildung zum Psychoanalytiker nach den Richtlinien der DPV am Mainzer Psychoanalytischen Institut. Er ist kooptiertes Direktoriumsmitglied des IPPK. Im Rahmen seiner Doktorarbeit an der Universität zu Lübeck befasst er sich mit dem Vergleich von ich-psychologischen und lacanianischen Theorien in Bezug auf Schmerz und Schuld. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen vorwiegend auf dem Wiederholungszwang nach Sigmund Freud, der Jouissance nach Jacques Lacan und der Betrachtung historischer und politischer Phänomene aus psychoanalytischer Perspektive.

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