Thomas Hilger
Y – Z Atop Denk 2025, 5(7), 1.
Abstract: „Wenn die Flügel eines Schmetterlings das Wetter ändern können, was können wir dann tun?“ (Reshad Feild: Dieser Tag ist Deiner – Ein Tagebuch). Der vorliegende Text ist darum bemüht, aus einer methodologisch gewählten ästhetischen Distanz heraus kontrafaktisch kreative Gestaltungsimpulse zu eröffnen, indem gegenüber der gewohnten eurozentristischen, zumeist a-religiösen Hypostasierung von Subjektivität aktive buddhistische Praktiken aus Tibet (Dalai Lama) und Japan (Daisaku Ikeda) ins Spiel gebracht werden, die – gerade auch in Ergänzung zu Roberto Assagioli, dem Begründer der Psychosynthese – im naturwissenschaftlich fundierten Dialog aktuelle Perspektiven zu eröffnen suchen, um die Probleme der sich häufenden Klimakatastrophen gemeinschaftlich durchaus auch in einer religiös fundierten Immanenz, im Hier und Jetzt, ganzheitlich lösen zu können: unbewusst, bewusst und überbewusst. Das lediglich erzählte, aber ungezeigte Bild des Angelus Novus wird – anders als bisher – weder kunsthistorisch, kabbalistisch, noch ausschließlich aus seiner Entstehungszeit heraus politisch gedeutet. Alle diese Faktoren sind dem Denkbild weiterhin eingeschrieben, jedoch bekommt es einen aktuellen, klimakollapsologischen Deutungsrahmen umgehängt, den zu reflektieren und zu diskutieren die Adressat:innen nun herzlich eingeladen sind. Wenn die Flügel eines Engels das Wetter nicht ändern können, besteht in einem breit gefächerten demokratischen Diskurs hoffentlich noch eine Chance, dem hoffnungslos ohnmächtig erscheinenden Engel als verantwortungsvolle Menschen tatkräftig und beherzt zur Seite zu springen.*
Keywords: Engel der Geschichte, Walter Benjamin, Klimakollaps, Roberto Assagioli
Copyright: Thomas Hilger | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.07.2025
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Y – Z Atop Denk 2025, 5(7), 1
„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Benjamin 1980, S. 697 f.)
„Kollaps ist der Prozess, an dessen Ende basale Bedürfnisse (Wasser, Nahrung, Wohnen, Kleidung, Energie...) einer Mehrheit der Population nicht mehr zur Verfügung gestellt werden können. Irreversibel. Langanhaltend.“ (Servigne u. Stevens 2022)
Über den Begriff der Kollapsologie hatte insgeheim Walter Benjamin bereits 1940 in seiner letzten Schrift mit dem Titel Über den Begriff der Geschichte (Benjamin 2010) in der ihm eigenen, unnachahmlichen Art weniger analytisch und in der Folge daher auch nicht streng begrifflich nachgedacht, indem er uns in der 9. These ein „Denkbild“ offenbart hat, worin er uns von einem Engel erzählt, vor dessen Augen ein stetig wachsender Trümmerberg gen Himmel ragt, ohne dass der Engel etwas dagegen zu tun in der Lage wäre, da ein Sturm, der vom Paradiese her weht, ihn immer weiter von einem möglichen Eingreifen in die Geschichte sich überschlagender Katastrophen entfernt. Dabei bedient Benjamin sich zweier zentraler methodischer Kniffe, die er Roberto Assagiolis Modell der Psychosynthese (vgl. Assagioli 2008) entlehnt hätte haben können.
Benjamin nimmt zum einen ein Kunstwerk zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung, und unter einer auf Inspiration zielenden Einbeziehung eines alttestamentarischen Narrativs beschreibt er anschaulich einen aus dem Paradies vertriebenen Engel, der sich aber zum anderen eben gerade keinen rationalen Begriff mehr von einer kollabierenden Geschichte der Menschheit machen kann. Weshalb wählt sich jemand ausgerechnet in einer geschichtsphilosophischen Reflexion ein Kunstwerk als visuellen Ausgangspunkt, ohne das Bild zu zeigen, und spricht anschließend so über seinen ungegenständlichen Gegenstand, dass aus der anfänglich aktivierten Einbildungskraft am Ende noch nicht einmal ein begriffliches Fazit zu ziehen ist? Handelt es sich um ein Denken in Bildern, die einerseits unsichtbar zu sein haben, aber andererseits eben auch nicht begrifflich zu bestimmen sind? Ganz so materialistisch, wie in der Frage „Ist das Kunst, oder kann das weg?“, geht es hier also nicht zu, eher könnte hier an „Von nichts kommt nichts!“ gedacht werden. Es handelt sich hier also um ein Denkbild, das nicht gezeigt wird, und um ein Denken, das zu keinem begrifflichen Mehrwert gelangt! Woran würden wir wohl wie erkennen, falls das „Überbewusste“ im Sinne Assagiolis hier uns zu grüßen gedächte?
Der Terminus „Denkbild“ stammt von Benjamin selbst, und er wird von ihm weiter entfaltet in seinem fragmentarisch gebliebenen Passagen-Werk (Benjamin 1983), welches genau in dieser Form sich in einer Diskursgemeinschaft, die sich als „Universalpoetisches Laboratorium“ bezeichnet, mehr als nur zur wiederholten Lektüre anbietet. War doch bereits der Titel der Dissertation von Walter Benjamin Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (vgl. Benjamin 1980, S. 7-121). Kurz nach der Abfassung seiner, auch die Grundlagen der Universalpoesie reflektierenden Dissertation 1919 in Bern, hat Benjamin 1921 das Aquarell von Paul Klee mit dem Titel Angelus Novus erworben, welches ihn bis zu seinem Freitod auf der Flucht vor den Nazis nicht nur begleitete, sondern auch maßgeblich inspirierte zu seiner bekannten geschichtsphilosophischen Reflexion. Im Kontrast zu den erheblichen Reflexionsanstrengungen von Johann Gottlieb Fichte, die sich als stilbildend für ein frühromantisches Denken des Denkens des Denkens erwiesen hatten, welches sich bis zum Begriff eines Absoluten Ich empor reflektierte, hat Benjamin demgegenüber eine Denkfigur gestaltet, die als „Dialektisches Bild“ sich weder auf ein Subjekt noch auf ein Objekt zu stützen scheint, und welches zudem entschieden auch auf einen Fortschrittsoptimismus verbreiten wollendes Begriffssystem wie bei Hegel oder Marx verzichten muss oder möchte. Der Angelus Novus hat zwar Füße und Hände, aber es sind ihm in seinem von Paul Klee aquarellierten Zustand weder ökologische Fußabdrücke noch ökologische Handabdrücke direkt anzulasten oder auch nur zuzuschreiben. So niederschmetternd die nur quasi-himmlische Ohnmacht dieses Engels von Walter Benjamin in der Folge beschrieben wird, und so erschüttert die Konsequenz von Benjamins Freitod uns zurücklassen mag – wozu motiviert uns also heutzutage dieses kollapsologische Denkbild eines „Engels der Geschichte“?
„Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt.“ (Benjamin 2010). Dieser Engel gibt uns leider keinen Begriff von einer Lösung seiner und unserer Probleme, er selbst scheint in einer Art begriffslosem Begriff geradezu hoffnungslos gefangen zu sein, dergestalt, dass er sich in einem Begriff befindet, der sich vom beschriebenen Kollaps entfernt. Umso mehr Katastrophe, desto weniger Begriff. Was also tun, wenn der Verstand als Instanz verloren zu gehen droht?
„Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ (Benjamin 1983, S. 574). So heißt es einmal im Passagen-Werk (Benjamin 1983), und in seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ sagt dann aber Benjamin genau umgekehrt etwas über ein Kunstwerk, ohne es zu zeigen. Und es ist das Bild selbst, das von einem Engel der Geschichte zu erzählen scheint, dem es selbst aber die Sprache verschlagen hat. Diese sich selbst zurücknehmende Erzählung von einem Engel geschieht vor dem Hintergrund des damals zeitgeschichtlich aktuell geschlossenen und bald darauf auch wieder gebrochenen Hitler-Stalin-Paktes, was für einen überzeugten Kommunisten wie Benjamin einem in sich kollabierenden Geschichtsbild entsprochen haben dürfte.
Walter Benjamin hat damit in seinem Denkbild nicht nur den Begriff der Geschichte kollabieren lassen, er ist in meinen Augen damit Kollapsologe der ersten Stunde. Er wirkt so tief in diesen Begriff der Katastrophe verwickelt und versunken, dass er sich dieses Begriffs selbst dadurch nicht mehr zu bedienen vermag. In Benjamins Kollapsologie scheint auch eine pränatale Beziehung mit der späteren Dekonstruktion (vgl. Hennig 1996) angelegt zu sein, die ebenfalls sich verweigern wird, sich länger noch an Begriffe ideologisch zu haften. Allein mit einem Begriffskorsett werden die Menschheitskatastrophen vermutlich nicht mehr abzuwenden sein. Im relativ zeitgenössisch-ideologischen Kontext des für Benjamin tragisch verlaufenen Hitler-Stalin-Paktes möchte ich nur kurz an zwei seinerzeit prominente philosophische Stimmen erinnern, die starke politisch-ideologische Akzente gesetzt haben, nicht ohne sich dabei entscheidend auf die Frage nach der Berücksichtigung eines Überbewusstseins zu beziehen, das sich auch als Ebene der Transzendenz verstehen ließe. Die Auswirkungen ihrer Denkansätze hatten definitiv massenpsychologische Ausmaße, jedoch verstanden sich beide genauso definitiv nicht als Psychologen, wenn sie mit ihren Theorien das kollektive Bewusstsein durchaus auch politisch zu überformen gedachten. Daher bediene ich mich hier, äußerst knapp skizziert, ihrer Positionen, um sie mit derjenigen Assagiolis in Beziehung zu setzen, der weder direkte politische noch irgendwelche ideologische Ambitionen ins Werk gesetzt haben wollte.
Genau ein halbes Jahrhundert lag zwischen zwei berüchtigten Aussagen zweier ebenso berüchtigter Philosophen – Georg Lukács sprach 1916 während des Ersten Weltkrieges von einer in der Form des Romans uns heimsuchenden „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Lukács 1986, S. 32), also bereits in dieser Begriffsbildung schon nicht mehr direkt von Transzendenz, die ohnehin für die erhoffte unaufhaltsame Weltrevolution von ihm als verzichtbar betrachtet wurde. Demgegenüber äußerte sich 1966 Martin Heidegger, also bereits einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in einem legendären Spiegel-Interview mit dem lyrischen Hölderlin-Zitat: „Nur noch ein Gott kann uns retten!“ (vgl. Heidegger 1966, S. 193-219).
Während Lukács in seiner Begriffsbildung die Transzendenz selbst also gar nicht mehr benennt, wirkt es so, als ob sie Heidegger geradezu zur Rettung herbeiflehen würde. Beide, Lukács und Heidegger, als zeitweilige, mehr oder weniger unfreiwillige Unterstützer Stalins beziehungsweise Hitlers zu bezeichnen, tut beiden hoffentlich nicht allzu großes Unrecht an. Darin liegt heutzutage womöglich gar ihre erschreckende Aktualität.
Walter Benjamins Engel ist auf dem Aquarell schwebend dargestellt. Als ästhetisches Produkt eines Künstlers repräsentiert dieser „Engel der Geschichte“ nun aber weder wie bei Lukács revolutionshinderliche Transzendenz, noch repräsentiert er wie bei Heidegger heilsversprechende Poesie, zu wenig zielführend für diese beiden einander widersprechenden Belange ist die von Benjamin erdichtete und vollkommen ohnmächtig erscheinende Situation des Engels dargestellt. Anstelle eines beruhigenden oder wenigstens herbeigesehnten theologisch eingebetteten Heilsversprechens lässt uns die Geschichte vom Engel der Geschichte, wenn nicht böse erwachen, so doch wenig hoffnungsfroh in die Zukunft schauen. Was sich nicht zu empfehlen scheint, ist eine anzustrebende Identifikation mit diesem Engel. Allerdings enthält seine Geschichte abschließend doch noch einen zielführenden Hinweis auf eine Beherzigung des Zweifels am Fortschritt in der Geschichte. Und zumindest die Bezeichnung des Sturms, der vom Paradiese her weht, lässt ein wenig auch das anklingen, was wir heute die Klimakatastrophe nennen. Der Sturm, als vom Paradiese her wehend, wirkt wie ein theologisches Narrativ, geknüpft aber an die Vorstellung des Fortschritts, klingt es nach menschengemachtem Narrativ. Dieses Paradox ist also eine Art Paradies, in dem es die Begriffe sehr schwer haben.
Wenn wir uns nun Roberto Assagiolis Begriff des Überbewussten zuwenden, so hoffe ich, mit diesen Vorüberlegungen einen Rahmen anbieten zu können, der uns dabei helfen könnte, Assagiolis psychologische Motivation seiner Hinwendung ausgerechnet zum Überbewussten, in Abgrenzung zu den exemplarischen ideologischen Streitigkeiten seiner Zeit, heraus besser verstehen zu können.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Roberto Assagioli sein Modell der Psychosynthese, welches im Ei-Modell (vgl. Assagioli 2008, S. 31)1 seinen bildlichen Ausdruck gefunden hat. Im Zentrum steht, bildlich gesprochen und zugleich begrifflich benannt, die Hinwendung zum „Überbewussten“. Das bedeutet eine klare Abkehr von den seinerzeit konkurrierenden Modellen der Psychoanalyse, die sich tendenziell lieber den eher defizitär konstruierten Abgründen individueller Seelen, also dem Unbewussten, zuwandten, ganz so, als gäbe es da länger keine metaphysischen Verwandten mehr. Freud etwa analysierte die Psyche ebenfalls lieber transzendental und metaphorisch obdachlos, um nicht der Versuchung zu erliegen, sich länger noch auf naturwissenschaftsferne transzendente Heimstätten zu berufen.
Obwohl Assagioli Italiener ist, argumentiert er eher kantianisch als katholisch, wenn er die Frage nach einer Beweisbarkeit der Existenz Gottes offen lässt (vgl. Kant 1993, S. 548-650). Auf seinem Weg zum Überbewussten vollzieht sich für das anfänglich noch egozentrisch geprägte Individuum ein Akt der Des-Identifikation, der in einem fortgesetzten Stadium einer gemeinschaftlichen Praxis auch zu kooperativen Neuorientierungen führen könnte, wenn sich Gleichgesinnte wechselseitig auf das Experiment der Des-Identifikation einlassen würden. Frei nach Descartes könnte dies wohl auch einfach als eine Umschreibung einer um Vorurteilsfreiheit bemühten Kommunikation verstanden werden. Aber anders als bei Descartes bedarf es nicht länger eines Gottesbeweises, und vor allem das cartesische, primordiale „Ich denke, also bin ich“ (Descartes 1969, S. 53)2 wird von Assagioli ganz entschieden nachgeordnet, im besten Vertrauen auf die Vorteile einer des-identifizierenden Praxis, die auf a-ideologische Verständigungswege unserer kreativen Einbildungskraft vertraut. Für eine solche wechselseitige Verständigungsbemühung braucht es also keine theologisch bedingte Legitimation festgelegter Heils- oder Seinsvorstellungen, sondern lediglich die experimentelle Offenheit für eine Methode, die – ähnlich wie bei der in der gleichen Zeit von Husserl erdachten phänomenologischen Reduktion eines psychologischen Ichs zu einem transzendentalen Ich – einerseits empirische Schranken des Egos überwindet, aber sich in dem Ziel unterscheiden dürfte, eine einmal erreichte, methodologisch reflektierte Wesensschau, wie Husserl sie in seinen Cartesianischen Meditationen (Husserl 1977)3 antizipiert, als eine solche Befreiung von vorherigen Identifikationen so zu erleben, dass diese tatkräftig durch gemeinsame, kooperationstaugliche Zielformulierungen zu pragmatischen Lösungen von gesellschaftlichen Problemen konstruktiv gestaltet werden könnten. „Transpersonale Entwicklung“ wäre dann, frei nach Assagioli, nicht nur eine lediglich erkenntnistheoretische oder psychologisch heilsam empfundene individuelle Öffnung zum Überbewussten, sondern zugleich auch eine heutzutage mehr als dringend benötigte gesamtgesellschaftliche Entwicklungschance. Mit Blick auf die menschengemachte Klimakatastrophe vermag, der zum Überbewussten gelangte Einzelne seine vollständige Wirkmächtigkeit ähnlich bescheiden empfinden wie der Engel der Geschichte gegenüber den Trümmern, die er zur Tatenlosigkeit verdammt zum Himmel wachsen sieht. Aber in einer sich vergemeinschaftenden allgemeinen Des-Identifikations-Bewegung – was wäre da mit einer wissenschaftstheoretisch notwendigen Experimentierfreude gepaart nicht alles möglich?
Der zweite dieser Diskussion zugrundeliegende Text ist ein Dialog zwischen Ernst Ulrich von Weizsäcker und Daisaku Ikeda (von Weizsäcker u. Ikeda 2016). Der eine war von 1991 bis 2000 Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, der andere war viele Jahre lang Präsident der buddhistischen Laienorganisation und NGO Soka Gakkai International, und 1983 erhielt er den Friedenspreis der Vereinten Nationen.
Der Transparenz halber möchte ich erwähnen, dass auch ich Mitglied der SGI-D bin, der Soka Gakkai International in Deutschland.
Wer die zahlreichen Tagungsberichte (Hayward u. Varela 2007) kennt, die als Gespräche des Dalai Lama mit bedeutenden Wissenschaftlern der Gegenwart veröffentlicht worden sind, hat bereits eine Vorstellung, dass es auch als bedeutend geltenden Vertretern des Buddhismus ein verantwortungsbewusstes Bedürfnis ist, Probleme des Planeten Erde nicht ausschließlich mit Gebeten und religiösen Ritualen lösen zu wollen. Daisaku Ikeda ist Ende 2023 verstorben. Er hat zahlreiche Dialoge mit Politikern, Künstlern und Wissenschaftlern geführt und veröffentlicht, so auch den vorliegenden mit Ernst Ulrich von Weizsäcker. Der gewählte Abschnitt des Dialogs trägt die Überschrift „Umweltbewusstsein“ und nicht wie bei Assagioli „Überbewusstsein“, und dennoch gehören beide zusammen. Der Hauptakzent liegt bereits im traditionellen japanischen Nichiren-Buddhismus (vgl. Daishonin 2014) aus dem 13. Jahrhundert und seiner im 20. Jahrhundert auch wissenschaftlich inspirierten Wiederbelebung als Laienbuddhismus in seiner klaren Hinwendung zur diesseitigen Existenz (vgl. Daishonin 2010).
Zu den bemerkenswerteren Denkbildern, die Überbewusstsein und Umweltbewusstsein miteinander kombinieren, könnte auch die kleine Szene aus einer relativ aktuellen ARTE-Dokumentation (Védeilhé 2024) über das buddhistische Königreich Bhutan zählen, in der drei Glaziologen aus Bhutan ein traditionelles buddhistisches Ritual ausüben, bevor sie mit der von Satelliten unterstützten Erhebung von validen digitalen Daten zum dramatischen Zustand der Gletscherschmelze im Himalaya beginnen. Der Datenbefund dürfte sich nicht unterscheiden von einer Analyse der Situation ohne ein vergleichbares Ritual. Warum also dieser zusätzliche spirituelle Aufwand von qualifizierten Forschern? Wozu mag dies dienen?
In dem zur Vorbereitung dieses Vortrags vorgelegten Dialog über Umweltbewusstsein sprechen Weizsäcker und Ikeda auch über den ökologischen Fußabdruck. Bei genauerem Hinsehen bedeutet dieses Konzept, sich den Schuh einer von der Ölindustrie heuchlerisch erschaffenen, vermeintlich klimakatastrophenkritischen Perspektive anzuziehen, um sich ernsthafte Gedanken bei der individuellen Vermeidung klimaschädlicher Handlungen machen zu können, während die Ölindustrie, davon gänzlich unbeeindruckt, ihre schmutzigen Geschäfte institutionell weitgehend unbehindert fortsetzen kann. Dieser Wirtschaftszweig erteilt uns damit in Wahrheit seit Jahrzehnten schmerzhafte und vermutlich unheilbare ökologische Fußtritte.
Inzwischen hat sich daher ein Gegen-Bild, genauer gesagt das Gegen-Denkbild vom ökologischen Handabdruck (Feuser, Müller-Lehmann u. Oehmichen 2024, S. 52 f.), etabliert, welches den Blick von den klimakritischen Fußfesseln auf unsere, von der Wissenschaft allein längst noch nicht zum Handeln befreiten, gefesselten Hände lenkt. Selbst Hände von Leisetretern könnten demnach weitaus besser als ihre Füße kooperieren und sich mit anderen Menschen tatkräftig verbinden, um etwas zu verändern. Zudem gilt es zu beantworten, was die Quellen der Kraft sind, die wir brauchen, um uns endlich erfolgreich gegen eine übermächtige, global maximal wirtschaftsorientierte Zerstörungsintelligenz zur Wehr setzen zu können.
Die Psychologists for Future beschreiben es so: „Climate change is a psychological crisis – whatever else it is.“ (Feuser, Müller-Lehmann u. Oehmichen 2024, S. 59). Die Website dieser Initiative lautet https://www.psy4f.org und enthält zahlreiche ermutigende Tipps zur Selbststärkung einer not-wendigen, d. h. einer die Not zu wenden habenden Initiative.
Fehlt aber beim Austarieren der Kräfte im Nachhaltigkeitsdreieck von Ökologie, Ökonomie und Soziales eventuell doch auch eine Akzentuierung desjenigen Rettungsfaktors, den am deutlichsten noch Martin Heidegger herbeigefleht zu haben scheint, als er, hinter einem Zitat sich verbergend, seine Verzweiflung zum Himmel zu schreien schien? Umformuliert möchte ich also schließen mit der Frage: „Kann wohl doch nur ein Gott uns noch retten?“. Und wie können wir uns dabei solidarisch mit „IHM“, mit diesem Gott, mit einem ökologischen Händedruck verbinden oder wenigstens dafür bereit sein, „IHM“ mit einem solchen dafür zu danken?
Buddhistisch betrachtet würde ich folgenden Antwortversuch in den Raum stellen wollen: Der Buddhismus kennt keinen transzendenten Gott, ist also ebenfalls zu einer Art transzendentaler Obdachlosigkeit verdammt, kann aber im Unterschied zum transzendenzbefreiten Polit-Ideologen bei Bedarf zum Lachen, oder besser gesagt, zur eher spirituellen Erwärmung des Herzens, noch in den Keller gehen, falls dieser nicht überschwemmt sein sollte, um sich dort nach der ihm eigenen Buddha-Natur umzuschauen, aus der heraus sich überhaupt erst der Mut und die Entschlossenheit ergeben dürfte, den gewissenlosen Ausbeutern unserer überlebenswichtigen Ressourcen aufs Dach zu steigen.
Bei allen menschlichen Widersprüchen, in denen wir uns immer wieder selbst begegnen, wünsche ich uns allen eine Orientierung im Glauben, der uns bei uns selbst sein lässt, uns aus uns selbst heraus handeln lässt und sich auch darin unter Beweis stellt, dass er entsprechend gleichgesinnte Menschen jedweder Couleur zusammenbringen kann, um sich auch gemeinschaftlich selbst bestimmen zu können. Präsident Ikeda gilt als Verfechter der Methode des, mit Assagioli gesprochen, desidentifizierenden Dialogs und hat sich immer für gemeinschaftliche Handlungskonzepte engagiert, denen zuträglicherweise Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zugrunde liegen. Die Soka Gakkai ist eine buddhistische und basisdemokratische Laienorganisation, die sich vor nicht allzu langer Zeit entschieden von der Vorherrschaft der Priesterschaft in Japan abgekoppelt hat. Nicht nur der Dalai Lama ist als ein berühmter Buddhist der wissenschaftlichen Forschung gegenüber aufgeschlossen, viele moderne buddhistische Strömungen sind auch in ihrer materiellen Enthaltsamkeit zumindest intellektuell relativ unverwundbar gegenüber ökologischen Fußtritten eines durch und durch materialistischen Weltwirtschaftssystems. Körperlich aber sitzen sie aufgrund der Aktivitäten genau dieser Wirtschaftsordnung mit allen anderen Menschen im selben Boot – dem Untergang geweiht!
Lupenreine Demokraten waren wohl weder Lukács, Heidegger noch Benjamin. Als Jude war Assagioli gewiss nicht vor faschistischer Verfolgung sicher. Bei Weizsäcker und Ikeda aber bin ich mir 100 % sicher, dass sie ihre Überzeugungen mit der Demokratie mehr als nur in Einklang zu bringen wussten. Das vorgestellte kleine Gedankenkarussell kommt an dieser Stelle zum Stillstand. Wir müssen überlegen, was wir als Menschen gegen einen kollektiven Suizid, einer offenen Auges zu gewahrenden Klimakatastrophe, noch zu tun in der Lage sind, und uns fragen, woher wir dazu noch die Kraft nehmen sollen – oder?
Im 13. Jahrhundert hatte in Japan Nichiren Daishonin eine Goshu verfasst mit dem programmatischen Titel „Das Öffnen der Augen“ (Daishonin 2014, S. 270-371). Lange vor Edmund Husserl ging es auch ihm dabei darum, zu einer Art „Wesensschau“ zu gelangen, die uns jederzeit, aus Verantwortung für die gemeinsamen Grundlagen des Lebens, dazu ermutigt, entschlossen unter allen Umständen für diese zu kämpfen. Zum Wohle aller. Nicht nur aller Milliardäre!
Keine Klimarettung ohne Demokratie – keine Demokratie ohne Klimarettung!
* Meinem Sohn Daniel gewidmet.
1 Dort heißt es: „Im Überbewussten gibt es Elemente oder ‚Inhalte‘ verschiedener Art, die aktiv, dynamisch und wechselhaft sind und mit dem Strom des psychischen Lebens fließen. Das Selbst hingegen ist unveränderlich, unbeweglich und stabil; deshalb ist es unbedingt vom Überbewussten zu unterscheiden. […] Wie sehr wir uns auch mit verschiedenen Rollen und Teilpersönlichkeiten identifizieren oder mit verschiedenen Gefühlen, von denen bald das eine, bald das andere unser Bewusstsein einnimmt, weiß doch jeder im Grunde, dass er immer er selbst ist. Gelegentlich mag jemand sagen: ‚Ich erkenne mich nicht wieder‘, wenn in seinem Leben eine bedeutende Veränderung eingetreten ist. In Wirklichkeit will er sagen: ‚Das, womit ich mich zuvor identifiziert habe, ist verschwunden, und jetzt identifiziere ich mich mit etwas anderem‘.“ (Assagioli 2008, S. 31).
2 Dort heißt es: „Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ‚ich denke, also bin ich‘ so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“ (Descartes 1969, S. 53).
3 „§34 Prinzipielle Ausgestaltung der phänomenologischen Methode. Die transzendentale Analyse als eidetische“, schreibt Husserl: „Jeder von uns, als cartesianisch Meditierender, wurde durch die Methode der phänomenologischen Reduktion auf sein transzendentales Ego zurückgeführt, und natürlich mit seinem jeweiligen konkret-monadischen Gehalt als dieses faktische, als das eine und einzige absolute Ego. Ich, als dieses Ego, finde, immer weiter meditierend, deskriptiv faßbare und intentional zu entfaltende Typen und könnte schrittweise in der intentionalen Enthüllung meiner ‚Monade‘ in den sich ergebenden Grundrichtungen fortschreiten. Aus guten Gründen drängten sich öfters bei den Beschreibungen Ausdrücke wie ‚Wesensnotwendigkeit‘, ‚wesensmäßig‘ auf, worin ein bestimmter, erst von der Phänomenologie geklärter und umgrenzter Begriff des Apriori zum Ausdruck kommt.“ (Husserl 1977, S. 71).
Literaturverzeichnis
Assagioli, Roberto (2008): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung. Übers. v. Hans Dellefont. 2. Auflage. Rümlang: Nawo.
Benjamin, Walter (1980): Gesammelte Schriften. Band I.1. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Benjamin, Walter (1983): Das Passagen-Werk. Hg. von Rolf Tiedemann u. Walter Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Benjamin, Walter (2010 [1940]): Über den Begriff der Geschichte. Hg. von Gérard Raulet. Berlin: Suhrkamp.
Daishonin, Nichiren (2009): Der Schlüssel zum Glück. Prinzipien der buddhistischen Philosophie auf der Grundlage der Lehre Nichiren Daishonins. 2. Auflage. Berlin: Soka Gakkai International Deutschland (SGI-D).
Daishonin, Nichiren (2014): Die Schriften Nichiren Daishonins. Freiburg: Herder.
Descartes, René (1969 [1637]): Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hg. u. übers. v. Lüder Gäbe. Hamburg: Felix Meiner.
Feuser Inga, Oehmichen, Nora u. Sippel, Maike (2024): „Gedanken die Schule zu verändern“. In: Feuser, Inga, Müller-Lehmann, Silke u. Oehmichen, Nora (Hg.) (2024): Zukunft gestalten. Lehrer:in sein in Zeiten existenzieller Krisen. Stuttgart: Raabe.
Fichte, Johann Gottlieb (1988[1794]): Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. Hamburg: Felix Meiner.
Heidegger, Martin (1966): „Nur noch ein Gott kann uns retten“. In: Der Spiegel Nr. 23 (1976), S. 193-219.
Hennig, Thomas (1996): Intertextualität als ethische Dimension. Peter Handkes Ästhetik „nach Auschwitz“. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Husserl, Edmund (1977 [1931]): Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie. Hg. u. eingel. v. Elisabeth Ströker. Hamburg: Felix Meiner.
Kant, Immanuel (1993 [1781]): Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Schmidt Vorländer. Hamburg: Felix Meiner.
Lukács, Georg (1986 [1916]): Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. 10. Auflage. Darmstadt/Neuwied: Hermann Luchterhand.
von Weizsäcker, Ernst Ulrich u. Ikeda, Daisaku (2016): Was sind wir uns wert? Gespräche über Energie und Nachhaltigkeit. Freiburg: Herder.
Servigne, Pablo u. Stevens, Raphaël (2022): Wie alles zusammenbrechen kann: Handbuch der Kollapsologie. Übers. v. Lou Martin. Berlin/Wien: Mandelbaum.
Filmverzeichnis
Bhutan: Gefahr im grünen Königreich. Frankreich 2024. Regie: Antoine Védeilhé. 24 Minuten.
Autor:in: Thomas Hennig erlangte seinen Doktorgrad in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft. Als Thomas Hilger unterrichtet er aktuell Philosophie und Deutsch an einem Gymnasium.
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