Lacanianische Notizen aus dem Grauen
Nico Graack
Y – Z Atop Denk 2025, 5(1), 3.
Abstract: Nach den letzten Tagen ist unmissverständlich klar: Der neue Faschismus wird kommen. Diese These möchte ich, noch ganz im Affekt des Grauens, in Form einer von Lacan inspirierten Diskursanalyse der Bundestagssitzung vom 29.01.25 begründen. Ich unterscheide folgende Elemente des Diskurses, die ich formal darstelle: (E) Ereignis/Entscheidung/Erweckung, (N) Notsituation/Notwendigkeit, (M) „Migration“, (R) „Gefahr von Rechts“, (D) „Dominanz des rot-grünen Diskurses“. Dabei sehen wir, dass der Diskurs von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen lediglich eine verklausulierte Abwandlung des Diskurses dieses neuen Faschismus ist. Er akzeptiert die grundsätzliche Vernähung, die diesen Diskurs ausmacht: die Notsituation „Migration“. Damit ist es dann nicht mehr so entscheidend, welche Parteien nun irgendwann im März 2025 welche Koalitionen eingehen. Der Faschismus kommt ohnehin. Er mag sich etwas verspäten und uns mehr Zeit zur Vorbereitung geben – aber das ändert nichts an der Tatsache, dass er kommt. Wir müssen uns also auf einen Kampf gegen ihn einstellen.
Keywords: Faschismus, AfD, Merz, CDU, Diskursanalyse, Lacan, Žižek
Copyright: Nico Graack | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.01.2025
Artikel als Download: Y – Z Atop Denk 2025, 5(1), 3
„Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist wahrlich ein historischer Moment. Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen. Und jetzt gehen Sie ans Mikrofon und stehen hier mit schlotternden Knien und bibbern und entschuldigen sich und bedauern das. Kanzlerformat war das nicht, Herr Merz! Denn in allen westlichen Ländern – in allen westlichen Ländern! – gibt es diese Gegenbewegung gegen den links-grünen Mainstream: in den USA mit Trump, in Italien mit Meloni, in den Niederlanden mit Wilders, in Österreich mit Kickl. Überall, in allen westlichen Ländern, und jetzt auch in Deutschland. Das ist eine breite Bewegung des Bürgertums in allen westlichen Ländern. Die ist heute und hier in Deutschland angekommen. Das bedeutet das Ende der rot-grünen Dominanz auch hier in Deutschland – für immer! Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt was Neues, und das führen wir an, das führen die neuen Kräfte an. Das sind die Kräfte von der AfD. Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft dazu haben.“
[27084]1
Diese Worte sagte ein erbarmungslos siegesgewisser Bernd Baumann von der AfD am 29.01.2025 unter freudigem Gegröle der AfD-Fraktion im Bundestag. Und es war die treffendste Einordnung des Geschehenen, die an diesem Tag geäußert wurde. Wem das nicht schon in der konstituierenden Sitzung des derzeitigen Thüringer Landtags klar wurde, der sieht es nun klar: Wir erleben einen Kollaps von Selbstverständlichkeiten – eine neue Epoche. Es ist, während ich diese Zeilen schreibe, erst einen Tag her, dass ich geschockt vor meinem Laptop saß und diese Sitzung verfolgte.
Nun sitze ich nach unruhigem Schlaf wieder vor meinem Laptop und musste alle offene Arbeit vertagen. Seither habe ich viele besorgte Gespräche mit Freund:innen und Liebsten aus der Familie geführt. Sogar mein Freund Volodymyr hat mir von der Front im Donbass geschrieben, was denn in Deutschland los sei. Im Laufe des Gespräches riet er mir ihn endlich in der Ukraine zu besuchen, um mich auf das Grauen vorzubereiten, das über uns aufzieht
Ich kann „nicht zur Tagesordnung zurückkehren“, wie es auch gestern mehrmals in verschiedenen Bedeutungen verkündet wurde. Ich muss in der Hast der akuten Bedrohung doch schreiben, um anzufangen, das Grauen zu verstehen, zu verstehen, wo wir stehen, vielleicht gar, was wir tun können. Diese Notizen sind also als das zu verstehen, was sie sind: Ein im Affekt der Gefahr heruntergeschriebener Versuch, nicht den Verstand zu verlieren. Einiges mag inkonsistent, ein überhasteter Versuch sein. Und einiges mag bei Veröffentlichung bereits veraltet sein – das soll nicht kaschiert werden. Diese Notizen sind das Produkt eines bestimmten Tages und in der aktuellen Lage überschlagen sich die Ereignisse im Stundentakt. Das ist das Schicksal der Eule der Minerva, die stets erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt – wie Hegel am Ende der Vorrede seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) sagt. Das Denken hinkt den Ereignissen stets ein wenig hinterher, damit müssen wir uns abfinden. Deshalb will ich diesem Text seinen affektierten, spontanen Charakter belassen.
Diskurs und Diskursanalyse: Althusser, Lacan und Badiou
Was ich hier vorschlagen möchte, ist eine gewisse Form von Diskursanalyse schlicht der Dinge, die während dieser Bundestagssitzung des 29.01.2025 gesagt wurden. Ich will diesen spontanen Ansatz also eingangs kurz theoretisch verorten und mich meiner theoretischen Werkzeuge vergewissern.
Die „Diskursanalyse“ als Terminus ist wohl am direktesten mit dem Namen Foucault verbunden. Er bedient sich bei der strukturalistischen Tradition Frankreichs – die durch eine Aufnahme de Saussures als Begründer der strukturalistischen Sprachtheorie von Lévi-Strauss in der Ethnologie, Althusser in der politischen Theorie und Lacan in der Psychoanalyse entscheidend geprägt wurde. All diese Ansätze verbindet eine gewisse Auffassung von Sprache: Sprachliche Elemente (Signifikanten) kriegen ihre Bedeutung (Signifikate) nicht dadurch, dass sie irgendwie assoziativ oder sonst wie mit Dingen in der Welt verbunden wären, sondern durch ihre Relationen zueinander – „Wolf“ bestimmt sich durch seine Differenz zu „Rolf“, „Wolt“ (finnisches Lieferdienstunternehmen), „Reh“, „Tier“ usw. In gegebenen Systemen aus Zeichen können sich dann durch die Art, wie sie verwendet werden, verschiedene Differenzen ergeben:
„Demokratie“ kann zum Beispiel in Differenz zu „Totalitarismus“ stehen oder zu „Freiheit“ oder zu „Diktatur des Proletariats“ – und jedes Mal durch diese Differenzen hindurch andere Signifikate bilden.
Dieses Gefüge aus Relationen ist dann in einem ersten Zugriff das, was man „Diskurs“ nennen kann. Foucault erweitert das um die Einsicht, dass durch dieses selbstreferentielle System an Zeichen letztlich sehr reale Dinge geschaffen, nicht bloß abgebildet werden. Er bestimmt in diesem Sinne die Aufgabe auch einer „Diskursanalyse“:
„Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben“ (Foucault 1973, S. 74).
Ich will diesen Diskursbegriff, nur soweit er in diesen Überlegungen und diesem Zitat zum Ausdruck kommt, hier verwenden.2 Ich möchte ihn aber anreichern mit drei weiteren Überlegungen, die man mit drei Namen verbinden kann: Althusser, Lacan und Badiou.
Nur in Kürze zu Althusser, ich werde das an gegebener Stelle noch etwas ausführen: Von ihm möchte ich den Gedanken übernehmen, dass ein Diskurs3 nicht nur die Gegenstände bildet, von denen er spricht, sondern auch das Subjekt, das spricht. Althusser bezeichnet dies mit dem Terminus der „Anrufung“ (vgl. Althusser 2010): Ein Diskurs adressiert jemanden stets auf eine gewisse Weise, in der die Angesprochene sich als so oder so beschaffene akzeptiert, sofern sie auf den Diskurs antwortet.
Zu Lacan nun muss ich etwas mehr sagen. Von ihm möchte ich zwei Gedanken übernehmen. Erstens: Er nennt Diskurs ein „soziales Band, gegründet auf die Sprache“ (Lacan 1986, S. 22). Ein Diskurs bildet also nicht nur Gegenstände und Subjekte aus, sondern auch die sozialen Relationen zwischen ihnen. Werde ich auf eine gewisse Weise adressiert, adressiere ich mich selbst auf eine gewisse Weise – schreibe ich mich damit in eine soziale Organisation ein: Ich bin im Diskurs der Backstube „der Lehrling“ oder „der Geselle“ oder „der Meister“ – ich spreche dementsprechend und werde auf eine gewisse Weise angesprochen, ich nutze Zeichen in gewissen Konstellationen, die dieses Angesprochen-werden fixieren. Es geht in einem Diskurs also vor allem um soziale Verbindlichkeiten: Ich lege mich auf gewisse Relationen fest und das fordert gewisse Handlungen. Als „Lehrling“ verhalte ich mich so und nicht so, sofern ich diese Anrufung akzeptiere – und ich erwarte so und nicht so behandelt zu werden.
Zweitens ist es die Einsicht, die Lacan präzise als Post-Strukturalisten kennzeichnet: Im klassischen Strukturalismus wird ein gegebenes System an Zeichen (ein Diskurs) von einer Primärdistinktion zusammengehalten – zum Beispiel könnte man sagen, dass sich im Diskurs des Liberalismus alles um die primäre Entgegensetzung „Freiheit“/„Unfreiheit“ dreht. Das ist das Begriffspaar, auf das sich alle anderen Terme beziehen und das letzte Bedeutungen für diesen Diskurs fixiert. Lacan nun macht daraus das folgende: Ein Diskurs wird nicht durch eine solche fixe Entgegensetzung zusammengehalten, sondern an seinem Kern steht ein Signifikant, dessen Bedeutung gerade fehlt – der keinen binären Gegenpart hat, mit dem zusammen er ein Feld absteckt (vgl. Žižek 2020, S. 56). Die Bedeutung wird gerade erst durch eine Operation hergestellt, die Lacan „Vernähung“ nennt – ich werde dazu später noch etwas mehr sagen: Hier wird das Fehlen einer klaren Bedeutung durch eine fundamentale Phantasie überdeckt, die nicht mehr hinterfragt werden kann, ohne den ganzen Diskurs einstürzen zu lassen.
Man kann das auch so ausdrücken: Es gibt keinen Diskurs, der nicht mit einem Widerspruch konfrontiert ist – und er wird gerade dadurch in Gang gesetzt, diesen Widerspruch irgendwie wieder „zusammenzunähen“. Wenn der „dritte Stand“ Frankreichs im 18. Jahrhundert mit einem Chaos aus Krisen und Widersprüchen konfrontiert ist – dann heißt das aus gewisser Perspektive vor allem: Die Situation (die tatsächlichen Praktiken des aufstrebenden Bürgertums, ihre Handelsbeziehungen und sozialen Rollen etc.) ist auf eine andere Art und Weise von Konflikten durchzogen als es noch die Situation war, die Anlass gab zur Entstehung des Signifikanten „dritter Stand“ – die Naht des feudalen Diskurses löst sich und es kommt zu dem Ereignis, das „Revolution“ genannt wurde.
Damit sind wir beim letzten Theorem, das wir mit dem Namen Badiou verbinden wollen – und auch dazu werden gleich noch ein paar Worte mehr folgen, deshalb hier in aller Kürze: Badiou nennt einen solchen Kampf um die fundamentale Vernähung eines Diskurses ein „Ereignis“ (vgl. Badiou 2016). Für uns entscheidend ist der Gedanke: Ein solches Ereignis begründet in einem gewissen Sinne, die Situation, auf die es sich bezieht. Die Französische Revolution wird nicht schon allein durch ökonomische Krisen oder dergleichen zu einem Ereignis – sondern letztlich dadurch, dass die Revolutionäre selbst sich in dieser Krise angesprochen fühlen und sie als revolutionäres Ereignis benennen.
Diese Überlegungen geben uns damit zunächst zwei Aufgaben vor: Ich möchte die Kernelemente der Diskurse der gestrigen Bundestagssitzung herausarbeiten. Und ich möchte dasjenige Kernelement ausmachen, an dem die Vernähung ansetzt – dazu müssen die Phantasien ausfindig gemacht werden, mit denen der Diskurs vernäht wird. Ich möchte dabei nicht weit in theoretische Debatten einsteigen, sondern die Tauglichkeit dieser Begriffe, letztlich also dieser Werkzeuge, in actu zeigen.
Die „Zeitenwende“ kommt erst jetzt an:
Das Ereignis und die Notsituation als Vernähung
Fangen wir also an, den Reden dieser Bundestagssitzung zuzuhören. Ich möchte zunächst ein Element herausarbeiten, was alle verschiedenen Reden dieses Tages verbindet – und sich darin als das zentrale Element offenbart, an dem die Vernähung ansetzt. Was Baumann (AfD) in der eben zitierten Rede in aller Deutlichkeit verkündete – den Beginn einer neuen Epoche, ein Beben der Geschichte – das war an diesem Tag aus allen Diskursen zu hören, die dort ineinandergriffen: Alle erkannten eine fundamentale Notsituation an.
Alexander Dobrindt (CSU) stellt implizit – und wohl ungewollt – den richtigen Zusammenhang mit den globalen Krisen her, die am Kern unseres aktuellen Ausnahmezustandes stehen. Scholz war es, der das Wort der „Zeitenwende“ im Kontext der Rückkehr des Krieges nach Europa prägte – und die sei nun da: „Sie erkennen die Zeitenwende im eigenen Land nicht, wenn sie direkt vor Ihnen steht“ [27052], rief er ihm zu. Die CDU/CSU möchte sich an die Spitze dieser Zeitenwende stellen, dieses historischen Moments. Es ist klar, wie er diesen historischen Moment versteht: „Die Menschen in unserem Land sind es leid, und deswegen gehen wir nicht mehr über zur Tagesordnung“ [27052]. Was ist dieses „es“, das „die Menschen“ leid sind? Das Versagen der rot-grünen Politik – daran lässt Dobrindt keinen Zweifel. Er stellt sich damit in die Reihen der „Gegenbewegung“ in „allen westlichen Ländern“, von der Baumann sprach. Da steht eine Zeitenwende direkt vor uns, sagt Dobrindt, die wir nicht verkennen dürfen – wir müssen uns einreihen. Die übliche Tagesordnung ist vorbei.
Auch Friedrich Merz (CDU) verkündet das Ende der Tagesordnung: Er sei es leid, sich von der rot-grünen Minderheit im Parlament die Handlungsmöglichkeiten diktieren zu lassen. Er tritt in dem Gestus eines Menschen auf, der endlich aufwacht, der die Fesseln von sich reißt: Nun ist mal Schluss mit lustig, es wird Tacheles geredet! „Ich gehe keinen anderen Weg“, „all in“ – eine Demonstration von Entschlossenheit, komme, was wolle. Gestern sagte er:
„Meine Damen und Herren, vor die Wahl gestellt, weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land bedroht, verletzt und ermordet werden, vor die Wahl gestellt, der rot-grünen Minderheit hier im Deutschen Bundestag weiterhin die Deutungs- und Entscheidungshoheit in der Asyl- und Einwanderungspolitik zu überlassen oder jetzt aufrechten Ganges das zu tun, was unabweisbar in der Sache notwendig ist, vor diese Wahl gestellt, entscheide ich mich und entscheiden wir uns für diesen letztgenannten Weg“ [27042].
Das Bild ist eindeutig: Das deutsche Volk wird „bedroht, verletzt und ermordet“ – bei Alice Weidel (AfD) war fast wortgleich die Rede vom unschuldigen Menschen, der „verletzt, vergewaltigt oder ermordet“ [27052] wird. Es herrscht ein Ausnahmezustand, eine Notlage. Leider übt aber eine rot-grüne Minderheit anti-demokratische Gewalt aus, die eine angemessene Reaktion verhindert – nun braucht es den aufrechten, den strammen Gang, der diese Minderheit in ihre Schranken weist. Bei Weidel wird die Brandmauer freilich ebenso als anti-demokratische Gewalt verstanden, was eigentlich nur folgerichtig ist. Und Carsten Linnemann (CDU) erkennt das implizit schon an, wenn er vor einigen Tagen sagte, es müsse Schluss sein mit dem „Brandmauer-Gerede“ (Correctiv 27.01.25) – was genau der Wortlaut von Bernd Höcke (AfD) nach der Wahl in Thüringen war (Euronews 02.09.24).
Robert Habeck (Grüne) begann seine Rede mit der Anerkennung dieses historischen Ausnahmezustands: „Ich glaube, jeder spürt es hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestages und in den Debatten auf der Straße, dass wir hier nicht irgendeine Sachfrage entscheiden oder diskutieren, sondern die grundsätzliche Ausrichtung der Politik, der politischen Kultur, dass das, was wir demokratische Mitte in Deutschland nennen, hier infrage steht, verhandelt und abgestimmt wird“ [27043]. Nach seiner Rede setzt er sich angespannt, aber ruhig – im ernsten Gestus des historischen Momentes, der hier vor sich geht. Er sieht aus wie ein Mann, der weiß, dass er der Erste auf den Listen der neuen Faschisten ist, wenn dieser historische Kampf verloren geht. Fast flehend wendet er sich an die CDU/CSU: „Tun Sie es nicht!“. Aber er weiß, dass sie es tun werden. Er hat aus seiner Sicht alles getan, was er konnte. So setzt er sich und bereitet sich innerlich auf den Sturm der Geschichte vor.
Olaf Scholz (SPD) beschwört den 75-Jahre währenden Konsens in der Bundesrepublik, nicht mit Faschisten zu paktieren. Er beschwört die europäische Einheit, den Amtseid – es geht ums große Ganze. Auch Christian Lindner (FDP) ruft wie Merz, Dobrindt und Weidel den Ausnahmezustand an, den Rot-Grün zu verantworten haben und der sich gegen die Mehrheit der Gesellschaft richtet, die endlich eine radikale Veränderung will: „Diese Politik steht gegen die Mehrheit unserer Gesellschaft. Die Grünen sind damit ein Steigbügelhalter der AfD“ [27048]. Heidi Reichinnek (Die Linke) benennt den Angriff gegen die „gesellschaftliche Brandmauer“ [27057] und ruft nach der Abstimmung „auf die Barrikaden“ [27085] – die Botschaft: der parlamentarische Schauplatz ist nur ein kleiner Teil dessen, was auf dem Spiel steht. Nun herrscht die „offene Feldschlacht“, die die FDP zu ihren Vorteilen herzustellen gescheitert ist.
Überall wird also folgende Situation anerkannt: Wir befinden uns in einer Notsituation, einem historischen Ausnahmezustand – und der ruft nach einem außergewöhnlichen Akt, einer Entscheidung, einem historischen Ereignis. Um die Relationen zwischen den sprachlichen Elementen, die diese(n) Diskurs(e) ausmachen, darzustellen, will ich mich der von Lacan etablierten Form des „Mathems“ bedienen. Analog zur Buchstaben-basierten formalen Schreibweise der Mathematik lassen sich damit diskursive Elemente und ihre Relationen darstellen, ohne sich zu sehr in den semantischen Implikationen und Bildern zu verlieren, die einzelne Worte nach sich ziehen – der strukturalistischen Einsicht folgend, dass die Elemente ihre Bedeutung erst durch ihre Relationen zueinander ausbilden. Ich will die Situation, die hier von allen Diskursen anerkannt wird, ganz schlicht folgendermaßen formalisieren, um später die Sackgassen der verschiedenen Diskurse als Schema – und wichtiger noch: als Variationen desselben Schemas – darstellen zu können:
Das ist zu lesen als: Entscheidung (E) gründet4 Notsituation (N).
Das „E“ lässt sich ebenso gut als die eingangs angeschnittene „Anrufung“ im Sinne der Theorien Althussers (vgl. 2010) lesen – die Anerkennung eines historischen Auftrags: Die Lage erfordert von mir so und so zu handeln. Stehe ich auf der Position „E“, dann begreife ich mich als jemand, der von etwas Außergewöhnlichem herausgefordert wird. Althusser spricht von dieser Anrufung als einem diskursiven Element, demgegenüber sich die Angesprochene als so angesprochenes Subjekt versteht, wenn sie die Anrufung auf sich nimmt: Zum Beispiel als ein Subjekt, das seine „Heimat“ oder die „Demokratie“, sein „Volk“ oder die „Freiheit“ verteidigen muss.
Und das „E“ lässt sich als „Ereignis“5 lesen, um auf die Theorien Badious anzuspielen. Bei Badiou (vgl. 2016) lernen wir, wieso wir die Formel für unsere Situation „verkehrt herum“ schreiben müssen (nicht: E ⊢ N): Um eine Notsituation, eine Ausnahme vom üblichen Lauf der Dinge überhaupt als solche benennen zu können, müssen wir selbst schon aus diesem Lauf der Dinge herausgetreten sein – uns als Angesprochene eines außergewöhnlichen Ereignisses begreifen.
Von innerhalb des üblichen Laufs der Dinge nämlich kann höchstens ein Problem gesehen werden. Wir kennen das von der Klimakatastrophe: Von innerhalb des dominanten Diskurses gesehen sieht sie wie ein technisch handhabbares Problem aus – die richtigen Energiequellen, die richtigen Autos, das richtige Essen und dann wird das schon. Oder aber man kann gleich gar nichts sehen, wenn es angesichts von Waldbränden heißt: „Klimakatastrophe? Den Brand haben doch irgendwelche Migranten gelegt!“. Badiou spricht von der „Unentscheidbarkeit des Ereignisses“ (vgl. 2016, S. 229).
In einem gewissen Sinne also macht die Entscheidung, das Akzeptieren, dass man von einem historischen Ereignis betroffen ist, die Situation erst zu einer außergewöhnlichen Notsituation. Es ist nicht schlicht so, dass es erst eine neutrale Notsituation gibt, die dann eine Entscheidung fordert. In einem gewissen Sinne existiert die Situation aber natürlich vorher – deshalb unsere umgekehrte Schreibweise, die durchaus von links nach rechts zu lesen ist.
Die Dinge beim Namen nennen: Der Signifikant „Migration“
Das „N“ ist das Element, von dem wir eingangs mit Lacan als „fehlendem Signifikanten“ sprachen: Alle Diskurse kreisen um die Situation einer fundamentalen Krise. Um aber eine Situation als Notsituation zu markieren, muss sie „benannt“ werden, wie Badiou sagt (vgl. 2016, S. 231 ff.). Die konkrete Not, um die sich der gestrige Diskurs im Bundestag drehte, wird seit einiger Zeit „Migration“ genannt. Und hier ist der Ort, wo Phantasien am direktesten in den Diskurs eingreifen – dies ist der Ort der Vernähung. Der Signifikant „Migration“ wird mit den Phantasmen von bösartigen, dunkelhäutigen Menschen vernäht, die uns etwas wegnehmen: Sie morden, stehlen, vergewaltigen „unsere“ Frauen. Von diesen Bildern aus wird mit einigen Annahmen unsere Situation neu vernäht: Plötzlich sieht man überall Migration, die Statistiken werden durchwühlt, die Ereignisse des Tages werden auf Beteiligung von Menschen gescannt, die als „migrantisch“ abgestempelt werden, die Bilder und Texte wuchern und zirkulieren in den Medien.
Das wollen wir in folgender Formel schreiben, wobei mit „M“ die Klasse an Bildern und Annahmen zur „Migration“ gemeint ist und mit dem Schrägstrich die „Vernähung“6:
Diese Benennung ist es, die im Sitzungssaal gestern fast unwidersprochen blieb. Dabei ist es keineswegs zwingend, die Not mit „Migration“ zu benennen. Schauen wir uns einmal nur die Sicherheitslage an: Als am 18. Januar Hamburger Hooligans in der Innenstadt randalierten und brutal auf Senior:innen einschlugen, hat niemand von irgendeinem inkompatiblen „Kulturkreis“ gefaselt, die „volle Härte des Gesetzes“ beschworen oder ein radikales „Umdenken in der Politik“ gefordert – wie der Journalist Tarek Baé treffend auf Twitter bemerkte.7
Am 24. Januar erhielten mehrere Moscheen in Essen und Duisburg eine Bombendrohung, woraufhin sie polizeilich evakuiert wurden (vgl. WDR 24.01.24). Wiederum Tarek Baé machte den Wortlaut dieser Drohung öffentlich, in der es heißt, es würde „Schweineblut auf euren Leichen“ verteilt und der mit einem „deutschen Gruß“ unterschrieben ist.8 Im Bundestag ist das kein Thema; in der Bild schafft es diese Meldung nur in die Regionalzeitung des Ruhrgebietes.
Am 19. Januar hat Marvin S. (33) in Dortmund seine Partnerin brutal in ihrer Wohnung getötet (vgl. TAG24 21.01.25)9. Am 25. Januar ermordet ein Deutscher in Eisenach eine ihm wohl gut bekannte Frau in ihrer Wohnung und verletzt eine weitere schwer (MDR 28.01.25). Am selben Tag ermordet ein Vietnamese in Berlin-Marzahn seine vietnamesische Ex-Freundin und lässt sie mit zig Messerstichen im blutigen Fahrstuhl zurück (dpa 28.01.25). Allein in den letzten Tagen wurden schreckliche Dinge aus Gerichtsprozessen bekannt: Tom M. (23) aus Dresden lauerte einer Kollegin an einer Bar auf, um sie in einem Kellerabteil brutal zu ermorden und dann zu vergewaltigen – er brüstete sich gegenüber den Polizist:innen grinsend damit, sie ermordet zu haben. Sie überlebte schwer verletzt (vgl. TAG24 25.01.25). Oliver M. (48) aus Hagen ermordete seine Frau, nachdem sie sich aufgrund körperlicher Übergriffe von ihm getrennt hatte (vgl. Bild 28.01.25). Lukas K. (20) aus Dresden zog bei seiner Halbschwester ein und vergewaltigte und misshandelte sie regelmäßig (vgl. TAG24 31.01.25).
„Migration“ drängt sich hier nicht als verbindendes Element auf. Wenn etwas diese Abscheulichkeiten verbindet, dann ist das: Männlicher Täter misshandelt oder tötet Frau. Wir ziehen nur eine x-beliebige Statistik heran: Von 2022 zu 2023 stiegen die frauenfeindlich motivierten Straftaten nach Bundeskriminalamt um 56%, davon sind 9,3% den Kategorien „ausländische“ oder „religiöse Ideologie“ zugeordnet – 45% Prozent aber „rechts“ (BKA 2024, S. 6). Merz, Spahn, Söder, Linnemann, Weidel, Höcke – niemand fordert einen nationalen Notstand, eine radikale Zeitenwende wegen der Gewalt gegen Frauen.
Wenn ein saudi-arabischer Rechtsradikaler und Unterstützer der AfD, der im Netz für die härteste Abschottung der Grenzen wirbt, in Magdeburg Menschen ermordet – dann wird nur darüber gesprochen, dass er aus Saudi-Arabien kommt. Und wenn ein Afghane in Aschaffenburg ein marokkanisches und ein syrisches Kind ermordet und einen Deutschen, der zur Hilfe geeilt ist – dann ist plötzlich das deutsche Volk als solches in Gefahr. Und Deutschland geht den Bach runter, wenn wir nicht mit voller Härte gegen Ausländer vorgehen. Und das alles, während die tatsächliche Anzahl an Mordopfern in Deutschland seit 2000 stetig gesunken ist – 497 im Jahr 2000 und 299 im Jahr 2023 laut Bundeskriminalamt.10
Wir leben in einem Chaos aus Krisen und Katastrophen: (Handels-)Kriege, Klimakatastrophe, Pandemie, Zerstörung ganzer Landstriche durch Öl- und Gasfelder, Minen und Waldrodungen, Genozide und rechte Revolutionen wie in Argentinien oder den USA. Das deutsche Wirtschaftsmodell, die Binnennachfrage mit geringen Löhnen niedrig zu halten und möglichst viel zu exportieren, scheitert in einer solchen Welt. Die arbeitende Bevölkerung kann sich immer schwerer über Wasser halten und zugleich brechen marode Brücken weg. Schulen und Krankenhäuser sind chronisch unterfinanziert an Belastungsgrenzen.
Das Manöver ist durchsichtig und von faschistischen Kräften in Deutschland spätestens seit PEGIDA minutiös aufgebaut: Dieses ganze Chaos wird in einem einzigen Bild vernäht: dem „illegalen Migranten“. Ich denke, es ist falsch, hier davon zu sprechen, dass „Angst erzeugt“ und dann genutzt wird – wie es die Reden von „Hass und Hetze“ und „Angstmachern“ nahelegen. Die Angst ist da in einem solchen Chaos, sie liegt in unserer Formel im „N“. Und es ist gerade zur Abwehr dieser Angst, dass Menschen sich der Wut auf den „illegalen Migranten“ hingeben: Die diffuse Angst wird zur gerichteten Wut im Vernähen von „M“ mit „N“. Den „illegalen Migranten“ kann man herausschneiden wie ein Krebsgeschwür – die diffuse Angst, die in unserer Weltlage wurzelt, nicht. Das ist schon die Funktion, die „der Jude“ für die Nazis hatte.
Wir können dank dieses Schauspiels im Bundestag unseren eingangs recht lose gelassenen Begriff von „Diskurs“ mit weiterem Inhalt anreichern: Es gibt Elemente, die nicht nur in ihrem Ausgesprochen-Werden (soziale) Verbindlichkeiten begründen, sondern die in einem gewissen Sinne das Zentrum eines Diskurses bilden – Etwas, zu dem sich alle anderen Elemente irgendwie verhalten. In unserem Fall ist das die „Notsituation“, die anerkannt wird. Sie selbst ist aber noch nicht artikulierbar, bloß ein leerer Platz – ich behalf mir gerade, indem ich von einem „Chaos aus Krisen und Katastrophen“ sprach. Um artikulierbar zu sein, muss die „Vernähung“ stattfinden: Es muss einen Signifikanten geben, der sich an diesen Platz stellt und den leeren Platz mit Phantasien auflädt.
Žižek bietet in dieser Hinsicht die Phantasie der Figur „Dieb des Genießens“ (1993, S. 281 [Übers. d. Verf.]) an. Sie verrät sich am klarsten, wo die Phantasie des „illegalen Migranten“ sexualisiert wird: Der „illegale Migrant“ klaut nicht nur und mordet, er vergewaltigt „unsere“ Frauen. Diese Sexualisierung des Phantasmas vom „illegalen Migranten“ ist psychoanalytisch natürlich interessant: Die Figur des „illegalen Migranten“ nimmt hier die Position der männlichen Phantasie des „Urvaters“ ein, der alle Frauen haben kann – Die schmerzhafte Phantasie eines unbegrenzten Genusses, von dem ich ausgeschlossen bin. Hier wird daraus nicht nur ein Verlust, sondern ein Raub: Dieser Genuss wird mir weggenommen. Die in der Folge entfesselte Aggression scheint im Gegensatz zum Genuss in der Tat unbegrenzt zu sein.
Hier liegt die Umwandlung von Angst (ob der Krisen und Katastrophen) in Wut, die dieser Phantasie ihre ungeheure Wirkmacht verleiht. Wie Žižek oft bemerkt hat, ist die wichtige Frage in Bezug auf eine solche Konstellation nicht, ob denn die „illegalen Migranten“ wirklich so ein Problem sind – oder ob „der Jude“ wirklich so viel Macht hat und so viel Unheil anrichtet (vgl. Žižek 2008: 48 ff.). Habeck bemerkte ganz richtig, dass hier keine Sachfrage diskutiert wird. Die viel wichtigere Frage ist: Warum brauchen die neuen Faschisten die Figur des „illegalen Migranten“? Und die Antwort hier scheint mir zu sein: Diese Figur überdeckt die Tatsache, dass die aktuelle Politik nicht mehr in der Lage ist, den Grundaffekt der Angst, den die Weltlage unweigerlich auslöst, effektiv zu bearbeiten – egal, wer regiert (und darauf weist Habeck gerne hin): Die massiven, globalen Krisen bleiben. Der „illegale Migrant“ aber – den kann man dieser Phantasie nach herauswerfen.
Die diskursive Sackgasse des „Inhaltlich Stellens“
Fast alle Redner:innen im gestrigen Bundestag haben nicht nur grundsätzlich eine Notsituation anerkannt, sondern auch diese Vernähung als Notsituation „Migration“ – das hatten zumindest die Ampelparteien auch schon vorher bewiesen, als sie in dieser Legislatur Grenzkontrollen einführten, nach Afghanistan abschoben und das Asylrecht verschärften (worauf Scholz und Habeck nicht müde wurden hinzuweisen).
Sie erkennen die Not „Migration“ aber in ihrem Diskurs über einen Umweg an. Wir wollen uns hier einzig daranhalten, was diese Akteure sagen und halten uns zunächst an die Achse CDU/CSU-FDP. Das ist vielleicht eine der wichtigsten „Lehren aus der Nazi-Zeit“, von denen dieser Tage zurecht so viel die Rede ist: Glaube es jemandem, wenn er offen sagt, was er vorhat. Lindner hat die Strategie gestern am klarsten artikuliert: Er beschrieb die Konstellation „Migration“ nicht so sehr als objektive Notsituation. Er nannte keine Kriminalstatistiken. Er bemühte nur das Gefühl des „zu oft“:
„Aschaffenburg reiht sich leider ein in eine Reihe von entsetzlichen Ereignissen, und zu oft gibt es ein Muster aus Herkunft, früherer Auffälligkeit und nicht vollzogener Ausreisepflicht. (Zwischenrufe von Tino Chrupalla [AfD]: ‚Guck an!‘ – Beatrix von Storch [AfD]: ‚Nein! Ganz neue Erkenntnis!‘ – Stephan Brandner [AfD]: ‚Was Sie alles wissen!‘)“ [27046].
Was Lindner als gegeben voraussetzt, ist – und das ist der Umweg – nicht so sehr die Notsituation selbst, sondern den Umstand, dass eine relevante Kraft in der Bevölkerung diese Notsituation „Migration“ anerkennt. Es geht ums Gefühl: „Das Gefühl, sicher in unserem Land aufgehoben zu sein, ist vielfach verloren gegangen“ [27047]. Er spürt eine Dynamik, eine Stimmung – und ist das nicht genau die, von der Baumann spricht, wenn er die Bewegung „in allen westlichen Ländern“ anruft? Lindner erkennt sie an und möchte nun selbst an der Spitze dieser Bewegung stehen, bevor es die AfD tut: „Wenn die Demokratie hier nicht liefert, dann suchen sich die Menschen im Zweifel eine autoritäre Alternative zur Demokratie“ [27047]. Das ist die „Zeitenwende“, von der Dobrindt sprach: „Die Menschen“11 verlangen nach einer eisernen Hand in der Migrationspolitik – und wir müssen sie liefern, bevor es die AfD tut. Merz sagte bedeutungsschwer:
„Wir sind es den Menschen in unserem Land und nicht zuletzt den Opfern der Gewalttaten der letzten Monate einfach schuldig, jetzt wirklich jeden Versuch zu unternehmen, die illegale Migration zu begrenzen, die ausreisepflichtigen Asylbewerber in Gewahrsam zu nehmen und endlich abzuschieben, meine Damen und Herren. Wir sind es den Menschen schuldig“ [27041].
Die Krise „Migration“ wird also über einen doppelten Umweg anerkannt: Einerseits über die Anderen, die „Mehrheit“ im Land. Andererseits über die „Gefahr von Rechts“, die diese Anderen anzuführen droht. Es ist nicht einzuschätzen und für das Funktionieren ihres Diskurses auch völlig egal, ob Merz, Spahn, Linnemann, Lindner & Co. „wirklich“ glauben, dass die Migration eine derartige Notlage ist – Was zählt, ist das Signal, das man sich an die Spitze der Bewegung setzen möchte, die man auf der Gewinnerstraße wähnt: Seht her, wir liefern euch die Härte, die ihr wollt, aber ohne die „Schmuddeligkeit“ der AfD.
Nun fehlt nur noch ein Element dieses Diskurses, das wir bereits in den Anfangszitaten hörten: Die „rot-grüne Dominanz“, von der Baumann spricht, die „rot-grüne Minderheit“ von der Merz, Lindner und Dobrindt sprechen. Es ist die Idee, dass die dominante Kraft einer Minderheit verhindert, dass man sich an die Spitze der Bewegung „gegen den links-grünen Mainstream“ (Baumann) setzen kann. Man wird gegängelt, gefesselt – und nun ist endlich der Moment gekommen, um sich „aufrechten Ganges“ [Merz, 27042] dieser Dominanz entgegenzustellen. Weidel artikuliert den exakt gleichen Gedanken. Sie sprach von einer „Demokratie ohne Volk, Demokratie ohne Wähler“ – Das „Volk“ will die Härte und wird von der rot-grünen Minderheit ignoriert.
Ich will diesen Diskurs wie folgt formalisieren, wobei „R“ für die „Gefahr von Rechts“ steht und der Pfeil für das Versprechen der (Wieder-)Beherrschung der Notsituation, an die das Ereignis gebunden ist. Das „D“ bezeichnet die rot-grüne Dominanz, von der sich die Entscheidung, die hier wieder in die Nähe der religiösen Erweckung rückt, losreißen muss (dies hätten wir bereits in (2) einfügen können). „M“ wiederum kann nun auch als „Mehrheit“ gelesen werden, von der angenommen wird, dass zumindest sie sich als von einer Notsituation („N“) herausgefordert anerkennt:
Das ist der Diskurs des „Inhaltlich-Stellens“ des Faschismus: Der Faschismus müsse inhaltlich gestellt werden, indem seine Inhalte bezüglich der Migration übernommen und von den Richtigen umgesetzt werden. Dieser Diskurs wird von CDU/CSU und FDP explizit geführt, SPD und Grüne lassen lediglich die „rot-grüne Dominanz“ weg – machen sich dann aber aus derselben Überlegung heraus auch an die Umsetzung von Asylrechtsverschärfungen und beteuern im Bundestag immer wieder, was sie dort alles schon geleistet haben.
Dieser Diskurs setzt die Benennung „Migration“ voraus – egal, was er von ihr hält. Und egal, was die Adressat:innen davon denken: Die Botschaft ist eindeutig. „Migration“ wird als Schema angeboten, dass das Chaos unserer Krisen auf ein Bild reduziert: den „illegalen Migranten“. Die Adressat:in ist als Angegriffene angesprochen, die sich zu verteidigen hat. Diese Vernähung, die von der AfD und den faschistischen Bewegungen etabliert wurde, hat damit schon jene „Schmuddeligkeit“ verloren, die dieser Diskurs nun unter dem Schlagwort der „Demokratiefeindlichkeit“ erfolglos den faschistischen Kräften zurückgeben will. Der rein formale Begriff der „Demokratie“ wendet sich hier nun gegen die Sprecher:innenposition dieses Diskurses: Wenn doch „in der Sache“, wie Merz immer wieder betont, die Anerkennung der Not „Migration“ nichts Schmuddeliges an sich hat – ja, warum wird dann die AfD vom demokratischen Diskurs ausgeschlossen, die sich dieser Sache annehmen will? Merz’ Diskurs begründet hier gerade eine gewisse soziale Verbindlichkeit: „Migration“ ist die fundamentale Krise unserer Zeit. Erkennt man das an, muss dringend gehandelt werden.
Und wichtiger noch: Dieser Diskurs setzt voraus, dass die „Gefahr von rechts“ (AfD) effektiv auf diese Notsituation zu reagieren vermag. Sonst bestünde ja keine Gefahr, dass die faschistischen Bewegungen die „Mehrheit“ mitnehmen, wie es CDU/CSU und FDP befürchten. Deshalb funktioniert die Strategie, den Faschismus mit seinen Inhalten zu besiegen, nicht. Dann ist in der Tat der Umweg in der Anerkennung der Notsituation „Migration“ über die „Gefahr von rechts“, den meine Formel (3) darstellt, genau das: ein unnötiger Umweg. Und als solcher wird er bei vielen der Adressat:innen ankommen, die kurz- bis mittelfristig keine Mühen haben werden, diesen Umweg herauszukürzen.
Der unnötig verkomplizierte Diskurs von (3) fordert schon den einfachen, den direkten Diskurs von (2), den er voraussetzt, um ihn zu verkomplizieren. (2), also der Diskurs der AfD und der angeschlossenen faschistischen Bewegungen, ist in dieser Hinsicht „das Original“, wie es dieser Tage auch oft als Kritik am „Inhaltlich stellen“ zu hören ist: Wer die Inhalte anerkennt, der präsentiert die AfD als das „Original“. Und Weidel bringt das treffend auf die Formel, dass bei der CDU/CSU das Prinzip gelte „Abschreiben statt Abschieben“ [27051]. Sie hat recht. Und zwar den eigenen Verbindlichkeiten nach, die der CDU/CSU-Diskurs eingeht: Sie sagen ja selbst, man müsse nun die Inhalte bei der AfD abschreiben, um ihnen die Wähler abzugraben – genau das heißt es, sie „inhaltlich zu stellen“.
Die AfD scheint in dieser Hinsicht die einzige Kraft im Diskurs der gestrigen Sitzung zu sein, die die strategische Situation realistisch einschätzt – mit einem ungeheuren Genuss daran. Als Reichinnek (Die Linke) ihre bewegte Rede hielt, in der sie zum Widerstand aufrief, ergab sich folgender, treffender Zwischenruf von der AfD: „Aber nur wenige Stunden nach der Tat sprachen Sie, Herr Scholz, von Terror, ohne die Hintergründe zu kennen. Warum betreiben Sie das Geschäft der AfD? (Zwischenruf von Dr. Rainer Rothfuß [AfD]: ‚Alle betreiben das Geschäft der AfD!‘) statt in dieser schweren Situation zu versuchen, den Menschen ihre Ängste zu nehmen?“ [27056] – „Alle betreiben das Geschäft der AfD“, Rothfuß hat Recht.
Am brutalsten traf Baumann (AfD) den Nagel auf den Kopf, in seiner Rede, die wir eingangs zitierten: Der Diskurs, den Merz vorantreibt, verstrickt sich in den Widerspruch, die Not „Migration“ anzuerkennen, die Fessel der „rot-grünen Dominanz“ anzuerkennen und doch immer wieder eine Schmuddeligkeit für genau diese Ideen konstruieren zu wollen, um sich von der AfD abzugrenzen – Diese Abgrenzung wird dann aber verzweifelt und leer, man hat sich selbst jeder Grundlage für eine Abgrenzung beraubt. Das heißt konkret: Man grenzt sich nur noch über den Signifikanten „Demokratie“ von der AfD ab. Der aber ist selbst leer. Er eignet sich genauso, um zu sagen: „Die Mehrheit im Land möchte nun einmal eine schwarz-blaue Regierung“.
Baumann hat daher Recht (und einen ungeheuer siegesgewissen Genuss), wenn er die Inkonsequenz Merz’ im Bild seiner „schlotternden Knie“ bloßstellt. Es wurde bereits häufig bemerkt: Nach der Ergebnisverkündung der Abstimmung saßen alle Fraktionen außer der feiernden und feixenden AfD regungslos auf ihren Stühlen. Merz blickte glasig vor sich hin, ihm schien klar zu sein, dass er sich nun auf einen Weg begeben hat, der kein Umkehren zulässt – und deshalb muss er diese Umkehr auf SPD und Grüne projizieren: Bitte, kommt zur Vernunft, war seine Botschaft. Implizit mag er sagen: Bitte, holt mich aus dieser Sackgasse heraus.
Als es nach der Abstimmung an ihm war, zu sprechen, trat Merz mechanisch ans Rednerpult und sprach bedeutungsschwer, bitterernst: „Sie haben das Ergebnis der Abstimmung zur Kenntnis genommen. Wir auch“. Und dann direkt ein Satz, der nur als Drohung gehört werden kann, als Versicherung, dass er keinen Ausweg aus dieser Situation sieht als die Flucht nach vorn: „Wir haben am Freitag eine weitere Abstimmung vor uns“. Und zugleich die „schlotternden Knie“: „Wenn es hier heute eine solche Mehrheit gegeben hat, dann bedaure ich das“ [27082].
Die Weichenstellungen des Diskurses und die Rolle von Rot-Grün
Der Diskurs (3) produziert nicht nur die diskursive Sackgasse12, dass die gesellschaftliche Dynamik zur Anerkennung der Notsituation „Migration“ gedrängt wird, dass ein gewisser Diskurs, der über „Migration“ vernäht ist, fortgeführt wird – womit die AfD stets das „Original“ ist, „the real thing“. Die Anerkennung der Not „Migration“ produziert auch eine pragmatische Sackgasse – einen klassischen „slippery slope“13: Wenn nun die Deportationslager gebaut werden, die Merz in seinem 5-Punkte-Plan fordert, der Familiennachzug eingeschränkt, drakonische Grenzkontrollen unter massiver Aufrüstung des Polizeiapparates durchgesetzt und was nicht noch alles (denn das sind die sozialen Verbindlichkeiten, die diesen Diskurs ausmachen: Starke Hand um jeden Preis – es geht schließlich um eine beispiellose Notsituation) – und dann trotzdem, weil diese Dinge nicht in einem direkten Zusammenhang stehen, ein neues Aschaffenburg durch den Diskurs geistert – ja, was wird dann passieren? Die Maßnahmen müssten immer schärfer, immer härter werden, um den Verbindlichkeiten dieses Diskurses nachzukommen – man verpflichtete sich ja, der Not „Migration“ beizukommen. Es ist dieselbe Dynamik, die die Figur des „Juden“ produzierte: Je brutaler gegen ihn vorgegangen wird, desto mächtiger wird er aus Perspektive des Wahns, der die Situation mit ihm vernäht.
Das ist der Weg, der zur „Endlösung“ führt. An seinem Anfang ist das Grauen noch nicht präsent: Nur noch eine schärfere Grenzkontrolle, nur noch eine Masseninhaftierung – dann wird die Situation schon wieder unter Kontrolle sein. Aber die eine Masseninhaftierung fordert die nächste. Das eine Aschaffenburg wird das nächste nach sich ziehen – weil es um die Art und Weise geht, wie es diskursiv aufgenommen wird: Plötzlich sieht man eine Auftürmung immer weiterer Gräueltaten, immer weiterer Angriffe, gegen die man sich verteidigen muss. Wir sind dann nur noch wenige Aschaffenburgs von einer neuen Reichskristallnacht entfernt.
Und der Diskurs (3), der sich als endlich von den rot-grünen Fesseln losgerissen präsentiert – er lässt kein Einlenken mehr zu. Das heißt nicht, dass die SPD oder die Grünen nicht in naher Zukunft zu irgendeiner Form der Einigung mit CDU/CSU kommen. Das ist sogar wahrscheinlich – denn ihr Diskurs ist im Kern der gleiche. SPD und Grüne haben sich längst der Anerkennung der Not „Migration“ verschrieben. Das zeigen die Maßnahmen, die während der Ampelregierung umgesetzt wurden, ebenso wie die Reden, die gestern gehalten wurden. Und diese Maßnahmen und Reden sind die Nadelstiche, die die Notsituation immer weiter mit „Migration“ vernähen.
Die Notsituation wurde im Bundestag nicht auf andere Weise vernäht – wie es als einzige Reichinnek (Die Linke) zumindest in Ansätzen angeboten hat. Sie sprach von psycho-sozialer Betreuung, Arbeitsangeboten und Integration für Geflüchtete. Habeck und Scholz hingegen kauften sich in die Strategie des Diskurses (3) ein: Sie verwiesen auf die großen Verschärfungen, die die Ampel bereits eingeführt hat – und bieten sich damit selbst als diejenigen an, die ohne „Schmuddeligkeit“ die Not „Migration“ bearbeiten. Ihre Art, die Abgrenzung wiederherzustellen, die damit verloren geht, ist ganz ähnlich formal und letztlich widersprüchlich wie die Art, wie CDU/CSU und FDP das versuchen.
Habeck sieht ganz richtig einen Aspekt des „slippery slopes“ des Diskurses (3):
„Ich will drittens sagen, dass das Argument, das so nebenbei vorgetragen wurde mit Blick auf die noch regierungstragenden Fraktionen – dass das eine politische Minderheit ist –, (Zwischenruf von Stephan Brandner [AfD]: ‚Das ist die harte Wahrheit!‘) befürchte ich, uns an irgendeiner Stelle demnächst wieder begegnen wird mit der Begründung, dass die politische Mehrheit der Bevölkerung dann auch in der Regierung abgebildet wird“ [27043].
Richtig. Wenn die „Mehrheit“ anerkannt wird, dann wendet sich das Gerede von „Demokratie“ gegen einen: Ja, die Mehrheit muss doch abgebildet sein, das ist der Wählerwille! Diesen Weg hat der Diskurs (3) für die CDU/CSU nach der Wahl eröffnet. Aber genau diese „Mehrheit“ erkennt Habeck voll und ganz an.
So kommt dann folgerichtig in Habecks Rede eine ganze Reihe an Beteuerungen, wie wichtig die Sicherheit ist, wie schnell und hart abgeschoben werden müsse und so fort. Auch er erkennt die „Mehrheit“ an, die er nicht verlieren will. Und zugleich muss er Abgrenzung herstellen. Das geht dann in der Tat nicht mehr als „Sachfrage“ – von der Habeck ja, und in gewisser Weise völlig zurecht, beteuerte, dass es um sie nicht geht. Das geht dann nur noch rein formal: Über Recht und Anstand, über „Demokratie“. Das Mantra von Habeck und auch Scholz am gestrigen Tage war: Die Vorschläge sind rechtswidrig. Nicht falsch, sondern rechtswidrig. Das ist aus Position der Regierung, die Recht ändern und schaffen kann und soll, in der Tat befremdlich, wie verschiedene Redner der Achse CDU/CSU-FDP bemerkten. Und das setzt sich fort, wenn er, Habeck, dann doch ansetzt, etwas zur „Sache“ zu sagen: Es kommt nur die Berufung auf „Recht“ bzw. „Rechtswidrigkeit“ der Vorschläge – weil die Not „Migration“ ja inhaltlich längst anerkannt ist und es nun nur darum geht, dass die Richtigen an der Spitze dieser Bewegung stehen. Man diskutiert nicht mehr für die politische Falschheit der Vernähung, sondern nur noch für die richtige Form, in der sich das präsentieren soll: rechtsgültig.
Im Hintergrund mag immer noch Habecks Idee einer neuen „politischen Mitte“ stehen, wie er sie spätestens seit seinem Von hier an anders (2021) artikuliert. Es müssen „alle mitgenommen“ werden, mit den richtigen Kompromissen und offenen Karten. Deshalb hat er die Gaskrise um den Angriff Russlands herum nicht zum Gasausstieg genutzt, wie es sich für einen kurzen historischen Moment als Möglichkeit auftat. Deshalb hat er LNG-Terminals im Schnellverfahren bauen lassen, Grenzkontrollen eingeführt, das Asylrecht verschärft, ein strenges „Sicherheitspaket“ geschnürt (das dann an der CDU/CSU scheiterte) und so fort. Aus dieser Position heraus ist es wahrscheinlich, dass sich SPD und/oder Grüne mit der CDU/CSU in irgendeiner Form einigen werden. Und das gerade, weil diese Parteien grundsätzlich denselben Diskurs führen. Deshalb können sie nur hoffen, dass sie die CDU/CSU als stimm-starke Partei zurück auf ihren Weg kriegen – um dann mit ihnen gemeinsam die neue Bewegung zur Ausschaltung der „illegalen Migranten“ anzuführen (sie würden wohl sagen: „den Wähler ernst nehmen, den Rechtsradikalen die Stimmen abgraben“ oder etwas in der Art – aber es läuft aufs Gleiche hinaus).
Aber es ist nicht nur so, dass die Dynamik dieses Spiels sich gegen alle anderen Fraktionen als die AfD richtet – die in naher Zukunft wenn schon keine absolute Mehrheit, so doch zumindest eine Mehrheit haben wird, die jede andere Koalition verunmöglicht. Es ist auch so, dass wenn dieser Fall eintritt, die CDU/CSU mit dem Weg, den sie eingeschlagen hat, kaum eine andere Möglichkeit hat, als ihm zu folgen: Dann wird aus dem „Wir setzen uns an die Spitze dieser Bewegung“ das alte „Wir machen das jetzt doch mit denen zusammen, um sie einzuhegen, kontrollieren zu können“. Aber die Kontrolle ist jetzt schon verloren. Das erkennt anscheinend die AfD als einzige Partei an, wenn sie johlend die Widersprüche im Diskurs (3) ausnutzt und die anderen Parteien vor sich hertreibt.
Mehr noch: Mindestens ein Teil der neuen Merz-Fraktion, die in den letzten Jahren die CDU/CSU radikal umgekrempelt hat und die Kritik aus den eigenen Reihen im Gestus des „Das sind doch alles verweichlichte Merkelisten“ abschmettert (Merz, Spahn, Linnemann, Dobrindt, Klöckner, Söder), scheint die Koalition mit der AfD aktiv vorzubereiten und diese Koalition nicht nur als das leidige Resultat einer strategisch-diskursiven Sackgasse zu akzeptieren: Linnemann mit seinem Ende des „Brandmauer-Geredes“. Und Spahn antworte der heute Show (15.11.2024) bereits im November süffisant auf die Frage nach seinem möglichen Ministeramt in der nächsten GroKo: „GroKo ist nicht die Zielmarke. Dieses Land ist so wenig links. Tut mir leid, liebe heute Show, dieses Land ist so wenig links. Es gibt auch andere Mehrheiten“. Klarer kann aktuell kaum benannt werden, dass schwarz-blau die „Zielmarke“ ist.
Diese CDU/CSU hat die gleichen politischen Vorbilder, die auch Baumann (AfD) als Teil einer globalen Bewegung „in allen westlichen Ländern“ begreift: Trump, Meloni, Wilders und Co. – Spahn sagt ganz offen, dass Trump ein solches Vorbild ist. Linnemann lobt dessen „Migrationspolitik“ (ntv 28.01.25), die Massendeportationen, Konzentrationslager und den Einsatz der Armee im Inneren bedeutet. Die „Merz 2025“ Pappschilder auf dem Parteitag übernehmen schon das Design und die ästhetische Idee von Trump und dessen Wahlkampf-Strategie. CDU/CSU-Mitglieder reisten in die USA, um von Trump zu lernen. So zum Beispiel bei Thorsten Freis Treffen mit Trump-Strateg:innen (vgl. Berliner Zeitung 16.07.24) oder Spahns auch in den eigenen Reihen kritisierter Reise zum Nominierungsparteitag der Republikaner im Juli 2024 (vgl. RND 18.07.24). Kurz darauf trafen Unionspolitiker:innen, Republikaner und neu-rechte Lobbyist:innen bei einer Konferenz in Berlin zusammen (vgl. RND 13.08.24). Und wenig später verkündete dann Linnemann feierlich, was langsam ohnehin klar war: Trump mache „richtig gute Politik“ und man wolle sich an seinem Wahlkampf orientieren (HNA 17.12.24).
Und das zeigt sich auch auf taktischer Ebene. Söder und Martin Huber (CSU) sprachen 2023 plötzlich von nichts anderem mehr als von den Grünen (bei Trump und Musk entspricht diesem Feindbild der „woke mind virus“, bei der AfD sind das die „linksgrünen Eliten“). Das ging beim sogenannten „Heizungsgesetz“ los, das von der großen Koalition beschlossen und von Habeck nur umgesetzt wurde. Die beispiellose Kampagne, die CDU/CSU und FDP im Verbund mit AfD und Springer-Medien gegen dieses Gesetz auf die Beine gestellt haben, war der Gradmesser für einen ganz neuen Ton, für eine ganz neue Schamlosigkeit – unabhängig davon, was man jetzt konkret von dem Gesetz hält.
Das setzte sich in diesem Jahr fort: Spahn und mit ihm die ganze Merz-Fraktion in der CDU/CSU schoss sofort mit aller Härte gegen Habecks Vorschlag, Kapitalerträge bei den Beiträgen zur Sozialversicherung mit einzubeziehen. Noch im August 2022 hatten exakt dasselbe Kai Whittaker und Markus Reichel von der CDU gefordert (Reichel u. Whittaker 2022). Man kann alle politischen Projekte kritisieren und anderer Meinung sein, natürlich. Aber der Vorschlag wurde wie alles, was von den Grünen kommt, durch CDU/CSU direkt als Angriff auf das deutsche Volk dargestellt – das ist die Taktik, die Trump gegenüber den Demokraten in den USA fuhr und fährt. Das hat Spahn wohl dort gelernt.
Kurz nach der Kampagne gegen das Heizungsgesetz und nachdem das schändliche Flugblatt Aiwangers 2023 öffentlich wurde (was noch zu Merkel-Zeiten zu harten Konsequenzen gegenüber dem Koalitionspartner geführt hätte) wurde das Rechtsradikalen-Treffen in Potsdam publik. Worüber aber sehr wenig gesprochen wurde: Dort waren auch viele Mitglieder der CDU anwesend, die den „Masterplan zur Remigration“ des Nazis Martin Sellner mit planten und diskutieren. Von der CDU waren dort: Ulrich Vosgerau, Simone Baum, Michaela Schneider (vgl. RND 12.01.24) und der Besitzer des Landhauses „Adlon“, in dem das Treffen stattfand, Wilhelm Wilderink (vgl. radioeins 29.01.24).
Die Rechts-Radikalisierung der CDU/CSU ging seither Schlag auf Schlag, und undenkbare Dinge sind möglich geworden: 2016 warb die NPD mit einem Wahlplakat, „Konsequent abschieben“ stand dort über einem Flugzeug. Geschmacklos, an die dunkelste deutsche Vergangenheit von Deportationen erinnernd – so war damals die völlig richtige Reaktion selbst aus konservativen CDU/CSU-Kreisen. 9 Jahre später, nämlich heute, wirbt die CSU mit fast dem gleichen Plakat (vgl. schwäbische 10.01.25). Der Wahlwerbespot der CDU für 202514 sieht fast genauso aus wie ein AfD Motivationsvideo von 202115 – was das rechte Kampfblatt Junge Freiheit ebenso süffisant festzustellen wusste wie Weidel ihr „Abschreiben statt Abschieben“ im Bundestag sagte (vgl. Junge Freiheit 14.01.25).
Unter diesen Umständen muss man konstatieren: Was ich als Diskurs (3) herausgearbeitet habe, ist für einen relevanten Teil der CDU/CSU nur eine Nebelkerze. Diese Leute scheinen eher davon auszugehen, dass zum aktuellen Zeitpunkt der Diskurs (2) – also der Diskurs der AfD und des neuen Faschismus – in Deutschland noch nicht öffentlich geführt werden kann. Und in der Folge nutzen sie Diskurs (3), weil sie genau wissen, was ich hier versucht habe, herauszuarbeiten: Die Resultate beider Diskurse sind dieselben. Am Ende führen sie zu einem neuen Faschismus. Deshalb ist es falsch, nun zu denken, man könnte einfach das Führungspersonal der CDU/CSU austauschen – zum Beispiel in einem parteiinternen Putsch der Fraktion Daniel Günther & Co. – und dann wäre die „Demokratie“ gerettet. Auch die Teile der CDU/CSU, die nicht auf Merz-Kurs sind, haben in den letzten Jahren ebenso klar gemacht, dass sie den Diskurs (3) führen – wenngleich ehrlich. Sie erkennen die Not „Migration“ an. Damit wäre ein parteiinterner Putsch höchstens eine Verzögerung des Sieges des neuen Faschismus – wobei eine Verzögerung natürlich mehr Zeit offen hielte für völlig unerwartete Dynamiken.
Too Late to Awaken – Žižek
Ich möchte abschließend die mögliche Blamage wagen, die Szenarien aufzuzeigen, die sich aus dieser Lage ergeben.
(a) Die Wahlergebnisse entsprechen in etwa den aktuellen Umfragen (~29% CDU/CSU, ~21% AfD, ~15% SPD, ~14% Grüne + evtl. Die Linke mit genügend Grundmandaten oder knapp über 5%, vgl. Forschungsgruppe Wahlen, 29.01.25)16.
(a.1) Das Szenario „von Papen“: Die Merz-Fraktion sieht nun den Moment für die Koalition mit der AfD, wahrscheinlich nach gescheiterten Schein-Koalitionsverhandlungen mit der SPD wie in Österreich – um sagen zu können „Wir haben alles versucht“. Wir werden Gerede von der „Mehrheit“ im Land hören, von „staatsmännischer Verantwortung“, weil das Land ohne stabile Regierung handlungsunfähig ist, von der „Einhegung“ der Faschisten. Das wäre eine Regierung unter Regie des Diskurses (2). Damit würde ein faschistischer Umbau Deutschlands schon jetzt anfangen, der vielleicht zu Beginn wie etwas irgendwo zwischen PiS in Polen und Republikanern in den USA aussehen wird. Herr Merz wird nur folgen können – da hat Baumann Recht.
(a.2) Das Szenario „GroKo“: Die Grünen oder die SPD sehen sich aus ebenjener „staatsmännischen Verantwortung“ genötigt, der Union maximal entgegenzukommen, während zugleich die Union kalte Füße ob der harschen Reaktion auf ihren neuen Kurs bekommt. Das wäre eine Regierung unter der Regie des Diskurses (3). Damit wäre dann in weiteren vier Jahren – so denn diese Koalition überhaupt so lange überlebt und nicht auf halbem Weg die Merz-Fraktion bei irgendeinem Aschaffenburg Neuwahlen provoziert – der Boden bereitet, damit bei der nächsten Wahl definitiv keine Koalition ohne die AfD zustande kommen kann.
(b) Das Szenario „Absturz der Union“: Die CDU/CSU stürzen ob ihrer faschistischen Selbstoffenbarung ab, während die AfD zulegt – da die Anerkennung der Not „Migration“ um sich greift. Einige Stimmen der CDU/CSU verteilen sich auf SPD, Grüne und Die Linke. Unter diesen Umständen würde die Merz-Fraktion kaum anders können, als ihr „all in“ zu Ende zu führen – da Union/AfD wohl ohnehin die einzige Mehrheit wäre und eine Minderheitsregierung völlig handlungsunfähig wäre. Wir wären wieder beim faschistischen Umbau.
(c) Das Szenario „Tyrannensturz“: Es gibt einen völlig unerwarteten innerparteilichen Putsch gegen die Merz-Fraktion noch vor der Wahl. Es ist nicht abzusehen, inwieweit ein solcher Putsch das Wahlergebnis verändern würde. Es mag danach eine schwarz-grüne oder schwarz-rote Koalition möglich sein, was sicher das Ziel der Putsch-Fraktion wäre. Das Resultat wäre eine Regierung unter der Regie des Diskurses (3). Mit dem gleichen Resultat wie bei (a.2). Oder es mag gleich in Gänze keine Koalition ohne AfD möglich sein. Unter diesen Umständen gäbe es für die neue Putsch-Fraktion in der Union nur die Möglichkeit einer weitestgehend handlungsunfähigen Minderheitsregierung. Eventuell könnte sie mit einer LINKE zusammenarbeiten, die genügend Grundmandate erhielte oder die 5%-Hürde überwunden hätte. Das Resultat wäre eine Regierung, die sich wegen der LINKE von der völligen Vorherrschaft des Diskurses (3) entfernen müsste – um zugleich aber handlungsunfähig zu werden. Es dürfte ein ähnlicher Stillstand wie zu GroKo-Zeiten entstehen, der ja offensichtlich in der Lage ist – schließlich ist dies schon einmal geschehen – den Boden für den Faschismus zu bereiten. Nach vier Jahren wäre die AfD an der Macht.
Das lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Es ist verloren. Die Frage ist nicht mehr ob, sondern wann der neue Faschismus in Deutschland wuchert. Und eigentlich ist die Frage des „Wann“ nur von untergeordneter, taktischer Bedeutung. Die eigentlich wichtige Einsicht ist schlicht: Der neue Faschismus kommt. Diesen Umstand müssen wir akzeptieren. Wir dürfen uns nicht der falschen Sicherheit des „Es wird schon alles nicht so schlimm“ hingeben. Ich möchte daher in einem letzten Schritt anzufangen versuchen, daraus wirklich die Konsequenzen zu ziehen.
Wir versuchen damit den Weg, den Žižek in seinem Too Late Too Awaken. What lies ahead when there is no future? vorgeschlagen hat: „was, wenn der einzige Weg, eine Katastrophe abzuwenden, darin liegt, anzunehmen, dass sie bereits stattgefunden hat – dass es bereits fünf Minuten nach Zwölf ist?“ (Žižek 2023, S. 1 [Übers. d. Verf.]). Wir akzeptieren, dass es vorbei ist – der Faschismus kommt. Die Frage ist dann: Wie hätten wir das verhindern können? Was uns auch immer in den Sinn kommen mag: Verbotsverfahren für die AfD; Abbruch der Zusammenarbeit mit CDU/CSU; Social Media Kampagnen, die der AfD auf TikTok & Co. etwas entgegensetzen; Verbot von Twitter/X … – das Entscheidende ist: Die Spielregeln, mit denen wir auf das politische Geschehen schauen, werden sich verändert haben.
Der Blickwinkel wird dann in etwa zu demjenigen, mit dem wir auf die späte Weimarer Republik schauen. Es scheint schlicht und ergreifend völlig wahnsinnig, da endlos über rechtliche Details eines Verbotsverfahrens für die damalige NSDAP zu diskutieren. Es scheint völlig wahnsinnig, dass die Zivilgesellschaft damals nicht deren Zeitungen verbrannt und die Parteizentralen zertrümmert hatte. Die formalen Spielregeln der parlamentarischen Demokratie, die sich in ihrem effektiven Vorgehen gegen die Gefahr beständig selbst blockiert hatte – sie erscheinen aus unserer heutigen Sicht als völlig wahnsinnig. Was zum Teufel kümmert die Geschäftsordnung, wenn es darum geht, Vernichtungslager zu verhindern?
Und das ist der Blick, zu dem uns die Anerkennung der Tatsache führt, dass ein neuer Faschismus kommt. Wir befinden uns in der Tat in einer „offenen Feldschlacht“ – und wir müssen damit leben, dass die parlamentarische Front dieser Schlacht verloren ist. Der Kampf gegen den neuen Faschismus wird in absehbarer Zeit im Dämmerlicht oder gleich ganz im Untergrund geführt werden müssen.
Zumindest für die nächsten Jahre dürften aber Parteiverbote von Parteien, die im Parlament sitzen, auf zu große Schwierigkeiten für die Faschisten stoßen. Das ist – hoffentlich – ein langsamer Prozess. Und für diese Zeit wäre es von unschätzbarem Wert, eine Partei im Parlament zu haben, die als Organisationszentrale und Rückzugsort für diesen Kampf dienen kann.
Reichinnek in ihrer Rede war die einzige, die die Dominanz des Diskurses (3) und die Not „Migration“ nicht völlig anerkannt hat. Sie hätte nach meinem Geschmack noch klarer sagen müssen, dass „Migration“ eine Bullshit-Vernähung mit unserer aktuellen Situation ist. Aber sie hat zumindest klar gemacht, dass sie dieses Spiel nicht mitspielt – und das Wahlprogramm der Partei enthält die einzigen Projekte, die einem Großteil der arbeitenden Bevölkerung in diesen schwierigen Zeiten tatsächlich Entlastung bieten würde (Erhöhung des Mindestlohn, Steuerentlastungen unten und Steuererhöhungen oben, Übergewinne für die Allgemeinheit abschöpfen, Mieten wirksam deckeln, Klimaschutz17 etc.).
Ich war gestern stolz, ein Mitglied dieser Partei zu sein. Nicht so sehr wegen des in weiten Teilen richtigen Wahlprogramms. Das spielt keine große Rolle mehr – es werden keine Sachfragen diskutiert. Sondern weil Die Linke als einzige Partei verstanden hat, dass sich die Spielregeln ändern und wir in einen ernsthaften Kampf gegen den Faschismus eingetreten sind. Reichinnek ließ keinen Zweifel, dass sie in diesem Kampf an der Seite aller anständigen Menschen steht, die ihn führen wollen. „Wir sind die Brandmauer“ rief sie uns zu – sie rief es uns nicht ins Gewissen (das „Gewissen“ war die zynische Sprache von Merz an diesem Tag). Sie rief es uns von der gleichen Seite der Barrikaden aus zu, Schulter an Schulter im selben Kampf. Eine solche Partei ist wichtig im Parlament – nicht zuletzt auch wegen der Parteistiftung, die ein großes Netzwerk an Strukturen und Projekten aufrechterhält, die in diesem Kampf wichtig sein werden.
Wenn es also in gut drei Wochen in die Wahlurnen geht zu dem, was durchaus die letzte demokratische Wahl in der Bundesrepublik sein könnte – dann ist es wichtig, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass dieses Wahlergebnis den Faschismus in seinem parlamentarischen Siegeszug nicht aufhalten wird. Es verschafft uns lediglich bessere Bedingungen, um ihn zu bekämpfen. Auf diesen Kampf müssen wir uns vorbereiten. Es ziehen dunkle Zeiten über uns auf und wir müssen bereit sein, schrieb mir Volodymyr von der Front im Donbass. Und das sagt ein Mensch, der bereits dem absoluten Grauen im Blick seiner sterbenden Kameraden begegnet ist.
30.01.2025
1Dieses wie alle weiteren Zitate von der Bundestagssitzung des 29.01.2025 aus dem offiziellen Plenarprotokoll 20/209. Die Quelle findet sich im Literaturverzeichnis, ich gebe im Text für Zitate aus diesem Protokoll nur die Seitennummer in eckigen Klammern an.
2Ohne irgendwelche darüber hinausgehenden konstruktivistischen Metaphysiken zu übernehmen: Was ein Diskurs erschafft, ist nicht einfach „ausgedacht“ – es ist sehr real.
3Althusser spricht von der „Ideologie“. Es entstehen interessante theoretische Fragen aus dem Unterschied zwischen „Diskurs“ und „Ideologie“, die insbesondere auch mit der Frage nach dem Verhältnis zur Ökonomie zusammenhängen – die Althusser in marxscher Tradition als „Unterbau“ begreift. Ich will in diese Debatten hier allerdings nicht einsteigen, sondern die Tatsache, dass Althusser zur Analyse der „Ideologie“ auf strukturalistische und also auch sprachtheoretische Werkzeuge zurückgreift, hier etwas rabiat so auslegen, dass wir seine „Ideologie“ lose synonym mit dem verwenden, was ich hier „Diskurs“ nenne.
4Was wir hier die Relation der „Gründung“ nennen, wird mit dem Zeichen des Beweises „⊢“ geschrieben. In der formalen Logik würde man dieses Zeichen verwenden, um die Relation des „x beweist y“ zu bezeichnen: Irgendeine Menge an Annahmen beweist eine andere Aussage. Auch das ist, wie die Wahl des „E“, von der wir gleich sprechen werden, lose inspiriert von Badiou: Bei ihm gibt es die „Deduktion“, die die Treue zu einem Ereignis produziert. Man könnte sagen: Die Entscheidung gründet eine Notsituation dadurch, dass sie eine Reihe von Annahmen und Bildern, die die Situation zur Notsituation machen, verwendet, um die Situation konsistent zu machen, sie zu strukturieren – in etwa wie eine Menge an Annahmen in der Logik wuchert: Sie vernäht in einem langsamen Prozess der Beweisführungen, der Deduktionen, die Klasse aller möglichen Aussagen neu. Einiges lässt sich beweisen, anderes widerlegen, wieder anderes weder-noch. Wir werden das gleich präzisieren, wenn wir auf Seiten des N die „Migration“ als diese Reihe von Annahmen und Bildern ausmachen. Unter ihrem Banner wird die Situation neu strukturiert und zur Notsituation.
5Oder gar, religiöser konnotiert, als „Erweckung“.
6Ein Terminus, den ich, wie gesagt, von Lacan übernehme – ohne hier in die Einzelheiten seiner theoretischen Ausarbeitung und der Probleme, die sich dabei ergeben, einzusteigen. Die Operation des „Vernähens“ bestimmt Lacan in verschiedenen Begriffen wie dem point de capiton (dt. Stepppunkt), der später in den Begriff des „Herrensignifikanten“ (S1) transformiert wird. In der Metapher des „Nähens“ taucht sie beiläufig in Seminar XI (vgl. Lacan 1996, S. 29) und schon expliziter ein wenig später in der ersten Ausgabe der Cahiers pour l’Analyse auf, für die Lacan den Artikel „La science et la verité“ (1966) beisteuerte, der zugleich die Eröffnungssitzung seines Seminars XIII war. Von dort wird Jacques-Alain Miller die Metapher aufnehmen und zum zentralen Element einer „Logik des Signifikanten“ erklären (vgl. Miller 1966).
7https://x.com/Tarek_Bae/status/1880729018896716236.
8https://x.com/Tarek_Bae/status/1882874986945257537/photo/1.
9Bei einigen dieser Taten zitiere ich fragwürdige Quellen – bei anderen wird teils nicht der Name oder die Nationalität genannt wird. Der Punkt dieser Collage hängt aber ohnehin nicht entscheidend von der Wahrheit aller der verwendeten Elemente ab. Dieser Punkt ist schlicht: Mit dem Material dessen, was im medialen Raum zirkuliert, ließen sich auch ganz andere Vernähungen als „Migration“ vornehmen.
10Die Daten der einzelnen Berichte des BKA wurden von Statista aufgearbeitet: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2229/umfrage/mordopfer-in-deutschland-entwicklung-seit-1987/.
11Es sei nur nebenbei bemerkt, dass „die Menschen“ – womit wohl nur die Umfragen der Polit-Barometer gemeint sein können – laut Umfragen ebenso stärkere Besteuerung hoher Einkommen wollen (70% laut Politbarometer im ZDF vom 24.01.2025). Dort sieht man niemanden von der CDU/CSU und Konsorten die „Mehrheit“ einfach als gegeben akzeptieren, um sich dann an ihre Spitze zu stellen. Ebenso sind massenhafte Demonstrationen gegen Rechtsradikalismus anscheinend kein Ausdruck „der Menschen“, des „Volkes“.
12Ich will nebenbei die theoretisch hochinteressante Frage anzeigen, warum die Worte dieses Diskurses so eine bindende Wirkung haben, dass sie eine Sackgasse produzieren können – aber Merz’ eigene Worte anscheinend nicht, die er noch vor wenigen Wochen feierlich und ernst sinngemäß verkündete: „Es wird keinerlei Zusammenarbeit mit der AfD geben! Mehrheiten werden einzig und allein mit den demokratischen Parteien gesucht!“. Was, wann und von wem gesagt wird – das hat Konsequenzen. Das sehen wir nun an der beispiellosen Krise, in die die CDU/CSU sich manövriert hat. Aber offenbar nicht alle Worte unter allen Umständen. Diese Unterscheidung muss theoretisch fundiert werden, was ich hier nicht leisten kann.
13Als „slippery slope“ (dt. rutschiger Abhang) bezeichnet man eine Verkettung von Umständen, die mit harmlosen Entscheidungen anfängt und immer radikalere Konsequenzen produziert. Es ist das Bild der Lawine, das Kästner anlässlich des Gedenkens an die Bücherverbrennung an der Humboldt-Universität 1933 bemühte: „Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf“. Kästner, der damals selbst zugegen war, als auch seine Bücher von Studierenden verbrannt wurden, endet seine Rede mit einem Satz, der etwas weniger beachtet wurde als das Bild der Lawine: „Es ist eine Sache des Terminkalenders, nicht des Heroismus“. Er meinte: Trotz all der menschlichen Größe der Helden, die es gab (er nennt Carl von Ossietzky und Hans Otto), vermochte das 1933 nichts mehr zu ändern. Wie ich nun begründen will, denke ich, wir befinden uns schon in dieser Lage. Vgl. Kästner 1958.
14https://www.youtube.com/watch?v=aOR8U4sKbhc [30.01.2025].
15https://www.youtube.com/watch?v=mq8pLLv0FCQ [30.01.2025].
16https://www.zdf.de/nachrichten/politik/politbarometer-union-antrag-afd-100. html [30.01.2025].
17Das ist allerdings nochmal ein Thema, das ich hier nicht aufmachen kann. Ganz analog zur Gefahr des Faschismus müssen wir auch bei der Klimakatastrophe schonungslos anerkennen: Sie lässt sich nicht mehr verhindern. Das heißt nicht, dass nicht fossile Unternehmen abgebaut werden müssten, und es gut wäre, wenn eine Regierung dazu imstande wäre. Es heißt aber, dass wir uns ganz anders auf die nächsten Jahrzehnte vorbereiten müssen. In dieser Frage hat Die Linke die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden.
Literaturverzeichnis
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Autor:in: Nico Graack hat Philosophie und Informatik in Kiel und Prag studiert. Derzeit bereitet er seine Promotion zu Lacans Logik und ihrer Interpretation in der Ljubljana Schule vor. Daneben arbeitet er als freier Autor und Journalist, Beiträge von ihm erschienen u.a. in Jacobin, analyse&kritik, Philosophie Magazin und Deutschlandradio. Er engagiert sich in verschiedenen Teilen der Klimabewegung. Sein erstes Buch Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle (IPPK-Verlag) erschien 2023.
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