Eine Antwort auf Lutz Götzmanns „Über die Heimatlosigkeit der Igel – und das Problem der Abwehr“

Nico Graack

Y – Z Atop Denk 2024, 4(12), 2.

Abstract: In einer Antwort auf Lutz Götzmanns „Über die Heimatlosigkeit der Igel – und das Problem der Abwehr“ stimme ich nun endlich in seine Verteidigung der Affekte ein, was sich in der zweiten, der Hauptthese verdichtet: Um der Klimakatastrophe begegnen zu können, brauchen wir Gemeinschaften der Angst, eine gemeinsame Kulturarbeit an der Angst. Die theoretische Suche nach den Möglichkeiten einer solchen Gemeinschaft ist in unserer aktuellen Misere notwendig fragmentarisch, wild assoziativ. Und so verorte ich mich und uns zunächst in dieser Misere, wobei ich die These vertrete: Die „Zukunftsblase“, die Hegemonie des liberal-grünen Denkens, die sich in Fridays for Future verdichtete, ist geplatzt. In diesem Kontext, so präzisiere ich nachträglich, was Lutz Götzmann als Angriff auf die Affekte als solche erlebte, blies ich zum Angriff auf die Komplexe aus Schuld und Scham, die mir Anteil an der Misere zu haben scheinen. Das Gesetz, so die erste These, wäre der Ausweg aus diesen Komplexen – aber es versagt aktuell. Dann bleibt, so eine erste Hypothese, nur noch der Affekt der Angst. Und in der Tat, so eine zweite Hypothese, scheint mir die Angst einen Grundaffekt unserer Zeit zu bilden. Abschließend versuche ich mich also zu progressiven Gemeinschaften der Angst vorzutasten, die der Neuen Rechten – auch eine Kulturarbeit an der Angst – etwas entgegenzusetzen vermöchten und die ich, vielleicht etwas zu optimistisch, in unserem Klima-Laboratorium am IPPK vorgeformt sehe.

Keywords: Klimakatastrophe, Angst, Lacan, Klimabewegung, Kollaps, Kollapsologie, Gesetz

Copyright: Nico Graack | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.12.2024

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479 Tage. So viel Zeit verging zwischen dem 24. November 2020 und dem 20. März 2022. Letzteres Datum ist der Startpunkt unseres kleinen Diskurses, lieber Lutz Götzmann. Da saß ich in meiner verrauchten Wohnung in Prag, wahrscheinlich tief in der Nacht, und setzte den Schlusspunkt unter einen Artikel (Graack 2022a), auf den wenig später deine tiefe Traurigkeit antworten sollte (Götzmann 2022). Um die Klimakatastrophe als traumatisches Reales ging es dort. Und um die Letzte Generation, die diesem Realen für eine kurze Zeit am nächsten kam – um dann aber unter der Last der Roger Hallam-Taktik von Massenverhaftungen und einfachen, hyper-realistischen Forderungen (gestützt vom Anruf des großen Anderen: dem „Gesellschaftsrat“), die schon bei Extinction Rebellion nicht funktionierte, zusammenzubrechen. Ich schrieb das noch ganz unter dem Eindruck der Diskussionen, die ich mit den ersten Protagonist:innen der Letzten Generation in Berlin bei ihrem Hungerstreik im Regierungsviertel Ende 2021 führte, der zum Auftakt zu den Straßenblockaden werden sollte: Ich war skeptisch, aber letztlich sind das ja empirische Fragen – Warum also ihre Taktik nicht versuchen? Nun, jetzt ist die Empirie auf meiner Seite: Die Straßenblockaden sind gescheitert.

Vielleicht wären sie noch zwei Jahre zuvor erfolgreicher gewesen. Damit kommen wir zum ersten Datum: Warum der 24. November 2020? Das war während der Räumung des besetzten Dannenröder Forstes, Tag 55 der Räumung. Ein Ort, der für mich in dieser intensiven Zeit zu einer Heimat wurde: Ein Ort des Lachens, Schreiens, Weinens, des Pläne-Schmiedens, der harten Arbeit, des Verzweifelns und Hoffens – kurz, wie ich in einem unter Pseudonym erschienenen Artikel während der Räumung einen Freund zitierte: „Ein Ort, an dem ein Kampf ausgetragen wird“ (Paradise 2020). Für mich persönlich fand dieser Ort an jenem 24. November 2020 sein Ende. Der Teil des Baumhausdorfes (Barrio) „Morgen“, in dem ich lebte, wurde geräumt.1 Und was dort endete, war nicht so sehr der Kampf gegen die A49 oder die schönen Abende am Lagerfeuer. Was dort endete, war vor allem eine bestimmte Form der Gemeinschaft – diese besondere Art der Gemeinschaft, die die Klimabewegung hervorzubringen wusste und von deren emotionaler Kraft zeugt, dass ich mich gerade zur vielleicht längsten Fußnote meiner bisherigen Schreiberei hinreißen ließ. Diese Gemeinschaften erzeugte die Klimabewegung in den Blockaden, Aktionen und Besetzungen, in den Kohleminen, den Wäldern und auf den Straßen – und sie prägten eine ganze politische Jugend. Die Fähigkeit, über ein paar eingeschworene Kreise hinaus diese Gemeinschaften zu erzeugen, hat die Klimabewegung verloren. Meine simple These, die ich hier in Angriff nehmen möchte, ist: Wir brauchen solche Gemeinschaften, wenn wir politisch wirksam sein wollen. Die Suche nach diesen Gemeinschaften ist in unserer aktuellen Misere notgedrungen fragmentarisch, etwas chaotisch. Versuchen wir zunächst zu verstehen, wo wir stehen und wie die Gemeinschaften funktionierten, die die Klimabewegung zu erzeugen im Stande war.

Ihr Funktionieren war an eine gewisse liberal-grüne Hegemonie gebunden: Der „Klimawandel“ war allgemein anerkannt. Natürlich war sie und sind die Reste von dieser Hegemonie nicht mit einer allgemeinen Anerkennung tatsächlich wirksamer Klimaschutzmaßnahmen verbunden – mit dem Kanon „Elektrifizierung & Erneuerbare“ wurde in dieser Hegemonie lediglich ein Wirtschaftsprogramm für die deutsche Exportwirtschaft festgeschrieben. Aber trotzdem. Es gab eine Zeit, da war es potentiell gefährlich, klimaschädlicher Praktiken oder Verschleierung derselben in der Öffentlichkeit überführt zu werden. Und die Strategie der Klimabewegung war es, die falschen Kompromisse und Lügen auf dem Weg zum anerkannten Ziel des Klimaschutzes immer wieder aufzudecken und die Kompromisse so über sich hinauszutreiben. Es war die Zeit des Pariser Klimaabkommens, der Ende Gelände Aktionen in den Kohleminen, der Besetzung des Hambacher Forstes, des Kohleausstiegs, die Zeit von Extinction Rebellion, Fridays for Future, Students for Future, Parents for Future, Scientists for Future, fucking everyone for future!

Die 479 Tage liegen mitten im Kern dessen, was ich das Platzen der Zukunftsblase nennen würde: Ein schmerzlicher Prozess, in dem wir einsehen mussten, dass die diskursive Hegemonie der Jahre 2015-2020 keine wirkliche politische Macht etablierte. Beim ersten Anzeichen akuter Katastrophe brach sie in sich zusammen: Den Beginn des Platzens der Zukunftsblase kann man ziemlich genau auf den Beginn der Coronamaßnahmen 2020 datieren. Das vorläufige Ende dieses Prozesses würde ich auf die Explosion der Debatten um das „Heizungsgesetz“ 2023 datieren.2 Was ist dazwischen passiert? Krieg, Pandemie: Akute Katastrophen. Das war mehr als genug, um die dünne Haut des „Everyone for future“ zu zerreißen.

Und nun, Ende 2024, wo stehen wir? Die Klimakatastrophe passiert und wird weiter passieren, weiter eskalieren – selbst, wenn ab morgen schlagartig alle Fabriken, Minen, Kraftwerke & Co. stillstünden. Die Bemühungen zum Klimaschutz, wenn man damit ein tatsächliches Verlangsamen oder gar Verhindern der Katastrophe meint, sind gescheitert. Die Emissionen sind so hoch wie noch nie (vgl. Global Carbon Budget 2024), die Temperaturen noch um ein Vielfaches mehr gestiegen als in den Jahren zuvor (Jacobsen 2024). Das bedeutet nicht einfach nur Schreckensszenarien, das bedeutet reale Schreie, reales Sterben. Ich denke an die höllischen Bilder aus Valencia, in denen Menschen panisch versuchen, andere Menschen aus Häusern zu befreien, während die Fluten steigen. Ich denke an die Menschen, die elendig in ihren Häusern und vor den Augen ihrer Liebsten gestorben sind (vgl. Bubola 2024). Ich habe Angst. Höllische Angst.

 

Die chose mit den Affekten: Schuld, Scham und das Gesetz

Damit sind wir bei unserem Thema, lieber Lutz: den Affekten. Unser kleiner Diskurs vollzog sich, während die Zukunftsblase platzte. Am Anfang desselben versuchte ich noch, sie mit der Beschwörung des Unmöglichen wieder zusammenzuflicken. Diesen Sommer führte unser kleiner Diskurs aber zu etwas, das mir die Kraft gab, anzuerkennen, dass es mit dieser Form der Bewegung und Gemeinschaft vorbei ist: die Klima-Tagung des IPPK im Sommer 2024. Und nicht irgendetwas dort, sondern die analytischen Großgruppen, mit denen wir die Tagung begannen und beendeten. Als du während der Planung vorschlugst, ein solches Element in die Tagung mit aufzunehmen, war ich ehrlich gesagt ziemlich skeptisch. Ich fragte mich, ob sich denn auf einer Tagung Menschen überhaupt auf so etwas einlassen wollen – und verdeckte damit wohl nur die Frage, ob ich mich denn auf so etwas einlassen wollte. Im Wald gab es etwas, das sich „Emo-Runde“ nannte – und ich hasste es. Aber die Großgruppe auf der Tagung, wie auch das „Laboratorium“ – dessen vollen Namen ich ob seiner Anleihen bei der Romantik verkürze – das nun als monatliches Treffen daraus geworden ist, liebe ich. In beiden Fällen eine Gruppe, die sich um das gemeinsame Erleben und Bearbeiten von Affekten dreht, in beiden Fällen starke Affekte in meinem Verhältnis zu den Gruppen… Ja, es muss doch was dran sein an deiner Verteidigung der Affekte.

Ich möchte das, was du in meiner Antwort (Graack 2022b) als Angriff auf dieselben erlebt hast, noch einmal präzisieren. Du sagtest einmal charmant, bei dir sei angekommen: „Alter Mann, lass doch die Gefühlsduselei, wir müssen was tun!“. Und es stimmt wohl, ich ließ mich zu diesem alten Gestus des Aktivismus hinreißen, der mir doch eigentlich stets etwas suspekt war. Aber woran ich mich wirklich störte waren zwei bestimmte Affekte: Schuld und Scham. „Die verflixte Scham“ überschrieb ich einen der Abschnitte. Mein Punkt war, dass Schuld und Scham, wie sie im Klimadiskurs funktionieren, gerade nicht Anlass zu einem Bruch und einem neuen Diskurs werden können – sondern in eine ganz unproduktive Spirale führen.

Das sind zwei Affekte, die den öffentlichen Klimadiskurs dominieren – einerseits in der Gestalt solcher Phänomene wie „Flugscham“, andererseits und damit verbunden in der Gestalt einer „Konsumentenethik“, die die Verantwortung für die Klimakatastrophe in individueller Zügellosigkeit sucht: Schnitzel, SUV, Fast Fashion, Ölheizung. Es ist bekannt, dass diese Individualisierung des Klimadiskurses („Was kannst DU tun?“) eine gezielte Strategie des westlichen Öl- und Gaskartells war. Der britische Teil dieses Kartells BP erfand den „CO2 Fußabdruck“ und startete 2011 eine Website, auf der jede ihren individuellen Fußabdruck berechnen kann. Das Kalkül: Wenn die Menschen sich gegenseitig wegen der Dinge, die sie essen, und der Arten, wie sie von A nach B kommen, auf den Sack gehen – dann redet niemand über die knallharte politische Regulierung, die für fossile Unternehmen notwendig wäre (vgl. Schendler 2021).

Und das Kalkül ging auf. Nicht nur wurden Debatten über diese Regulierung verhindert, sondern der ganze Klimadiskurs verfing sich in diesem Spiel aus Schuld und Scham und der unproduktiven Spirale von Heucheleivorwürfen, die es ermöglicht: Jeder Protest wird mit der Frage beantwortet „Ja, aber was tust DU denn? Bist du heute mit dem Auto zum Protest gekommen? Ist das eine Plastikflasche von Nestlé in deinem Nike-Rucksack?“, politischer Protest wird zum moralischen Zeigefinger. Und mehr als einmal spielten die Klimabewegten dieses Spiel mit, mit einer nicht zu verleugnenden Lust daran, diesen Zeigefinger gegen andere zu erheben.

Diese Spirale der Schuld und Scham wird einen nicht unwesentlichen Anteil am Platzen der Zukunftsblase gehabt haben. Zumindest gestaltet sich die neu-rechte Reaktion, die gegen die liberal-grüne Hegemonie gewonnen hat, zu großen Teilen als Schambewältigung: „Fuck you, Greta!“ steht heute auf dem SUV. Das ist eine offensive Zurschaustellung der Schamlosigkeit, die Tadzio Müller treffend in Analogie zur queeren Erfahrung des „Coming Out“ gesehen hat (Müller 2023). In vielerlei Hinsicht scheint mir hier eine neu-rechte Verdrehung des Schamkomplexes zu liegen, den auch Maximilian Thieme apropos des heteronormativen Blicks für das homosexuelle In-der-Welt-Sein artikuliert hat (Thieme 2022): Eine nicht unerhebliche Anzahl Menschen sieht sich einem klimanormativen Blick ausgesetzt und verteidigt sich zunehmend aggressiv. „Shame must change sides“ hat eine der stärksten Frauen unserer Lebzeiten, Gisèle Pélicot, erhobenen Hauptes gesagt und damit einer ganzen Generation Hoffnung und Kraft gegeben. Und in einem gewissen, pervers verdrehten Sinne hat das hier stattgefunden, die Komplexe um die Scham lassen sich nicht nur progressiv lösen: Nun schämt sich ein Teil der Klimabewegten, den „einfachen Leuten“ mit dem Zeigefinger das Leben schwer gemacht zu haben – Man hätte die Leute überfordert, zu viel Transformation zu schnell machen wollen, hört man nun oft (dahinter steht vielleicht aber vor allem auch ein ökonomisches Problem: Man hat nicht die Kraft entwickeln können, den Klassenkampf gegen das fossile Kartell zu führen und die Unternehmen für die Transformation zahlen zu lassen). So schreibst auch du, Lutz: „Verwerfung, Verleugnung und Verneinung dürften jedoch nicht nur durch unerträgliche Affekte ausgelöst werden, welche die Kapazität des Menschen, Negatives zu ertragen, übersteigen“.

Auch ich gehöre zu diesem Teil der Klimabewegten, den ich gerade mit einer Kontextentfremdung Pélicots charakterisierte – auch, wenn ich nicht sagen kann, das bewusst als Scham zu empfinden. Eher eine Frustration, zuweilen eine Wut macht sich spürbar: Warum zum Teufel kommen wir nicht endlich aus dieser Spirale heraus? Es ist diese Frustration, die auch aus meiner damaligen Antwort spricht und die auf die Artikulationen von Schuld und Scham in deinem Text antwortet, lieber Lutz. Und auch in deiner neuerlichen Antwort kann ich nicht umhin, über die „Frage des Verzichts, d. h. einer Wiederauflage des Mangels“ zu stolpern, die du mit Sloterdijk aufmachst. Ist es nicht eine riesige politische Niederlage, dass nun, wer an Klima denkt, auch an Verzicht denkt?

Diese Frustration führte mich zu einer Position der offenen Konfrontation – mehr Punkrock, weniger Hippie-Moralaposteltum: „Hört auf mit dem Schuld-Mist! Fahr doch deinen scheiß SUV, solange wir dann zusammen die LNG-Pipeline in die Luft sprengen!“. So, mit etwas weniger Punkrock, bin ich auf der Tagung und auf dem Laboratorium, das wir seither haben, aufgetreten, wann immer das Schuld/Scham-Thema hochkam. Einmal sagte Mechthild Klingenburg-Vogel kurz darauf in etwa: „Wir sollten mit dem moralischen Zeigefinger aufhören“. Ich dachte mir: „Ja klar, das mein' ich doch!“ – aber dann dämmerte es mir: Meine Position ist gewissermaßen der inverse moralische Zeigefinger. Ich gehe nicht den Leuten mit ihren SUVs auf den Sack, sondern damit, dass sie Leuten mit den SUVs auf den Sack gehen – mit einer nicht minder suspekten Lust daran.

Es scheint also wirklich keinen Weg aus dieser Spirale herauszugeben … Da fällt mir aber ein Gespräch ein, dass ich vor kurzem mit meinem Freund Pavel Kabát hatte, und ich möchte sagen: Doch. Das Gesetz. Wir sprachen über die Unterschiede zwischen Deutschland und Tschechien im Kontakt mit Polizei und anderen Autoritäten. Er sagte sinngemäß: „Wenn ich in Deutschland beim Schwarzfahren erwischt werde, gibt es da immer diesen Unterton moralischer Überlegenheit, diesen Genuss an der Strafe. Aber in Tschechien ist das einfach ein bürokratischer Akt: ‚Hab kein Ticket‘, ‚Na gut, willst du jetzt zahlen oder später?‘“. In dieser wunderbaren Anonymität der Bürokratie des Gesetzes scheint mir in Bezug auf die Schuld-Spirale etwas außerordentlich Progressives zu liegen – der Gestus des „Mir persönlich, zwischenmenschlich, ist das scheiß egal, was du gemacht hast. Aber es gibt Regeln und die setzen wir als Gesellschaft jetzt um“.

Das führt mich zu einer ersten These: Das Gesetz ermöglicht das Umgehen einer unproduktiven Affektspirale. Überspitzt gesagt: Klar ist SUV-Fahren geil. Mir macht das auch Spaß und ich verurteile niemanden zwischenmenschlich, der das gerne tut – da muss man sich auch gar keine angebliche Notwendigkeit („Ich muss doch die Kinder zur Schule fahren und dann noch den Einkauf da reinkriegen und …“) konstruieren. Es ist einfach geil. Genauso wie in der Tram rauchen. Und beides gehört verboten.

 

Angst, Wahrheit und Gemeinschaft

Bis vor einigen Jahren hätte ein solches Verbot wohl auch nur dieselben Quängeleien ausgelöst, die damals das Rauchverbot ausgelöst hat – auch da sahen Menschen ihre ureigene Freiheit bedroht. Heute aber ist das Rauchverbot nicht mehr wegzudenken und nicht einmal die neuen Apostel der liberalen „Freiheit“ von AfD, FDP und CDU/CSU machen sich daran, dieses Verbot wieder aufzuheben. Aber die politische Situation ist heute freilich eine andere. Wirksame Maßnahmen – Verbote und Regulierungen – könnten auf dem diskursiven Feld derart hart unter Beschuss genommen werden, dass eine Umsetzung wohl wirklich auf unüberwindbaren Widerstand stieße. Das Gesetz versagt hier. Meine Hypothese ist: Dann bleibt nur noch die Angst. Lacanianisch: Das Gesetz, der Herrensignifikant, ist die eine Komponente des point de capiton, des „Polsterstiches“, wie Nemitz überzeugend übersetzt (Nemitz 2012). Die andere ist das Phantasma. Dieser Stich vernäht das Subjekt in einer konsistenten Ordnung – und wo sie bedroht ist (im Fall meiner Hypothese durch das Versagen des Gesetzes), da entsteht die Angst.

Und diese Angst – zweite Hypothese – sie scheint mir durchaus einer der Grundaffekte unserer Zeit zu sein. Leider ist die Neue Rechte der einzige Akteur, der sie massenwirksam zu containen vermag: Deutschland befindet sich in einer ungeahnten Krise, sagen sie, verursacht vom links-grünen Zeitgeist. Natürlich ist ihre Antwort „billig“, wie Barbara Rüttner Götzmann kürzlich in unserem Laboratorium sagte: „Wenn wir an die Macht kommen, drehen wir die ganzen Krisen unserer Zeit zurück, alles kann wieder so werden wie es nie war“ (da die „gute alte Zeit“, die der Konservativismus zurückzubringen verspricht, natürlich so nie existiert hat). Das stimmt, die Antwort ist billig. Aber ihre Diagnose ist entscheidend: Deutschland schafft sich ab, alles geht den Bach runter. Das resoniert mit dem Grundaffekt unserer Zeit, der Angst. Habecks Neuauflage des Merkelschen „Wir schaffen das“ – und sei sie noch so rational vermittelt (sein Gestus des „Natürlich ist alles schwierig, machen wir uns keine Illusionen“) – die resoniert nicht mit der Angst. Die Neue Rechte, deren apokalyptischen Aufstieg wir gerade erleben, sie ist eine Gemeinschaft der Angst.

Lacan sagt bekanntlich, die Angst ist das, was nicht täuscht. Ich verstehe das so: Wo Angst auftritt, da signalisiert uns das, dass wir uns auf den Kern der Sache zubewegen – unabhängig davon, ob die konkrete Angst „berechtigt“ ist (denn natürlich kann man zum Beispiel nicht sagen, dass der Angst vor dem migrantischen Anderen eine realistische Gefahr entspricht). Die Angst signalisiert, dass wir es mit dem Realen zu tun haben, da bin ich ganz bei deiner Verteidigung der Affekte, lieber Lutz. Das „Reale“, „das, was nicht täuscht“ – hier berühren wir das, was mein eigentliches Feld ist, die Philosophie: es geht um Wahrheit.

Ich möchte lose mit Badiou und anderen die These vertreten: Wahrheit ist ein soziales Ereignis, sie begründet eine Gemeinschaft. Für den Betrieb der Wissenschaften scheint mir Kuhns Lehre von den Paradigmen diese These am Besten auszubuchstabieren – Das Paradigma, das durch die Theorie vom Sauerstoff in die Chemie eingeführt wurde, begründete eine Gemeinschaft an Forscher:innen, die sich mit den Anhängern des Phlogiston-Paradigmas intellektuelle Kämpfe lieferten (vgl. Kuhn 2012). Hier ist das Paradigma offensichtlich eine soziale Institution, die eine Gemeinschaft und gemeinsame Praxis organisiert.

Aber in welchem Sinne ist es eine „Wahrheit“? Ich möchte versuchsweise sagen: Es ist eine Wahrheit, indem es in dem, was Kuhn „normale Wissenschaft“ nennt, die planmäßige Feststellung von Fakten und Irrtümern erlaubt – es etabliert eine gemeinsame Praxis. Hier tut sich ein ganzer Abgrund an Fragen auf, auf die ich hier nicht wirklich eingehen kann: Sauerstoff war doch auch vorher schon in den beobachteten Verbrennungsprozessen involviert, Phlogiston eben nicht – hier tut sich ein ähnlicher Abgrund auf wie in der Frage, ob denn die soziale Komponente nicht egal sei: Auch, wenn niemand an Sauerstoff glaubt, ist doch Sauerstoff immer schon in Verbrennungen involviert gewesen. Und überhaupt: Eine Gemeinschaft konnte doch auch die Phlogiston-Theorie organisieren. Auf welcher Grundlage spricht man der Phlogiston-Gemeinschaft die Wahrheit ab und der Sauerstoff-Gemeinschaft zu? Kuhns Arbeit macht klar, dass es hier keine einfache Antwort gibt: Eine neutrale „Beobachtungssprache“, wie sie sich der Positivismus erhoffte, bleibt ein Ding der Unmöglichkeit, die Phlogiston-Theorie konnte ebenso einen großen Haufen an Beobachtungen erklären und sogar einige, die für die Sauerstoff-Theorie zunächst unerklärbar blieben (die Herstellung des brennbaren Stoffes aus Kohle, der später Kohlenmonoxid genannt werden wird).

Wir sind damit noch nicht beim Recht des Stärkeren: „Es hat sich nun einmal die Sauerstoff-Gemeinschaft durchgesetzt“. Nein, sie kann unterm Strich natürlich die besseren Argumente für sich in Anspruch nehmen – aber dorthin zu gelangen ist ein Prozess, der anfangs etwas von einer Wette hat: Auch, wenn noch nicht alle Belege und Argumente absehbar sind, wette ich darauf, dass sie sich bei Verfolgung dieses Paradigmas, dieser Wahrheit, produzieren werden. Nun gibt es natürlich einen Unterschied zwischen einer informierten Wette, die sich nie der Debatte und Rechtfertigung enthoben glaubt, und einer bloßen Wette wie beim Roulette, bei der die rationale Haltung gerade der Verzicht auf eine Rechtfertigung ist. Man landet also stets beim Ausgangsproblem des Maßstabes: Warum sollte ich das eine Argument dem anderen vorziehen, warum das eine Paradigma dem anderen?

Lassen wir den Exkurs und schauen, ob er uns hier was nützt. Die „Klimakatastrophe“ – ist sie ein Paradigma in diesem Sinne, also eine wissenschaftliche Wahrheit (nicht bloß ein Faktum)? Das mag sein, immerhin hat sie doch eine ganze Gemeinschaft an Forscher:innen begründet, eine ganze Wissenschaft in der „Klimatologie“ mit ihren durchaus eigenständigen Prozeduren, die die klassischen Begriffe von Modell und Daten durcheinanderwirbeln. Für unseren Kontext wichtiger ist aber das politische Register. Hier stellt die Klimakatastrophe gerade noch keine Wahrheit dar: Sie vermochte es noch nicht, eine politische Gemeinschaft zu organisieren, die sich hält. Sie hat, für einen Anhänger der Klimakatastrophe als wissenschaftlicher Wahrheit – diese Position setze ich hier voraus – den Charakter dessen, was bei Kuhn „Anomalie“ heißt: Die bisherigen politischen Prozeduren schaffen es nicht, diese Anomalie in den Griff zu kriegen – sie entgehen ihrem Griff, wie die Phänomene der Gasproduktion und Masseänderungen bei Verbrennungen allmählich dem Griff der Phlogiston-Theorie entglitten. Die politische Ordnung konnte nicht einmal annähernd den Anstieg der jährlichen, globalen Treibhausgasemissionen stoppen (das vermochten nur schwere Wirtschaftskrisen), ganz zu schweigen von Verschmutzung, Verwüstung & Co., die die anderen Dimensionen der ökologischen Katastrophe betreffen. Diese Anomalie hat eine wuchernde Reihe an Proto-Gemeinschaften etabliert – die liberal-grüne Hegemonie (Elektrifizierung + Erneuerbare), UN-Klimaabkommen, Degrowth, Öko-Sozialismus, … aber keine konnte sich zu einer Ordnung stabilisieren, die in der Lage wäre, die Anomalie als lösbares Problem anzugehen.

 

Die Gemeinschaft der Angst: Solidarität und Kollaps

Hier ist meine Hypothese von oben hoffentlich unmittelbar einleuchtend: das Gesetz, die Ordnung, versagt – weder schafft es die bestehende Ordnung, noch ist eine neue in Sicht – und es bleibt die Angst. Kann nicht dieser Affekt selbst die Gemeinschaft begründen, die wir brauchen? Ist nicht gar das Scheitern – glaubt man dem engen Verhältnis von Realem und Angst, auf dem Lacan besteht – der bisherigen Proto-Gemeinschaften darin begründet, dass sie die Angst nicht ernstzunehmend artikulieren können? Dieser Affekt der Angst wird kollektiv artikuliert – eben in der Gestalt des neuen Gesetzes, das die Neue Rechte ist. Und darin werden auch andere Affekte mobilisiert, um die Anomalie zu verneinen, verleugnen und verwerfen: Wut, Hass, Neid.

Nebenbei bemerkt: Hier scheint mir ein Bedenken gegenüber deiner Affekttheorie, lieber Lutz, angebracht – und es scheint mir, dass Michael Meyer zum Wischen ein ähnliches Bedenken andeutet. Er fragt: „Geht es nur um das Gleichgewicht und die Balance, die reguliert werden sollen [?]“ (Meyer zum Wischen 2024) und ruft damit das freudsche „Jenseits des Lustprinzips“ bzw. die lacansche jouissance an. Im Laboratorium sagtest du einmal, du bekommst die ungeheure Destruktivität der Affektreaktionen auf die Klimakatastrophe, die rasende Wut auf alle „Klimahysterie“, nicht theoretisch zu packen. Nun, ich habe keine Antwort darauf, aber mir scheint hier doch die Richtung angezeigt: Ist der Affekt, in diesem Fall der Angst, wirklich schon als solcher eine regulative Funktion (der Bewertung, wie du schreibst) oder zeigt nicht der spezielle Fall der Gemeinschaft Angst, die die Neue Rechte bildet, dass der Affekt im Dienste einer Deregulierung, einer destruktiven Enthemmung stehen kann, die keiner Homöostase verpflichtet ist?

Lassen wir das. Wichtiger ist hier die Frage: Kann die Angst nicht auch anders artikuliert werden? Kann es nicht eine Gemeinschaft der Angst geben, die sich der Neuen Rechten entgegenstellt? Meine zweite These, zu der ich nun nach einigem Umweg komme: Ja. Die gemeinsame Artikulation von Angst kann die Gemeinschaft begründen, die der Neuen Rechten trotzen und effektive Solidarität in der Klimakatastrophe organisieren kann – die vielleicht gar irgendwann in der Lage sein wird, ein neues Gesetz, eine neue Ordnung zu etablieren. Zumindest scheint mir dies die einzige Hoffnung. Du siehst: Deine Verteidigung der Affekte hat gefruchtet. Eine kollektive Bearbeitung, Durcharbeitung der Affekte der Klimakatastrophe scheint mir nun der einzige Weg, um zu der politischen Gemeinschaft zu kommen, die ich einst in der Klimabewegung, im besetzten Wald, vorgeformt fand und die wir brauchen, um uns der Klimakatastrophe zu stellen.

Ich will hier zunächst wenigstens anekdotische Evidenz für diese These geben: Unser Klima-Laboratorium. Das scheint mir in der Tat ein winziger „Igel“ zu sein, um in der Sprache unseres kleinen Dialogs zu bleiben. Das liegt vor allem daran, das dort Raum ist, Angst zu artikulieren und in eine gemeinsame Sprache zu überführen. Und das öffnet einen Raum (obwohl die Angst selbst durchaus von der „Ordnung der Annäherung“ ist, wie Lacan schreibt, sie liegt auf der Achse der Bedrängnis in seiner Matrix von Hemmung, Symptom, Angst) – ganz so, wie es dein Schema vom Diskursabbruch, dem Affekt und den Fluchtlinien angibt, lieber Lutz.

Das habe ich vor zwei Monaten erfahren: Ich hatte nach einem langen Arbeitstag so gar keine Lust auf unser Laboratorium und war drauf und dran, abzusagen – Ich wollte lieber auf der Couch liegen, Joints rauchen und dämliche YouTube-Videos gucken. Danach aber fühlte ich mich ungeheuer frei, ich war motiviert, mich an allerlei offene Projekte zu machen – Musik zu spielen, Artikel zu schreiben, Lehre zu planen. Alles Dinge, die mit der Klimakatastrophe zunächst nichts zu tun haben. Und das, obwohl die Sitzung unseres Laboratoriums selbst ein gutes Stück emotionaler Arbeit war, anstrengend, kräftezehrend.

Es war die Sitzung, in der wir uns mit einem Artikel von Sally Weintrobe befassten (Weintrobe 2024). Dort nennt sie die Struktur aus Verneinung, Verleugnung und Verwerfung, die sich der Klimakatastrophe verweigert, die „climate bubble“. Das stieß auf einiges an Verwirrung: Warum sollen die Verdränger und Verleugner die Klima-Blase sein? Sie sind es doch gerade, die behaupten, mit dem Klima sei nichts los. Nun, nach dieser Erfahrung der Öffnung, die ich nach intensiver, emotionaler Arbeit an der Klimakatastrophe gemacht habe, scheint mir diese Benennung Weintrobes ins Schwarze zu treffen: Die Verleugner sind es, die vom Klima besessen sind, nicht wir! Ihr Verhalten der demonstrativen Schamlosigkeit, das ich oben skizzierte, dreht sich permanent ums Klima, es braucht das Klima: „Fuck you, Greta!“-Sticker, Nackensteak auf dem Grill, Verteidigung der Ölheizung – gerade weil sie die Klimakatastrophe verleugnen, wird sie zu einem der Dreh- und Angelpunkte ihres Verhaltens, ständig müssen sie demonstrieren, dass sie keine Angst zu haben brauchen, keine Schuld oder Scham zu empfinden. Und wem wird das demonstriert? Lacanianisch natürlich: dem großen Anderen, dem Gesetz, dem Herren. Es ist mit dieser hysterischen Provokation das gleiche wie mit den Teilen der 68-er, auf die Lacan sich bezog: Sie rufen nach einem Herren. Und sie werden ihn bekommen. Musk, Trump & Co. sehen sich bereits in dieser Position, wie Peer Zickgraf treffend bemerkte.

Was müsste demgegenüber eine Gemeinschaft der Angst leisten, die dieser Falle entgeht? Sie müsste ohne den Herren auskommen. „Was, wenn die Regierung keinen Plan hat?“ fragte die Letzte Generation und wies damit in diese Richtung, nur, um im nächsten Atemzug eine andere Instanz des großen Anderen anzurufen: die „Zivilgesellschaft“. Der Gesellschaftsrat sollte uns retten. Aber es wird uns niemand retten, wir sind allein – Angst.

Was eine solche Gemeinschaft, die allein ist, leisten kann, ist: Solidarität. Das ist es wohl letztlich auch, was mich damals die Schuldenstreichung anrufen ließ. Im internationalen Netzwerk Debt for Climate, in dem ich mich nach wie vor – wenngleich sporadischer – engagiere, bewegt mich vor allem dies: Es ist ein globales Netzwerk, das sich gemeinsamer Solidarität verschrieb und darin über den erklärten Zweck des Kampfes für die Schuldenstreichung der Länder des Globalen Südens hinausgeht. Als Kenia letztes Jahr von heftigen Überschwemmungen getroffen wurde und unsere Genossin Dianah Mugalizi betroffen war, da wurde schnell und unbürokratisch Hilfe organisiert.

Diese Solidarität erscheint mir nicht nur als die erste und wichtigste Funktion einer progressiven Gemeinschaft der Angst – sie erscheint mir umgekehrt auch als der Weg dorthin. Natürlich kann man jetzt nicht rumlaufen und geradeheraus Räume anzubieten versuchen, die die Angst containen – das käme in die Nähe der „Emo-Runden“, die ich in der Klimabewegung so hasste. Solche Räume müssen sich auf einem Umweg bieten, sie müssen ein Nebenprodukt sein (Ist nicht Lacans Einsicht, dass gerade das Nebenprodukt oft die zentralste Funktion innehat?). Und genauso scheint mir der direkte Weg des „Kampfes fürs Klima“ verloren, verbrannt im Kulturkampf mit der Neuen Rechten. Bloße, bedingungslose Solidarität wäre es, die anfinge, solche Räume für Gemeinschaft zu öffnen (vgl. Graack 2024).

Wenn der Signifikant „Klima“ tatsächlich verloren ist, wie ich behaupte – wie steht es dann um „Kollaps“? Die „Kollapsologie“ (vgl. u.a. Servigne/Stevens 2020), mit der wir uns auch in unserem Laboratorium auseinandergesetzt haben, verspricht, eine solche Gemeinschaft der Angst organisieren zu können. Und es hat sich in der Tat etwas gebildet, was zurzeit noch eher eine Sub-Kultur ist: Kollapscafés, die Räume der gemeinsamen Artikulation von Angst anbieten, und vieles mehr. Vom 28. bis 31. August 2025 wird in Deutschland erstmals ein „Kollapscamp“ stattfinden, das diese Räume zu einer schlagkräftigen Bewegung auszuweiten gedenkt – und ich kann nur alle herzlichst dazu einladen.

Ich denke, in diesem Ansatz steckt eine ganze Menge deiner Verteidigung der Affekte, lieber Lutz – und die Richtung scheint mir gut, seit längerem das erste Lebenszeichen einer Menschheit, die sich nicht ganz der Handlungsunfähigkeit ergeben will. Ich habe vor allem zwei Probleme damit: Erstens scheint mir der ganze Ansatz zu lokal angelegt, darin steckt noch zu viel vom rechten Prepper, der sich in seinem kleinen Bunker quasi intrauterin einzurichten gedenkt. Wo sind die globalen Netzwerke, wo die Verbindungen an die Orte im Globalen Süden, die offensichtlich am meisten vom Klimakollaps betroffen sind und von denen sich das meiste lernen ließe? Nun, dort wird zumeist eine andere Sprache gesprochen – viel mehr noch die Sprache der einstigen Zukunftsblase auf der einen, und die einer völlig anders gelagerten „Land Defender“-Bewegung auf der anderen Seite. Die Kollaps-Subkultur aber scheint sich zu schade zu sein, hier die Übersetzung zu suchen – ist das doch stets mit einer gewissen Kompromittierung der eigenen Position verbunden.

Das zweite Problem sprach ich auch im Laboratorium an: Das Wort „Kollaps“ scheint mir ungeeignet für die Ausweitung dieser Subkultur. Es ist drastisch und richtet sich darin vor allem an frustrierte Klimabewegungsakteur:innen wie mich, die Kraft darin finden, sich ihr Scheitern einzugestehen und sich der Angst zu stellen. Es evoziert aber entgegen der Intention das Imaginäre des Katastrophenfilms: „Kollaps“, da denkt man an das eine singuläre Ereignis, den Doomsday, Zombie-Apokalypse und was nicht alles. Das ist Teil dessen, was bisher die Anerkennung des Klimakollapses verhindert, die sich die Kollapsolog:innen wünschen. Wer den Klimakollaps als singulären Doomsday versteht, als Tag X, dem ist von vorneherein die Möglichkeit eines politischen Kampfes im Klimakollaps versperrt – der Doomsday ist per definitionem ein Tag, der keinen „Tag danach“ kennt.

Dieses Phantasma vom Doomsday scheint mir noch eine Beruhigung. Die eigentliche Katastrophe ist natürlich, dass es auch im Kollaps weitergeht – auch, wenn Lieferketten zusammenbrechen, Wasser rationiert werden muss, Hitzetote und Überschwemmungen zum Alltag gehören und direkte Gewalt wieder eine integrale Rolle auch in unserem Leben spielt, ja auch dann werden wir morgens aufwachen und einen Tag zu bestehen haben. Die Zukunftsblase ist geplatzt, die Klima-Blase im Sinne Weintrobes lebendiger denn je und es stellt sich in aller Schärfe die Frage, die Slavoj Žižek sich zum Untertitel seines letzten politischen Buchs nahm: „What lies ahead when there is no future?“ (Žižek 2023) – Was liegt vor uns, wenn es keine Zukunft mehr gibt? Hier geraten die Gedanken ins „Schwimmen“, wie wir die wilde Assoziation im Laboratorium nannten, die sich auch hier in meinem Artikel einstellt und die bezeichnenderweise bei unserer Sitzung zur Kollapsologie am stärksten war. Was dort ohne Zukunft vor uns liegt und was so schwer zu denken zu sein scheint, das wird wesentlich davon abhängen, was für Gemeinschaften der Angst sich bilden und durchsetzen. Oder in Abwandlung des Psalmes 118:6: „Der HERR ist nicht mit mir, ich fürchte mich; was können wir Menschen tun?“ – Werden wir in 479 weiteren Tagen eine Antwort haben?

 


1 Einige Szenen dieser Räumung, wie überhaupt des Lebens im Walde und der ganzen Räumung, hat der junge YouTube-Journalist „Bewegungsgärtner“ in einem Meisterwerk des „eingebetteten Journalismus“ und der Bewegungsgeschichtsschreibung festgehalten. Eine kleine Anekdote zu dem, was man dort in Folge #55 sehen kann, mag illustrieren, wie nah Lachen und Weinen in der Welt dieser Ausnahme-Gemeinschaft waren: Ab 13:16 sieht man die Räumung unseres Tripods, zu der wir uns zwecks Verlangsamung die Hände festklebten. In dieses riesige Holzkonstrukt flossen Wochen harter Arbeit unzähliger Menschen, bis er endlich stand, auf ihm wurden abends Spiele gespielt, Sonntags die Besucher:innen aus den umliegenden Dörfern begrüßt, heimlich Whisky getrunken (Drogen aller Art waren in unserem Baumhausdorf verboten) und bereits einige Tage ängstlich bis witzelnd ausgeharrt, während die Kettensägen, Schreie, Scheinwerfer und Polizeieinheiten immer näher rückten. An diesem Tag war es also soweit: Wir wurden geräumt. Es war mir enorm wichtig, an diesem Tag auf unserem Tripod zu sitzen, der mir so viel Gemeinschaft bedeutete. Ich wollte dieses Stück Gemeinschaft nicht alleine untergehen lassen. Dann war es so weit. Die Hebebühne mit den beiden SEK-Beamten näherte sich, einer der Beamten und ich schauten uns durch unsere Vermummungen in die Augen und er sagte: „So, die Behandlung geht los, bitte einmal untenrum freimachen“. Ich bekam mich vor Lachen gar nicht mehr ein. Die Stimmung während der Räumung war in unseren Reihen ein albernes, surreales Schauspiel des Humors – Wo immer es ging, wurden Witze gemacht (So wurde die Räumung zum Handballspiel zwischen dem HC Morgen und dem PST Polizeistaat und der aktuelle Punktestand, die Schiedsrichter-Entscheidungen etc. regelmäßig per Funkgerät durchgegeben – vgl. Bewegungsgärtner 2020c). Nun war plötzlich jemand von der Gegenseite in dieses Spiel involviert und wir fanden eine Ebene von Ironie, auf der wir uns blendend verstanden. „Hey, du bist echt in Ordnung!“, sagte er, bevor er mich am Boden seinen weit weniger zu Späßen aufgelegten Kollegen übergab. So viel zum Lachen. Wenig später erfuhr ich, dass es ebendieser Beamte war, der kurz zuvor Freund:innen von mir zwei Baumhäuser weiter in einer ruhigen, übersichtlichen Situation und ohne Not auf den Boden drückte und mit Schmerzgriffen drangsalierte, dass ich ihre Schreie bis ins Mark hören konnte. Seine Kollegen wiederum waren nur einen Tag vorher für den Sturz einer Freundin von mir verantwortlich (Folge #54): Sie saß auf einer Plattform in etwa fünf Metern Höhe, die an einem Seil gesichert war, dass etwas über Kniehöhe am Rand des Baumhausdorfes gespannt war, um dort die Räumung zu verlangsamen. Solche Seile und Plattformen gab es im Wald zuhauf, die Polizist:innen wussten davon, das Seil war mit Flatterband und Schildern „Lebensgefahr! An diesem Seil hängt ein Mensch!“ versehen. Bei der Räumung unseres Dorfes aber stiegen schlicht ein paar Beamte auf das Seil, um es für ihre Kollegen herunterzudrücken. Von überall her schrien Menschen, dass das lebensgefährlich sei, dass an diesem Seil ein Mensch gesichert sei – die Beamten witzelten und machten keinerlei Anstalten, sich davon herunterzubewegen. Es kam, wie es kommen musste: Das Seil riss und unsere Freundin fiel. Sie brach sich zum Glück nur einen Wirbel. (Vgl. Bewegungsgärtner 2020a, 2020b.)

2 Andere Bewegungsakteur:innen mögen vielleicht sagen: „Aber 2023 war doch auch Lützerath! War diese breite Bewegung gegen die Räumung eines vom Braunkohletagebau bedrohten Dorfes nicht im Sinne der „Gemeinschaft“, die du forderst, ebenso ein Erfolg?“ Sicherlich. Ich konnte aus persönlichen Gründen nicht da sein, deshalb ist mein emotionaler Bezugspunkt der Dannenröder Forst. Aber darin zeigt sich nur, dass politische Prozesse eben Prozesse sind: Der Danni markiert den Anfang, Lützerath das Ende – beide sind ein letztes Aufbäumen dieser Gemeinschaft, die die Klimabewegung zu erschaffen wusste.


Literaturverzeichnis

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https://www.youtube.com/watch?v=HiwkCwg8bSc&list=PLhBPAhMCNNdUImcVirRMJpXIvMSA_Nkh1&index=33 [29.12.2024].

Bewegungsgärtner (2020b): „#55 - Morgen wird geräumt“.
https://www.youtube.com/watch?v=txvMP_dMWfw [29.12.2024].

Bewegungsgärtner (2020c): „#56 HC Morgen & Das Schiff - Ein Tag in einem Tower“.
https://www.youtube.com/watch?v=U6Kl_1yYGvY&list=PLhBPAhMCNNdUImcVirRMJpXIvMSA_Nkh1&index=35 [29.12.2024].

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Autor:in: Nico Graack hat Philosophie und Informatik in Kiel und Prag studiert. Derzeit bereitet er seine Promotion zu Lacans Logik und ihrer Interpretation in der Ljubljana Schule vor. Daneben arbeitet er als freier Autor und Journalist, Beiträge von ihm erschienen u. a. in Jacobin, analyse&kritik, Philosophie Magazin und Deutschlandradio. Er engagiert sich in verschiedenen Teilen der Klimabewegung. Sein erstes Buch Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle (IPPK-Verlag) erschien 2023.

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