Eine Antwort auf Nico Graacks Klima-Beitrag „Ein, zwei, viele Igel“

Lutz Goetzmann

Y – Z Atop Denk 2024, 4(7), 1.

Abstract: In folgender Antwort auf Nico Graacks im September 2022 in Y - Zeitschrift für atopisches Denken erschienen Beitrag „Ein, zwei, viele Igel“ setze ich zu einer Verteidigung der Affekte an. Ich verfolge zwei Argumentationslinien: Zum einen dient der Affekt – letztendlich aus evolutionären Gründen – der positiven oder negativen Bewertung einer Situation, so auch einer Gefahrensituation. Die Affekte dienen der Bewertung des Klimakollaps. Ohne Affekte würden wir nicht handeln. Aber andererseits ist genau diese affektive Evaluation, wenn sie unerträglich oder zumindest sehr unangenehm erscheint, das Ziel der Abwehr. In diesem Fall wird die Gefahr verleugnet, so dass keine affektive Bewertung notwendig erscheint. Es geht also um das (individuelle und gesellschaftliche) Zulassen und die transformative Verarbeitung potentiell unerträglicher Affekte. Freud verstand diese Verarbeitung als eine Form der Kulturarbeit. Gegenwärtig werden wir v. a. mit der Abwehr, d. h. der Arbeit des Negativen konfrontiert: die Klimakatastrophe wird verworfen, verleugnet, verneint oder verdrängt. Ich werde also sowohl die Affekte wie auch die verschiedenen Abwehrformen und deren Gründe beleuchten, damit ein oder zwei oder viele Igel (Lösungsansätze) ihre territoriale Route durch die Gärten dieser Erde finden.

Keywords: Klimakatastrophe, Affekte, Abwehr, Arbeit des Negativen, Ödipuskomplex

Copyright: Lutz Goetzmann | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.07.2024

Artikel als Download: pdfÜber die Heimatlosigkeit der Igel

 

Der Angeklagte nimmt mir die Anklage selbst ab. Er war – und ist immer noch – ein Mann ohne Sinn für Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Er verspürt keinerlei Verantwortung für den Planeten, keinerlei Verpflichtung, die Welt zu schützen, in der er lebt. In zwei null eins neun, als Mr. Ham seinen verhängnisvollen Skiurlaub unternahm, galt ein Viertel sämtlicher Tierarten offiziell als vom Aussterben bedroht. Das ist eine Statistik, die Mr. Ham gekannt haben muss. Er muss sie in der Zeitung gelesen haben. Er muss sie im Radio gehört haben. Was hat er getan, um diese Katastrophe abzuwenden? Nichts.

Auszug aus „Der Anklagerede des Teinopalpus Imperialis im Prozess gegen den Vermögensberater Toby Markham“
John Ironmonger (2023, S. 84 f.)

 

Die Temperaturen steigen, der Kongress tanzt.

Peter Sloterdijk (2023, S. 70)

 

Lieber Nico Graack, inzwischen ist aus unserem Austausch in der Zeitschrift Y-Zeitschrift für Atopisches Denken (Graack 2022a und b; Goetzmann 2022) ein konkretes Projekt erwachsen, nämlich eine Tagung, die am 1. und 2. Juni 2024 an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Berlin stattgefunden hat. Sie hatte ja wirklich einen durchaus experimentellen Charakter: Mit Input-Referaten zu aktuellen Klima-Problemen, psychoanalytischen Großgruppen, künstlerischen Workshops und den online-Diskussionen mit Klimaaktivist:innen, v.a. aus dem Globalen Süden, ist uns, so meine ich, tatsächlich eine Auseinandersetzung mit dem wohl größten Problem der Gegenwart gelungen. Ich habe den Eindruck, dass diese Auseinandersetzung, die nicht nur im rationalen Diskurs, sondern auch im unmittelbaren Erleben verortet war, im eigentlichen Sinne als „psychoanalytisch“ bezeichnet werden kann. In Deinem Artikel „Ein, zwei, viele Igel ...“ (Graack 2022) hast Du geschrieben – ich erlaube mir eine gewisse Paraphrasierung: Hör auf mit Deinen Affekten, alter Mann, es geht hier nicht um selbstverliebte Scham oder das Lacan'sche Genießen eines Schuldgefühls, das doch nur eine behagliche Sackgasse darstellt. Es geht um die Aktion: Ein Igel, zwei Igel, viele Igel. Du meinst damit wohl: Eine Aktion, zwei Aktion, viele Aktionen. Ein Ereignis – und alle anderen Igel dieser Sache treu. Man muss die großen Hebel ansetzen. Der Schuldenschnitt ist nur ein Bespiel: Mit dem erlassenen Geld könnte der Globale Süden ökologische Maßnahmen finanzieren. Die Sache mit der Aktion habe ich verstanden, und ich war tief beeindruckt von den Aktivist:innen, die an unserer Tagung ihre Projekte vorgestellt hatten. Die britische Psychoanalytikerin Hanna Segal schreibt im Jahre 1987, dass das Phänomen der nuklearen Abschreckung eher einem unerträglichen Alptraum oder einer Psychose gleiche als einer gesunden Welt (Segal 1987). Ich denke, das Gleiche gilt für die Klimakatastrophe, die im Grunde ein unerträglicher Alptraum ist, ein Horrorszenario, das sich dafür qualifiziert, früheste Verfolgungs- und Verlassenheitsgefühle wachzurufen. Genau an dieser Stelle möchte ich auf einen Punkt hinweisen, der mich doch für die Berücksichtigung der Gefühle, was die Klimakatstrophe angeht, votieren lässt, also für die Berücksichtigung von Gefühlen wie Schuld, Scham, Trauer und Traurigkeit, aber auch von Gefühlen wie Hass: der Hass auf ein System und deren Vertreter, deren maßlose Gier die Welt zerstört, und der Hass auf uns, die wir bei diesem System tagtäglich mitmachen. Und vor allem und in erster Linie spielt natürlich die Angst eine Rolle.

Heutige Emotions-Theorien gründen auf der Idee, dass die Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen, Simulationen – in gewisser Hinsicht Simulacren – sind, die wir über die äußere, uns weitestgehend unbekannte und verborgene Welt herstellen, und dass diese imaginären Simulationen (d. h. Bilder, Töne, aber auch der Geschmack, der Geruch, das Ertastete) durch Gefühle bzw. Emotionen validiert werden (Friston 2013; Feldman Barett 2021; Goetzmann, Ruettner u. Siegel 2024, Goetzmann et al. 2024; Meyer zum Wischen, Ruettner u. Goetzmann 2024). Eine solche Simulation besteht aus einigen wenigen Signalen aus der Umwelt (z. B. sensorische Signale, welche den Eindruck von Hitze vermitteln) und dem Gedächtnis an frühere Situationen, z. B. an Momente größter Hilflosigkeit, die, so Winnicott (1991), in der Zeit nach der Geburt aufgetreten waren. Aus Sicht der Simulationstheorie bzw. der Theorie der prädiktiven Kodierung (Friston 2017; Solms 2021) bildet die imaginäre Simulation ein Cocktail aus einer (antizipierten) Katastrophe, aktuellen Signalen und traumatischen Erinnerungen. Eine solche Simulation würde mit starken, vielleicht unerträglichen Affekten – zuvörderst mit dem Lacan'schen Uraffekt, der Angst bewertet werden (Lacan 2010). So schreibst Du beispielsweise von der Angst, ja, der Panik auf der Autobahnraststätte in Narbonne, die sich angesichts einer erschreckenden Hitze einstellt:

„Nach einiger Zeit drängt mich die geplante Weiterfahrt und die Tabaksucht wieder nach draußen – es ist gefühlt noch viel wärmer. Ich bekomme Angst – richtige Angst, Panik fast. Ich will wegrennen – aber wohin? Ein Gefühl der Heimatlosigkeit holt mich ein, dass ich an diesem Tag zum ersten Mal fühle: Es gibt keinen Rückzug, keine Garantie, keinen großen Anderen, der die weiter eskalierenden Katastrophen schon irgendwie regeln wird.“. (Graack 2022b).

Und einige Zeilen weiter unten steht:

„Das Vertraute, die Heimat entpuppt sich als die Bedrohung. Der ausgelassene Sommer von einst wird zur fürchterlichen Tortur. Und die Gedanken an den Winter bieten keinen Ausweg.“. (Graack 2022b).

Das Moment der Heimatlosigkeit wird mit einem Gefühl verknüpft: mit Angst und Panik. Die Erfahrung der Heimatlosigkeit ist in ihrem nicht-repräsentierten Kern wohl real: Lacan spricht vom Objekt a, das verloren ist (Lacan 2010, S. 267 ff.). Eine Traurigkeit, so würde ich sagen, ist insofern tatsächlich das (imaginäre) Gegenstück zur (realen) Heimatlosigkeit, als das das Reale ins Imaginär-Symbolische – gewissermaßen in die Sprache der Simulation und des Scheins – übersetzt und durch ein Gefühl bewertet wird. Das Gefühl ist meiner Ansicht nach insofern nicht banal, weil das Gefühl uns hilft, uns durch Situationen zu navigieren (Solms 2021). Das ist nämlich die evolutionäre Aufgabe des Gefühls: Ohne Angst, ohne Panik realisieren wir nicht, wie gefährlich eine Situation, etwa die Klima-Katastrophe ist.1 Ich pflichte Dir bei, dass der Deinerseits erwähnte Diskursabbruch aus dem Kontakt mit dem Realen resultieren kann. Aber ich habe noch einen slash in die Formel, die ich mit Abbildung 1 erinnern möchte, eingefügt (vgl. Goetzmann 2022):

Igel 1

Abbildung 1: Die psychische Situation der Klima-Katastrophe (D = Diskursabbruch; {} A = Affekt bzw. affektive Atmosphäre, / = Slash / Bruch; ... = Fluchtlinie in neue Territorien (Choral, Engagement, Geste, Igel).

Ich wollte mit dem slash andeuten, dass die Gefühle dazu dienen, eine Handlung zu initiieren, die eine Situation lösen soll. Insofern braucht es einen abduktiven Bruch, eine Art Geistesblitz, aus dem etwas Neues entsteht: ein neues Territorium. Der Schrägstrich soll sowohl die Differenz (zwischen Gefühl und territorialer Linie) wie die Zusammengehörigkeit verdeutlichen. Du hast als Beispiel den Schuldenschnitt erwähnt (Graack 2022b). Sloterdijk referiert auf „postprometheische“ und „nicht-pyrotechnische“ Prozeduren der Energiegewinnung oder eine politische „Helvetisierung“ unserer urban, d. h. durch überdimensionierte Mega-Cities strukturierten Gemeinschaften (Sloterdijk 2023, S. 61 ff).

Das Vertrackte ist, dass, wenn die Gefühle, welche die Heimatlosigkeit (vielleicht als eine ontologische Reaktualisierung des einmal subjektiv Erlebten) evaluieren, für uns unerträglich sind, es keine Transformation des Realen gibt – und damit wohl auch keine Treue zum Ereignis. Das sind meine Argumente: dass Affekte auf die Gefahr hinweisen (erstes Argument), aber wenn diese Affekte unerträglich sind, müssen wir die Gefahrensituation verleugnen, jedenfalls einer Negation unterwerfen. Ehrlich gesagt, wir müssten doch vor lauter Angst durchstarten – und sei es vor Angst davor, was unsere Kinder und Enkel im zukünftigen Klima-Chaos erleben und erleiden werden. Und wäre es nicht Aufgabe der Analytiker:innen, die Affekte zu benennen und zu konturieren, damit eine Verarbeitung, d. h. eine Transformation des Realen möglich und erleichtert wird? Freud sprach hier von der „Kulturarbeit“ (Freud 1930, S. 503 ff.). Segal (1987) sagt, dass gerade die Psychoanalyse mit Teufelskreisen aus Hass und Angst bestens vertraut ist. Sie lehrt uns, dass die destruktiven Triebe nur dann modifiziert werden können, wenn das Individuum Einblick in seine Motive erhält und sich die Folgen seines Handelns für andere und für sich selbst vergegenwärtigt.

Aber genau hier setzt, wie nicht anders zu erwarten, die Abwehr ein. Wir wissen, dass starke Abwehrmechanismen gegen solche Einsichten wirken – gegenüber der Gefahr der Atomwaffen, der Atomkraftwerke und der Klimakatastrophe. Wir greifen dann lieber auf projektive Mechanismen zurück: Dann sind diejenigen, die auf die Klimakatastrophe hinweisen, „Schmierer“ und „Chaoten“, und nicht diejenigen, welche die Umwelt zerstören.2 Ich fand die Dialektik aus Affekt und Abwehr in unseren Großgruppen sehr beeindruckend, d. h. wie wir als Gruppe ständig zwischen dem Zulassen von Gefühlen: Von Scham, Schuld, Traurigkeit, Verzweiflung, Ohnmacht, Wut, Hass, aber vor allem auch von Angst und Schrecken – und der Abwehr (vor allem in Form von Intellektualisierungen, aber auch der Somatisierung, etwa als Kopfweh oder einem körperlich empfundenen Druck) hin- und herwechselten. Das war ein echtes Stop-and-Go-Spiel. Als hätten wir uns um den heißen Brei, der das Reale ist, herumbewegt.

In der Literatur werden noch mehr Abwehrformen beschrieben, die im Englischen allesamt unter climate denial firmieren (Le Feuvre 2012). Es ist die „Arbeit des Negativen“, sozusagen das Negative bei der Arbeit, das André Green (1993) zum Herzstück seiner Psychoanalyse machte. Da ist zunächst die Verwerfung. Sie betrifft sowohl das Symbolische wie das Imaginäre: Es wird ausradiert, und die Inhalte ins Reale, quasi in Urverdrängte zurückgestoßen. Von hier kann das Verworfene in einer eruptiven Tat oder Aktion, d. h. in einer Passage à l'acte wiederkehren (vgl. Goetzmann 2020), etwa, wenn Rechtsradikale (grüne) Politiker:innen mit Messerstichen und Fausthieben attackieren.

Der Abwehrklassiker ist die Verleugnung: Wenn wir schlicht und einfach etwas Wahrgenommenes nicht wahrhaben wollen.  Ein besonders beeindruckendes Bespiel für Verleugnung findet sich in dem Film: „Das Interessengebiet“ („Zone of Interest“) von Jonathan Glazer (2023). Gezeigt wird das Leben und der Alltag der Familie Höß, die in einem hübschen Haus mit großem Blumengarten neben dem KZ Ausschwitz wohnt. Das Lager wird nicht oder kaum gezeigt. Man hört nur die Klangkulisse: den Soundtrack einer Massenvernichtung (Musik: Mica Levi). Man hört Schüsse und Hundegebell, Schreie, Befehle. Diese akustische Hyperobjekt blendet Hedwig Höß (Sandra Hüller), die mit ihren Kindern und ihrem Mann, dem KZ-Kommandanten Rudolf Höß (Christian Friedel) in dem Haus wohnt und den Garten pflegt, komplett aus. Es gibt nur das Familienidyll. Das „Interessengebiet“ wird komplett verleugnet. Um sich diese kleine Welt des Glücks zu erhalten, wird die Katastrophe ausgeblendet. Abbildung 2 zeigt die Situation:

Igel 2

Abbildung 2: Szene aus „Zone of Interest“ (mit freundlicher Genehmigung der Leonine Studios).

Ist diese Szene nicht auch ein Gleichnis für unsere Situation, jedenfalls in den reichen Industriestaaten des „Globalen Nordens“ – mit der entsprechenden Verleugnungsaktivität? Angesichts der Angst vor der Vernichtung – und der Verunmöglichung eines symbolischen Überlebens, indem die folgenden Generationen am Leben bleiben – erstarken sich die schizoiden Abwehrmechanismen (Segal 1987). Natürlich gibt es auch die Verneinung, die in ihrer Durchsichtigkeit banaler wirkt: Der Anstieg der Temperatur wird in Abrede gestellt oder als eine natürliche Klimaschwankung interpretiert. Die wissenschaftlichen Belege sind aus dieser Perspektive falsch – wie ein Antrag der AfD im Deutschen Bundestag vom 19.9.2023 eindrücklich illustriert3.

Verwerfung, Verleugnung und Verneinung dürften jedoch nicht nur durch unerträgliche Affekte ausgelöst werden, welche die Kapazität des Menschen, Negatives zu ertragen, übersteigen. Auch die Frage des Verzichts, d. h. einer Wiederauflage des Mangels, spielt eine große Rolle bei der Mobilisierung der Abwehr. In einem Essay zum heutigen Klima-Fiasko zeichnet Peter Sloterdijk (2023) nach, wie das Abfackeln und die Ausbeutung der unterirdischen Wälder nicht nur einer Oberschicht unermesslichen Reichtum verschuf, sondern es auch ermöglichte, dank der solchermaßen gewonnenen Energie Muskelarbeit durch Maschinenarbeit zu ersetzen. Wir brauchen keine Sklaverei mehr in unseren Gesellschaften, aber der Erhalt unseres Lebensstandards würde, so Sloterdijk (2023, S. 55), ohne weiteres die Muskelarbeit von 20 oder 50 oder noch mehr Sklaven erfordern, würden wir keine Maschinen besitzen (abgesehen davon, dass es Kinder sind, die in den afrikanischen Kobaltminen schuften). Aber wie gesagt: Das Ende des Überflusses, wie man sagt – dieser neue (uralte) Mangel wäre unerträglich. Zu der Arbeit der Maschinen gesellt sich deswegen die Arbeit des Negativen.

Aber besonders interessant ist die Verdrängung (vgl. Searles 1972) – und zwar die Verdrängung des Ödipus-Komplexes aus der Sicht der Eltern. Man könnte doch meinen, diesen läge etwas an der Vitalität, an dem Weiter- und Überleben ihrer Kinder und Enkel. Aber dem ist mitnichten so. Hier seien die drei Phasen oder Stadien des Ödipus-Komplexes kurz rekapituliert (Freud 1924, S. 395 ff.; Recalcati 2000, S. 62 ff.):

 Igel neu neu

Abbildung 3: Die drei Phasen des Ödipus-Komplexes.

Phase 1 umfasst die Zeit der imaginären Allmacht. Das Kind identifiziert sich mit dem Dritten, der Junge z. B. mit dem Vater, das Mädchen mit der Mutter. So hofft das Kind auf eine ebenbürtige Partnerschaft mit dem Zweiten, d. h. mit der geliebten Mutter bzw. mit dem geliebten Vater. Phase 2 ist diejenige der Versagung, des Verbots, der Kastration bzw.  der Kastrationsdrohung. Hier interveniert der Dritte – zumindest in der Fantasie des Kindes. In der Phase 3 findet eine Versöhnung mit dem Dritten statt, d. h. eine Versöhnung zwischen Gesetz und Begehren. Alte imaginär-phallische Wünsche werden verdrängt (unter dem Einfluss der verinnerlichen Elternfiguren, also des Überichs). Phase 3 vermittelt aber auch das Moment des Mangels, der sowohl durch den Verzicht auf den Zweiten wie durch die Einführung des Symbolischen (also dem Dritten: dem Gesetz und der Sprache) steht. Erscheint dieser Mangel unerträglich, kehrt das Kind in Phase 1 zurück, d. h. auf das phallisch-imaginäre Startfeld. Der Ödipus-Komplex ist dann nicht linear, sondern zirkulär. Das Subjekt schleppt nicht seine verdrängten Wünsche mit, die ihm später hier und da einen neurotischen Strich durch die Rechnung machen, sondern bleibt in der Zirkularität des Ödipus gefangen, oszillierend zwischen der phallisch-imaginären Überheblichkeit und der versagenden Kastration. Der zirkuläre Ödipus-Komplex versteckt sich dann hinter dem klinischen Bild von imaginärer Größenfantasie und kastrierender Kränkung. Nicht der Ödipus-Komplex zerschellt, wie Freud (1923) sagte, in der Phase 3, sondern das Wachstum der Persönlichkeit wird unterbunden. Verdrängt sind die Motive: die Sehnsucht nach dem Zweiten und die Angst vor dem Dritten.

Ändern wir die Perspektive: Der Erwachsene, der sich in der Phase 3 mit dem Altern und seiner Sterblichkeit konfrontiert sieht, wird sich normalerweise mit diesem Mangel irgendwie arrangieren. In diesem Fall findet eine Versöhnung zwischen Naturgesetz und Begehren statt. Oder aber der Erwachsene, der als Kind schon den Mangel kaum ertrug, regrediert auf die Phase 1 bzw. 2 – aber nun, und da liegt der Unterschied! in der Position des Erwachsenen.  Er nimmt in Phase 1 und 2 die Position des Phallisch-Imaginären und Kastrierenden ein, um seinen eigenen Mangel zu kompensieren. Nun kastrieren diese phallisch-imaginär ermächtigten Erwachsenen ihre Töchter und Söhne, indem sie diesen die zukünftige Lebensgrundlage kaputt machen. Diese Tötungsabsichten, die auf einer neidvollen Rivalität beruhen, sind natürlich verdrängt, denn das Überich würde solche Monstrositäten nie legitimieren. Was sichtbar bleibt, ist das Symptom: die aktive Zerstörung der Umwelt, die – wie Searles (1972) sagt: Pollutionen, die gezielte Erhitzung des Klimas – aus Rache, Neid und Rivalität. Die Klima-Katastrophe ist das Symptom der Eltern, die den eigenen Mangel – d. h. ihre Sterblichkeit – nicht ertragen. Aus dieser Sicht ist das Argument, dass die Älteren doch für ihre Kinder sorgen sollten, absurd. Im Gegenteil: die alternden Väter bekämpfen im Schutze der Verdrängung ihre Söhne, die alternden Mütter ihre Töchter – und dies stets aus einem ödipalen Neid heraus auf deren Jugend, aus Neid auf deren lebendige Sexualität und Potenz. Der pollutive Ausstoß von Schadstoffen, so Searles (1972), dient der ödipalen Kastration. Insofern wird im Grunde nicht (oder nicht nur) die Katastrophe verdrängt, sondern in erster Linie das total obszöne ödipale Motiv, das diese Katastrophe, sprich: das klimatische Symptom stützt. Der Neid und der Schmerz der Eltern würden zu einem ontologischen Desaster beitragen, das den gesamten Erdball erfasst. Searles (1972) spricht von einer Apathie, die inzwischen seit Jahrzehnten besteht. Und es ist die Arbeit des Negativen, welche diese hartnäckige Apathie ermöglicht.

Harold Searles Buch Die Welt der Dinge erschien auf Englisch im Jahre 1960, also einige Jahre, bevor ich auf die Welt kam (dt. Searles 2016). Ich bin in dieser Apathie aufgewachsen, und erst jetzt, wo die Klima-Katastrophe definitiv eingetreten ist, d. h. sinnlich spürbar wird, jetzt, wo die Vögel aus dem Himmel stürzen und die Affen von den Bäumen, weil sie die Hitze nicht mehr ertragen, scheint es so zu sein, dass meine Abwehr, meine chronifizierte Apathie ein paar Risse erhält.4 Bis jetzt war die Gefahr abstrakt, was die Abwehr erleichterte. Ich möchte darum behaupten: Wir kommen um die Affekte nicht herum, weil sie sonst die Abwehr der simulativen Vorstellungen verstärken, die sie bewerten. Ich glaube, wir müssen die Traurigkeit – und die Älteren auch die Schuld und die Scham – ertragen lernen. Wir müssen, wie Tadzio Müller an unserer Tagung so eindrücklich sagte, den Schrecken (wie gesagt: des Realen) ertragen. Und transformieren. Erst dann wird das Handeln frei. Erst dann sind die Igel möglich. Natürlich ist der Schuldenschnitt, den Du erwähnst, ein solcher Igel.  Aber ich glaube, auch unsere Juni-Tagung war ein Igel. Das sind die Punkte in meiner Formel, welche die territoriale Fluchtlinie markieren: Kleine Igel, große Igel. Mit der Heimatlosigkeit der Igel, auf die ich im Titel meines Aufsatzes anspiele, meine ich, dass das Reale der Heimatlosigkeit in den Igeln (u.a. dem Symbolischen der Vorstellung einer Tat) aufgehoben ist. Und: Dank ihres realen Kerns sind alle Igel heimatlos. Und natürlich sind Analytiker:innen und Philosoph:innen wie alle Menschen mit denselben destruktiven Trieben ausgestattet, und sie verwenden dieselben Abwehrmechanismen. Analytiker:innen können sich zudem hinter dem bewährten Schutzschild psychoanalytischer Neutralität verstecken, die eine gewisse Lebensbequemlichkeit garantiert. Segal (1987, dt. 2006) sagt: Als den Menschen das Naziphänomen ins Gesicht starrte, schwieg die psychoanalytische Gemeinschaft weitgehend. Das darf sich nicht wiederholen. Sie zitiert Nadejda Mandelstam (1999, S. 405): „Schweigen ist das wahre Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Sie sagt: Wir, die wir an die Macht der Worte glauben, dürfen nicht schweigen. Die Taten sind Igel, ganz sicher und ohne Zweifel. Aber auch unsere Worte sind Igel – die sich aus den Nestern des notwendigen Affekts in die Welt aufmachen.

 


1Die Katastrophe bezeichnet in der Tragödie bekannterweise den Wendepunkt der Handlung, d. h. den Punkt, an dem sich das Schicksal des Helden zum Guten oder Schlechten entscheidet. Diese Wendung „zum Guten oder zum Schlechten“ führte die Protagonisten wie auch das Publikum in eine läuternde Katharsis oder in den definitiven Untergang. (https://de.wikipedia.org/wiki/Katastrophe). Das Gefühl, das die Situation des Wendepunktes bewertet, navigiert durch diese – unter Umständen gefährliche – Situation.

2 Vgl. https://www.bild.de/regional/berlin/wieder-schmier-attacke-klima-radikale-verschandeln-kanzleramt-666165dacec1b34b13ac2a90 [30.07.2024]. Es handelt sich um eine Regression in die paranoide/schizoide Position, die durch Verleugnung, Spaltung und Projektion gekennzeichnet ist (Segal 1987). Diese Haltung scheint gegenwärtig eher für die ältere Generation typisch zu sein, während Angehörige der jüngeren Generation eher zum Modus der depressiven Position zu neigen scheinen, die durch die Fähigkeit, die eigene Aggression zu erkennen und Schuld und Trauer zu empfinden gekennzeichnet ist (Weintrobe 2023).

3 https://dserver.bundestag.de/btd/20/084/2008417.pdf

4 https://www.tagesschau.de/wissen/klima/bruellaffen-hitze-artensterben-klimawandel-100.html

 

Literaturverzeichnis

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Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa/IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.

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