Zvenyslava Kechur

Y – Z Atop Denk 2024, 4(6), 2.

Abstract: Die in diesem Beitrag präsentierte Fall-Geschichte muss im besonderen Kontext von heute, im Rahmen des Krieges in der Ukraine, betrachtet werden. Heutige Traumata aktualisieren Erinnerungen – Wiedererfahrungen der Vergangenheit von Patient:innen und Psychoanalytiker:innen. So wird die schreckliche Vergangenheit einzelner Menschen und ganzer Nationen wieder zur Realität. Die Tragödie individueller und kollektiver Traumata vervielfacht sich in gegenseitiger Verstärkung und Wiederholung. Es handelt sich um eine traumatische Geschichte, die nicht nur unsere Denkfähigkeit, sondern sogar unsere Existenzfähigkeit angreift: Die Geschichte einer Psychoanalyse, die zwei Menschen zusammenbrachte, die sich beide nach Freiheit sehnten.

Übersetzung: Ursula Lübbers u. Klaus Lübbers

Keywords: Freiheit, Trauma, Ukraine, Totalitarismus, Konformismus

Copyright: Zvenyslava Kechur | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.06.2024

Artikel als Download: pdfDer Preis und der Wert der Freiheit

 

1. Die Frage der Freiheit

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine große Ehre für mich, den Abschlussvortrag der diesjährigen Konferenz der Ukrainischen Psychoanalytischen Gesellschaft (UPS) halten zu dürfen. Als mich meine polnischen Kollegen und Kolleginnen vor einem Jahr baten, meine Überlegungen zum Thema Freiheit mit ihnen zu teilen, war ich sehr bewegt, da ich dieses Thema für einen sehr sensiblen Bereich meiner persönlichen Erfahrungen, der Erzählungen meiner Patient:innen und der Geschichte meines Landes hielt. Ja, damals hatte ich keine Ahnung, wie die zukünftigen Veränderungen in diesem Bereich aussehen würden. Und jetzt, wo die Ukraine wieder einmal ihr Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit in einem so unbarmherzigen, brutalen Krieg verteidigt, weiß ich immer noch nicht, welchen Preis mein Land für diese unbestreitbaren – und in den Augen der Europäer sogar ein wenig trivialen – Werte zahlen wird.

Ich beginne meinen Vortrag mit den Worten des großen italienischen Denkers der Renaissance, Giovanni Pico della Mirandola. Sie stammen aus seiner Schrift „Über die Würde des Menschen“, die er im Jahre 1496 verfasste:

„Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz, noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit Du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetzte bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen.“ (Pico della Mirandola 1949, S. 52).

Seit Jahrhunderten wird der Begriff der Freiheit von Philosoph:innen, Historiker:innen, Politikwissenschaftler:innen und Psychoanalytiker:innen erforscht. Er unterliegt nach wie vor bedeutenden Wandlungen. Wenn man also die Diskussion über dieses Thema beginnt, ist es immer eine Herausforderung oder – wie Hannah Arendt (1961, S. 143) schrieb – sogar etwas Hoffnungsloses, wie die Quadratur des Kreises. Um also nicht im Dickicht der Philosophie, Theologie, Linguistik oder Logik zu versinken, werde ich meinen eigenen bewussten und intuitiven Beobachtungen, Assoziationen, Erfahrungen und Gefühlen folgen, die mich seit Beginn meines Lebens begleiten. Es liegt auf der Hand, dass sich diese Erzählungen durch Familiengeschichten geformt haben, Geschichten, die immer wieder von Mitgliedern unserer Familie vermittelt wurden.

Meine Eltern gehörten zu den so genannten shistdesiatnyky – der Generation der ukrainisch-sowjetischen Intelligentsia, die ein starkes staatsbürgerliches Bewusstsein hatte und Anfang der 1960er Jahre aufgrund der Schwächung des kommunistischen Totalitarismus ihre größte Chance erhielt, sich zu Wort zu melden. Diese Gruppe schuf eine moralische Opposition gegen das totalitäre Regime der UdSSR. Viele junge Menschen unter ihnen waren mutig und radikal genug, um die Saat der Freiheit, die damals in allen Bereichen des kulturellen und politischen Lebens aufging, zu unterstützen und zu entwickeln. Ich denke, sie waren mutig, aber auch rücksichtslos. Wie wir heute wissen, hielt das so genannte „Chruschtschow-Tauwetter“ nicht lange an, und nach Ereignissen wie der Absetzung Nikita Chruschtschows 1964 und der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wurde die kreative, liberale und demokratische Intelligentsia zu einem der größten Hindernisse auf dem Weg zur Restauration des Totalitarismus. In den Jahren 1965-1972 waren viele ukrainische Historiker:innen, Dichter:innen, Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Übersetzer:innen und Philosoph:innen Repressionen ausgesetzt (durch Verhaftung, Ermordung, Deportation, Erfassung auf schwarzen Listen usw.); sie wurden in den „geistigen Untergrund“ gedrängt.

Das Thema der ‚Freiheit‘ (im Sinne von ‚freedom‘) und die generationenübergreifende Bindung setze ich in Bezug zu dem Wort ‚Freiheit‘ (‚liberty‘), das sich vom lateinischen Wort ‚libertas‘ ableitet (im Sinne von politischer Freiheit oder Abwesenheit von Unterdrückung). Zur selben Wortfamilie gehört das lateinische Wort ‚liberi‘, das ‚Kinder‘ bedeutet. Es bezieht sich auf die genealogische Übertragung des Rechts auf Freiheit von den Eltern auf ihre Kinder. So wuchs ich in der UdSSR in der Atmosphäre des „geistigen Untergrunds“ auf, und als ich volljährig wurde, erwartete ich bereits wie viele meiner Altersgenossen, dass – wie der ukrainische Schriftsteller Taras Prochasko (2021) es ausdrückte – „die Szenerie sehr bald zusammenbrechen würde“. Ich erwartete, dass ich ein ‚interessantes Leben wählen‘ und auf diese Weise ‚den Verfall beschleunigen‘ können würde.

Daher war niemand überrascht, als am 2. Oktober 1990 die nächste Generation von Studierenden auf den damaligen Platz der Oktoberrevolution ging, um die erste Protestkundgebung mit dem Namen „Revolution auf Granit“ zu starten: Einen studentischen Hungerstreik, der zu einem der Vorläufer des Zusammenbruchs der Sowjetunion wurde. Bei dieser Gelegenheit stellten die Student:innen fünf Postulate auf (Verhinderung der Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages; Neuwahl des Obersten Rates der Ukrainischen SSR nach dem Mehrparteiensystem; Nichtbeteiligung ukrainischer Soldat:innen an Kriegen auf fremden Territorien; Verstaatlichung des Eigentums der Kommunistischen Partei der Ukraine und der Leninistischen Jungkommunistischen Liga; Rücktritt des Vorsitzenden des Ministerrates, Vitaliy Masol). Diese Forderungen wurden am 17. Oktober vom Obersten Rat der Ukraine angenommen, und der Hungerstreik wurde am 18. Oktober beendet. „Was war das?“ – Ich habe mich oft gefragt: „Mut oder Leichtsinn?“. Wahrscheinlich beides.

„Das Aufwachsen in einer freien Gesellschaft ist etwas ganz anderes als das Aufwachsen in einer totalitären Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft eine Geschichte der Unfreiheit hat, dann erlebt man den Übergang von der Unfreiheit zur Freiheit auf eine sehr spezifische, existenzielle Weise. Ich habe die Hälfte meines Lebens in der Sowjetunion verbracht und weiß aus eigener Anschauung sehr gut, was Unfreiheit ist und wie es ist, die gesellschaftliche und bürgerliche Freiheit zu erlangen“ (Dachniy, 2018).

Das sind die Worte eines bekannten ukrainischen Philosophen aus Lviv, Andriy Dachniy (2018). Um diese generationsübergreifende Linie beim Schreiben fortzusetzen, möchte ich eine unserer Lieblingsfamiliengeschichten erwähnen, die sich 2004 während der Orangenen Revolution ereignete. Die Kinder unserer Freunde stritten sich heftig darüber, ob es Kamele mit nur einem Höcker gäbe, und der fünfjährige Junge beendete den Streit mit einer pathetischen Aussage: „Dann werden wir eine Vollversammlung im Kindergarten veranstalten und beweisen, dass es Kamele mit einem Höcker gibt!“. Und zehn Jahre später schrieb die 17-jährige Schwester dieses Jungen:

„Als ich aufwuchs, sagte mir meine Mutter in einem unserer Gespräche, dass die moderne junge Generation wahrscheinlich die eigene Freiheit – Redefreiheit, Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit – nicht versteht und schätzt. Ich dachte einen Moment lang darüber nach und versuchte zu widersprechen. Aber das war damals. Und jetzt würde ich das nicht mehr tun.“

30. November 2013 – Gewaltsame Niederschlagung friedlicher Studentenproteste.

Empörung, Wut und Unverständnis.

18. Februar 2014 – „Berkut“ griff den Maidan an1. Mehr als 30 Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden brutal zusammengeschlagen.

9. Februar 2014 – Die Verkhovna Rada erhielt keine Mehrheit für eine offizielle Verurteilung der Gewalt.

22./23. Februar 2014 – Mehr als 80 Menschen werden getötet. Hunderte gefoltert und vermisst.

18. März 2014 – Annexion der Krim durch die Russische Föderation.

April 2014 – Einmarsch russischer Truppen in ukrainisches Gebiet. Beginn der ATO (sog. „Anti-Terror-Organisation“ im besetzten Donbass). Dutzende von getöteten und Hunderte von verwundeten ukrainischen Militärangehörigen. Der Nachbarstaat greift in unsere Integrität, Unabhängigkeit und Freiheit ein, deren Wert uns inzwischen bekannt ist.

In jenem Winter kam für das ganze Volk ein Moment, der alles veränderte. Das Weltbild, die Ziele, uns selbst.

Zehn Jahre sind verstrichen. Jetzt fordern diese Worte einen höheren Preis und haben einen besonderen Wert für die Generation der Eltern dieser Kinder.

Es lohnt sich, hier noch einmal an Pico de Mirandola zu erinnern:

„Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss deines Geistes zu erheben.“ (Pico de Mirandola 1949, S. 52 f.).

Was ist das Bestimmende für eine Person oder eine Gesellschaft? Soziale Mythen schaffen verschiedene Nährböden, die geeignete Bedingungen für die Entwicklung eines totalitären oder demokratischen Handlungsstils schaffen. Die Tradition des erfolgreichen Kampfes gegen Gesetzlosigkeit stützt die Hoffnung und die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung (und damit das Bewusstsein der eigenen Wissensgrenzen). Sie stützt das Gefühl der eigenen Stärke und das Selbstvertrauen. Misserfolge in diesem Kampf aktivieren unweigerlich totalitäre Mythen, die die Realität beeinflussen und zu generationsübergreifenden Traumata führen.

Michael O'Loughlin stellte einmal (in einem Vortrag) – und zwar in Hinblick auf die Geschichte Irlands – die Frage, was mit einer Bevölkerung geschieht, die nicht nur katastrophale Verluste durch Hunger und Misshandlungen erlitten hat, sondern auch ihre Muttersprache und ihr ethnisches Erbe verloren hat, das heißt die kodierte kulturelle Identität, die Erinnerung an die Vorfahren, Verlust und Leid. Wenn diese Verluste lebendig bleiben, dann stellt sich die Frage: Was geschieht dann mit dem Schmerz? Und wenn der Schmerz verdrängt wird, kann er sich in Wahnsinn verwandeln, und die Abwehr dagegen nimmt wiederum die Form einer Depression, einer Sucht oder eines anderen schweren psychischen Symptoms an, das vielleicht erst viel später auftreten wird.

In meiner psychoanalytischen Praxis bin ich immer wieder auf ähnliche Überlegungen gestoßen, und nun möchte ich einige meiner Beobachtungen zu einer solchen klinischen Geschichte mitteilen. Zu Beginn dieser Behandlung hatte ich die große Hoffnung, dass die Arbeit mit dieser Patientin letztlich den Gedanken des polnischen Theologen, Philosophen, Publizisten und ersten Seelsorgers der „Solidarność“, Adam Michnik widerspiegeln würde:

„Die Freiheit kommt nicht durch das Lesen von Büchern in den Menschen. Die Freiheit kommt, wenn man einem anderen freien Menschen begegnet. Wenn ein Sklave einem freien Menschen begegnet, fängt er an, ihn für diese Freiheit zu hassen oder er wird selbst frei“ (Michnik, Tischner u. Żakowski 1995, S. 290).

 

2. Klinisches Material

2.1. Einführung

Als wir uns im Januar 2015 zum ersten Mal trafen, hatte ich den Eindruck, dass Anastasiya ein orientierungsloses Kind war, das sich in einer großen, fremden Stadt verirrt hatte. Sie schien aufgrund ihrer Angst beim Warten auf Rettung wie betäubt zu sein, und ich kümmerte mich um sie mit dem Gefühl großer Verantwortung und Sorge angesichts ihrer besonderen Bedürfnisse und komplexen Anamnese.

Anastasiya brachte ihre Krankheit mit der Tatsache in Verbindung, dass sie 2013 aus einer Stadt im Osten der Ukraine „vertrieben“ wurde und nach Lviv zog. Hier befand sie sich in einer gewissen sozialen Vereinzelung, fühlte sich fremd, isoliert und desorientiert. Sie vermisste ihr Team aus ihrer Heimatstadt und machte sich Sorgen darüber, dass sie die ukrainische Sprache nicht fließend genug beherrschte. Sie hielt es für eine Schande, die Sprache des Landes, in dem man lebte, nicht zu beherrschen. Sie sprach Russisch mit mir, aber sie fühlte sich dabei nicht entspannt.

Langsam nahm die Angst in ihr zu. Sie hatte Schlafstörungen, war unsicher in Bezug auf ihre beruflichen Fähigkeiten, war deprimiert und dachte über ihre Unfähigkeit nach, hatte weniger Appetit, fühlte sich müde, spürte „Steine“ in ihrem Oberbauch, war gereizt und innerlich angespannt. Im Februar 2014 begann sie eine medikamentöse Behandlung mit begrenztem Erfolg. Ende Januar 2015 wies der Psychiater Anastasiya in das Krankenhaus ein, in welchem ich arbeitete.

 

2.2. Überweisung zur Therapie

Anastasiya kam in einem Zustand schwerer Depression mit Selbstmordgedanken in unsere Klinik. Nach der schweren Anfangsphase ihrer Krankheit musste sie eine Psychotherapie beginnen. Aber sie suchte nicht nur fachliche Hilfe, sondern auch allgemeine Kontakte in der fremden Stadt.

 

2.3. Erstgespräch

Nachdem ich mir ihre oben erwähnten Klagen angehört hatte, die nicht nur von Hass auf die ukrainische Sprache, das Lviver Kopfsteinpflaster und die historische Architektur der Stadt, sondern auch von bedrängenden Gedanken an eine Rückkehr in ihre Heimatstadt geprägt waren, empfand ich Anastasiya gegenüber widersprüchliche Gefühle, denn neben Mitleid empfand ich auch Erstaunen und Empörung über ihre Intoleranz und Verachtung für Dinge, die für mich Heimat sind: meine Muttersprache und meine Heimatstadt. Ich fühlte mich, als wäre ein verwirrtes, zartes und hilfloses Baby in meinen Armen gelandet, und vielleicht war das der Grund, warum ich mich unendlich anstrengen musste, dieses Baby in meinen Armen zu halten und ihm keine Schmerzen zuzufügen.

Anastasiya schien eine sehr disziplinierte Patientin zu sein. Sie wuchs als Einzelkind in einer liebevollen und unterstützenden Familie auf. Sie wurde bis zum Alter von fünf Monaten gestillt, und ein Jahr später brachte ihre Mutter sie in den Kindergarten, wo sie eine Lungenentzündung bekam und einige Zeit brauchte, um sich zu erholen, bevor sie in ihre Gruppe zurückkehren konnte. Meiner Patientin zufolge gefiel ihr alles im Kindergarten, obwohl die Kinder gezwungen wurden, viele unangenehme Dinge zu tun (Dinge zu essen, die sie nicht mochten, zu schlafen, wenn sie es nicht wollten), die Kinder wurden angeschrien und bestraft. Aber sie war immer gehorsam, so dass ihr solche Dinge nicht passiert sind.

Als sie drei Jahre alt war, erkrankte sie an einer Arachnoiditis und dann an einer Psoriasis. Im Alter von 5 Jahren entwickelte sie Schwindel und Kopfschmerzen. In der Schule (seit ihrem 6. Lebensjahr) war sie die Klassensprecherin und eine der besten Schülerinnen. Sie hat angenehme Erinnerungen an diese Zeit, obwohl ihre Klassenkameraden sagen, dass ihr Lehrer sie anschrie und manchmal schlug oder ihnen Kaugummi ins Haar klebte. Sie erkrankte an einer Gastritis, die seither immer wieder auftritt. Sie beendete die Schule und schloss die Universität mit Auszeichnung ab. Sie ist verheiratet. Anastasiya ist der Meinung, dass sie und ihr Mann perfekt zusammenpassen. Sie haben eine Tochter, die seit ihrem dritten Lebensmonat an atopischer Dermatitis und seit ihrem dritten Lebensjahr an chronischer Bronchitis mit asthmatischen Anzeichen leidet.

Ihr Vater ist gebürtiger Russe. Er war mit seinen Eltern in die Ukraine gezogen. Er war sein ganzes Erwachsenenleben lang wegen Depressionen behandelt worden. Ihre Mutter ist Ukrainerin und stammt aus einem Dorf im Osten der Ukraine. Mit ihren Eltern sprach sie Ukrainisch, mit ihrer Tochter und ihrem Mann Russisch. Die Familie der Mutter überlebte den Holodomor (Große Hungersnot) 1932-1933, aber es wurde nie darüber gesprochen. Die Familie entwickelte einen Kult des Essens und eine Tradition von Familienfesten, bei denen nie gesungen wurde. Anastasiya verbrachte ihre Ferien oft auf dem Lande. Sie hat warme und zärtliche Erinnerungen daran, aber sie wollte immer in ihre Stadt zurückkehren.

Wir arbeiteten sechs Monate lang zweimal wöchentlich zusammen, und die Therapie wurde durch eine medikamentöse Behandlung ergänzt. Anastasiya musste ihre emotionale Isolation überwinden, deshalb wollte sie unsere Beziehung aufrechterhalten. Sie war in der Lage, sich selbst zu beobachten, sie verstand die metaphorische Sprache und äußerte ihr Bedürfnis, weiter meine Unterstützung zu bekommen. Wir einigten uns auf eine Langzeittherapie.

Sie verbrachte ihre Sommerferien zu Hause, und in dieser Zeit setzten wir unsere Sitzungen über Skype fort. Als sie nach Lviv zurückkehrte, verschlechterte sich ihr Zustand erneut, und ich fühlte mich traurig, beschämt und hilflos angesichts des Scheiterns sowohl der Bemühungen ihres Psychiaters als auch unserer eigenen. Dann erzählte sie mir von einer Situation, deren Thema sich wie ein roter Faden durch die nächsten zwei Jahre der Analyse ziehen sollte. Sie sagt auf Russisch:

„Ich erinnere mich, wie wir einmal mit einer ukrainischen Fluggesellschaft von Paris aus geflogen sind und das Flugzeug in deutliche Turbulenzen geriet. Es war furchtbar. Das Flugzeug stürzte für ein paar Minuten einfach ab. Und es war eine sehr junge Stewardess dabei. Sie setzte sich auf die Armlehne des Sitzes und wiederholte mit Entsetzen: ‚Ich will nicht sterben, ich habe ein kleines Kind‘. Mir stiegen Tränen in die Augen. Und dann ließ uns der Flughafen lange Zeit nicht landen, und wir flogen im Kreis über dem Flughafen. Und als wir endlich gelandet sind, hat es so stark geregnet, dass es auf dem Heimweg im Taxi so aussah, als würden wir über die Autobahn segeln.“

Was ist hier der rote Faden? Es ist die Angst vor einer Katastrophe. Und dahinter steht die Angst aus der frühen Beziehung zur Mutter, die nicht genügend Halt bieten konnte und Wiederholung der Situation mit der Stewardess, die keinen Halt gibt. Einschließlich der Frage: Kann die Analytikerin genügend Halt geben? Ich dachte, dass meine Besorgnis und Verzweiflung die Hindernisse widerspiegeln könnten, die es Anastasiya im Leben schwer machten und auf die sie immer wieder stieß: Es ging um die Schwierigkeiten in ihrer ersten Beziehung, die zu ihren psychosomatischen Problemen, ihrer narzisstischen Sensibilität und ihrer unvollendeten Trennungsgeschichte führten.

 

3. Der unbewusste Wunsch nach Psychotherapie

Eine Person zu finden, die in der Lage ist, die unausgesprochenen Gefühle schrecklicher Verlassenheit zu tolerieren und mit ihr zu teilen, während sie die volle Verantwortung für ihr Leben übernimmt; oder in der Gegenwart einer unterstützenden Person zu wachsen und auf diese Weise frei und unabhängig zu werden – ich nehme an, dass diese beiden Optionen Anastasiyas unbewussten Wunsch und Konflikt darstellten.

 

3.1. Die erste Phase der Analyse

Nach einem Jahr psychotherapeutischer Sitzungen beschlossen wir, die Arbeit viermal pro Woche auf der Couch fortzusetzen. Anastasiyas Phantasien, Assoziationen und Erinnerungen schienen von Angst durchdrungen zu sein. Sie bildete zwar ‚richtige‘ Assoziationsketten, aber ihre Sprache schien wie eingefroren zu sein. Lange, monotone und ermüdend gleichförmige Beschreibungen ihres Leidens erweckten das Gefühl, dass es eine Barriere gab, hinter der die ganze Vielfalt ihrer unerkannten Gefühle zu lauern schien. Ihre Träume hingegen waren lebendig, mehrsprachig und einnehmend. Sie erkannte schnell, dass Träume ein fruchtbares Thema für unsere Gespräche waren, und sie begann, unseren sich zaghaft weitenden Raum mit vielen unglaublichen Geschichten zu füllen.

Zu Beginn ihrer Analyse erzählte mir Anastasiya von einem Traum, in dem sie hinter dem Vorhang im Schlafzimmer ihrer Eltern stand und schwarz gekleidete Diebe beobachtete, die große Kisten mit Wertsachen aus ihrem Haus schleppten. Sie zitterte vor Angst, weil ihre nackten Füße unter dem Vorhang hervorlugten und ihre Anwesenheit hätten verraten können. Seit ihrer Kindheit hatte sie Träume, in denen jemand sie verfolgte oder ihr etwas Wertvolles wegnehmen wollte. So glaubte sie, sie dürfe ihre Gedanken und Gefühle nicht vertrauensvoll mit anderen teilen. Auch mir gegenüber hatte sie kein Vertrauen, und wenn ich manchmal die in ihrer Sprache verborgene Angst kommentierte, reagierte sie mit Ironie und verglich mich mit ihrer ängstlichen Mutter, die immer eine Gefahr erwartete.

Anastasiya hat unsere ersten Pausen zwar sehr intensiv genutzt, doch ihr Zustand hat sich während dieser Zeiträume immer weiter verschlechtert. Damals interpretierte ich dies als eine negative therapeutische Reaktion, die es ihr nicht nur unmöglich machte, voranzukommen, sondern die auch ihre Abhängigkeit von mir und anderen verstärkte. Wir sprachen verschiedene Sprachen, sowohl wörtlich (sie sprach Russisch und ich Ukrainisch) als auch metaphorisch. Es war interessant zu beobachten, wie sie diese sprachliche Konstellation nutzte, denn manchmal fügte sie ukrainische Wörter, Zitate oder Phrasen hinzu. Anastasiya betonte, dass es für sie wichtig war, durch mein Ukrainisch-Sprechen meine Authentizität zu spüren, da sie sich ihrer eigenen Identität ziemlich unsicher war. Sowohl die ukrainische Sprache als auch die Träume förderten manchmal unser gegenseitiges Verständnis, aber manchmal stellten sie auch ein Hindernis dar, wenn wir einander näherkommen wollten. Es schien, dass die Sprache, die Anastasiya nach ihrem Wechsel nach Lviv so irritiert hatte, ein Geheimnis enthielt, das in ihr fast Panik auslöste, wenn sie es berührte. Ihr Wunsch, dass ich in der Analyse weiterhin auf Ukrainische sprechen möge, stand im Widerspruch zu dem Grund, aus dem sie zur Analyse gekommen war: Es war wie eine Annäherung an eine Person, die von Anfang an Irritation in ihr erwecken sollte. Bevor Anastasiya also die Tür zu ihrem Innersten öffnete, musste sie sich vergewissern, dass ich freundlich und zuverlässig sein würde. Und ich unterstützte sie – wie von einer Kraft getrieben – ein wenig zu sehr mit meinen Worten, wodurch ich gleichzeitig ihr Bedürfnis nach körperlichem Kontakt kompensieren wollte. Erst nach einiger Zeit begriff ich, dass ich gewöhnlich über sie sprach und es vermied, ihr wirklich zu begegnen.

Ich möchte nochmals auf Michael O'Loughlin zurückkommen. In seiner Arbeit über das „Gefühl des Nicht-Dazugehörens“ bespricht er Stauffers Konzept der „ethischen Einsamkeit“ (O'Loughlin 2020). Mit dem Begriff „ethische Einsamkeit“ wird das Gefühl der Zurückweisung beschrieben, das Menschen – z. B. Patient:innen in der Psychiatrie – erfahren, wenn ihnen die zu ihrer Hilfe geschaffenen Versorgungseinrichtungen nicht zuhören. Aber ein ethisch orientiertes Zuhören, das alleine auf die Lösung von persönlichen und familiären Problemen abzielt, reicht bei weitem nicht aus (so notwendig es ist), um etwa die komplexe Ätiologie einer Psychose aufzulösen. Die Frage ist, was mit den monströsen Rückständen der unsymbolisierten Auswirkungen von Zwangsmigration, Sklaverei, Inhaftierung in Arbeits- und Konzentrationslagern, Massenvergewaltigungen, physischen und kulturellen Völkermorden, Kriegen und vielen anderen Hinterlassenschaften von Kolonialismus und Imperialismus geschehen soll.

Am Ende des ersten Jahres dieser Analyse mit Anastasiya machte sich ein unangenehmes Gefühl bemerkbar, das ich nur schwer ertragen konnte. Ich bezeichnete es selbst als „sumpfig“. Es wurde zum Zeichen einer Gefahr, die wir beide zu kontrollieren versuchten, nämlich im Sumpf zu versinken. Wir versuchten, diese Gefahr mit unseren üblichen intellektuellen Gesprächen über Literatur, Sprache, Politik und Träume zu überwinden. Anastasiya versteckte sich wie ein kleines Mädchen in einer Märchenwelt, die sie vor der Gefahr unkontrollierter und unbenannter Gefühle schützten sollte. In dieser Phase der Analyse wurden starke negative Gefühle (wiederkehrende Träume, ihre sprachliche Entfremdung und ihre Distanz zu mir) also durch Idealisierung unserer ‚intellektuellen‘ Gespräche kompensiert und überdeckt. Die Distanz, die von einer gewissen Melancholie geprägt war, ging einher mit der Leblosigkeit und Oberflächlichkeit ihrer Erfahrungen. Es fiel ihr sehr schwer, freie Assoziationen zuzulassen, da diese nur bruchstückhaft und fragmentiert erscheinen konnten. Die verzweifelte Angst, einem namenlosen Grauen zu begegnen, das sich hinter den Schmerzen in ihrer Brust verbarg, ließ eine seelische Katastrophe erahnen, die dem Wahnsinn gleichkam.

Ranjana Khanna (2003) äußert sich besonders besorgt über die melancholischen Reste des Kolonialismus. Er ermutigt uns, „zu erforschen, wie vergangene, nicht assimilierte Erfahrung Phantome oder Gespenster erzeugt, die sich als melancholischer Affekt und Bild einer kritischen Institution für die Zukunft manifestieren“. Sie bezieht sich auf Abrahams und Toroks Arbeit „The Shell and the Kernel“ (1994) und interessiert sich besonders für die Art und Weise, wie eine anhaltende Melancholie zur Demetaphorisierung des Affekts führt. Abraham und Torok (1994) beschreiben einen Prozess, bei dem das Phantomtrauma die Fähigkeit zur Introjektion blockiert und zu einer primitiveren Form der Inkorporation führt, bei der das Trauma als eine nicht assimilierte Ganzheit empfunden wird. Infolgedessen wird das Trauma in Krypten eingemauert, wo es für die Verarbeitung unzugänglich bleibt und auf die nächsten Generationen übertragen wird. Insofern hat die Psychoanalyse also auch das Potenzial, nicht nur die zerstörten Bedeutungen zu retten, sondern auch dazu beizutragen, die Fähigkeit zur Metaphorisierung wiederherzustellen.

Als ich die sprachlichen Schwierigkeiten analysierte, die in meiner Beziehung zu Anastasiya auftraten, sah ich mich an der Seite eines verängstigten kleinen Mädchens mit einer ukrainischsprachigen Identität, inmitten des Chaos ihrer Gedanken und Gefühle, die zu ihren Kindheitserinnerungen zurückkehrten. An den Ort, an dem sie in einem ukrainischsprachigen Dorf im Osten der Ukraine allein gelassen wurde, ihr Zuhause vermisste und versuchte, mit ihrer Großmutter auf Ukrainisch darüber zu sprechen. Wahrscheinlich wurde so die ukrainische Sprache, die später in Lviv ihre Gefühle der Verlassenheit und Einsamkeit ausdrückte, zu einem Auslöser für diese Gefühle. Um dies zu vermeiden, musste sie erwachsen werden und kluge Gespräche über ernste Themen führen, während sie ihr Innerstes in den dunklen Ecken ihrer Seele versteckte und sich vor Menschen schützte, die ihre Abwehr überwinden und sie mit ihrer verrückten Gefühlswelt konfrontieren könnten. Eine Illustration ihres persönlichen Dramas sowie der Tragödie ihrer Familie und der ganzen Nation könnte man aus Remarques „Emigrations“-Geschichte Die Nacht in Lissabon entnehmen. Es schien, dass der größte Schatz, nach dem sie selbst suchte, darin bestand, einen Menschen zu finden, der ihr zuhören und verstehen konnte, wie schrecklich es war, einen großen Verlust zu erleiden.

Judith Butler (2005) hat einmal geschrieben, dass es vielleicht das Schwierigste ist, den Verlust selbst zu verlieren: Irgendwo, irgendeinmal war etwas verloren, und es kann keine Geschichte darüber erzählt werden; keine Erinnerung kann es zurückbringen; so zeichnet sich eine verletzte Landschaft von Ereignissen ab, die nur mit Hilfe einer illusorischen Identität durchquert werden kann.

 

3.2. Die zweite Phase der Analyse

Nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub und der üblichen Verschlechterung ihres Zustands begann Anastasiya, die sich nun meiner bedingungslosen Unterstützung und stabilen Präsenz in ihrem Leben sicher war, langsam mehr Vertrauen zu mir zu fassen. Allerdings versuchte sie immer noch, unsere Beziehung zu idealisieren, um Angst und Aggression zu vermeiden. Sie tat vielmehr alles, was sie konnte, um unsere gute Beziehung aufrechtzuerhalten. Sie versuchte, eine gute und ehrliche Patientin zu sein. Aber ich fühlte einen gewissen Druck, weil ich sie zu oft verbal unterstützte, unser Gespräch strukturierte und lenkte, denn dadurch war sie gezwungen, sich meinen Gedanken anzuschließen, anstatt ihre eigenen zu formulieren.

Sie fühlte sich ein wenig erleichtert und beruhigt, wenn sie meinen Ideen zuhörte, aber gleichzeitig war ich für sie wahrscheinlich ein überwältigendes und sogar zerstörendes Objekt, das ihr Selbst zerstörte.

Ihre Bescheidenheit war entwaffnend für mich. In solchen Momenten dachte ich an Victor Frankls Überlegung, dass zwei Faktoren die individuelle Entwicklung eines Menschen behindern und die Freiheit des Einzelnen einschränken können: der Totalitarismus und der Konformismus (Frankl 1976).

Ich befand mich also in einem Dilemma. Sollte ich Anastasiya auf ihre Bemühungen hinweisen, alles zwischen uns endlos und harmonisch zu machen, um dann zu hören, wie sie meine Ideen akzeptiert, höflich wie immer oder sollte ich mich zurückhalten und lieber warten, bis verborgene Inhalte offenkundig werden? Dann versuchte ich vorsichtig zu erkunden, wie sie mich erlebt – als strengen Kritiker und Verfolger oder als einen Menschen, der sie begleitet und versucht, alle Qualen der Reise mit ihr zu teilen.

 

3.3. Die dritte Phase der Analyse

Je wertvoller unsere Beziehung für sie wurde, desto mehr fürchtete Anastasiya, dass die Beziehung Schaden nehmen könnte. Sie bemühte sich sehr, mein Interesse an ihr aufrechtzuerhalten, und es fiel ihr immer schwerer, ihre „schmutzigen“ Gefühle, die aus dem Nichts auftauchten, zu zügeln. So versuchte sie unablässig sicherzustellen, dass ich ständig an ihrer Seite war und sie bedingungslos akzeptierte.

Mit der Zeit zeigte sich eine ‚neue‘ Offenheit zusammen mit den ersten kritischen Worten, die es Anastasiya ermöglichten, zu sich zu stehen und gleichzeitig ihre Beziehung zu mir aufrechtzuerhalten, ohne die übliche Angst vor Verfolgung, aber mit einer neuen Angst vor etwas, das anscheinend schon lange hätte offengelegt werden müssen. Anastasiya stellte sich vor, dass es cool sein müsste, ein Hooligan zu sein und die Gedanken anderer Leute zu verwirren. In diesem Spiel sah sie gleichzeitig einen Mangel an Kontrolle und die Gefahr von Zerstörung. Sie brauchte jemanden, der fähig war, sie zu halten und zu spielen, denn nur dann konnte es ein Spiel und eine Rivalität sein. Ja, es würde ein Gleichgewicht zwischen Spiel und Zerstörung sein. Und es erforderte ein Gefühl der Sicherheit, das von der Analytikerin abhängen würde.

Dann erinnerte ich mich an Überlegungen des berühmten polnischen Soziologen, Philosophen und Essayisten Zygmunt Bauman:

„Ich habe gelernt, dass es zwei wichtige, notwendige und unumgängliche Bedingungen für ein würdiges und befriedigendes Leben gibt. Das sind Sicherheit und Freiheit. Sie können nicht ohne einander existieren. Sicherheit ohne Freiheit ist Sklaverei, und Freiheit ohne Sicherheit ist Anarchie. Die Beziehung zwischen ihnen ist ein Nullsummenspiel. Mehr Sicherheit kann man nur um den Preis gewinnen, dass man einen Teil seiner Freiheit aufgibt. Und mehr Freiheit kann man nur um den Preis des Verlustes von Sicherheit, der Vergrößerung der Ungewissheit erlangen.“ (Bauman 2013, vgl. Bauman, 2005).

Anastasiya sagte (auf Russisch): „Selbst Schüler im ersten Jahr vertrauen ihrem Lehrer blind, und später, wenn sie selbst etwas erreicht haben, bilden sie sich eine eigene Meinung.“ Diese ironischen Überlegungen stärkten ihre Hoffnung, aber auf der anderen Seite deutete ihr Sprechen über das Tagebuch der Anne Frank auf ihr Gefühl hin, dass etwas in ihr, etwas Wichtiges, Wahres, Hilfloses und Gefährliches, verborgen blieb und gestohlen oder enthüllt werden könnte. Jeder von uns könnte ein Verfolger oder ein Dieb sein, in der Erwartung, etwas Verborgenes zu finden. Und jeder von uns könnte jemand sein, der sich versteckt, um diese Schätze, die vielleicht „schmutzig“ und „unverständlich“ sind, an der Peripherie seiner Gedankenwelt zu halten.

Anastasiya versuchte immer noch, die Situation zu meistern, aber wahrscheinlich „wusste“ sie bereits, dass die Begegnung mit ihren „schmutzigen“ Gefühlen den Bruch unserer Bindung bedeuten könnte. Ihre Träume verrieten das Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe, aber jetzt konnte sie über ihre widersprüchlichen Gefühle nachdenken – ihr erstaunliches Bedürfnis nach Vertrauen und ihre Angst, die die bereits halb geöffnete Tür blockierte. In ihrem nächsten Traum war Anastasiya überzeugt, dass der Krieg weit weg war, im Osten der Ukraine, obwohl die Explosionen ganz in der Nähe waren. Sie berichtete (wieder auf Russisch):

„Ich hatte heute einen Traum, aber der Inhalt war seltsam, es war, als ob ich mich in meiner Heimatstadt aufhalten würde. Und in dem Traum unterrichte ich Deutsche, die mich fragen, wie die politische Situation aussieht, wie es mit dem Krieg aussieht; und ich sage ihnen, dass alles ruhig ist, der Krieg findet nur im Osten statt, aber dann gibt es einige Explosionen. Ich erinnere mich, dass ich mein Selbstvertrauen verlor und deutsche Kinder sofort auf den Boden fielen. Ich ging hinaus, und es stellte sich heraus, dass zwei Explosionen durch Probleme mit Drähten verursacht worden waren. Und als ich hierherkam, sagte ein Mädchen im Minibus etwas über Explosionen auf dem ägyptischen Flughafen, und das erinnerte mich an diese Panik, die sich ausbreiten kann. Aber in meinem Traum hatte ich keine solche Angst. Ich glaube nicht, dass der Krieg so schnell kommen kann, das ist nur ein Zufall.“.

Es scheint, dass die Erkenntnis der Panik für sie gleichbedeutend mit einem Scheitern war. Im Juli 2017, als sie sich einen Film über das zerstörte Leben der sogenannten „Vertriebenen“ aus dem Osten ansah, verspürte Anastasiya erneut Schmerzen in der Brust, was wahrscheinlich ein Zeichen für ihre nahenden „gefährlichen“ Gefühle war.

Dann erzählte sie mir vom Flughafen Donezk. Dort waren von dem einst schönen Ort nur noch Gebäudeskelette und Ruinen übrig. Ich hatte das Gefühl, dass sie ein Kind war, das eine Katastrophe erlebt hatte – Hunger, emotionale Kälte, Zerstörung, Verlassenheit... Tod und Wahnsinn ganz in der Nähe... Mit ihr über ihre Gedanken zu sprechen, die sich so sehr mit dem Tod und dem Verfall beschäftigen, würde bedeuten, in einem Sumpf zu ertrinken – im emotionalen Abgrund, in ihrer „Verlassenheit“, in ihrem „Nichts“. Deshalb war es so schwer zu begreifen, dass die Analyse selbst für Anastasiya so gefährlich und bedrohlich war, weil die Analyse sie ihren eigenen Gefühlen näherbrachte. In einer ihrer Sitzungen teilte Anastasiya ihre Überlegungen mit:

„In Regina Bretts Buch habe ich gelesen... Du brauchst die Vergangenheit nicht zu bedauern, denn sie lenkt deine Aufmerksamkeit von der Gegenwart ab. Und meine Depression resultiert aus der Tatsache, dass ich die Vergangenheit nicht beiseitelassen konnte. Jetzt kann ich nicht mehr sagen, dass ich unbedingt nach Hause zurückkehren möchte. Die Vergangenheit erlaubt es uns nicht, uns auf die Gegenwart zu konzentrieren, und sie behindert die Zukunft. Jetzt denke ich nicht mehr so intensiv an die Vergangenheit. Vielleicht macht es keinen Sinn, oder es ist eine Art von Vorsicht... In diesem Kapitel wurde auch eine Art von Ressentiment thematisiert – ‚sie gibt uns die Chance, auf eine bessere Zukunft zu hoffen‘. Als ob die Vergangenheit geändert werden könnte... Das Thema des Grolls scheint mir nicht so nah zu sein, aber die Beziehung zwischen der Gegenwart und der Zukunft...“.

Ihr Schmerz verflog, nachdem wir versucht hatten, dass sie ihre Angst vor der Trennung ausdrücken konnte. Als die Sommerpause nahte, reagierte Anastasiya in ihrer typischen, leicht verrückten Art mit sarkastischen Bemerkungen, die sich auf meine „übermäßige Angst“ bezogen.

 

3.4. Die vierte Phase der Analyse

In diesem Herbst erlebte Anastasiya zum ersten Mal nicht ihre übliche und erwartete Verschlechterung. Zum ersten Mal träumte sie positiv von Lviv und unserer Klinik. Zum ersten Mal kommunizierte sie in der Therapiepause nur in Gedanken mit mir. Als sie unsere Beziehung analysierte, beschrieb sie interessanterweise eine Dynamik, wie sie mich in unserer Kommunikation erlebt hatte: „Zuerst mit Angst, dann mit Angst und Respekt, dann mit Respekt, dann mit Respekt ohne Dankbarkeit und schließlich mit Respekt und Dankbarkeit“. – Anastasiya beendete ihre Analyse schneller als erwartet. Ich bedauerte, dass sie die Chance nicht voll genutzt hatte, und gleichzeitig vertraute ich ihrem intuitiven Gespür für das Gleichgewicht zwischen dem Grad ihrer Freiheit und dem Grad ihrer Sicherheit:

„Wir müssen annehmen, daß sowohl der Patient als auch der Analytiker die Analyse wirklich beenden wollen, aber leider gibt es kein Ende, bevor die Talsohle erreicht ist, bevor das Gefürchtete erlebt wurde. Tatsächlich ist ein Ausweg für den Patienten der Zusammenbruch (körperlich oder psychisch), und das kann überaus wirksam sein. Wie auch immer, die Lösung ist nicht gut genug, wenn sie das analytische Verstehen und die Einsicht auf Seiten des Patienten nicht einschließt. In der Tat sind viele der Patienten, von denen ich hier spreche, Menschen, die wertvolle Arbeit tun, sie können es sich nicht leisten zusammenzubrechen, sich in die Psychiatrie einliefern zu lassen.“ (Winnicott, 1991).

So erklärte ich mir Anastasiyas Kompromissentscheidung, als ich mich von ihr verabschiedete – gewissermaßen mit den Worten Winnicotts.

Am Ende dieser Geschichte möchte ich Worte von Anastasiyas Landsmann Ihor Kozlovsky zitieren – einem ukrainischen Sozialaktivisten, Theologen und Schriftsteller, der über 50 wissenschaftliche Bücher, mehr als 200 Abhandlungen sowie Gedicht- und Prosasammlungen verfasst hat. Er sagte einmal sinngemäß:

„Würde, Nicht-Gleichgültigkeit, das Recht auf freie Wahl der inneren Haltung und ihrer äußeren Darstellung, freie Wahl des Lebensstils, Kreativität und Offenheit für andere Sinne – all das macht mein Verständnis von Freiheit aus. Und die innere Freiheit ist wichtiger als die äußere“.

Dies sind die Worte eines Mannes, der im sowjetischen System aufgewachsen und geprägt wurde und einige Zeit in der postsowjetischen Kommunalverwaltung tätig war, dabei aber nie einen Hehl aus seiner libertären Haltung machte. Deshalb nahm er auch am Euromaidan in Donezk teil. Seine pro-ukrainische Haltung führte dazu, dass er am 27. Januar 2016 von Terroristen aus ORDLO (d. h. dem besetzten Teil des Donbass) gefangen genommen wurde, die ihn etwa zwei Jahre lang gefangen hielten und ihn wiederholt auf grausame Weise folterten.

„Ich habe meine eigenen Vorstellungen, um weiter zu leben und voranzukommen. Meiner Meinung nach sind es die Sinne, die einen einfachen biologischen Willen in menschliche Freiheit verwandeln. Dies ist ein notwendiger Weg von der reflektierten Sehnsucht nach Freiheit zur reflektierten Erfahrung einer sinnvollen Freiheit eines Individuums, das für seine eigene Freiheit nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Menschen gegenüber verantwortlich ist“, – so schrieb Igor Kozlovsky nach seiner Entlassung am 27. Dezember 2017.

Wenn ich über die Geschichte dieser beiden Personen nachdenke, die zwei verschiedene Generationen repräsentieren, aber ähnliche kulturelle Hintergründe haben, frage ich mich: Warum haben sie einen so unterschiedlichen mentalen Boden entwickelt? Was schuf die Bedingungen für die Entwicklung eines libertären Selbstbewusstseins bei dem einem und welche Hemmnisse behinderten die Entwicklung bei dem andern, also bei meiner Patientin?

Igor Kozlovsky (2018) sagte, als er über solche Fragen nachdachte und die Auswirkungen von Totalitarismus und Konformismus auf die Entwicklung der Persönlichkeit analysierte, dass ein totalitäres System die Ordnung „auf Kosten der Tötung des Geistes, der Abstumpfung des Herzens und der Zerstörung des Lebens“ schaffe und kontrolliere. Seiner Meinung nach setze der Totalitarismus dem Menschen „von oben nach unten“ Grenzen, und der Konformismus sei etwas, an das sich der Mensch „von unten nach oben“ gewöhnt, wenn er seinen Willen und seine Kreativität verliert: „Der Konformismus hält den Menschen – durch Angst vor dem System, Selbsttäuschung und bewusste oder unbewusste Lüge – im Massenbewusstsein und in den Stereotypen des Opportunismus gefangen.“.

Während meiner Arbeit mit Anastasiya begegnete ich nicht nur ihr, sondern auch mir selbst mit Angst, Macht und einer Abstumpfung des Herzens. Und so sehr ich mich danach sehnte, mich neben meiner ‚unfreien‘ Patientin ‚frei‘ zu fühlen, wurde mir schließlich klar, dass dies nur ein Versuch war, die Kontrolle über das Gefühl der Hilflosigkeit und Einsamkeit in unseren schwachen Bemühungen zu behalten, aus der Falle der ‚Unfreiheit‘ herauszukommen. Wahrscheinlich habe nicht nur ich, sondern auch meine Patientin oder Igor Kozlovsky oder viele von uns etwas Ähnliches im Prozess der Gestaltung der eigenen Persönlichkeit erlebt.

Wo und wie begegnet jeder von uns seiner Chance auf Freiheit oder verliert sie?

Wer weiß, vielleicht hat die Tatsache, dass Igor Kozlovsky aus einem alten Kosakengeschlecht stammt, dessen Wurzeln bis ins 16.-17. Jahrhundert zurückreichen, und dass er bereits in seiner Kindheit durch Familiengeschichten und Mythen über die Rolle seiner Vorfahren im Staatsbildungsprozess der ukrainischen Nation geprägt worden war, eine entscheidende Rolle gespielt bei der Bildung seiner Vorstellung von Freiheit und der Art und Weise , wie er den Aktivitäten seines Lebens einen Sinn verleiht?

Roman Kiś (2019), der kürzlich verstorbene Lviver Philosoph, Ethnolinguist, Dichter und Anthropologe, bezog sich auf Arendts Essay „What is Freedom?“ und schrieb, dass weder Freiheit noch Handeln möglich sind, wenn den menschlichen Handlungen kein Sinn beigegeben ist (vgl. Arendt 1961, S. 143-171). Somit werden sowohl Freiheit als auch Handlung durch eine „Sensokinese“ vermittelt: „Dieser innere Dialog mit sich selbst sowie eine ‚Ordnung‘, die der Mensch sich selbst gibt, erfordern nicht nur den Willen, sondern auch den Mut, jene unüberwindbaren Umstände herauszufordern, die den Willen lähmen können“ – so schreibt Kiś in seinem Essay Freiheit und Bewegung von Bedeutungen, der 2019 in der Online-Tageszeitung Zbruč veröffentlicht wurde. Kiś weist auf wichtige Punkte hin, welche die Freiheit des Einzelnen einschränken können:

1. Unsere Erfahrung und unser gesammeltes Wissen; kognitive Begrenzung der Sprachstrukturen bei dem Versuch, nonverbale Realität auszudrücken;

2. Übermäßige Heterogenität und Vielfalt der Themen (wie man im Deutschen sagt: „Wer die Wahl hat, hat die Qual“) sowie ein gewisser Druck dominanter oder sozial-prestigeträchtiger Bedeutungen („bevorzugte Bedeutung“);

3. Die Dominanz des „Wir“ über das „Ich“, die zur Vereinheitlichung und Standardisierung von Wahrnehmung und Denken führt;

4. Konformismus und Fanatismus;

5. Exzessive Regression und eine so genannte „Rückkehr in den Mutterleib“ („Regressum ad uterum“) – und ähnliches ...

Diese – vielleicht nicht neuen, aber doch gut formulierten – Gedanken helfen mir, meine Patientin und Millionen anderer Menschen zu verstehen, für die die Idee der Freiheit und der Weg dorthin immer noch ziemlich illusorisch und schmerzhaft ist. In jedem Fall geht es immer um das Recht, den eigenen Freiheitsgrad zu wählen, der sich aus den ethischen Kompromissen zwischen sich und der Welt ergibt und der den Anteil an der Verantwortung für das eigene Handeln und die eigene Sinnentwicklung bestimmt.

Angesichts der jüngsten Ereignisse mag es etwas seltsam erscheinen, wenn ich mich auf die Worte des russischen Philosophen und Publizisten Alexej Rubzow (2014) beziehe, der bereits 2014 einige wichtige Überlegungen zur Dynamik der russischen Gesellschaft vorgelegt hat:

"Auch hier stellt sich die Frage: Gibt es ein Ende der Geschichte des Rückfalls in den sozialen Wildwuchs und den politischen Archaismus, oder wird der Dauerfrostboden immer bei jedem zukünftigen Tauwetter verborgen bleiben? Selbst wenn morgen plötzlich die Freiheit kommt, wird jeder neue Akt der russischen Modernisierung, Liberalisierung usw. noch lange als der nächste unwahrscheinliche und schwer fassbare Ausflug in das Heiligtum der Zukunft wahrgenommen werden. Und das ist nicht das Problem irgendeines Abschnitts der Route, sondern das Problem des eigentlichen Wesens der Bewegung des Landes durch die Geschichte.“ (Rubzow 2014).

Jetzt klingen diese prophetischen Worte besonders erschreckend. Sie klingen auf seltsame Weise mit den Träumen und Phantasien meiner Patientin in ihrer Erwartung der Katastrophe zusammen. Im historischen, politischen und psychodynamischen Kontext haben diese Katastrophen bereits stattgefunden. Die nächste Katastrophe findet gerade jetzt statt. Sie findet wieder in der Ukraine statt, die sich an der Schnittstelle zweier mentaler Matrizen befindet – einer totalitären und einer demokratischen: An der Schnittstelle von Freiheit und Autoritarismus. Aber es scheint, als ginge es jetzt nicht nur um mein Land, sondern um die ganze liberale Welt.

In seinem Artikel „Putin's war on liberal order“ der in der Financial Times veröffentlicht wurde, schrieb Francis Fukuyama (2022): „Der Liberalismus wird seit einiger Zeit sowohl von links als auch von rechts angegriffen“. In dem Report „Freedom in the World“ für das Jahr 2023 wird festgestellt, dass der Grad der Freiheit weltweit seit 18 Jahren abnimmt, nicht nur aufgrund der Entwicklung in autoritären Ländern wie Russland und China, sondern auch aufgrund einer allgemeinen Verlagerung hin zu Populismus, Negation des Liberalismus und Nationalismus in Ländern, die lange Zeit liberale Demokratien waren, so auch die Vereinigten Staaten und Indien (Gorokhovskaia u. Grothe 2024)

Ich schrieb meinen Beitrag inmitten des großen Krieges mit Russland – eines Krieges, bei welchem es um das Recht meines Volkes auf Leben und auf ein Leben in Freiheit geht. Ich hörte nicht auf zu arbeiten, und es gab einen Moment, in dem ich mich in der Zusammenarbeit mit meinen Patienten und Patientinnen wie eingekapselt fühlte, und das schien mir heilsam zu sein. Ich versuchte, bestimmte psychodynamische Phänomene sowohl bei meinen Kolleg:innen wie bei meinen Patient:innen zu beobachten und stellte fest, dass viele von ihnen unbewusst eine ähnliche Strategie wählten. Das erinnerte mich an Notizen aus dem Tagebuch von Anne Frank, die die Jahre, die sie in ihrem Versteck verbracht hatte, als eine Zeit am besten und sichersten Ort der Welt bezeichnete. Der einzig mögliche Scheinkompromiss – das dachte ich, als ich eine etwas verrückte Laune meiner Therapeutenfreundin analysierte, die im Keller ihres Hauses in der besetzten Stadt weiter online arbeitete und behauptete, dies sei das sicherste Versteck für sie.

Wilfred Bion (1941) schrieb, der „Nervenkrieg“ sei ein persönlicher Angriff auf eine Person. Wenn ein Mensch sich von der Massenbewegung der Nation, die im Kriege kämpft, abwendet, kann er vielleicht einige Folgen dieses Angriffs vermeiden. Aus der Sicht des Feindes wird er dann „aus den Reihen“ seiner Gesellschaft ausgeschlossen werden. Aber er kann auch Mitglied seiner Gesellschaft bleiben. Dann wird dieser Mensch, je mehr emotionale Bindungen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft bestehen, aber umso stärker spüren, dass sich der Angriff persönlich gegen ihn richtet. Wenn er aber Mitglied seiner Gemeinschaft bleibt und es gleichzeitig vermeidet, vom Angriff des Feindes so betroffen zu sein, wie der Feind es gerne hätte, dann können wir sagen, dass er psychologisch gesehen „in den Reihen“ bleibt.

Millionen von vorübergehend vertriebenen Ukrainern bleiben dank dieser psychologischen Strategie „in den Reihen“ unserer Gesellschaft. Ich danke allen nicht gleichgültigen Menschen aus der ganzen Welt, die uns die Möglichkeit gegeben haben und immer noch geben, dem Feind mental entgegenzutreten. Es ist kaum zu überschätzen, was die Welt jetzt für die Ukraine tut. Denn heute ist es wichtig, jemanden zu haben, der unsere unausgesprochenen Schrecken der Bedrohung, der Verluste und der Einsamkeit erträgt und teilt.

Der Krieg dauert noch an, aber ich glaube an unseren gemeinsamen Sieg. Und ich hoffe, dass jeder von uns in sich den Geist der Freiheit bewahren wird, nicht nur um zu kämpfen, sondern auch um zu leben.

Ich möchte meinen Text mit den Worten von Vasyl Stus beenden – einem ukrainischen Dichter der sechziger Jahre. Sein Gedicht wendet sich an einen politischen Gefangenen aus der Region Donezk:

Du bist Gott. Daher, als der Gott deiner selbst,
knete deinen Ton,
bis du Feuerstein unter deiner harten Haut spürst.
Dies ist der beste Zeitpunkt, um das zu tun.
Erschaffe dich selbst!

 


1 Berkut („Steinadler“) war eine militärische Spezialeinheit, die dem ukrainischen Innenministerium unterstellt war. Sie beging während des Euromaidan viele Menschenrechtsverletzungen. So führte sie Folterungen durch, schoss auf Protestierende und hat die Mehrzahl der zivilen Todesopfer auf dem Maidan auf dem Gewissen.

 

Literaturverzeichnis

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Autor:in: Zvenyslava Kechur ist Ärztin und Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin der Ukrainischen Psychoanalytischen Gesellschaft (UPS), Mitglied der International Psychoanalytic Association (IPA), Ausbildungstherapeutin und Supervisorin der UCP (ECPP), USP, Gruppenpsychoanalytikerin der EAP. Sie arbeitet als Psychotherapeutin im St. Paraskeva Medical Center sowie in ihrer psychoanalytischen Praxis in Lviv (Ukraine). Zvinka Kechur leitet aktuell das Projekt „Psychosomatische Medizin – die Kunst des Möglichen“ (2020-2025), das von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin zertifiziert ist.

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Übersetzer:in: Ursula Lübbers, Dr. med., studierte Humanmedizin und Soziologie und ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis in Lübeck.

Übersetzer:in: Klaus Lübbers, Dr. med., studierte Humanmedizin, Mathematik und Philosophie. Er übte wissenschaftliche Forschungstätigkeiten mit Schwerpunkt im Bereich der Neuroanatomie aus.