Psychoanalytische Überlegungen zu Sarah Kanes Theaterstück 4.48 Psychose

Anatol Möller

Y – Z Atop Denk 2024, 4(4), 3.

Abstract: Schlaflos um 4.48 Uhr. Mit Sarah Kanes posthum erschienenen Theaterstück begegnet uns ein Text, der uns an der existenziellen Krise eines Subjekts teilhaben lässt. Es wird mit und um Worte gerungen, um einem irreversiblen Verlust Ausdruck zu verleihen. Während nach Freud im Zuge der Regression auf eine archaische Stufe der Objektaneignung das Ich verloren geht, kämpft das Subjekt bei Lacan aufgrund der Verwerfung des Namens-des-Vaters überhaupt um seine Konstitution. Gerade weil das Unbewusste quasi nicht unbewusst ist, lädt der Text von Kane zu psychoanalytischen Konstruktionen ein – warnt uns jedoch gleichzeitig davor, vorschnelle Schlüsse zu ziehen.

Keywords: Sarah Kane, Psychoanalyse, Psychosentheorie, Genuss, Subjekt, Nom-du-Père

Copyright: Anatol Möller | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.04.2024

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„Wem ich nie begegnete, das bin ich, sie mit dem Gesicht
eingenäht in den Saum meines Bewusstseins“
Sarah Kane (2021 [1998-1999], S. 252).

Von wem ist hier die Rede? Spricht das Subjekt von sich oder einer dritten Person, die in den Saum – einen erhabenen Rand, Teil und gleichzeitig Begrenzung ihres Bewusstseins – eingenäht ist? Eingenäht als ein Eingriff in einen körperlichen Stoff – etwas, das nicht mehr auszulösen ist. Sie „mit dem Gesicht“, mit der es nie eine Zusammenkunft gab und auch nicht mehr geben wird.

Die oben angeführten Worte bilden den vorletzten Satz des Theaterstücks 4.48 Psychosis, des fünften und letzten Werks der britischen Dramatikerin und Regisseurin Sarah Kane. Das Stück, das Kane in den Jahren 1998-1999 verfasste, wurde im Jahr 2000 am Royal Court Theatre in London unter der Regie von James Macdonald uraufgeführt und erfuhr ein Jahr darauf in den Münchner Kammerspielen (Regie: Thirza Bruncken) seine deutschsprachige Premiere. Der Text von 4.48 Psychose setzt sich aus insgesamt 24 Fragmenten zusammen, die aus einzelnen Sätzen, Zahlen- bzw. Wortketten, Dialogen und Monologen bestehen. Innerhalb dieser Abschnitte spricht ein Subjekt, das zwischen der Sedierung durch Medikamente und den Auswirkungen einer schweren Krise um 4:48 Uhr für eine Stunde und zwölf Minuten eine Phase der Klarheit erlebt. Die vorliegende Arbeit diskutiert anhand dieses Theaterstücks von Sarah Kane die Psychosentheorie Freuds als auch Lacans und stellt mögliche Bezüge zur psychoanalytischen Praxis her.

 

Analyse

Wie der, eingangs erwähnte, Satz bereits andeutet, handelt Kanes Theaterstück von der Suche nach einem unauffindbaren Du. Einem Du, von dem die zu und mit uns sprechende Person sagt: „Doch jetzt hast dus geschafft, mich so scheißtief zu berühren, ich kanns nicht fassen und kann dir doch nicht sein, was du für mich bist. Weil ich dich einfach nicht finde“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 222). Dieses verlorene und unerreichbare Du als ein nicht zu greifender Schatten, „eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt“ (Freud 1916-1917, S. 435). Ein Objektverlust, der zu einem Ichverlust wird, sodass dem Subjekt alles genommen werden kann, außer eben diese Liebe (Kane 2021 [1998-1999], S. 238):

„Schneidet mir die Zunge ab
reißt mir die Haare raus
hackt mir die Glieder ab
nur meine Liebe die lasst mir
lieber würde ich meine Beine verlieren
meine Zähne gezogen bekommen
ausgestochen die Augen
als sie zu verliern meine Liebe“.

Freud vermutet, dass eine starke Fixierung an das Liebesobjekt einerseits und eine im Widerspruch dazu geringe Resistenz der Objektbesetzung andererseits die Grundlage für diese spezielle Form der Identifizierung mit dem Objekt bilden. Letztere Konstellation, verweise auf eine Objektwahl auf narzisstischer Grundlage, sodass im Fall einer realen Kränkung von Seiten des Liebesobjekts die Libido zwar von dem Objekt abgezogen, jedoch dann nicht auf ein neues Objekt verschoben, sondern in das Ich zurückgezogen werde (vgl. Freud 1916-1917, S. 435). Im Ich scheint die Libido weniger in hysterische körperliche Innervationen geflossen zu sein, sondern der Erhaltung der Objektliebe durch narzisstische Identifizierung mit dem verloren gegangenen Objekt zu dienen. Die Liebesbeziehung müsse dadurch nicht aufgegeben werden, jedoch sehe sich das Ich in der Konsequenz, nicht nur mit der Zuneigung, sondern auch mit der Feindseligkeit, die ehemals dem äußeren Objekt gegolten hätte, konfrontiert (vgl. Freud 1916-1917, S. 439).

„[…] fick dich Gott, weil ich jemanden lieben muss, den es nicht gibt,
FICK DICH FICK DICH FICK DICH.“
(Kane 2021 [1998-1999], S. 223).

Es scheint keine freie Liebe zu sein und auch keine trianguläre oder dual-imaginäre, d. h. sich spiegelnde Liebe, nachdem sie weniger der Täuschung als der Ent-Täuschung unterliegt. Das Subjekt weiß darum, dass es denjenigen, den es liebt, ja lieben muss, gar nicht gibt. Auf Seiten des Begehrens fehlt somit der Liebe ihr imaginär-symbolischer Bezug – ein sujet supposé – und damit die Hoffnung auf einen anderen, der den eigenen Mangel beheben könne. Als wüsste das Subjekt um den objektalen Bluff seiner eigentlich narzisstischen Liebe (vgl. Lacan 2015 [1972-1973], Seminar XX, S. 11). Die Liebe des „parlêtre“ in Kanes Werk wird somit überrannt von einem Trieb, der die Schmerzgrenze nicht wahrt und auch auf keine Reziprozität angewiesen ist (Cremonini 2007, S. 116). Dieser Trieb visiert einzig und allein das Genießen an. Das Festhalten an der Liebesbeziehung durch narzisstische Identifizierung kann als eine Regression zum ursprünglichen Narzissmus verstanden werden. Es ist eine Vorstufe der Objektwahl, bei der das Objekt in ambivalenter Manier durch Auffressen einverleibt wird. „[…] das will ich essen oder will es ausspucken […]“ (Freud 1925, S. 13).

Lacan knüpft hier an, wenn er angelehnt an Freud eine ursprüngliche Einbeziehung in das Ich (Bejahung) und eine Ausstoßung aus dem Ich (Verneinung/Verwerfung) annimmt (Lacan 1986 [1954], Seminar III, S. 207 ff.). „Was bin ich denn? ein Kind der Verneinung“ und „Kein geborener Sprecher“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 246, 230). Die familiäre Situation, von der uns der:die Sprecher:in in 4.48 Psychose berichtet, lässt zumindest an jene prädisponierenden Faktoren, die Lacan im Zusammenhang mit der Verwerfung des Nom-du-Père skizziert, denken (vgl. Lacan 1955-1956, Seminar III, S. 242). „[…] scheiß auf meinen Vater, weil er mein Leben versaut hat für immer, scheiß auf meine Mutter, weil sie ihn nicht verlassen hat […]“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 223). Aufgrund der ursprünglichen Verneinung bleibe das Einsetzen der phallischen Bedeutung der Kastration aus und das Register des Symbolischen könne sich nicht klar vom Realen und Imaginären differenzieren (vgl. Lacan 1955-1956, Seminar III, S. 116). Die Beziehung zum großen Anderen ist dadurch mindestens ambivalenter Natur und das Genießen wie auch der Körper bleiben durch das Loch auf Ebene der Signifikanten unstrukturiert. Der Text zeugt von diesem wuchernden Genießen und dem gleichzeitigen Versuch, dieses zu verorten. So wird einerseits mit klassisch psychiatrischen Klischees kokettiert und andererseits begegnet uns ein paranoischer Moment (vgl. Kane 2021 [1998-1999], S. 217):

„Oh je, Schätzchen, was ist denn mit Ihrem Arm passiert?
Zerschnitten
Das ist doch kindisch, nur weil man im Mittelpunkt stehn
will. Ging es Ihnen besser danach?
Nein.
Hat es den Druck verringert?
Nein.

Man beobachtet mich beurteilt mich beschnüffelt
mein Versagen das mir aus allen Poren dringt und Verzweiflung
zerrt an mir alles zerstörende Panik durchtränkt mich während
ich stumm vor Entsetzen der Welt entgegenglotze und mich
frage warum alle hier immerfort lächeln und mich begaffen mit
diesem wissenden Blick für meine brennende Scham.“

In beiden Fällen findet sich das Genießen auf Seite des Anderen – der Zuschauer:innen, des Publikums oder vielleicht der Gesellschaft wieder. Das Theater und die Psychiatrie als Paranoia, als eine Identifizierung des Genießens am Ort des Anderen – der Institution (vgl. Lacan 1986 [1966], S. 7)? Durch den wissenden Blick, den das Subjekt vernimmt, wird der Andere quasi zu einem sujet supposé, einem bedrohlichen sujet supposé – ähnlich wie im Fall des Senatspräsidenten Schreber (vgl. Lacan 1955-1956, Seminar III, S. 151).

In den Fluten der unbestimmten Jouissance scheinen die Zahlen, wie es bereits der Titel andeutet, als Stepppunkte zu fungieren. Um 4 Uhr 48 ein Lichtblick und gleichzeitig im Schriftbild ein Kreuz für Tod und Leid. Die 8 als eine Zahl des Übergangs von der Zeitlichkeit in die Überzeitlichkeit und als eine Form der Wiederholung, der Jouissance. Auch lässt die 8 an ein Möbiusband denken, bei dem jedoch das Subjekt um das Extime–Intime weiß und jeglicher Illusion hinsichtlich der Exterritorialität des Objekts a, der Ursache seines Begehrens, beraubt wurde. Aufgrund der fehlenden Ordnung durch den Signifikanten stellt der Körper nicht jenen Erfahrungsraum dar, der ‚normalerweise‘ zur Lokalisation der Jouissance beitragen kann. Er ist fragmentiert und es dominiert die Organsprache oder die Sprache der Körperbilder (vgl. Dolto 1973, S. 173). „Hier bin ich und dort ist mein Körper“, „mein Körper von innen zerrüttet mein Körper fliegt auseinander“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 237, 245). Einzig im Leid scheinen sich Körper und Psyche, biologisch Reales, Imaginäres und Symbolisches zu treffen: „schöner Schmerz der mir sagt ich lebe“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 239). Durch die unzureichende Verknüpfung der drei Register hat das Subjekt vermutlich keine Verbindung zu seinem Spiegelanderen, der es konstituiert, und bleibt aufgrund dessen abgetrennt vom seinem Ich, dem es „nie begegnete“ (Burckas 2007, S. 113).

Das, was verworfen wurde, taucht vom Realen her wieder auf. Vielleicht ist es die Kastration. Ein großer Anderer, gegenüber dem Schuld empfunden und von dem Strafe erwartet wird: „Ich bin schuldig, ich werde bestraft“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 214).

 

Resümee

Nicht zuletzt aufgrund des Titels des Stücks stellt sich die Frage, welcher klinischen Struktur die Äußerungen der Person, die da spricht, zugeordnet werden können. Das Vorliegen von Störungen innerhalb der Sprache lässt vermuten, dass das Subjekt den Nom-du-Père verworfen und keinen Zugang zum Symbolischen gefunden hat (vgl. Lacan 1955-1956, Seminar III, S. 111). Aus der daraus resultierenden Position des Subjekts haben wir es mit einer besonderen Form der Übertragung, die sich weniger zwischen Subjekt und Nebenmenschen, das heißt, in einer imaginären Dimension abspielt, sondern mehr zwischen Subjekt und großem Anderen situiert ist, zu tun (vgl. Lacan 1955-1956, Seminar III, S. 151 ff.). Dieser große Andere wird herangezogen, um dem Genießen einen Platz zu geben. Gott ist allmächtig, „mein Gott, der Chirurg meiner Seele“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 241). Das Wissen wird demzufolge nicht wie im Fall der Neurotiker:innen auf Seiten des anderen vermutet, sondern befindet sich mehr auf Seiten des Subjekts selbst. Dieses formuliert die Fragen, auf die es Antworten möchte. „Mir ’ne Überdosis verpassen, die Pulsadern aufschlitzen und mich erhängen. […] Dass mir das keiner verwechselt mit einem Hilfeschrei“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 218). Lacan betont es immer wieder und Kane führt es uns vor Augen: Vorsicht vor dem vermeintlichen Verstehen (vgl. Lacan 1955-1956, Seminar III, S. 194). Aufgrund eines Lochs auf Ebene der Signifikanten kann sich das metonymisch-metaphorische Wechselspiel, aus dem sich Mangel und Begehren konstituieren, nicht wirklich entfalten. „Ich will nicht sterben […] Ich will nicht leben“ (Kane 2021 [1998-1999], S. 215). Das Subjekt entflieht in gewisser Weise dem Blick, um nicht an das eigene so schmerzvolle Sein erinnert zu werden, dafür manifestiert sich sein Nicht-Sein auf Ebene der Signifikanten (vgl. Widmer 1997, S. 129). Es sieht sich in und durch die Sprache verschwinden (Kane 2021 [1998-1999], S. 251):

sieh mich verschwinden
sieh mich
               verschwinden
sieh mich
sieh mich
             sieh

Das Publikum wird somit zu Zeug:innen dieses Verschwindens und konstituiert dadurch vielleicht das Subjekt. Am Schluss heißt es (Kane 2021 [1998-1999], S. 252):

„bitte öffnet den Vorhang“.

 


Literaturverzeichnis

Burckas, Cristina C. (2007): „Zur Übertragung in der Psychose“. In: Psychosen: Eine Herausforderung für die Psychoanalyse. Strukturen, Klinik, Produktionen. Bielefeld: transcript, S. 103-120.

Cremonini, Andreas (2007): „Vom Realen des Mythos zum Mythos des Realen“. In: Lacans Theorie des Triebs als mythische Aufhebung des Begehrens. Berlin: Parodos, S. 101–130.

Dolto, Françoise (1973): Der Fall Dominique (Le cas Dominique). Übers. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Freud, Sigmund (1916–1917): Trauer und Melancholie. In: GW, Bd. X. Frankfurt/M: Fischer, S. 428–446.

Freud, Sigmund (1925): Die Verneinung. In: GW, Bd. XIV. Frankfurt/M: Fischer, S. 11–15.

Kane, Sarah (2021 [1998/99]): „4.48 Psychose“. In: Sämtliche Stücke. Zerbombt, Phaidras Liebe, Gesäubert, Gier, 4.48 Psychose. Übers. v. Durs Grünbein, Marius von Mayenburg, Elisabeth Plessen, Peter Zadek, Nils Tabert, Sabine Hübner. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.

Lacan, Jacques (1986 [1954]): „Zur ‚Verneinung‘ bei Freud“. In: Jacques Lacan. Schriften III. Übers. v. Ursula Rütt-Förster. Weinheim: Quadriga, S. 173–219.

Lacan, Jacques (2016 [1955-1956]): Die Psychosen. Das Seminar, Buch III. Übers. v. Michael Turnheim. Wien: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (2015 [1963-1964]): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI. Übers. v. Norbert Haas. Wien: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (1986 [1966]): „Présentation des Mémoires du président Schreber en traduction anglaise“. In: Ornicar? 38, S. 5–9.

Lacan, Jacques (2015 [1972-1973]): Encore. Das Seminar, Buch XX. Übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas u. H.-J. Metzger. Wien: Turia + Kant.

Widmer, Peter (1997): Subversion des Begehrens: Eine Einführung in Jacques Lacans Werk. Wien: Turia + Kant.

 

Autor:in: Dr. Anatol Möller ist seit 2018, nach abgeschlossenem Studium der klinischen Psychologie und der Psychotherapiewissenschaft am Psychoanalytischen Seminar der Universität Innsbruck, in eigener psychoanalytischer Praxis tätig. Darüber hinaus arbeitet er im Lektorat wie auch in der Universitätsambulanz der Fakultät für Psychotherapiewissenschaft an der SFU Wien. Neben der klinischen Tätigkeit forscht Dr. Möller zu den Schnittstellen zwischen Ästhetik und Psychoanalyse, mit Fokus auf den Theorien Freuds und Lacans.

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