Lutz Goetzmann
Y – Z Atop Denk 2023, 3(11), 2.
Abstract: Heute ist gerne die Sprache von der „postödipalen Gesellschaft“, die auf das Verschwinden des Vaters zurückgeführt wird. Dieses Verschwinden wird mit dem Machtzerfall des Patriarchats gleichgesetzt. Die Idee ist, dass damit der Weg in eine postödipale Gesellschaft eröffnet wird, gewissermaßen in eine postödipale Moderne. Ich werde die Struktur des Ödipuskomplexes in Erinnerung rufen und daran anschließend die These vertreten, dass eine Gesellschaft ohne das Dritte präödipal strukturiert ist, d.h. nach dem Vorbild der narzisstischen Dyade oder – falls sich das Dritte abzeichnet – nach dem Vorbild der phallisch-imaginären Phase des Ödipuskomplexes. Unter „postödipal“ verstehe ich hingegen im Sinne Freuds, dass der Ödipuskomplex aufgelöst werden konnte. Entsprechend stellt sich die Frage, inwiefern ein nicht-patriarchales Rollenverständnis des Subjekts – v.a. des modernen Vaters – diese Auflösung ebenso fördert wie der Verzicht auf autoritäre oder auch identitäre gesellschaftliche Positionen. Dieser Verzicht könnte für eine postödipale Moderne geradezu typisch sein, auch wenn sie ständig von Regressionen bedroht wird.
Keywords: Postödipale Gesellschaft, Ödipuskomplex, Patriarchat, moderne Väter, Regression
Veröffentlicht: 30.11.2023
Artikel als Download: Ist die Moderne tatsächlich postödipal?
Heute ist gerne die Sprache von der „postödipalen Gesellschaft“, die im Großen und Ganzen auf das Verschwinden des Vaters zurückgeführt wird (z.B. Soiland, Frühauf u. Hartmann 2022a; dies. 2022b; Lüdemann u. Seifert 2023). Der Machtzerfall des Patriarchats, der durch die Aufklärung eingeleitet wurde, wird also mit dem Verschwinden – oder sogar der „Verdunstung“ des Vaters gleichgesetzt (Recalcati 2022a, S. 245 ff.). Die Idee ist, dass damit, d.h. mit diesem „Verdunsten“ oder „Verduften“ des Vaters der Weg in eine postödipale Gesellschaft eröffnet wird, gewissermaßen in eine postödipale Spätmoderne, in welcher der Ödipuskomplex keine wesentliche Rolle mehr spielt. Manche Autoren und Autorinnen berufen sich hier auf Jacques Lacan, der die Position des Vaters sukzessive dekonstruierte, bis nur noch ein abstraktes logisches oder sprachliches Prinzip übriggeblieben war (z.B. Frühauf u. Hartmann 2022, S. 14 ff.). Der zentrale Gehalt des Postödipalen besteht also darin, dass es keinen Vater mehr gibt, der ein Verbot, d.h. der das Inzestverbot aussprechen könnte (Soiland 2022, S. 16). Mit dem Verschwinden der väterlichen Autorität erübrigt sich, so könnte man meinen, auch das Verbot und das Verbieten.
Vor einiger Zeit hatte ich in Nürnberg, in der dortigen Bahnhofsbuchhandlung, beim Umsteigen, zwischen Lebkuchenherzen und anderen Leckereien ein kleines Buch über einen Frantz Schmidt entdeckt, der – in seiner Eigenschaft als Scharfrichter – zu Beginn der Neuzeit, d.h. im ausgehenden sechszehnten Jahrhundert, ein Tagebuch verfasst hatte (Harrington 2019). Eine Idee fand ich besonders interessant: Die Welt war mit Beginn der Neuzeit, also, wie gesagt, im ausgehenden 16. Jahrhundert extrem unsicher. Es gab Seuchen, absurde Kriege, Hungersnöte usw. – zwar hatte die Religion getröstet, aber über den Trost hinaus konnte sie natürlich nicht helfen. Die einzige wirksame Intervention bestand in der Einführung sehr durchdachter, am römischen Recht orientierten Gesetzen und ziemlich drakonischer Strafen, d.h. die einzige Abhilfe gegen das Chaos bestand in der Umsetzung patriarchaler Autorität. Wer ein Haus in Brand setzte (was offensichtlich beliebt war, z.B. um Nachbarschaftsstreitigkeiten zu lösen), musste befürchten, auf dem Markplatz verbrannt öffentlich zu werden. Der Scharfrichter war hier der Vollstrecker dieser väterlichen Ordnung. Vielleicht war diese autoritäre Struktur mit der Konsolidierung einer gewissen Zivilgesellschaft in den darauffolgenden Jahrhunderten nicht mehr unbedingt nötig, so dass die Männer der frühen Aufklärung und ihrer Nachfolger bzw. Nachfolgerinnen die starke Rolle des Gesetzes neu überdenken und relativieren konnten. Diese Entwicklung hatte letztendlich zur Folge, dass die Position des verbietenden, das unendliche Geniessen mittels seiner Verbote einschränkenden Vaters im ödipalen Dreieck seit geraumer Zeit neu überdacht wird. Diese Tendenz, die väterliche Autorität nicht nur relativierend zu hinterfragen, sondern als praktische Idee grundsätzlich zu dekonstruieren, besteht jedenfalls in den reichen, ihre Saturität aus einer postkolonialen Ausbeutung beziehenden, im Grunde jedoch weiterhin eurozentrischen und bis ins Mark absolut kapitalistischen Gesellschaften. Nun hätte die Abschaffung des Ödipus – genauer: die Abschaffung des den Ödipuskomplex repräsentierenden Vaters – durchaus ihren Charme. Es gäbe nämlich keine Schuld mehr. Der Mensch geht bei Rot über die Ampel, er grüßt nicht, man sagt nicht: „Pardon“ oder „Merci a vous“, man verrotzt die Umwelt und setzt generell, ob Mann oder Frau, sein Bitch-Face auf. Nun, vielleicht beschreibe ich nur die Stimmung in Berlin, vielleicht sogar nur in meinem super-woken Neukölln, wo sechzig Prozent der Leute links-grün wählen (und die übrigen Leute kommen übers Wochenende ins temporäre Exil).
Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass der Ödipuskomplex weiterhin ziemlich alternativlos ist, um die aktuellen Verhältnisse zu beschreiben. Aber es ist natürlich interessant, was passiert, wenn wir die Autorität des Dritten, in diesem Fall des Vaters, im Schema des ödipalen Dreiecks abschaffen. Ich glaube nicht, dass diese Abschaffung mit einer Progression verbunden ist, die das ödipale Schema überflüssig macht. Vielmehr denke ich, dass innerhalb des ödipalen Schemas eine Regression ins Imaginäre stattfindet, und zwar mit dem Versprechen eines Genießens, das unendlich erscheint, weil nichts mehr verboten ist. Eine Progression fände nur statt, wenn der „Ödipus“ durchlaufen und dann, wie Freud es beschrieb, aufgelöst werden würde. Diese – auf alle (westlichen) Menschen bezogene – an sich utopische Entwicklung würde eine postödipale Moderne ermöglichen, deren Wurzeln in der Aufklärung lägen, aber nicht um den Preis einer Dekonstruktion des Vaters, sondern im Zuge des kategorischen Imperativs, den sogar de Sade – entgegen Lacans griffigem Postulat – nicht in Frage gestellt hatte. Ich selbst verstehe übrigens auch nicht, was gegen Kants Imperativ einzuwenden wäre. Nur der Masochist und der empathielose Narzisst hebeln doch das Vernünftige aus: Der eine, weil er den Schmerz liebt; der andere, weil er sich nicht einfühlen kann ... – nun, auf jeden Fall möchte ich zunächst den Ödipuskomplex in Erinnerung rufen und dann meine These argumentativ begründen.
Sophokles hatte den Mythos des Ödipus in einem Dreiteiler auf die Bühne gebracht. Ich konzentriere mich hier auf die erste Folge: König Ödipus oder, wie Hölderlin übersetzte: Ödipus der Tyrann. Die Pest oder irgendeine Seuche, jedenfalls eine gefährliche und verderbliche Erkrankung hatte Theben damals fest im Griff, und der König, also Ödipus, fragte sich angesichts der in den Himmel wachsenden Leichenberge: Warum schicken mir die Götter diese Seuche? Ödipus war, wie wir wissen, seit vielen Jahren mit Iokaste verheiratet. Das Paar hatte vier Kinder. Der einzige Schatten, der sich auf diese Familie warf, war diese schreckliche Seuche. Eine Weissagung aus Delphi hatte verkündet: Diesem Unglück könne nur ein Ende gesetzt werden, falls der Mörder des vormaligen Königs aufgefunden und bestraft werden würde. Ödipus wusste zwar, dass er vor längerer Zeit einen Fremden und auch seine in Panzern steckende, vor Eisenschwertern strotzende Equipe getötet hatte. Und war dieser alte weiße Mann, der ihm damals zurief: „Geh mir aus dem Weg“. Pasolini zeigt in seinem Film Edipo Re, wie Ödipus mitten auf der staubigen Landstraße steht und lieber den ganzen Tross abschlachtet, als sein Trauma zu wiederholen und sich in die Wüste schicken zu lassen. Erst viel später realisiert Ödipus, auf der Klimax seines Lebens, dass dieser Fremde, den er getötet hatte, König Laios gewesen war. Aber zu diesem Zeitpunkt glaubt er noch, dass er der Sohn des Polybos und der Merope sei, also der Sohn des Königs und der Königin von Korinth. Als junger Mann war er von dort fortgelaufen, eben wegen der Prophezeiung, er werde seinen Vater ermorden und die Mutter heiraten. Aber Ödipus hatte seine Eltern lieb. Er wollte Polybos nicht töten oder Merope zu seiner Frau nehmen. Doch jetzt folgt – wir sind wieder in Theben – zu dem Zeitpunkt, als die Pest wütete, die furchtbare Offenlegung: Ödipus entdeckt, wer den damaligen König umgebracht hatte, und es wird klar: Er selbst ist der Mörder, der von Laios und Iokaste, diesen abergläubischen Rabeneltern gezeugt worden war, von denjenigen, die ihn durch die Aussetzung in der böotischen Wildnis zu töten gedachten, weil er eine tödliche Bedrohung für sie hätte werden können. Dieser Fluch lastete nämlich auf Laios. Aber es war auch Iokaste, die einem Hirten die Anweisung gab, ihr quasi hochtoxisches Baby in der Wildnis auszusetzen, „aus Furcht vor bösen Sprüchen“, wie Hölderlin (1952, S. 179) übersetzte. Um das Trauma zu heilen, hatte Ödipus also seinen Vater getötet, der ihn ursprünglich hatte „tilgen“ wollen, und seine Mutter geheiratet, die sich der Absicht ihres Mannes keineswegs entgegengesetzt hatte. Als Ödipus diesen unerhörten Skandal erkennt, will er Iokaste mit einem Speer töten. Aber sie kommt ihm zuvor und erhängt sich. Er reißt ihr die Spangen vom Kleid und sticht sich, so der Mythos, damit die eigenen Augen aus. Ein zweites Mal verlässt Ödipus – nun nicht minder verletzt – seine schreckliche Heimat.
Die Geschichte des Ödipus beginnt also mit einem krisenhaften „Zusammenbruch“ (Winnicott 1991), indem Ödipus mit durchstochenen Füssen ausgesetzt werden soll. Die zweite Krise bahnt sich an, als das Kind die Reife erlangt hat, eine intersubjektive Triade, also das ödipale Schema, wahrzunehmen. Freud (u.a. 1924) und in seiner Nachfolge Lacan (2019, S. 223 ff.) haben hier verschiedene Stadien oder Zeiten des Ödipuskomplexes
beschrieben (s. auch Recalcati 2000, S. 62 ff.). Der Einfachheit halber rufe ich diese so in Erinnerung, dass sie generell für ein Kind, d.h. sowohl für das Mädchen wie für den Jungen (oder auch für ein non-binäres Kind) gelten:
- Im ersten Stadium findet eine imaginäre Identifikation mit dem Objekt des Begehrens statt, also des Begehrens, das vom jeweils Dritten ausgeht. Man kann hier von einer „imaginären Position der Allmacht“ sprechen. Z.B. identifiziert sich der Junge mit dem väterlichen, in der Regel von der Mutter begehrten Phallus. Oder das Mädchen identifiziert sich mit Merkmalen seiner Mutter, d.h. mit den Merkmalen ihrer Weiblichkeit, die in der Regel der Vater begehrt. In der Regel, sage ich, weil man dieses Modell auch auf ein gleichgeschlechtliches Paar anwenden kann. Insofern begehrt das Kind das Begehren des Andern, also des jeweils Dritten und versucht, dieses Begehren mit Hilfe einer Identifizierung mit bestimmten Merkmalen zu entfachen, mit der Aussicht auf ein unendliches Genießen.
- Auf diesen Schritt folgt das zweite Stadium, das Stadium der Untersagung. Das Kind, ob Mädchen oder Junge, stößt auf ein Veto, d.h. auf ein Verbot, auf das Gesetz, welches die Erfüllung seiner Wünsche verbietet und sich sogar, zumindest in der kindlichen Vorstellung, mit einer Strafe, etwa mit der Strafe der Kastration verknüpft. Es entsteht, wie wir üblicherweise sagen, ein neurotischer Konflikt zwischen Wunsch und Verbot, also zwischen Gesetz und Begehren. Das ist die „Position der symbolischen Untersagung“. Lacan meinte, dass die „Mama-Papa-Geschichte“ dabei gar nicht so wichtig sei. Wichtiger sei die Kastration, dieser Skandal bestimme den Ödipuskomplex (Seifert 2023, S. 203 f.). Freud (1924, S. 395 f.) fügte übrigens noch einen Punkt hinzu: Das Kind wird nämlich schlicht und einfach mit der Realität konfrontiert, dass es unmöglich ist, mit seinem in der Regel überlegenen Vorbild um die Liebe des Zweiten zu konkurrieren. So zerschellt der Ödipuskomplex vor allem auch an dieser Realität. Gewisse Begehrens-Überreste aus dem ersten Stadium werden nun, zur notwendigen Besiegelung des ödipalen Untergangs, ins Unbewusste verdrängt und dort durch das zu diesem Zweck errichtete Überich kontrolliert. Im Idealfall würde der gesamte Ödipuskomplex an der Wirklichkeit zerschellen, und es bräuchte keine weiteren Maßnahmen, keine zusätzlichen Verdrängungsleistungen mehr: Das Kind würde die Realität dann einfach akzeptieren. Die Normalität zeigt aber, dass doch ein gewisser Anteil der alten Wünsche bestehen bleibt und deswegen verdrängt werden muss (Freud 1924, S. 399).
- Im dritten, abschließenden Stadium hat der Dritte, im Falle des Jungen wäre dies der Vater, „die Funktion einer Norm wie einer Gabe“ (Recalcati 2000, S. 94). Er ist sowohl der Verbietende, also die (verinnerlichte) Vetomacht des Symbolischen, wie auch das Objekt der Liebe, und insofern werden Begehren und Gesetz in diesem Stadium miteinander versöhnt. Es liesse sich hier von einer „Position der symbolischen Versöhnung“ sprechen.
Man kann diesem Schema gut entnehmen, dass eine Gesellschaft ohne das Dritte, d.h. ohne das Stadium der Versagung, die letztendlich auf einer Kastrationsdrohung beruht, im Grunde präödipal oder frühödipal strukturiert ist: Entweder nach dem Vorbild der narzisstischen Dyade – dann ist der Dritte nicht vorhanden, und es geht einzig und allein um die Dyade mit der Mutter – oder aber nach dem Vorbild der ersten, phallischimaginären Phase des Ödipus, wo der oder die Dritte insofern auftritt, als dass er oder sie, Vater oder Mutter, die Funktion eines Identifikationsobjekt innehat. Aber diese imaginäre Identifikation dient lediglich dazu, die Zweierbeziehung zu stützen. Die narzisstische Dyade, wo der Vater – als Dritter – verschwunden ist, wirkt natürlich verführerisch und wird gegenwärtig gerne gezeigt. Es ist z.B. die Dyade zwischen der Mutter und ihrer Tochter, wie die „Zwillingsdyade“ zwischen Heidi und Leni Klum schön zeigt1. Diese Situation des präödipalen bzw. des ödipalen Narzissmus (entsprechend der ersten, phallisch-imaginären Zeit) feiert auch Greta Gerwigs Puppen-Spektakel, das inzwischen weltweit 1.381 Milliarden Dollareingespielt hat2. Ich möchte hier nur kurz und ausschnittsweise auf Lacans Formeln der Sexuierung eingehen (u.a. Lacan 2015, S. 85, s. auch Nemitz 20183).
Mir gefällt die Idee, dass es eine einzige Sexualität gibt, die dann von der Kastration – bzw. von der phallischen Funktion, die auf der Kastrationsdrohung beruht – bestimmt wird, und dass aus dieser Bestimmung des Sexuellen die verschiedenen Positionen der Sexuierung resultieren. Man könnte dies so interpretieren, dass es für Mann und Frau und auch für all jene Menschen, die sich als non-binär lesen – nur ein einziges Sexuelles gibt, das von der Kastration, d.h. von der phallischen Funktion (markiert in der folgenden Formel durch ϕx) in unterschiedlicher Weise bestimmt wird. Daraus würden sich vier Positionen A, B, C, D ergeben, ohne dass wir diese Positionen explizit einer männlichen oder weiblichen Seite zuordnen müssen. Ich gehe hier aus Zeitgründen nur auf Position A und C ein:
Abbildung 1: Lacans Formeln der Sexuierung mit den Positionen A – D (in Anlehnung an Lacan2015, S. 85).
Position A nimmt ein Subjekt ein, das unbeschränkte Fähigkeiten besitzt, d.h. auf dieser Position A existiert (markiert durch den Existenz-Quantor ∃) gleichsam das allmächtige Individuum, ob es sich nun um einen Mann oder um eine Frau handelt: Heterosexuell, homosexuell, non-binär, fluide, transgender oder divers. Wir hätten dann z.B. einen Vater, dem alle Frauen gehören oder eine inzestuöse Mutter, die das Leben schenkt und ihre Kinder genießt. Man sollte bedenken: Wenn es heißt: „alle Frauen“, dann zählen – und das ist der springende Punkt – auch die eigene Mutter und die eigenen Töchter dazu. Das Gleiche gilt für die omnipotente Mutter: Diese schläft mit ihrem Vater, mit ihren Töchtern und mit ihren Söhnen. Das ist die Position A.
Es ist die Politik der postödipalen Gesellschaft, wenn wir das Verbot aufheben und die Jouissance ins Unendliche entlassen. So heißt es auf einem Kinoplakat über Barbie: „Sie ist alles“, d.h. Barbie kann alles, sie darf alles. Barbie erhält nicht nur den Nobelpreis usw. – das wäre ja vergleichsweise banal, sondern sie darf auch mit ihrer Mutter, mit dem Vater und den allfälligen Geschwistern schlafen. Das Einzige, was Barbie für dieses inzestuöse Projekt fehlt, sind die Geschlechtsorgane. Darum begibt sich die Puppe am Filmende in eine gynäkologische Behandlung, um diese mutmaßlich mütterliche Kastration operativ zu beheben. – Auf Position C befindet sich hingegen das Subjekt, auf welches die Limitation seiner Fähigkeiten in Form der Kastrationsdrohung zutrifft. Position C ist die Position des ödipalen Neurotikers bzw. der ödipalen Neurotikerin mit einer limitierten, d.h. phallischen Jouissance. Hier besteht also das Inzest-Tabu, das für alle gilt (markiert durch den All-Quantor ∀). Wir bewegen uns hier in Phase 2 des Ödipuskomplexes, also da, wo die Kastrationsdrohung tatsächlich wirkt. Auf demselben Kino-Plakat heißt es über Barbies Freund Ken: „Er ist nur Ken“, d.h. Ken ist – im Gegensatz zu der allmächtigen Barbie – phallisch-kastriert.
Auch wenn nun Gott und die Welt – jedenfalls die Welt: Gott gibt es ja nicht mehr – also, wenn alle behaupten, die Väter seien Auslaufmodelle, habe ich persönlich nicht den Eindruck, dass die Männer in ihrer Eigenschaft als Vater tatsächlich von der Bildfläche verschwunden sind. Im Gegenteil. Wer gelegentlich in einer europäischen Stadt unterwegs ist, sieht überall – und das nicht nur am Wochenende – Väter mit ihren Kindern, und viele unterhalten sich sogar mit ihren Kids. Diese Präsenz ist doch überraschend. Im „Väterreport“ von 2018 schreibt die damalige Bundministerin Giffey:
„Vaterschaft verändert sich: Väter heute haben ein neues Selbstverständnis. Sie wollen sich aktiv und auch im Alltag um ihre Kinder kümmern. Gerade junge Paare wollen auch als Eltern gleichberechtigt leben. Tatsächlich erziehen und betreuen Väter ihre Kinder heute mehr als sie es von ihren eigenen Vätern kennen. Sie wünschen sich vielfach noch mehr Zeit für die Familie und wollen auch nach einer möglichen Trennung für ihre Kinder da sein. – Das freut mich sehr. Denn Studien zeigen: Eine enge Beziehung zum Vater ist gut für die Entwicklung von Kindern. Es ist ein wichtiger Fortschritt, dass Väter in den letzten Jahrzehnten zunehmend eine aktive Rolle einnehmen und dass Vatersein eine gesellschaftliche Aufwertung erlebt hat: Aktive Vaterschaft gilt laut der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Veränderungen des 21. Jahrhunderts.“ (Bundesministerium für Familien, Frauen, Senioren und Jugend, 2018).
Entsprechend belegen viele Studien, dass die Zeit, die Väter für die Kinderbetreuung aufwenden, in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen sei (Ahnert 2023). In den 50er und 60er Jahren konnte ein guter Vater durchaus ein „abwesender Vater“ sein, solange er für finanzielle Sicherheit sorgte, so berichtet die Sozialwissenschaftlerin Kim Bräuer. In ihrer Väterstudie zeigt sich hingegen ein komplett neues Bild: 59,5 Prozent der Väter gaben an, dass die wichtigste Eigenschaft eines guten Vaters sei, dass der Vater dem Kind Zuneigung schenke. Nur 1,4 Prozent sahen einen guten Vater darin, dass dieser dem Kind finanzielle Sicherheit biete (Bräuer, 2023). Im aktuellen Väterreport des Bundesministeriums für Familien, Frauen, Senioren und Jugend (2023) werden dementsprechend verschiedene Vatertypen aufgelistet. Zusammengefasst sind 52 % der Väter gegenüber ihren Kindern aufgeschlossen: Diese Väter sind, wie es heißt, der überzeugte Engagierte, der urbane Mitgestalter und der zufriedene Pragmatiker, während andererseits knapp die Hälfte der Väter passiv und konservativ aufgestellt ist, nämlich in ihrer Rolle als der etablierte Konventionelle und der überzeugte Rollenbewahrer.
Somit komme ich zur Idee der Progression: Postödipal könnte bedeuten, dass der Ödipuskomplex zwar durchaus wirksam und als Entwicklungsstadium weiterhin vorhanden ist. Aber er wäre – im Zuge der ödipalen Entwicklung überwunden. Die postödipale Gesellschaft wäre damit eine – ich vermute, utopische Gesellschaft, deren Mitgliedern, sowohl den hetero- und homosexuellen Männern und Frauen wie auch jenen Menschen, die non-binär oder divers sind, es gelungen ist, ihre ödipalen Konflikte einigermaßen zu lösen. Das wäre die postödipale Moderne – oder, wie man möchte: die ödipale Postmoderne. Für die Männer würde dies eine liebevolle Versöhnung mit dem Vater bedeuten, der aber kein alter, autoritärer Knochen ist, sondern emotional verfügbar: ein urbaner Mitgestalter usw. Natürlich würde das Inzestverbot, das sich auf die Mutter bezieht, weiterbestehen, aber nur unbewusst, da der junge Mann inzwischen eine eigene Partnerin findet. Die Sehnsucht nach dem Verdrängten, also das eigentliche Begehren, würde jedoch die Lebendigkeit in diesen reifen Beziehungen stützen. Das Gleiche gilt für die Frau, die sich mit ihrer Mutter versöhnt und einen eigenen Partner wählt. In meinem Sinne würde der „neue Vater“ den transformativen Übergang in eine reife, postödipale Gesellschaft durchaus fördern. Der „neue Vater“, das ist ein Mann der Kantischen Aufklärung, der vielleicht kreativ, jedenfalls kommunikativ ist, vielleicht auch etwas androgyn – der aber die Gleichberechtigung gerne anerkennt und in seiner väterlichen Position anerkannt wird. Ein Mann, der seine Kinder liebt und auf seine Männlichkeit stolz ist, ohne dass das
Relative, das Fluide und Non-Binäre strikt abgewehrt werden muss. Ich habe den Eindruck, dass ich v.a. solche Männer – jedenfalls in meiner Lebenswelt – kenne. Schaffen wir den Vater, also den Mann der Aufklärung ab, dann versacken wir, da bin ich völlig überzeugt, in einem identitären Sumpf, in welchem durch den prä- oder auch pseudoödipalen Ausschluss des jeweils Anderen und durch die Kastrations-Verleugnung eine unendliche, im Grunde faschistische Jouissance entsteht. Ich glaube, diese (politische) Entwicklung würde wesentlich unangenehmer sein als die gelegentlich etwas übertriebene Wokeness urbaner Bubbles.
1 https://www.usmagazine.com/stylish/pictures/heidi-klum-daughter-leni-totally-twinnedon-unicef-red-carpet/ [26.11.2023].
2 https://www.boxofficemojo.com/year/world/2023/ [26.11.2023].
3 https://lacan-entziffern.de/phallische-funktion/die-formeln-der-sexuierung/ [26.11.2023].
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Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (2023): „Väterreport“.
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/230374/1167ddb2a80375a9ae2a2c9c4bba92c9/vaeterreport-2023-data.pdf [26.11.2023].
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Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa/IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.