Einleitung
Jean-Michel Rabaté
Y – Z Atop Denk 2023, 3(9), 2.
Abstract: Dieser Aufsatz führt in das Thema der „Irritation“ in der Psychoanalyse ein, indem er Lacan zwischen Michel Foucault und Niklas Luhmann ansiedelt. Ihre Theorien über diskursive Systeme konvergieren – wenn sie sich nicht sogar überschneiden – denn beide betonen die Funktion von Autorität und Autopoesie. Indem er diese Themen kreativ aufgreift, versucht Lacan, die Psychoanalyse zu verjüngen, indem er sich in einen Sokrates verwandelt, der sich als Störenfried der athenischen Polis darstellt.
Übersetzung und Kommentar: Amelie Uhlig
Keywords: Irritation, Stechfliege, Diskurs, Systeme, Autorität, Tragödie, Psychoanalyse
Veröffentlicht: 30.09.2023
Artikel als Download: Irritationen: Einleitung
Lacan irritiert Sie? Umso besser! Folgendermaßen resümiere ich meine Unterhaltungen mit nordamerikanischen Psychoanalytiker:innen verschiedener Hintergründe seit den 1990ern: Vor 30 Jahren sagte man mir, dass Lacan „arrogant“ wäre, was so viel bedeutet wie obskur, unverständlich und gefährlich. Jetzt wo er gelesen, oder zumindest von einem zahlreichen Publikum an Student:innen und Intellektuellen zitiert wird, tritt ein anderer Vorwurf hervor: Lacan ist interessant, aber „lästig“. Je mehr er die Student:innen verführt desto mehr irritiert er die praktizierenden Psycholog:innen. Sein Publikum besteht aus jungen Menschen, die sich der Psychoanalyse oder der sozialen Arbeit verschrieben haben, die unter 40-Jährigen, die in ihm eine Alternative zum Sexismus und zu apolitischen Haltungen, die immer noch die Bastion der Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten dominieren, sehen.
Lacan irritiert sowohl durch seinen dichten, anspielungsreichen und poetischen Stil als auch durch klinische Erfindungen, die als unzeitgemäß angesehen werden, angefangen bei der Praxis der variablen Sitzungsdauer, die den grundlegenden Vertrag, die unveränderliche fünfzigminütige Sitzung, gefährdet und damit die Tür für alle möglichen Arten von Missbrauch öffnen würde. Lacan irritiert, weil er zugleich freudianisch und antifreudianisch erscheint, in seiner ‚symbolischen‘ Seite nah an Jung, mit seiner Theorie des partiellen Objekts nah an Melanie Klein oder Donald Winnicott, eine Art ‚französischer Bion‘, der, wie der Brite, mit abstrusen Abkürzungssystem belastet und statt griechischer Buchstaben komplexe Graphen und undurchsichtige Matheme verwendet.
Der Kontext meiner Konversationen ist eher pädagogisch und universitär als klinisch, obwohl ich regelmäßig dazu eingeladen wurde Konferenzen für die IPA (International Psychoanalytical Association) angehörigen Gruppen in New York und anderswo zu geben. Besagter Kontext ist geprägt von meiner Arbeit in den USA, die darin bestand das Denken Lacans in englischer Sprache zu präsentieren (vgl. Rabaté 2000; 2001; 2003; 2014). Nach dem immensen Rücklauf, der die Psychoanalyse aus den Bildungs- und Forschungseinrichtungen in den USA der 1980er fegte, kommt die Psychoanalyse wieder in Mode, vor allem aufgrund von psychischen Schäden, die die Corona Pandemie bei jungen Menschen und all jenen, die man nicht einfach mehr mit Medikamenten behandeln will, ausgelöst hat. So beherbergte meine Universität, die University of Pennsylvania in Philadelphia, Mitglied der Ivy League, die vorherrschende amerikanische Psychoanalyse als Philip Rieff dort lehrte1, und erlebte, nach dem unvermeidlichen Umschwung, das Hervorkommen der kognitivistischen Therapie von Aaron Beck, der Professor der Psychiatrie war. Bereits in den 70er Jahren ersetzte Beck das freudianische, als zu „negativ“ angesehene, Modell durch eine sogenannte „positive“ Psychiatrie. Ich werde auf das Adjektiv „pessimistisch“ zurückkommen, das einen enormen ideologischen Ballast mit sich bringt. Manche wunderten sich als die University of Pennsylvania 2015 die Option einführte einen minor in Psychoanalytic Studies zu absolvieren, der die major Studiengänge komplettiert und es Student:innen aller ‚Schulen‘ der Universität erlaubt zu den Intersektionen von Psychoanalyse und Kultur zu arbeiten. Diese Möglichkeit ließ Lehrende der Fachbereiche Anglistik, Germanistik, Wirtschaft, Geschichte, Ethnologie, Urbanistik und Psychologie aktiv werden. Das Besondere an diesem Unternehmen ist, dass ein gutes Dutzend praktizierender Psychologen, die dem Psychoanalytic Center of Philadelphia angehören, gemeinsam mit Hochschullehrer:innen unterrichten. Das Buch, welches als Leitfaden für den Einführungskurs, besetzt mit durchschnittlich 70 Studenten, dient, ist Freud and Beyond: A history of Modern Psychoanalytic Thought. Es enthält ein durchaus angemessenes Kapitel über Lacan (vgl. Mitchell u. Black 1995, S. 193 ff.).
Englischsprachigen Leser:innen, welche sich mit Lacans Denken bekannt machen, steht eine solide und detaillierte Annotation von Écrits2 zur Verfügung, bei dem die Texte, einer nach dem anderen, zeilengenau kommentiert sind. Drei Bände (Hook, Neill u. Vanheule 2018-2020) wurden bereits veröffentlicht. Als Zeichen der Zeit titelte die britische Künstlerin Susan Finlay (2022) ihren jüngsten Roman The Jacques Lacan Foundation. Mit einem aufreizenden Foto von Kate Moss auf dem Cover, erzählt Finlay eine recht verrückte Geschichte deren Kapitel als Epigraph den Graphen eines der „Diskurse“ von Lacan haben. Man findet in der Folge den Diskurs des Meisters (vgl. Finlay 2022, S. 9), den Diskurs der Universität (vgl. ebd., S. 47), den Diskurs des Hysterikers (vgl. ebd., S. 77), den Diskurs des Analytikers (vgl. ebd., S. 121) und sogar den Diskurs des Kapitalismus (vgl. ebd., S. 151), aber die Namen von Kate Moss und Melanie Griffith vermengen sich mit denen von Melanie Klein und Georges Bataille. Die Intrige findet in einer Universität in Texas statt, wo Nicki, von der Jacques Lacan Foundation engagiert, die unveröffentlichten Hefte des Meisters übersetzen muss. Aber oh weh, die französischen Wörter, die sie kennt, beschränken sich auf origine-du-monde (Ursprung der Welt). Diese aufgeweckte Komödie verspottet die intellektuellen Überheblichkeiten eines gewissen universitären Milieus. Sie ist symptomatisch für das Familiarisieren des englischsprachigen Publikums mit den Signifikanten des Lacanianismus, auch wenn deren Artikulation aus purer Farce hervorgeht.
Dass Lacans Name mit einer gewissen Verspätung, aber einer großen Sichtbarkeit in die angelsächsische Popkultur eingetreten ist, liegt an seinem Ruf als Querulant, als Protestler, als theoretischer Störenfried. Lacan wird als ein Spielverderber, der das zufriedene Schnurren der Postfreudianer unterbricht, wahrgenommen. Er setzte sich an die Spitze des Feldes als er Sokrates als ersten Psychoanalytiker vorstellte. Sein Kommentar zu Platons Symposion benennt Sokrates als den Erfinder der Psychoanalyse. Lacan denkt, dass das einzige Wissen, welches Sokrates anerkennt zu besitzen, ein Wissen über die Liebe, das ganze Geheimnis der Dialektik der Übertragung enthält (vgl. Lacan 2001, S. 16).
Da ich nicht kommentieren kann, was Lacan bezüglich des Symposions offenlegt, beschränke ich mich darauf daran zu erinnern, dass Sokrates sich selbst mit einer „Stechfliege“ verglich. Er gab es sich als Aufgabe seine Bürger aufzuwecken, indem er sie biss. Dieses berühmte Bild wird von Sokrates in dem Moment lanciert, in dem er sich, für Unsittlichkeit zum Tode verurteilt, darauf vorbereitet zu sterben:
„Denn wenn ihr mich tötet, werdet ihr nicht leicht einen anderen von ähnlicher Art finden, der geradezu, sollte es auch lächerlich erscheinen, von dem Gott der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Pferd, das wegen seiner Größe zur Trägheit neigt und der Ermunterung durch den Sporn [die Stechfliege]3 bedarf.“ (Platon 2010, S. 73)
Platon weiß, dass der Vergleich Sokrates‘ merkwürdig, lächerlich, gar grotesk wirkt, was den Hellenisten erlaubte die Schlussfolgerung zu ziehen, dass μύωψ (múpos: der benutze Begriff bedeutet gleichermaßen „Sporn“ wie „Stechfliege“) nur auf das Insekt rekurrieren kann, denn sonst wäre dieses Bild nicht wirklich γελοιωτερόν (geloioterón: „zum Lachen bringend“ oder „lachhaft“).
Jedoch kommt das Bild einer Stechfliege, die ohne Unterlass sticht oder beißt bei den Griechen aus dem Mythos und der Tragödie. Im Gefesselten Prometheus von Aischylos, verfasst ein Jahrhundert vor der Verurteilung Sokrates‘, erhält der von Zeus gefolterte Held Besuch von Io, einer jungen Frau, die, in der Form einer Färse (jungen Kuh) hervorspringt, ohne Unterlass gestochen von einer Stechfliege, die von Hera, der auf Zeus Aufmerksamkeit eifersüchtigen Göttin, gesendet wurde. Die Unglückselige ruft, Prometheus an den Felsen angekettet sehend:
Weh mir! weh mir!
Es sticht mich Arme, mich die Bremse4 wieder!
Gespenst, des Argos Riesenbild,
Wehrt ihm! Huh! Entsetzen!
Den Tausendäugigen, meinen Hüter seh ich!
Und er umschleicht mich schon, tückischen Haß im Blick,
Den auch erschlagen nicht der Erde Gruft birgt!
Nein, von den Tiefen aufwärts wider mich Arme steigt er
Und scheucht mich, jagt mich Lechzende fort über den sandigen
Strand einsam; […]
Eleleu! Eleleu!
Wie mich wieder der Krampf, des zerrütteten Sinns
Wahnwitz mich durchzuckt! Wie die Bremse mich sticht
Mit dem Stachel der Glut! (Aischylos 1961, S. 233 ff.)
Ob der rhetorische Filter nun tragisch oder komisch sei, eine ähnliche Biologisierung definiert die Beziehung zwischen der Polis und dem philosophischen Helden. Sich mit einer Stechfliege vergleichend gibt Sokrates zu, dass er eine Art Parasit ist, die auf das athenische „Pferd“ wegen dessen Blut genauso angewiesen ist, wie jenes Pferd darauf von ihm gereizt, nach vorne geschubst und aus seiner Lethargie erweckt zu werden5.
Anders als im Englischen, wo der Begriff gadfly metaphorisch verwendet wird, um einen Plagegeist, der es gut meint, aber zu viel kritisiert, was im Französischen oft als enquiquineur (Nervensäge, Quälgeist) wiedergegeben wird, gibt das Deutsche dem Wort Stechfliege keine imaginäre Wertigkeit. Die gewöhnliche Stechfliege bleibt ein schädliches Insekt, schlimmer als eine Stechmücke, ein kleiner geflügelter Vampir, den man mit einem wütenden Schlag auslöschen kann. Trotzdem erklärt diese Wahl eines Vergleiches wie die Rhetorik Sokrates‘ ihn dazu zwingt in Athen zu bleiben und so seinem Todesurteil Folge zu leisten. Sokrates lehnt das Exil ab, zu welchem seine Freunde ihm raten. Der Tod sichert das Fortbestehen seines Bisses: im Sterben bleibt Sokrates eine wahre múpos und wird seine kritischen, ethischen und politischen Dimensionen für immer behalten.
Diese kritische Dimension bleibt aktuell, wie Olivier Postel-Vinay (1944) in Die Stechfliege in der Stadt gezeigt hat. In den letzten Kapiteln preist Postel-Vinay das sokratische Model und bemängelt eine neue Eugenik. Während des letzten Jahrhunderts schreibend, greift Postel-Vinay eine aufkommende Eugenik an, die seiner Meinung nach von Platon, dem rebellischen Jünger von Sokrates, in Der Republik vertreten wurde. Platon hätte Sokrates‘ Denken für immer pervertiert (vgl. Postel-Vinay 1944, S. 126 f.). Als nächstes wendet sich Postel-Vinay Nietzsche zu: Nietzsche zieht Platon Sokrates vor und befürwortet die Dominanz einer überlegenen Rasse; Sokrates wäre der Vorbote der jüdischen oder christlichen Moralisten, die Nietzsche verabscheut.
Ich werde auf Nietzsche, die Moral und die Biologie zurückkommen, deren Beziehung unendlich viel komplexer ist, um meine Analyse weniger in Richtung Darwin zu betreiben, der in demselben Kontext als Eugeniker zitiert wird, und mehr in Richtung Lamarck, der an den erworbenen Eigenschaften festhält, die die neuen Generationen erben. Ich werde ihn mit einer systematischen soziologischen Vision verbinden, für die das Konzept der Irritation einen konzeptuellen Schlüssel bietet. Freud zeigte sich selbst eher als Lamarckianer als er seinen ersten theoretischen Text Entwurf einer Psychologie mit folgendem Satz begann: „Geht man von hier aus weiter zurück, so hat man das Neuronensystem zuerst als Erbe der allgemeinen Reizbarkeit des Protoplasmas mit der reizbaren Außenfläche verknüpft“ (Freud 1975, S. 5). Hier macht sich Freud zum Echo der These Lamarcks aus seiner Philosophischen Zoologie von 1809 in der das „Allgemeine[s] über Thiere“ das Leben durch eine Fähigkeit auf die physische Umwelt zu reagieren definiert. Dies nennt Lamarck „Reizbarkeit“: „Die Reizbarkeit in allen oder in gewissen Theilen ist das allgemeinste Merkmal der Thiere. Sie ist allgemeiner als das Vermögen der freiwilligen Bewegung, des Gefühls und selbst der Verdauung“ (Lamarck 1876, S. 46). So dient die Reizbarkeit als Kriterium, um Tiere von Pflanzen zu unterschieden:
„Die Thiere sind belebte Organismen, die Theile besitzen, welche zu jeder Zeit reizbar sind. Beinahe alle verdauen die Lebensmittel; von denen sie sich ernähren, und bewegen sich einerseits in Folge eines entweder freien oder abhängigen Willens oder andererseits in Folge ihrer erregten Reizbarkeit.“ (ebd., S. 47)
Wenn die Biowissenschaft aus der Reizbarkeit ein fundamentales Konzept macht, und wenn Freund Lamarckismus und Darwinismus kombiniert6 (vgl. Sulloway 1979, S. 274 f.), schlage ich von meiner Seite eine Version des Lamarckismus in den Theorien von Niklas Luhmann vor, die ich mit den Theorien von Michel Foucault und Lacan verbinde.
1917 verspottete Lacan Freuds Eindruck er habe zwei Revolutionen abgelöst, die kopernikanische Revolution, die den Geozentrismus mit dem Heliozentrismus ersetze und die darwinistische Revolution, die die menschliche Spezies in Kontinuität mit den Tierarten zeigte. Freud hätte mit der Entdeckung eines Unbewussten, welche die menschliche Subjektivität dezentriert, eine dritte Revolution eingeleitet. Lacan zeigte sich gegenüber dieser Behauptung skeptisch:
„Wenn die Verwendung des Ausdrucks Revolution so wenig überzeugend ist, so weil schon die Tatsache, dass es hierin eine Revolution gegeben habe, für den Narzissmus erhebend ist. Das Gleiche gilt im Hinblick auf den Darwinismus. Es gibt keine Lehre, die die menschliche Produktion höher ansetzt als der Evolutionismus. In dem einem wie in dem anderen Fall, dem kosmologischen oder dem biologischen, lassen all diese Revolutionen den Menschen nicht minder auf dem Platz der Blüte der Schöpfung.
Deshalb ist diese Freud’sche Bezugnahme wahrlich schlecht inspiriert. Sie ist vielleicht genau deshalb getätigt worden, um das, worum es geht, zu maskieren und durchrutschen zu lassen, nämlich dass dieser neue Status des Wissens einen ganz neuen Diskurstypus zur Folge haben muss, der nicht leicht zu halten ist, und der bis zu einem gewissen Punkt noch nicht begonnen hat.“ (Lacan 2013, S. 23 f.)
Für Lacan gibt es keine Revolution, die nicht durch die Kreation eines neuen Diskurses geschieht. An dieser Stelle wird uns Luhmann helfen: Er schlägt eine originelle Art und Weise vor, die Psychoanalyse als ein sich entwickelndes System zu verstehen, das gleichzeitig ein Diskurs bleibt. Was bedeutet es, von der Psychoanalyse als Diskurs zu sprechen? Es findet sich eine Diskurstheorie in der von Foucault verteidigten These, als er 1969 während einer wegweisenden Konferenz, an der Lacan teilnahm, definierte, was der Autor ist, um dann schmeichelhafte Bemerkungen zu machen: Er hatte sich selbst wiedererkannt, als sich Foucault seine Parole einer ‚Rückkehr zu Freud‘ zum Vorbild nahm. Foucault (2001) stellte die Frage „Was ist ein Autor7?“, um auf die Analysen von Roland Barthes zu antworten, der ein Jahr zuvor verfügt hatte, dass der ‚Autor‘ als Institution tot sei. Nach Barthes wurde der Autor als Wissenschaftler nicht mehr gebraucht. Dieser müsste durch den Leser ersetzt werden, welchem alle Lizenzen gegeben wurde, seine eigenen Kodierungsreihen und Leseraster anzuwenden. Kein Grund zur Frage, ob das Ergebnis mit den Intentionen des Autors zusammenhängt. Aufgrund seiner Synthese in der Ordnung der Dinge beabsichtigte Foucault jedoch dem Autor seinen Platz wiederzugeben, auch wenn er der Ablehnung jeder Position moralischer oder intellektueller Autorität, die Werken von außen einen Sinn zuschrieb, zustimmte.
Foucault sah die Notwendigkeit den Autor als Namen beizubehalten, da nur die Namen der Autoren selbst eine Tabellierung historischen Wissens erlaubten. Diese „Funktion Autor“ muss von einer komplexeren Kategorie unterschieden werden, der des „Diskursivitätsbegründers“ (vgl. Foucault 2001, S. 832). Foucault nennt hiervon zwei: Marx und Freud. Beide sind mehr als nur Autoren von zahlreichen Werken. Tatsächlich eröffneten ihre Texte neue Möglichkeiten des Diskurses (vgl. ebd., S. 833). Jeder der beiden hat Konzepte, Hypothesen und Analysen produziert, die später weiterentwickelt wurden, um einen spezifischen Diskurs zu erschaffen, der aus einer bestimmten epistemologischen Formation entnommen wurde. Es ist nicht aufgrund des Zusammenhangs mit der Gesamtheit der Gründerthesen, dass man feststellen kann welcher Kommentator dem Geist des Autors treu geblieben ist. Die „Diskursivitätsbegründer“ können nicht wie Galileo oder Newton behandelt werden, als diese die Physik revolutionierten. Tatsächlich steht „das Werk dieser Begründer […] nicht in Bezug zur Wissenschaft und nicht in dem Raum, den sie umreißt, sondern die Wissenschaft oder die Diskursivität beziehen sich auf das Werk ihrer Begründer wie auf primäre Koordinaten.“ (ebd., S. 835) Foucault leitet daraus die Idee einer notwendigen Rückbesinnung auf ihre Werke ab, wie es Noam Chomsky durch die Wiederentdeckung der kartesischen Kategorien in der generativen Linguistik getan hat. Foucault erinnert implizit an Louis Althusser, der Marx noch einmal liest, und an Lacan, der Freud noch einmal liest.
Was impliziert eine solche ‚Rückkehr zu‘ einem Autor dieses Typus? Die Texte werden im Zusammenhang mit der Gegenwart gelesen, das bedeutet auf rekursive Art, um Lücken oder Auslassungen, Wissenslücken festzustellen, die ein unaufhörliches Hin und Her geben. Die ‚Rückkehr‘ ist Teil eines Diskurses und modifiziert diesen ohne Unterlass von innen: „Die Rückkehr zum Text ist kein geschichtlicher Zusatz, der zur Diskursivität hinzukommt und sie mit letztlich unwichtigen Verzierungen ausstattet; es ist eine nützliche und notwendige Transformationsarbeit an der Diskursivität selbst“ (ebd., S. 836). Wie Foucault angibt, ändert das Lesen der Texte Galileos nicht die Fundamente der Physik, so wie die Texte Freuds die Psychoanalyse modifiziert. Die Entdeckung der unveröffentlichten Texte Freuds modifizierte sein theoretisches Feld. Eine solche Rückkoppelung entzieht die Texte den klassischen Kriterien der empirischen Überprüfung. Es gibt keine Möglichkeit die Angaben der Psychoanalyse durch Quantifizierung zu invalidieren: die Arbeit, textlicher Natur, ist unüberprüfbar und unendlich.
Sobald Lacan die theoretische Begründung seiner Losung „Rückkehr zu Freud“ anerkannte, kommt er in die Position, dass er sich nicht als Autor präsentieren kann. Muss er seine Geste auf die Rolle eines Kommentators begrenzen, auch wenn, wie wir wissen, er die Konzepte Freuds modifiziert, umgeschrieben oder umgestellt hat? Wenn Lacan die Rolle des Autors ablehnt, wie kann er dann einen Diskurs unterzeichnen, der zwischen mündlicher Darbietung und seinen Schriften gefangen ist? Ich werde diese Fragen in einem späteren Kapitel behandeln. Um voranzuschreiten, werde ich die Diskurstheorie Foucaults weiter herausarbeiten, indem ich sie mit der Systemtheorie Luhmanns in Verbindung setze.
Foucaults Positionen zum Diskurs hatten eine gewisse Auswirkung auf Luhmann, der, wie Foucault, jeden Humanismus ablehnt und Subjekte als durch linguistische und soziale Strukturen determiniert ansieht. Er fügt hinzu, dass die Strukturen, welche das System bilden, sich ohne Unterlass selbst korrigieren. Der Unterschied besteht darin, dass Luhmann Foucaults agonistische These ablehnt, die in der Abwägung endet, dass sich alles um die Beziehung zwischen Wissen und Macht dreht. Luhmann erläutert dies im englischen Vorwort zu Liebe als Passion (1982), das Buch, welches sich die historische Kodifikation der Liebe zum Objekt macht und nicht eine Genealogie der Sexualität, ein Lieblingsgebiet der foucaultschen Archäologie. Er schreibt:
„Und wie Foucault bin ich nicht daran interessiert eine nette, hilfreiche Theorie zu finden, die sich am ‚Guten‘ orientiert und noch weniger mich in Empörung um den aktuellen Stand der Dinge zu sonnen. Aber während Foucault von der Macht des Diskurses über unsere leidenden Körper sprechen würde, analysiert die Systemtheorie die Beziehung zwischen System und Umwelt. Der letztere Ansatz ermöglicht es uns auch zu zeigen, dass wir gemäß kulturellen Imperativen lieben und leiden.“ (Luhmann 1998, S. 4)
Luhmann schlägt eine allgemeine, zugleich abstrakte und detaillierte Theorie der kulturellen Mechanismen, die auf die Unterschiede in den sozialen Werten aufmerksam machen, vor. Diese Werte entwickeln sich ständig weiter, wie wenn wir den Aufstieg einer Vorstellung von Liebe als „Leidenschaft“ zwischen dem klassischen Zeitalter und der Moderne beobachten. Luhmann kombiniert eine Informationskonzeption inspiriert durch die Kybernetik, eine strukturalistische Epistemologie und die Evolutionstheorien aus der Biologie. Diese Konvergenz erlaubt es ihm ein Konzept einzurichten, welches ich selbst aufgreifen werde, das der systemischen Irritation. Für Luhmann bildet die soziale Kommunikation ein System als Ergebnis fortschreitender Anpassungen an, aus der Umwelt stammenden, „Irritationen“ (vgl. Luhmann 1997, S. 106). Folglich hält die Sprache in ihrer langsamen Evolution den potenziell destruktiven Charakter dieser Irritationen stand: „Es ist vielmehr die besondere Eigenart von Sprache, daß sie der Kommunikation Irritationen vermitteln kann, ohne daran zu zerbrechen“ (ebd.). Allgemein darf die Kommunikation nicht, wie man annehmen könnte, als ein Austausch von Bewusstsein zu Bewusstsein gedacht werde, da „Es […] keinen direkten Zugriff physikalischer, chemischer, biologischer Vorgänge auf die Kommunikation [gibt] – es sei denn im Sinne von Destruktion“ (ebd., S. 114). Das menschliche Bewusstsein ist Teil dessen, was Luhmann „Autopoiesis“ von Systemen nennt, die sich durch ständige Selbsterschaffung konstituieren. Die Selbsterschaffung setzt einen Teil der Destruktion voraus, der durch verschiedene Filter in das System gelangt. Dieses dialektische Verhältnis wird in einem eindrucksvollen Bild wiedergegeben: „Aber kein Feuer kann ein Buch schreiben, und es kann nicht einmal den Buchschreiber so stark irritieren, daß er, während das Manuskript brennt, es anders schreibt, als er es ohne Feuer tun würde“ (ebd.). Das Bewusstsein eines Schriftstellers steht über solchen Kontingenzen.
Die strukturelle Koppelung von Bewusstsein und Kommunikation dient dazu das scheinbare Paradox aufzulösen, dass jedes System als selbstbestimmend erscheint, obwohl es sich in Zusammenhang mit seiner Umwelt entfaltet: „Die Systeminnenseite der strukturellen Kopplung läßt sich mit dem Begriff der Irritation (oder Störung, oder Perturbation) bezeichnen“ (ebd., S. 118). Ein System wählt seine eigenen Irritationen. Dies gilt für den Umweltbereich sowie für das seelische Leben, auch wenn sich Unterschiede in der Größe der Ordnung zwischen den einzelnen Organismen und den gesellschaftlichen Kodizes in Bezug auf ihre Irritationen, feststellen lassen: „Und während Organismen nur auf Irritationen ihrer Außenflächen reagieren können, wie immer sie diese Irritationen dann intern interpretieren, steigern Kommunikationssysteme ihre Irritierbarkeit, indem sie räumliche Grenzen durch sinnhafte Unterscheidungen ersetzen“ (ebd., S. 124). Ein ganzes Spiel von Grenzen, Irritationen und Verbauungen der Sinne wird sich entfalten.
Eine Maxime Luhmanns stimmt mit der Theorie des Signifikanten von Lacan überein nach der: „Ein Signifikant ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert“ (Lacan 1966, S. 819). Für Luhmann muss nicht geglaubt werden, dass die Menschen „kommunizieren“; nur die Kommunikationssysteme kommunizieren untereinander. Wie Lacan akzeptiert auch Luhmann die „linguistische Wende“, die auf die Sprache besteht, aber es ablehnt die Realität auf einen Effekt der Sprache zu reduzieren wie es einige postmoderne Denker tun:
„Die bedeutet keineswegs, dass die Realität eine simple Fiktion ist […], aber es bedeutet, dass in der Welt diese Unterscheidung zwischen der realen Realität und der semiotischen Realität eingeführt werden muss, damit etwas – und es kann sich hier um die semiotische Realität handeln, bezeichnet werden kann.“ (Luhmann 1997, S. 219)
Aber diese Unterscheidung die der Welt nur durch Härte, ihrem Schicksalscharakter und auch ihrer Mangelhaftigkeit zugeschrieben werden kann, muss ihrerseits produziert werden. Sie existiert nicht einfach als transzendentale Bedingung von Möglichkeit dadurch, dass auf sie rekurriert wird. In dieser Maßnahme folgen wir dem linguistic turn, der das transzendentale Subjekt durch Sprache, aber das heißt jetzt: durch Gesellschaft ersetzt (vgl. ebd., S. 219).
Die Gesellschaft stabilisiert einen imaginären Raum für sukzessive Projektionen, denen sie symbolischen Wert zuordnet. Diese rekursiven Anwendungen formen eine „Autopoiesis“, ein Mechanismus, durch welchen sich das System vor Lärm schützt und seine Irritationen wählt. Die Kommunikation beginnt zu funktionieren, wenn die Systeme ihre Antworten auf die Irritationen erhöhen, seien es bedeutsame Ereignisse oder zufällige Faktoren. „Ein System kann Eigenkomplexität und damit Irritabilität aufbauen“ (ebd., S. 184). Ein System baut seine Autopoiesis auf, indem es immer feiner zwischen seiner Selbstreferenz und seiner Fremdreferenz unterscheidet.
Als Luhmann zur Evolution arbeitet, untersucht er die Weise in welcher Lamarck das Konzept der Reizbarkeit, welches ein Erbe der Biologie der Renaissance ist, von neuem aufgreift. Er erwähnt die Kontroverse zwischen Lamarckismus und Darwinismus über die Möglichkeit, dass eine bestimmte Generation erworbene Eigenschaften an Nachkommen vererbt. Die lässt indirekt die Frage aufkommen, ob Freud Lamarck näherstand als Darwin (vgl. Sulloway 1996). Luhmann betont: „Das wichtigste Strukturmerkmal aller Lebewesen, das feste Typenmerkmale ersetzt, nennt Lamarck ‚irritabilité‘. Dies Merkmal bezeichnet zugleich den Umweltbezug des Systems“ (Luhmann 1997, S. 504). Er vertritt entschieden einen soziokulturellen ‚Lamarckismus‘ insofern er Strukturveränderungen durch den Lernprozess und das kollektive Gedächtnis analysiert. Bezogen auf diesen letzten Punkt erweist sich Luhmann als sehr freudianisch, wenn er betont, dass die Funktion des Vergessens integraler Teil des Gedächtnisses ist:
„Die Funktion des Gedächtnisses besteht deshalb darin, die Grenzen möglicher Konsistenzprüfungen zu gewährleisten und zugleich Informationsverarbeitungskapazitäten wieder frei zu machen, um das System für neue Irritationen zu öffnen. Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen, im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen.“ (ebd., S. 579)
Das so verstandene Vergessen ist keine Auslöschung der Vergangenheit, im Gegenteil, es erlaubt eine konstante Neuprägung des Systems, ähnlich wie das Freud‘sche Unbewusste, das als Stratifikation schriftlicher Spuren durch differenzierte Neuronenschichten verstanden wird. So erklärt Luhmann die Entstehung des Konzeptes des Individuums im 19. Jahrhundert mit dem allmählichen Rückgang der sozialen und politischen Rolle der Religion; doch als der Individualismus aufkam, verbreitete sich diese Ideologie genau in dem Moment, als Freuds Konzept des Unbewussten seine Subversion oder Negation mit sich brachte: „Seinen Gegenbegriff findet das Individuum jetzt mit Hilfe der Freud‘schen Theorie des Unbewußten in sich selbst, und das erst vollendet die Semantik der Individualität. Das Individuum kann als Unterschied zu sich selbst begriffen werden - und den Begriff der Gesellschaft der Ideologisierung überlassen“ (ebd., S. 1067). Solche Formulierungen verweisen auf den oft zitierten Hegel, auch wenn Luhmann dessen Idee einer Wissenschaft des Geistes ablehnt (vgl. ebd., S. 740). Im Grunde genommen zielt er darauf ab Konstruktivismus und Dekonstruktion zu versöhnen (vgl. ebd., S. 748), deshalb die häufigen Anspielungen auf Derrida.
Zwischen dem Negativismus der Frankfurter Schule, für die es darum geht, ununterbrochen den fortgeschrittenen Kapitalismus zu kritisieren, und dem amerikanischen Optimismus, der die Kritik als die Leistung eines Hollywood-Helden ansieht, der für das Ideal einer sozialen Gerechtigkeit kämpft (vgl. ebd., S. 745), erarbeitet Luhmann eine „Beschreibung der Gesellschaft durch die Gesellschaft“ gegründet auf der Idee einer Gesellschaft, die Bedeutungen projiziert, die sie immer wieder erneuert. Diese Bedeutungen können nicht von den jüngsten Ereignissen abstrahiert werden, den Veränderungen, die die Geschichte mit sich gebracht hat, den Problemen, die durch die Globalisierung, die Digitalisierung, die zerstörte Umwelt, die Rückkehr eines vergessen geglaubten Kalten Krieges usw. verursacht werden. Luhmann will nicht wie Hegel einen Blick zurück auf eine Vergangenheit werfen, die erst verstanden wird, wenn sie vollzogen ist, sondern zielt auf eine Neuverteilung der Kategorien von Bedeutung und Diskurs, um eine laufende autopoietische Entwicklung zu erfassen und zu beeinflussen.
Die Konzepte Luhmanns erlauben es uns die Position von Lacan über die Verbindung zwischen Diskurs und sozialen Beziehungen besser zu verstehen, welche ich mit diesem Zitat aus Der Betäubte noch einmal aufrufen werde:
„Ich habe die Aufgabe, den Status eines Diskurses zu bahnen da, wo ich verorte, dass es… Diskurs gibt: und ich verorte ihn vermittels des sozialen Bandes, dem sich die Körper unterwerfen, welche ihn, diesen Diskurs, bewohn‘.
Mein Unternehmen scheint verzweifelt […], weil es unmöglich ist, dass die Psychoanalytiker eine Gruppe bilden.
Nichtsdestoweniger ist der psychoanalytische Diskurs (das ist meine Bahnung) gerade derjenige, der ein soziales Band begründen kann, das gesäubert ist von jeglicher Notwendigkeit einer Gruppe.“ (Lacan 2020, o.S.)
Um Luhmanns Begriff zu zitieren, würde ich sagen, dass Lacan immer wieder die Rolle des Reizerregers (l’irritant) in der Psychoanalyse gespielt hat, insofern sie eine Gruppe beinhaltet, die aus den Konzepten eines Gründers besteht. In der Tat umfasst seine Rückkehr zu Freud wichtige Verlagerungen. Ein bekanntes Beispiel ist seine Lektüre von Hamlet in seinem Seminar über die Interpretation, die die zentrale Intuition über Ödipus widerlegt. Das Seminar Das Begehren und seine Interpretation nimmt das Gegenteil der klassischen freudschen Interpretation von Hamlet, die davon ausgeht, dass Hamlet die moderne Version von Ödipus sei. Laut Freud kann Hamlet seinen Onkel nicht umbringen, weil er damit seinen eigenen ödipalen Wunsch erfüllt hätte. Lacan stellt diese These, die er als „nicht-dialektisch“ bezeichnet, in Frage, indem er einwendet, dass Hamlet genauso gut denjenigen hätte töten wollen können, den er als glücklichen Rivalen sieht (vgl. Lacan 2013, S. 330). Lacan demontiert so die Psychologie der Imitation, auf die sich die freudsche Lesart beruft. Wie jede rein psychologische Lesart bleibt sie auf der Ebene des Imaginären mitstehen und kann sich in sein Gegenteil verkehren. Eine solche Verkehrung kommt daher, dass Lacan seit den 30er Jahren zu dem Spiegelstadium gearbeitet hatte und weiß, ab welchem Punkt eine imaginäre quasi-Identität eine Aggression hervorruft. Um über die Logik der Identifikation hinwegzukommen, muss die Grammatik geändert werden, vom objektiven auf den subjektiven Genitiv gewechselt werden. Vor allem zählt das ‚Begehren der Mutter‘, weniger als ‚Begehren nach der Mutter‘ wie im ödipalen Schema, sondern als ‚Begehren der Mutter‘, diese undurchsichtige Mischung aus Begehren und Genuss einer Gertrude, die sich dem Bruder ihres Mannes zuwendet. Was Hamlet lähmt, ist das Enigma dieses mütterlichen Begehrens. Er wird sich erst durch das Zwischenglied eines zweiten weiblichen Begehrens befreien, welches er zu Tode bringt: das Begehren von Ophelia. Hamlet wird sein eigenes Begehren dadurch finden, sich in die Position zu begeben zu sterben.
Lacan bleibt ein Freudianer, der Freud in einem positiven Sinn irritiert: was nichts an dem Diskurs der Psychoanalyse verändert, von dem er die Grammatik ändert.
Hier nun der Punkt der Übereinstimmung der Analysen von Foucault, Lacan und Luhmann. Die Psychoanalyse ist gleichzeitig ein Diskurs, der im Feld der Geisteswissenschaften stattfindet, ein Diskurs über Sexualität, Begehren, das polarisierende Thema des Unbewussten, die Topik des Selbst, die Triebe, etc. und ein Archiv, ein autopoietisches System, welches sich ohne Unterlass selbst überholt, ein Text reich an Lücken, die mit Vorsicht immer wieder aufs Neue betrachtet werden müssen. Lacan ‚kehrt‘ zu Freud zurück und gibt zu, dass Freud der einzige Autor ist. Um seinen Diskurs effektiver zu gestalten, führt er andere Diskurse ein, die der Kybernetik, der Biologie, der Ethnologie, der Mathematik, die er wiederum irritiert, ohne von den philosophischen Diskursen Platons, Aristoteles, Kants, Hegels oder Marx zu sprechen. Seinerseits erhält Freud seinen Status als Initiator von Diskursivität, er ist voll und ganz Autor. So schreibt er bei der Abfassung des Falles Dora, während er die Gründe für ihr klinisches Scheitern erläutert, einen Text, der einen gültigen Schlüssel für die Mechanismen des Traums im Allgemeinen liefert. Deshalb werde ich mit Freud, den ich in verschiedenen Irritationen zu erfassen suchen werde, beginnen und enden.
1 Das Hauptwerk von Philip Rieff (1959) ist ein Buch, welches teilweise von seiner Frau Susan Sonntag geschrieben wurde.
2 Ich ziehe es vor, den Artikel wegfallen zu lassen, wenn ich dieses Buch zitiere – den Grund dafür gebe ich später an.
3 Anmerkung der Übersetzerin: Zu der Frage, ob μύωψ mit „Sporn“ oder „Stechfliege“/“Bremse“ übersetzt werden sollte, existiert ein reger Diskurs (vgl. Marshall 2017). Der Autor zieht die Übersetzung „Stechfliege“ bzw. „Bremse“ vor, da sich erst durch dieses sprachliche Bild der Humor Sokrates' Analogie offenbaren würde.
4 Anmerkung der Übersetzerin: Wie bereits erwähnt, ist es möglich múpos (μύωψ) mit „Bremse“ oder „Stechfliege“ zu übersetzen. In diesem, bereits übersetzten Zitat, wurde „Bremse“ gewählt. Nach Rücksprache mit dem Autor, habe ich mich allerdings für dessen eigenen Text für die Übersetzung „Stechfliege“ entschieden, da „Bremse“ im Deutschen eine Doppeldeutigkeit innehat und diese zumindest für den Titel des Textes potenziell für Verwirrung sorgen könnte.
5 Nur die Stechfliegenweibchen beißen oder reißen die Haut ihres Opfers auf, um das, für die Reproduktion notwendige Blut zu saugen; technisch gesehen „sticht“ sie nicht.
6 Die Anhänger Freuds geprägt von einem ähnlichen Lamarckismus waren Ferenczi und Groddeck
7 Anmerkung der Übersetzerin: In diesem Abschnitt wird auf das Gendern verzichtet, da es sich um einen Werktitel handelt und l’auteur im Französischen sowohl für den Autor als auch die Autorin stehen kann.
Literaturverzeichnis
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Autor:in: Jean-Michel Rabaté ist Professor für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Pennsylvania, Mitherausgeber des Journal of Modern Literature, Mitbegründer und leitender Kurator der Slought Foundation und Fellow der American Academy of Arts and Sciences. Er ist Autor und Herausgeber von mehr als vierzig Büchern in englischer und französischer Sprache über Modernismus, Psychoanalyse, Philosophie und Literaturtheorie. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehören „Knots: Post-Lacanian readings of literature and film“ (2020), „Historical Modernism: Time, History and Modernist Aesthetics“ (2022) mit Angeliki Spiropolou und „Encounters with Soun-Gui Kim: Writings 1975-2021“ (2022) mit Aaron Levy.
Übersetzer:in: Amelie Uhlig, M.A, studierte Philosophie in Leipzig, Paris und Berlin.