Reflexionen von der Tankstelle
Nico Graack
Y – Z Atop Denk 2023, 3(7), 1.
Abstract: Die Katastrophen unserer Zeit – von den Kriegen, niedergeschlagenen Aufständen und modernen Sklavenhaltungen in den Postkolonien bis zur tödlichsten aller: dem ökologischen Kollaps – erschaffen ein realdystopisches Dickicht, durch das zu navigieren der westliche Diskurs mit der medialen Reizüberflutung sicher zu verhüten weiß. An der Sonnenseite dieser Dystopie gedeihen die letzten Menschen, die von E-Autos und Brückentechnologien faseln. Die Ränder dieser Sonnenseite sind von postmodernen Hippies, Punks, Aktivist:innen und „Ausgestiegenen“ bewohnt. Nico Graack bewegt sich in seinem kürzlich im IPPK-Verlag erschienenen Buch Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle gedanklich in einer Mischung aus Philosophie, Psychoanalyse und spontaner Ethnographie durch dieses Dickicht. Physisch bewegt er sich in den Autos, die ihn beim Trampen einsammeln. Eine Sammlung kurzer Reflexionen und Essays, die an den Tankstellen Europas, auf den Demonstrationen und Besetzungen, in den Seminarräumen der Universitäten und auf den mediterranen Hippie-Festivals entstanden sind: Eine kritische Theorie in 119 kurzen Texten. Wir drucken davon hier elf ab.
Nico Graack (2023): Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle. Berlin (IPPK-Verlag), 212 Seiten. ISBN/EAN 978-3-949634-01-7. Jetzt als Print oder E-Book im Buchhandel erwerblich.
Keywords: Klimakatastrophe, Kritische Theorie, Lacan, Žižek, Reisebericht, Aktivismus
Veröffentlicht: 30.07.2023
Artikel als Download: Wenn ich groß bin
1.
Wenn ich groß bin, möchte' ich auch mal Spießer werden – Die Zeit der direkten Revolte ist vorbei. Ob nun irgendein x-beliebiges Feuilleton flache Hierarchien bei Google & Co. feiert oder als Heuchelei denunziert, Postoperaist*innen den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und das neue Paradigma der immateriellen Arbeit untersuchen, die bürgerliche Technikphilosophie mit Begriffen wie „Informationsgesellschaft“ um sich wirft und dabei das Internet als anarchistisches Experiment verteufelt oder bejubelt, die penetranten Werbetafeln, -pop-ups, -screens und bald wohl auch noch -implantate einem die Phrasen von „Flexibilität“, „Innovation“ und dergleichen ins Hirn prügeln oder es psychoanalytisch gewendet und der Verlust der Vaterfigur bejubelt oder bedauert wird – Einig sind sich alle darin, dass Herrschaft nicht mehr in ihrer unmittelbaren Form wirkt, was einige gar dazu verleitet, sie ganz zu verleugnen.
Aber die jungen Wilden scheinen das noch nicht mitbekommen zu haben. Sie revoltieren noch immer wie es die Generationen vor uns getan haben: Verachtung für Lohnarbeit, insbesondere Festanstellungen, für monogame Beziehungen und starre Bindungen aller Art, für Befehle, den Gegensatz von Arbeit und Freizeit und überhaupt für feste Zeiteinteilungen – kurz: Sie kämpfen den Kampf gegen jede Spießigkeit.
Unser postmoderner Kapitalismus ist aber nicht mehr spießig. Allzu gut bereiten sie sich vor auf ihre zukünftigen „flexiblen Arbeitsverhältnisse“ ohne Arbeitnehmer*innenrechte und ihr „projektorientiertes Zeitmanagement“ ohne Freizeit. Das obligatorische Work&Travel-Jahr in Australien oder Neuseeland, wie der Reisefetischismus überhaupt, bereitet sie auf ihre Umzüge in jenen immer kürzer werdenden Zeitabständen vor, die das Kapital in der globalen Standortkonkurrenz fordert. Sie spucken auf jede Autorität und unterwerfen sich umso bereitwilliger dem, was Žižek „permissive Autorität“ nennt: Nur zu gerne lassen sie sich davon einlullen, dass sie ihren neuen Projektmanager im Start-Up beim Tennisspielen duzen können. Fast wäre man bereit, die klassisch zerrüttete Ehe im Reihenendhaus als subversiv zu feiern – Zurück zum Muff von 1000 Jahren!
9.
Fake it 'til you make it! – Die Klimakatastrophe als letzte Konsequenz des Widerspruchs zwischen Kapital und Natur führt eine neue Dimension gegenüber derjenigen ein, die der Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit eröffnet. Das ist das, was die ökonomische Schule um Altvater – heute kenne ich da vor allem Karathanassis – nicht in der nötigen Schärfe sieht: Die Einführung des „externen Widerspruchs“ (Kapital-Natur) im Gegensatz zum „internen Widerspruch“ (Kapital-Lohnarbeit) macht einen Unterschied ums Ganze. Hier kann nicht in der gleichen Weise davon gesprochen werden, dass der Kapitalismus selbst die Bedingungen der Aufhebung dieses Widerspruchs erschafft – was vielleicht gar den hellsichtigsten der neoliberalen Technologie-Aposteln in den Mund gelegt werden kann: Irgendein perpetuum mobile wird dem Innovationsdruck schon einfallen. Im Gegenteil kann es hier nur um eine Notbremse gehen, nicht um die Befreiung der Entfaltung der Produktivkräfte. Hier kann auch nicht in der gleichen Weise von einem ausgestoßenen und darum historischen Subjekt gesprochen werden. Die realen Bündnisse der Klimabewegung und der Arbeiter*innenbewegung – in Frankreich bei Total, in Deutschland bei Bosch, in Kolumbien in der Frackingindustrie, … – funktionieren nach einer anderen Logik als die Bündnisse von Arbeiter*innen verschiedener Branchen. Es gibt immer ein Moment von Zugeständnis und willentlicher Anstrengung, keine Spur von natürlicher Konvergenz der Interessen, der spontanen Herausbildung gemeinsamer Kampfbegriffe und Slogans.
Es ist natürlich wahr, dass die beiden Widersprüche ein gemeinsames Element haben: Es ist derselbe, endlos repetitive Prozess der Verwertung und Anhäufung von Wert, der ebenso die Lohnabhängigen in ihrer sozialen und – zumeist außerhalb Europas – auch leiblichen Existenz drangsaliert, wie er die Natur zum Kollaps treibt. Aber daraus folgt ganz und gar nicht, dass es sogleich auch ein gemeinsames Subjekt, eine gemeinsame historische Aufgabe gäbe. Es gibt zuweilen vielleicht gemeinsame Mittel, gemeinsame Etappenziele, aber kein Programm drängt sich daraus auf. Die beiden Widersprüche unterhalten auch untereinander eine Spannung: Als Bedingung der sozialen Emanzipation zum Beispiel in Lateinamerika muss sicher eine gewisse Entfaltung der Produktivkräfte, eine autonome Wirtschaft angesehen werden. Das bedeutet aus Perspektive der Klimakatastrophe mehr dreckige Schornsteine, mehr Plastikschrott, mehr Bagger, die sich in die Erde fressen und Flüsse verseuchen.
Man kann und muss vielleicht auch sagen: Dem kontrollierten Aufbau auf der ausgebeuteten Seite des globalen Kapitals muss der kontrollierte Rückbau auf der ausbeutenden Seite korrespondieren. Aber sicher. Nur wie? Aus den unmittelbaren Interessen und Kämpfen der Arbeiter*innen – ob nun für Lohn, Tarif und Zeit oder letztlich für Selbstbestimmung, Eigentum und Macht – folgt in diese Richtung gar nichts. Wir stehen vor der Aufgabe, uns so lange ein Subjekt an den Haaren herbeizuziehen, bis endlich das Kaninchen aus dem Hut springt, das wir dort nicht reingelegt hatten.
13.
Das Erhabene – Die große Kathedrale in Tarragona erschlägt einen mit aller Gewalt ihres mächtigen Baus: ein großer, klobiger Turm in der Mitte, klotzartige Fortführungen links und rechts wie die Schultern eines angsteinflößenden Ungeheuers, das es nicht einmal nötig hat, sich vor einem aufzubäumen, und das dreidimensionale Ringwerk über der großen Holztür, das einen förmlich in den Eingang, in den Bauch des Ungeheuers saugt. Alles hier schreit, nein, dröhnt einem in dunkelster Tiefe entgegen: „Sieh, was dein Gott vermag. Knie nieder!“.
Eine geniale, wenn auch sicherlich ungewollte, Ironie bekommt das Ganze allerdings durch die erhabenen Heiligengestalten, die sich um den Eingang aufreihen: Ihnen ist ausnahmslos allen der Kopf vollgeschissen von den ganzen Tauben, dass es ihnen an den Ohren nur so 'runterläuft – herrlich. Das wird sicherlich schon damals den einen oder anderen Tagelöhner zu einem hämischen Schmunzeln hingerissen haben.
23.
Negative Totalität – Der Begriff der Totalität als logische Kategorie wird zumeist in der alten, aristotelischen Art verstanden: Ein Ganzes, das mehr ist als die Summe seiner Bestandteile – die berühmte Silbe ba, die nicht einfach b und a ist. Entlang dieser Linie arbeitet Merleau-Ponty aus dem wahrnehmungspsychologischen Begriff der Gestalt etwas heraus, was man eine Philosophie der Totalitäten nennen könnte: Elemente werden stets vor dem Hintergrund des Ganzen verstanden, das sie konstituieren und in dem sie ihre spezifische Existenz, ihren spezifischen Sinn gewinnen. In aufsteigenden, qualitativ verschiedenen Ordnungen von der mechanischen Formel bis zu den Feldern des im eigentlichen Sinne sinnvollen Geschehens der menschlichen Welt. ‚Sinn‘ wird hier also ganz richtig begriffen als etwas, dass es überhaupt nur in der Relation zwischen Figur und Hintergrund gibt, in einer Dialektik aus Teil und Ganzem. Darin wird auf den Begriff gebracht, was in der schlichten Erfahrung liegt, dass die Note „C“ selbst etwas ganz Anderes ist, wenn sie in Beethovens 5. Symphonie auftaucht, als wenn sie Kurt Schwitters in seiner Ursonate quasi zufällig trifft.
Entlang derselben Linie auch kann Adorno von der bürgerlichen Gesellschaft als einer Totalität sprechen. Die Gesellschaft ist nicht schlicht das Zusammentreffen bereits vorher bestehender Individuen, sondern die Art ihrer Relationen untereinander konstituiert wiederum die Individuen selbst. Es ist schlechterdings etwas völlig anderes und ich bin schlechterdings etwas völlig anderes, wenn ich als Leibeigener und Grundhöriger auf dem Hofe meines Grundherrn ein Feld bewirtschafte, wenn ich als Teil einer russischen Bauerngemeinde ein Feld bewirtschafte, wenn ich als Sklave eines römischen Bürgers ein Feld bestelle, wenn ich als Pächter eines Großgrundbesitzers ein Feld bewirtschafte oder wenn ich als rumänischer Werksarbeiter ein Feld bewirtschafte – Auch, wenn die materielle Tätigkeit jedes Mal die gleiche ist, plus minus die eingesetzten Geräte. Dieser „Überschuss“ über die materielle Tätigkeit, die ihr ihren Sinn als menschliche Handlung verleiht, kondensiert im Begriff der konkreten, gesellschaftlichen Totalität.
Hier wird die Totalität freilich expliziter dynamisch, dialektisch gedacht – eher mit Hegel als mit Aristoteles: Die Relationen zwischen den Individuen implizieren Widersprüche, die auf ihre Auflösung drängen. Eine Dynamik, die nicht über den Individuen schwebt und ihr konkretes Verhalten determiniert, sondern eine Dynamik, die unter der einfachen Ebene der Wahlfreiheit, der einfachen, bewussten Entscheidung liegt. Der rumänische Werksarbeiter kann vielleicht in diesem Sinne entscheiden, auf welchem Hof er seine Arbeitskraft verkauft oder ob er sie auf eine ganz andere Art (er kann ja auch noch Werksarbeiter in der nächsten Schweine-Leichen-Fabrik werden) verkauft – Aber ob er sie überhaupt verkauft, das lässt sich nur wiederum in einer Totalität einer politischen Gemeinschaft, einer Bewegung vielleicht, entscheiden. In diesem präzisen Sinne behauptet die subjektivierte Rede von einer gesellschaftlichen Totalität – „der Kapitalismus tut dieses oder jenes“ – ihre Berechtigung.
Diese eigengesetzliche Dynamik einer Totalität bezeichnete bereits Marx als Tendenz – wovon Adorno den Gegensatz zum Trend herausarbeitet – wie im „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“. Und die Tendenz ist dialektisch derart, dass sie nicht schlicht die Verlängerung der Fakten darstellt, wie sie heute im Begriff des Trends betrieben wird: Die Tendenz der liberalen Marktwirtschaft beispielsweise – der Konkurrenz vieler Privatproduzenten – ist kraft der Kapitalkonzentration ihr gerades Gegenteil, das Monopol: Die Herrschaft eines Privatproduzenten. In der Tendenz steuert eine Totalität auf etwas zu, das von ihr selbst qualitativ verschieden ist. Das Kartellamt zeugt davon.
Soweit also das ein mal eins der logischen Kategorie der Totalität – alle Schwierigkeiten der Hegel-Exegese und des Positivismusstreits außenvorgelassen. Nun lesen wir aber bei Lacan – den wir Philosoph*innen als genialen Logiker schätzen sollten – zuweilen eine vielleicht etwas andere Verwendung dieses Begriffs, lange vor der ausformulierten, raffinierten Logik der Totalität in den Formeln der Sexuierung, in denen Žižek uns die Hegelsche Logik zu lesen beibringt. In Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale finden wir folgenden Satz über die Ordnung des Realen, eine Antwort auf eine Frage des Zuhörers Leclaire: „Das Reale ist entweder die Totalität oder der entschwundene Augenblick. In der analytischen Erfahrung ist es für das Subjekt stets der Zusammenstoß mit etwas, zum Beispiel dem Schweigen des Analytikers.“ Was könnte damit gemeint sein?
Das Reale bezeichnet hier die Totalität der analytischen Situation, die Totalität dessen, was der Analysant sagt, tut, sich vorstellt, träumt und so weiter. Die Elemente dieser Totalität sind also die Signifikanten und Bilder, mit denen der Analysant hantiert, das Symbolische und das Imaginäre. Gewissermaßen also nicht ein Drittes, das noch zum Symbolischen und Imaginären hinzukommt, sondern das Ganze ihrer Relationen, das, was sie strukturiert. Und dieses Strukturieren funktioniert gerade, indem das Reale sich beständig widersetzt – Das Reale, gewonnen unter anderem aus der Auseinandersetzung mit dem freudschen Begriff des Traumas, ist gerade das, was sich nicht symbolisieren oder imaginieren, nicht in Worte oder Bilder kleiden lässt. Der beständige, unmögliche Versuch, das Reale zu symbolisieren und zu imaginieren, das Nicht-Sagbare zu sagen und das Nicht-Vorstellbare in Bilder zu kleiden, ist das, was den Übergang von einem Signifikanten zum nächsten, von einem Bild zum anderen, in Gang hält. In diesem Sinne spricht Lacan vom Realen als der „Totalität“: Es ist das, worum sich alles dreht, was alles in Bewegung hält. Und wodurch? Durch das beständige Scheitern, etwas zu sagen, was sich nicht sagen lässt. Und paradoxerweise begegnet sich diese Totalität selbst als eines ihrer Elemente: Das Schweigen des Analytikers – was nach einem alten Gemeinplatz durchaus selbst ein Sprechen ist, ein Zug im Sprachspiel, ein Signifikant – ist der Punkt, an dem die Totalität alles dessen, was gesagt und sich vorgestellt wird, kondensiert. Im Jargon dieser Diskurse könnte man vielleicht von einer negativen Totalität sprechen – ein Ganzes, das weniger als die Summe seiner Teile ist.
39.
Eine schrecklich nette Familie – Eine absonderlich witzige Truppe waren wir in Nerja: Menschen auf verschiedensten Abenteuern, die es zu diesem Strand zieht. Eine Gemeinschaft entstand ganz naturwüchsig dadurch, dass wir uns nun einmal alle entschieden hatten – für wie lange auch immer – an diesem Strand zu hausen, von Straßenmusik und Containern zu leben und uns zusammen bei geklautem Bier die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, wie es alte Tradition am Playa Chica ist.
Ein verwilderter Norweger, riesiger, schwarzer Bart, lange Haare und muffige Wollklamotten. Er schien die ganze Zeit vernebelt und abwesend über oder unter allem zu schweben, bewies in einigen kurzen Momenten aber doch eine erstaunliche Klarheit in seiner Zerstreuung. Erinnerte mich ein bisschen an Rufus, den wir in Granada aufgegabelt hatten und der einige Zeit mit uns in den Höhlen wohnte. Ein verwirrter Zeitgenosse, der nur das wenige besaß, was er an zerrissenen Klamotten am Leib trug, zumeist äußerst wortkarg blieb und behauptete, keinen Namen zu haben (weshalb ich ihn „Rufus“ taufte, um ihn rufen zu können), aber zu verschiedenen Gelegenheit doch zu erkennen gab, dass er mindestens vier Sprachen beherrschte, und uns stets mit der Angewohnheit, plötzlich stehen zu bleiben und manchmal minutenlang abwesend auf einen Punkt zu starren, das Leben schwer machte – zum Teil selbst beim Überqueren einer Ampel. Diese Aussetzer waren bei Rufus wesentlich heftiger als bei dem Norweger – ich weiß gar nicht, ob ich bei ihm überhaupt von Aussetzern sprechen würde… nein, gar nicht eigentlich. Nur eine schwere Ruhe, die über allem lag, was er tat, ja, sogar über allem, was er nicht tat. Er lag meist zusammen mit einem alten Franzosen herum und trank Bier.
Über den Franzosen konnte ich kaum etwas herausfinden. Er verbrachte viel Zeit im Zelt oder alleine in der Stadt, wenn er nicht gerade unterm Sonnenschirm an unserem Strand herumdöste.
Neben den beiden schlief Pablo. Ein stämmiger Pole mittleren Alters, dessen Erscheinung ebenso wenig zur Hippie-Strandcommunity passte wie sein Name zu dieser Erscheinung. Gerade darin fügte er sich aber vorzüglich. Ich habe ihn in den paar Tagen und den wenigen Worten, die wir gewechselt haben, richtig liebgewonnen – sicherlich auch, weil er sich über meine Monty Python-Songs so gefreut hat und ein ausgesprochener Kenner der britischen Genies zu sein schien. Auf seiner Strandmatte lag neben seinem Streunerhund, der ihn einzig als Gypsy zu erkennen gab, ein großes Smartphone, dessen Audio-Output direkt in seine Ohren ging, während er auf das Laden seiner noch größeren Powerbank wartete. Meist verbrachte er die Zeit auf dieser Matte, trinkend und rauchend und nur in einigen Momenten offenbarte er seinen herrlich trockenen Sarkasmus. Er ist wahrscheinlich der Einzige, den ich in so einem Camp jemals teuren Schnaps aus einem Glas habe trinken sehen.
Noch ein Zelt weiter schliefen Danni und seine zwei, gerade aus Malaga eingesammelten Freunde Mia und Jezus. Allesamt Deutsche – Pablo wusste natürlich gekonnt auf die neuerliche Invasion durch seine aggressiven Nachbarn aufmerksam zu machen. Danni war bereits seit drei Jahren in Spanien, ein klassischer Gypsy-„Aussteiger“, der „kein Bock mehr auf den ganzen Scheiß“ hatte – erhielt sich aber dennoch eine wache Offenheit und ein gelegentliches Interesse für das, was in der Welt sonst noch passiert. Seit er „alcoholics at the University of Beach“ studiert, ist sein Smartphone ein treuer Begleiter, ein Tor zur Welt geworden.
Mia wirkte ebenso deplatziert wie Pablo. Während sich dieser Eindruck bei Pablo rasend schnell verflüchtigte, blieb er bei Mia, wie auch bei Jezus, etwas länger. Sie schien stets etwas um die Sauberkeit ihrer wenigen Klamotten besorgt und immer mit einer Hirnhälfte in der alten Heimat. Es stellte sich auch flott heraus, warum: Sie und Jezus (übrigens ein äußerst schweigsamer Dreadhead, über den ich mehr zu sagen mich zwingen müsste) waren erst seit einer Woche in Spanien, planten aber auf unbestimmte Zeit zu bleiben – Das erklärte die seltsame Freude und Unsicherheit in ihren Augen. Ich sehe mich genötigt, noch eine ernst gemeinte Phrase hinterherzuschieben, um kein falsches Bild zu vermitteln: Sie war sehr nett. Und nicht nur einmal brachte sie mich abends am Lagerfeuer herzhaft zum Lachen.
Auf der anderen Seite der kleinen Bucht des Playa Chica, direkt am Tarzan-Felsen, stand noch ein Zelt vor einem Plätzchen, das am ehesten nach dem Wohnzimmer aussah: Ein verrosteter Grill über einer Feuerstelle in der Mitte einer Steinformation, die den abendlichen Sitzkreis vorformte. In jenem Zelt schliefen Anita und ein Italiener, dessen Namen ich mir partout nicht merken konnte. Ein witziges Pärchen, das sich mal auf Spanisch, mal auf Englisch, Französisch oder Italienisch unterhielt. Sie touren schon länger durch die Gypsy-Hotspots in der Gegend und wir werden die beiden sicherlich auf dem Dragon-Festival in einigen Tagen wiedertreffen. In den meisten Situationen hatte sie die Oberhand, schüttelte in der Gestik der universal bekannten Codes der Liebeskomödie den Kopf über Dinge, die er sagte, oder korrigierte sein Englisch.
Er ließ sich meistens bereitwillig auf dieses liebevoll-neckische Spiel ein, während er eine seiner irrwitzig riesigen Tüten drehte. Auf diese Weise war er auch der erste am Strand, zu dem wir wirklich Kontakt aufnahmen: Er wollte kiffen, aber nicht bauen und ich half gerne aus. Sein Englisch war offenherzig dilettantisch und mit Spanisch und Italienisch gespickt, was der Verständlichkeit keinen Abbruch tat: Diese warmen Augen in dem leicht schief grinsenden Gesicht, dem zu der gewagten Dread-/Undercut-Frisur nur noch die Narrenmütze fehlte, konnte man nur verstehen. So sehr er auch das Leben des leichten Gemüts zu leben bereit war, war er doch der Einzige, der am Tag des großen Streits zwischen mir und meiner damaligen Freundin zumindest auf ein kurzes Wort vorbeikam und mir etwas Tabak schenkte. Als wir die Beiden beim ‘raustrampen aus der Stadt wiedertrafen, trottete er einige Meter hinter ihr und schlenderte sichtlich angestrengt von der Höhe, die es auf dem Weg zur nächsten größeren Straße zu erklimmen galt, in einem Fluss mit den beiden Hunden in Richtung Malaga, die sie wahrscheinlich vor langer Zeit irgendwo in Spanien oder Portugal aufgelesen hatten.
Zwischen Danni und Anita stand noch ein selbstgebasteltes Biwak, das dem in der dritten Nacht aufkommenden Nieselregen (wir, die meiner Tradition entsprechend ohne Zelt reisten, konnten uns zum Glück in ein Zelt verziehen, was gerade leer stand, weil die Besitzer*innen in Malaga rumhingen) überraschenderweise standhielt. In den meisten Fällen in direkter Nachbarschaft zu diesem Konstrukt – wenn er nicht gerade seine irgendwie kindlich aussehenden Porträts in der Stadt unentgeltlich präsentierte – war ein älterer Österreicher anzutreffen, den wir bereits neben seinen Bildern in der Stadt trafen und der uns mit einer äußerst unverständlichen Wegbeschreibung zum Playa Chica überraschte, die auch nach mehrmaligen Nachfragen nicht weniger verworren wurde. Dem ersten Augenschein nach sah er recht gesund, wenn auch sonderbar ruhig, fast resigniert aus. Der zweite Blick offenbarte eine rissige, an einigen Stellen blutende Stirn und Nase, von der man nicht zu sagen vermochte, ob sie aufgrund enormer Trockenheit und etlicher Sonnenbrände so lädiert war oder ob eine fiesere Krankheit dahintersteckte. Er schaffte es, trotz der ohnehin absurden Gruppe, den Sonderling abzugeben. Er sprach stets sehr schnell, was in eigentümlichen Gegensatz zu seinem besonnenen Habitus stand – Meist murmelte er noch flott einige Worte in sich hinein, wenn er eigentlich fertig gesprochen hatte. In das Gruppenleben integrierte er sich nur sporadisch und war meist mit seltsamen Tai-Chi- und Yoga-Übungen beschäftigt, die er den Wellen entgegenstreckte – einsam einige Meter vor dem Rest der Gruppe.
42.
Vive le kétamine! – In den 60ern – das heißt vor allem: in den damaligen Lebens- und Produktionsbedingungen Westeuropas und der USA – hatte LSD einmal ein ungeheuer subversives Potential. Die psychedelische Erfahrung ist im besten Sinne des Wortes eine Erfahrung der Entfremdung. Jede Vorstellung davon, was sozial angebrachte Interaktionen sind, löst sich auf, die Kette der alltäglichen Gebärden wird in tausend urkomische und abscheuliche Teile zersprengt – kurz: Die Welt zersetzt sich, ich zersetze mich. Das öffnet die Möglichkeit, beides neu zusammenzusetzen.
Eine ungemein explosive Kraft in einer Gesellschaftsformation, die auf Disziplin und Autorität aufbaut, die eine starke Vaterfigur braucht. Plötzlich erscheint der starke Vater ganz und gar albern, seine Autorität willkürlich. Es passiert das Schlimmste, was den Führern aller Couleur passieren kann: Über ihr Gehabe, ja sogar über ihre Befehle wird gekichert. Man denke an die vollkommen fehlgeschlagenen Versuche des US-Militärs, LSD als Werkzeug zur Kontrolle oder als Wahrheitsserum zu verwenden, bei denen sich die Versuchssoldaten vor Lachen kugelten, ihre Offiziere nachäfften und lieber auf Bäumen kletterten als auch nur im Entferntesten an die Befehlsfolge zu denken. Wahrscheinlich ist ihnen gleich das ganze Konzept der Hierarchie entglitten.
Aber wir leben nicht mehr in den 60ern. Die Lebens- und Produktionsbedingungen haben sich radikal geändert und mit ihnen die herrschende Ideologie. Wir, die akademische, weiße, westliche Mittelschicht – zu der ich mich nun einmal zugehörig fühlen muss – wir sollen nicht mehr gehorchen. – Wir sollen kreativ sein, intensiv leben, genießen, flexibel sein, uns jeden Tag neu erfinden. Die Phrasen von Innovation, Flexibilität, vom Neuen und immer wieder Neuem wirken zuweilen wie ein zynisches Echo der erbarmungslos optimistischen Slogans Timothy Learys: Tune in!
Unter den herrschenden Bedingungen würde LSD – und mit ihm gleich alle Psychedelika, von den klassischen Tryptaminen bis zu den absurdesten Phenylethylaminen – zur Modedroge degenerieren. Gäbe es da nicht unter den ganzen wunderbaren Psychedelika eines, das im Angesicht unserer herrschenden Ideologie wie gemacht für diese Rolle scheint: Ayahuasca. Hier hat man neben dem Re-Programming der eigenen Identität noch den schwachsinnigen Zauber des Uralten, Natürlichen und zugleich Mystischen, das unser Ideologieapparat so liebt. So fliegt dann jede*r junge Kreative mindestens einmal im Leben nach Südamerika, um die DMT-Moleküle durch ihre hohle Birne rauschen zu lassen.
Der psychedelische Rausch mag individuell bereichernd bleiben, strukturell subversiv ist er nicht mehr. Können wir uns also gar nicht mehr im Namen der Revolution berauschen? Wenn unser Geist bereits übers Ziel hinaus geöffnet wurde, müssen wir ihn dann nicht schließen? Also wohlan! Ein schönes Stück Rauchopium kann in der Tat niemand bei klarem Verstand ablehnen. Und einen wichtigen Kontrapunkt zum Leistungs- und Selbstoptimierungsdruck setzt der opioide, anästhetische Rausch gewiss. Aber wir können dem Wahn der Tat nicht die Untätigkeit entgegensetzen, sondern die wohlüberlegte Tat, die Handlung im Sinne Arendts. Unsere Geister müssen geöffnet und geschlossen werden. Und eine Substanz in der pharmakologischen Wunderkiste des 21. Jahrhunderts leistet das ganz vorzüglich: Ketamin! Anästhetikum, Stimulans und Psychedelikum in einem. Holen wir den dissoziativen Rausch aus dem Sumpf der basslastigen Erlebnisfabriken mitten rein in die revolutionären Kunstkollektive. Vive le kétamine!
58.
Die Macht des Imaginären – Das Barrio Lorien im Hambacher Forst wurde für fünf Tage belagert. Der Druck im Inneren dieses Kessels wurde immens: Nächtelang wurden Gräben ausgehoben, Nachtwachen mangels Feuerholzes in der Eiseskälte verbracht und karge Essensrationen zubereitet, während sich die Paranoia vor Zivi-Cops durch das Sozialleben fraß. Unter diesem Druck konnten die bissigsten Scherze gedeihen, absurde Spiele, lange Debatten über die Energiepolitik, Wirtschaft, Zusammenleben, strukturellen Antisemitismus, Kafka und Dostojewski.
Am zweiten Tag der Belagerung wurde sich schnell das Eis von den Stiefeln geklopft als die ersten Rufe erklangen: Die Cops wagten einen neuen Vorstoß. Menschen rannten in Richtung der Abbruchkante des Tagebaus, die von Lorien aus nur ca. 200 Meter entfernt war. Dort hatten die Cops ihr Lager aufgeschlagen und sammelten sich nun. Die Aktivist*innen stellten sich in einer Menschenketten vor das Barrio, hier und da wurden noch ad hoc Barrikaden zusammengeworfen. Offenbar war die Staatsmacht an diesem Morgen aber so gar nicht auf Späße aus: Die Hunde wurden herausgeholt. Schilde und Knüppel im Anschlag wurden die Menschen erbarmungslos ins Barrio zurückgedrängt.
Dort stand eingangs ein kompliziertes Gebilde aus verschiedenen Holzkonstruktionen, die in ein Netz aus Traversen eingesponnen waren, in denen überall Menschen hingen, kletterten und saßen. Unter dem Tripod vor der Hauptbarrikade sammelten sich einige Menschen für eine Sitzblockade mit Soft-Locks, im Barrio wurden eifrig Materialien auf die Baumhäuser geschafft und auf der Hauptbarrikade und dem darauf gezimmerten Holzsofa saßen Menschen vor einem Banner: „Wie viele Tote noch, Rolf Schmitz?“ – Es waren erst einige Tage vergangen, seitdem Steffen Meyn starb. Aus ihren Augen, die zwischen der Vermummung schimmerten, sprach Wut, aber kein Hass. Die schwer gepanzerten Beamt*innen rückten bis vor den Tripod und umstellten das Barrio.
Es dauerte nicht lange, bis der erste Bagger anrückte, um die vorderste Barrikade am Weg zu räumen. Über der Barrikade verlief aber glücklicherweise eine Traverse, mit deren Besetzung auf den günstigsten – und lustigsten – Zeitpunkt gewartet wurde: Noch bevor der erste Baumstamm geräumt werden konnte, rollte eine Aktivist*in unter grölendem Gelächter die Traverse hinunter und kam direkt über der Baggerschaufel zum Stehen. Die Maschine musste zwei Sekunden vor dem Start ihrer Arbeit unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Die Minuten waren allmählich wieder in 10er-Blöcken erlebbar, die Hektik legte sich. Die Dynamik der hastigen Reaktion schlug in kraftvolle Aktion um: Überall sangen und jubelten Menschen, sich gegenseitig darin überbietend, möglichst kreativ die Cops aufs Korn zu nehmen. Oberkörper-freie Frauen* riefen vermummt vom Baum herunter, wie viel Spaß und tollen Sex man hier haben könne, während die Beamt*innen Bereitschaft haben. In einer der vordersten Traversen verbreitete ein pensionierter Wissenschaftler, der einige Nächte zuvor plötzlich mit Klettergeschirr am Lagerfeuer stand, die ungeheure Autorität und rührende Gewalt des „So stehe ich hier und kann nicht anders“. Ein Mensch rappte Käptn Peng-Texte in erstaunlicher Geschwindigkeit und Textsicherheit auf einer improvisierten Bühne vor den Cops. Es entbrannte ein wahres Feuerwerk mitreißender Bilder, vor denen ein befreundeter Journalist sprachlos wurde.
Und diese Bilder verfehlten ihre Wirkung nicht. Nicht nur wurden sie vielfach aufgenommen, um sogleich in den sozialen oder klassischen Medien verbreitet zu werden, sie ließen auch den Großteil der Beamt*innen unruhig, fast beschämt, von einem Bein auf das Nächste wippen. So war die Sache dann spätestens mit dem Auftritt der nach einigen Stunden eintrudelnden Band geritzt: Hier gab es an diesem Tag kein Weiterkommen mehr. Ich wage fast zu behaupten, dass daran selbst der Befehl zum Vorrücken nicht mehr viel geändert hätte. Natürlich hat diese Macht des Bildes seine unbezweifelbare Grenze: Am nächsten Morgen wurde die Hau-Drauf-Lösung des Problems Lorien umgesetzt, indem der Wald kurzerhand bis zum Barrio gerodet und in einen befestigten Kiesplatz verwandelt wurde. Das Bildhafte, Imaginäre, hat immer an der Illusion teil. Aber zugleich behauptete das Imaginäre etwas von seiner Macht, indem die Staatsmacht – bewusst oder unbewusst – in ebendieser Ordnung eine Antwort gab. Die Hau-Drauf-Lösung wandelte sich am letzten Tag in die phallische Lösung: Ein völlig überdimensionierter Kran, der sich majestätisch im Wind wiegte, diente den SEK-Beamten zum Abseilen. Das Gelächter aus den Bäumen nahm diese Antwort auf.
80.
Nachtrag – In Prag wurden die Heiligen an den Gebäuden des Staroměstské Náměstí vorsorglich in Netze eingepackt. Oder wohl eher reaktiv; als Defensivoperation gegen die Angriffe der frechen Tauben, die hier wie überall ihr ausgestoßenes Dasein in der menschlichen Welt fristen, in die sie als „Gastarbeiter“ geholt wurden – wir wollten brieftragende Arbeitskräfte und bekamen Lebewesen – und nun nach dem Ende ihrer ökonomischen Blütezeit radikaler noch als ihre menschlichen Leidensgenossen verstoßen wurden.
Diese Netze führen die Erhabenheit der Statuen natürlich ebenso ad absurdum wie die Taubenscheiße und macht die hoffnungslose Verstrickung in die irdische Welt für jede*n sichtbar. Noch dazu stört es die schönen Fotos – Im Hintergrund bleibt nun stets das Mal der unangenehmen Kämpfe, die unter der Oberfläche des Altstadt-Idylls brodeln.
Lustiger sind einzig noch die Versuche, den Kampf mit diesen Pieksern zu führen, die auch oft auf Balkonen zu sehen sind – Um in der gerade an den Haaren herbeigezogenen Analogie zu bleiben, finden wir hier das Pendant zu den unverschämt designten Bänken, auf denen das Schlafen dem menschlichen Überschuss, den die kapitalistische Maschine produziert, verunmöglicht wird. Diese Piekser werden den Heiligen doch tatsächlich auf die Köpfe gesetzt, womit die Kostümierung des Typen von Slipknot eine unerwartet tiefe Note bekommt.
95.
Zu Ernst für Novalis – Die Wurzel der Klimakatastrophe wird gern im „Anthropozentrismus“ verortet, in der rücksichtslosen Herrschaft des männlichen Subjekts über die nicht-menschlichen Tiere und die sonstige Natur. Die neueste Form dieser Kritik, die diesen Namen verdient, ist die Öko-Phänomenologie. In ihrer lévinasschen Form geht es darum, zu zeigen, wie auch die Natur ein Anderer ist, eine Unendlichkeit, eine Transzendenz, die uns in ihrem Antlitz zur ethischen Verantwortung aufruft. In nicht-lévinasschen Begriffen also: Es geht darum, die Natur im üblichen Sinne als Subjekt zu begreifen. Konkret könnte das zum Beispiel heißen, dass es von der Verfassung abgesicherte Rechte derselben gibt – Und müsste das nicht auch heißen, dass „die Natur“ sich bald endlich für Überschwemmungen und Co. vor Gericht verantworten muss?
In dieser Dimension aber spielt sich der Diskurs der Öko-Phänomenologie kaum ab. Es geht um so etwas wie eine ethische Haltung, eine gewisse Modifikation unseres In-der-Welt-Seins, die aus der Anerkennung unserer notwendigen Verankerung in einem schlechthin Transzendenten, der Natur, folgt – Man könnte fast von der religiösen Erkenntnis der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ sprechen, aus der dann „Respekt“, „Demut“, „Toleranz“ und was nicht alles folgen soll. Auf einer Konferenz wurde die Frage gestellt, ob das nicht ein Neuaufguss des romantischen Naturbegriffs sei. „There are certainly a lot of similarities“ ist die akademische Version von „Ja“.
Und hier liegt das Problem: Die Klimakatastrophe ist zu ernst, um irgendetwas zu romantisieren. Natürlich gibt es eine banale Transzendenz in der Natur, von der wir abhängig sind: Bei ausfallenden Ernten, Flutkatastrophen und Tornados sterben wir. So einfach ist das. Und auch die lévinassche Einsicht von unserer konstitutiven Abhängigkeit vom Anderen ist richtig – Dieser Andere aber ist der symbolische Anderer, der Andere der Sprache. (Lévinas will daraus den konkreten anderen Menschen machen, aber das ist ein Problem für eine andere Erörterung). Vielleicht muss man so weit gehen, zu sagen: Im Mensch-Natur-Verhältnis geht es gar nicht um unser Verhältnis zur Natur. In erster Linie geht es um unser Verhältnis zueinander – Wem gehört was? Wer ist von Entscheidungen ausgeschlossen oder nur im Modus der „Partizipation“ gnädigerweise angehört worden? Die Menschen, denen ganz unmittelbar die Lebensgrundlagen, die „Natur“, zerstört wird, sind immer auch die Menschen, die ausgeschlossen sind.
In der Klimakatastrophe geht es nicht um die hybris des promethischen Menschen, der sich zu viel 'rausgenommen hat und nun die Quittung im Rahmen der kosmischen Gerechtigkeit bekommt. Es geht um die zerstörerische Logik einer Gesellschaft, in der die Profiteure von den unmittelbaren Folgen ihrer Zerstörung ebenso ausgeschlossen sind wie die Leidtragenden vom Eigentum und der Entscheidungsmacht.
106.
Hilflos – Was kann man sagen, was spricht sich noch im Angesicht des Krieges? Wir schauen in den blanken Wahnsinn. Zerbombte Häuser, weinende Mütter, tanzende Soldaten auf Tik Tok und Sportgrößen in Kampfmontur. Wir scrollen auf Facebook an Aufrufen zum freiwilligen Kampf vorbei. Wir begegnen Menschen am Bahnhof, die aufgelöst und erschöpft neben ihren Taschen stehen. Wir begegnen Menschen in Bars, die einfach ein bisschen normal in einer neuen Stadt ankommen wollen und es zu allem Überfluss hinzukriegen scheinen. Jemand unter einem Twitter-Kommentar nennt das Ganze entsetzt ein „blutiges NFL-Spiel“. In einem Moment ist die Welt völlig aus den Angeln gehoben, die Menschen schreien und weinen. Und im selben Moment ist es ein normaler Tag, die Fäden von zuvor werden weitergesponnen, natürlich. Eine riesige Heuchelei wäre das sonst. Die schreienden Menschen in Syrien und im Jemen interessieren uns doch auch einen Scheiß. Und die ersten, ehrlichen Idioten in der nzz verkünden das auch fröhlich: Ja klar, weiße Frauen und Kinder, deren Städte in irgendwie noch vom Trip ans schwarze Meer greifbarer Nähe in die Steinzeit gebombt werden, interessieren uns halt mehr als dunkelhäutige, junge Männer, völlig natürlich.
Der Charakter der Flüchtlinge ist in der Tat ein anderer. Das zu erkennen sollten wir keine Angst haben – Gerade, weil sich das eine Leid nicht mit dem anderen aufwiegen lässt. Verzweifelten jungen Männern aus dem Senegal, deren Post-Kolonie auf dem Weltmarkt ausgewrungen wird, wird in aller Regel nicht das Haus zerbombt (und nicht nur, weil sie gar keines haben). Die einen sind die Ausgestoßenen der Ausbeutungsspirale des Normalbetriebs, der sich mit dem Neoliberalismus der 90er, mit dem IWF und der Weltbank eingenistet hat und stetig eskaliert. Von ihnen werden mehr und mehr kommen, auch mit den Überschwemmungen, Dürren und Tornados. Die anderen sind diejenigen, die an den Fronten zwischen den Imperien wieder blutig zerrieben werden, während die Imperien ihren Status im Angesicht dieser Eskalation des Normalbetriebs – Schuldenkrise, Inflation, Klimakatastrophe, Kampf um die Rohstoffe und die Peripherien, die die Krise auffangen sollen – zu verteidigen haben. Von ihnen werden mehr und mehr kommen, vielleicht bald auch aus Taiwan.
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Hope dies. Action begins. – Es gibt kein Außerhalb des Kitsches mehr – das ist Mark Fishers Diagnose. Es ist, so Fisher, das Drama Kurt Cobains, dass er sich dieses Umstands völlig bewusst war. Egal, was er tut, ob er gar auf die Bühne pisst oder seine Fäkalien ins Publikum wirft (der Weg war mit GG Allin bereits vorbereitet): Es wird zum vermarktbaren Revoluzzer-Kitsch. In Italien sah ich eine Zigarettenmarke „Che“ mit dem ikonischen Porträt, wodurch Ches „Der Tabak ist der beste Freund des Revolutionärs“ als Kitsch entlarvt wird.
Dem eng verwandt ist Timothy Mortons bahnbrechende Analyse des ökologischen Subjekts, das sich unwiederbringlich in die Romantik verstrickt sieht. Auch die Zerrissenheit ist Romantik – ob nun dunkel oder hell, morbide oder verträumt, Kitsch ist sie in jedem Fall. Als theoretischen Kitsch artikuliert sie Adrien Johnston als „myth of the non-given“ – Die irreduzible Zerrissenheit, die das Subjekt, die Sprache oder whatever in diesen neuen Romantiken ausmacht, wird zum religiösen Mysterium, wo ihre Ableitung absolut ausgeschlossen wird (wie in Lacans Verbot, nach dem Ursprung der Sprache zu fragen).
Diese Diagnose Fishers ist die Konsequenz einer anderen: der des „kapitalistischen Realismus“. Wir können uns buchstäblich nichts Anderes mehr denken. Zugleich wird aber in der Verbindung Fisher-Morton ein wesentlicher Schritt sichtbar: wir können uns heute das Andere denken – als Katastrophe. Die ganz außergewöhnliche Situation, in der wir uns befinden, ist, dass das absolut Unmögliche sich erdreistet, doch möglich zu sein: Das Ontologische wird vom Ontischen zersetzt, der irreduzible Horizont reduziert sich auf unseren Eingriff. Wir können nicht nur, wir haben schon das Leben als solches zerstört: der Planet wird unbewohnbar – In der Tat verflüssigt der Kapitalismus alles, auch unsere Lebensbedingungen.
Aber zeigt sich in dieser Katastrophe nicht auch eine Lösung für das Dilemma – Gibt es nicht wieder ein Außerhalb des Kitsches? Dort, wo die Katastrophe als solche angenommen wird, da entziehen wir uns dem bloßen Kitsch des „Alles ist verloren“; denn das „Alles“ in ebenjener Klage setzt noch die Instanz voraus, die den Überblick behält, den großen Anderen – und sei es die Natur, die sich ihren Lebensraum zurückholen wird und sich wieder in irgendeinem Equilibrium einzupendeln weiß. Nein, die eigentliche Lektion zeigt sich im vielleicht einzig Genialen, das Extinction Rebellion hervorgebracht hat: Hope dies. Action begins.
Autor:in: Nico Graack studiert Philosophie und Informatik in Kiel und Prag. Er arbeitet als freier Autor und Journalist.