Lügen – psychoanalytisch hören

Ulrike Bondzio-Müller

Y – Z Atop Denk 2023, 3(6), 2.

Abstract: Mit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine tauchte der Name Lemberg vermehrt in den Medien auf. Damit fiel der Autorin der „Lemberg-Krakau-Witz“ ein, den Freud in seiner Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten untersucht. Ausgehend davon stellt der Text Fragen dar, inwiefern Freud selbst es mit Lügen seiner Analysand:innen zu tun bekam und was Lacan zu Lüge und Wahrheit sagt. Zudem macht sich die Autorin Gedanken dazu, wie Lügen (ausgehend von Freud und Lacan) in der psychoanalytischen Praxis gehört werden können und welcher Umgang mit ihnen sich dort daraus ergibt.

Keywords: Witz, Lemberg-Krakau, Lügen, Freud, Lacan

Veröffentlicht: 30.06.2023

Artikel als Download: pdfLemberg oder Krakau


Vorbemerkung

Beginnen möchte ich mit einem Witz. Sie ahnen wegen des Titels meines Vortrags1 vielleicht schon, welcher aus Freuds Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten es sein wird. Ich lese ihn hier genauso vor, wie er sich bei Freud findet:

„Zwei Juden treffen sich im Eisenbahnwagen einer galizischen Station. ‚Wohin fahrst du?‘ fragt der eine. ‚Nach Krakau‘, ist die Antwort. ‚Sieh' her, was du für Lügner bist‘, braust der andere auf. ‚Wenn du sagst, du fahrst nach Krakau, willst du doch, daß ich glauben soll, du fahrst nach Lemberg. Nun weiß ich aber, daß du wirklich fahrst nach Krakau. Also warum lügst du?’“ (Freud 1905, S. 127)

Freud selbst sagt dazu:

„Diese kostbare Geschichte, die den Eindruck übergroßer Spitzfindigkeit macht, wirkt offenbar durch die Technik des Widersinnes. Der Zweite soll sich Lüge vorwerfen lassen, weil er mitgeteilt, er fahre nach Krakau, was in Wahrheit sein Reiseziel ist! Dieses starke technische Mittel – der Widersinn – ist aber hier mit einer anderen Technik gepaart, der Darstellung durch das Gegenteil, denn nach der unwidersprochenen Behauptung des Ersten lügt der andere, wenn er die Wahrheit sagt, und sagt die Wahrheit mit einer Lüge. Der ernstere Gehalt dieses Witzes ist aber die Frage nach den Bedingungen der Wahrheit; der Witz deutet wiederum auf ein Problem und nützt die Unsicherheit eines unserer gebräuchlichsten Begriffe aus. Ist es Wahrheit, wenn man die Dinge so beschreibt, wie sie sind, und sich nicht darum kümmert, wie der Hörer das Gesagte auffassen wird? Oder ist dies nur jesuitische Wahrheit, und besteht die echte Wahrhaftigkeit nicht viel mehr darin, auf den Zuhörer Rücksicht zu nehmen und ihm ein getreues Abbild seines eigenen Wissens zu vermitteln? Ich halte Witze dieser Art für genug verschieden von den anderen, um ihnen eine besondere Stellung anzuweisen. Was sie angreifen, ist nicht eine Person oder eine Institution, sondern die Sicherheit unserer Erkenntnis selbst, eines unserer spekulativen Güter.“ (Freud 1905, S. 127)

Freud führt hier zwei Kategorien von Wahrheit ein: Zum einen die von ihm als jesuitisch bezeichnete, in der der Sprecher „die Dinge so beschreibt, wie sie sind“ und sich nicht darum schert, wie der Zuhörer das Gesagte auffasst. Zum zweiten jene, in der die Wahrheit dadurch ‚entsteht‘, das der Sprecher dem Zuhörer erzählt – so könnte man umschreiben – was dieser hören will und vor allem glauben kann, – nämlich „das getreue Abbild seines eigenen Wissens“ eben.

Der Zitatenschatz zu Lüge und Wahrheit aus einem jüdisch-christlichen Kontext ist umfangreich. Denken wir z.B. nur an das 8. Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, wider Deinen Nächsten, kurz: Du sollst nicht lügen! In diesen theologischen Themenkreis möchte ich hier aber nicht einsteigen.

Stattdessen wende ich mich noch einmal dem eben zitierten Witz zu, in dem es u.a. um das Thema der diesjährigen Tagung geht: Das Zuhören. Jeder Witz braucht einen, der ihn erzählt und mindestens einen, der zuhört. Der Lemberg/Krakau-Witz lebt nun aber davon, das gerade nicht zugehört wird – oder genauer, dass dem was es zu hören gibt, nicht geglaubt wird. Die Worte „nach Krakau“ werden für den Hörer der Antwort durch Anwendung einer eigenen, individuellen Wenn-Dann-Logik zu „nach Lemberg“ und in einer weiteren Drehung dieser besonderen Logik wird „nach Lemberg“ zu „also nach Krakau“ und kehrt damit zur ursprünglichen Antwort zurück. Jedoch – diese individuelle Logik hat aus der ursprünglich wahren Antwort „nach Krakau“, via Umweg über Lemberg, eine Lüge gemacht. Und damit den wahrheitsgemäß Antwortenden vermeintlich zum Lügner.

Warum steht ein, bzw. gerade der Lemberg-Krakau-Witz am Beginn meines Vortrags?

Ende März vorigen Jahres, bis in den April hinein und immer wieder auch darüber hinaus bis heute, wurde und wird die ukrainische Stadt Lemberg durch das russische Militär angegriffen und bombardiert. Der Name Lemberg geht durch die Medien und lässt mich nicht nur an den Witz denken, sondern auch daran, dass Freuds Vater – Jacob Koloman Freud – ein galizischer Jude, 1815 unweit Lemberg (der Hauptstadt Galiziens) – geboren wurde.

In den Medien taucht neben dem deutschen Namen häufig auch der ukrainische für Lemberg auf: L’wiw/ geschrieben: L.’.w.i.w. Ich hörte (und höre, auch jetzt wieder) in L’wiw – vielleicht, um notwendigerweise eine Art Gegen-, oder Widersinn, gegen die Gewalt und das kriegerische Töten zu installieren, immer auch: Das Lebendige, Lebhafte und Wache. Aus dem Französischen: als Adjektiv vif (‚v.i.f.‘ geschrieben). Le vif, französisch gehört, wäre in diesem Sinn z.B. der Lebhafte. Wir kennen dieses vif im Deutschen von: „Auf dem Qui-vive sein“ – ursprünglich war das ein Warnruf und die Frage: „Qui vive?“ („Wer da?/ Wer lebt (da)?“). Wenn L’wiw französisch gehört wird, ist darin auch die Interjektion, der Ausruf, der französische Imperativ Vive! (‚v.i.v.e!‘) zu vernehmen. Das wiederum begegnet uns z.B. als „Vive la France!“ („Lang lebe Frankreich!“) oder weniger frankophil in „vive les vacances!“. Der Stadt Lemberg und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern möchte ich mit meinem französisch inspirierten Verhörer wohl zugerufen haben:
„Vive! L’wiw!“ („Lang lebe Lemberg!“)

Jenseits dessen, was den Lemberg/ Krakau-Witz witzig sein lässt, ist mir darin durch die Verdrehung von Wahrheit in Lüge erschreckenderweise und gar nicht witzig etwas begegnet, womit wir es im Zusammenhang des Krieges seit dem 24. Februar 2022 deutlich zu tun haben. Ich meine das Auf-den-Kopf-stellen von Wirklichkeit durch Sprache (und auch Bilder). Die Propagandasprache der russischen Regierung lässt wahrgenommene Wirklichkeit insofern Kopf stehen, als in ihr der eigentliche Angreifer zu dem wird, der sich verteidigt/ verteidigen muss und umgekehrt. Damit geraten – wie in dem Lemberg/Krakau-Witz – Sprechen und Sprache ins Wanken. Mehr noch: Sprechen und Zuhören verlieren an Verbindlichkeit, – im Sinne einer Verbindung zur wahrgenommenen Wirklichkeit. Was sich außerhalb der Vorstellungskraft befand, – dieser russische Angriffskrieg –, wird nicht nur möglich, sondern zu einer Wirklichkeit die im Hören und Sprechen wiederum nach Belieben ummodeliert werden kann:
Nicht Krakau, sondern Lemberg.
Nicht Angriff, sondern Verteidigung.

In meiner Praxis hörte ich vor allem zu Beginn des Krieges, dass manche der Analysand:innen beim Hören und Sehen der Nachrichten ihren Ohren und Augen nicht mehr trauen, sie sich nicht mehr auskennen – und, dass dieses ‚Sich-nicht-mehr-auskennen‘ Angst auslöst. Wem ginge es damit nicht ähnlich?

Wenn sich auf das Sprechen und Hören nicht mehr zu verlassen ist, wenn das Sprechen nicht im Mindesten eine Ent-Sprechung im Wahr-Genommenen findet und erlebte Wirklichkeit abbildet (und umgekehrt) – dann betrifft das unmittelbar auch unsere psychoanalytische Arbeit, die vom Sprechen und (Zu)Hören lebt.
Damit bin ich bei der etwas allgemeineren und theoretischen Frage, der ich nun nachgehen möchte: Wie hält die Psychoanalyse es mit der Lüge?

Eingrenzend möchte ich für das Weitere voranstellen, dass ich mich dafür nicht mit der, als psychiatrische Diagnose bekannten Pseudologia phantastica, heute eher als pathologisches Lügen bezeichnet, und verwandten Phänomenen, befassen werde. Auch eine Abgrenzung von Wahrheit und Lüge in Hinsicht auf Wahnhaftes, in z.B. Psychosen, lasse ich außen vor.

 

Pinocchio auf der Couch?

Edna O’Shaughnessy stellt mit ihrem 2013 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch, auf dessen Einband sich die Abbildung einer Pinocchio-Figur findet, die Frage: Kann ein Lügner analysiert werden?

Meine vorläufige Antwort auf diese, wie ich finde spannende Frage lautet: Kommt drauf an, wie Lüge definiert ist, was im psychoanalytischen Sinn unter Lüge zu verstehen sein wird. Oder anders, um es mit John Forrester in seinem Aufsatz „Auf der Couch liegen. Auf der Couch lügen.“ zu sagen: „Die Psychoanalyse als Praxis beginnt, wenn das helle Licht der Wahrheit abgeschaltet ist. Sobald sich die Augen an das trübe Licht gewöhnt haben, wird es möglich, das Dunkel zu erkennen.“ (Forrester 2017, S. 23)

Um es vorweg zu nehmen, – im Kontext von Psychoanalyse über Lüge und Wahrheit nachzudenken, von ihnen zu sprechen kann beiden – und damit einer Praxis der Psychoanalyse nur gerecht werden – denke ich –, wenn sie mit Nietzsche gesprochen, im „außermoralischen Sinne“ behandelt werden. Diesem Ansatz möchte ich nun nachgehen und mich dafür vor allem zwei Aspekten zuwenden. Zum einen wie, bzw. warum eine Auffassung der Lüge im moralischen Sinn sich mit Theorie, Technik und Setting der psychoanalytischen Praxis nur schwerlich verträgt. Zum anderen wird es mir dafür um einen sprachtheoretischen Ansatz gehen, wie wir ihn innerhalb der strukturalen (zuvorderst französischen) Psychoanalyse finden.

 

Realität und Phantasie

Zur Ätiologie der Hysterie beginnt mit den Worten: „Meine Herren!“.
Freud sprach diesen Text am 21. April 1896 vor seinen Kollegen im Verein für Psychiatrie und Neurologie in Wien. Dort stellte er vor, was später Verführungstheorie genannt wurde und deren Inhalt für das ausgehende 19. Jahrhundert skandalös war, denn:

„Will man in annähernd ähnlicher Weise die Symptome einer Hysterie als Zeugen für die Entstehungsgeschichte der Krankheit laut werden lassen, so muss man an die bedeutsame Entdeckung J. Breuers anknüpfen, daß die Symptome der Hysterie (die Stigmata beiseite) ihre Determinierung von gewissen traumatisch wirksamen Erlebnissen des Kranken herleiten, als deren Erinnerungssymbole sie im psychischen Leben desselben reproduziert werden.“ (Freud 1896, S. 427)

Freud führt in diesem Text von 1896 die Ursache der Neurose und damit der Hysterie auf tatsächlich stattgefundene sexuelle Übergriffe im Kindesalter zurück. Freud weiter:

„Wenn wir eine größere Reihe von Symptomen bei zahlreichen Personen dieser Analyse unterziehen, so werden wir ja zur Kenntnis einer entsprechend großen Reihe von traumatisch wirksamen Szenen geleitet werden. In diesen Erlebnissen sind die wirksamen Ursachen der Hysterie zur Geltung gekommen; wir dürfen also hoffen, aus dem Studium der traumatischen Szenen zu erfahren, welche Einflüsse hysterische Symptome erzeugen und auf welche Weise.“ (Freud 1896, S. 427 f.)

1896 ging Freud demnach davon aus, dass eine hysterische Symptomatik ihren Grund in einer frühen, im Kindesalter stattgefundenen vor allem sexuellen Traumatisierung habe. An seinen Freund Wilhelm Fließ schrieb Freud über den Abend und die Stimmung unter den Kollegen des Vereins nach seinem Vortrag, einige Tage später:

„Ein Vortrag über Ätiologie der Hysterie im Psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eine eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili aufgezeigt hat.“ (Freud 1986, S. 193)

Nun wissen wir, dass es bei der dargestellten Auffassung Freuds, die ihm über den Abend im Psychiatrischen Verein Wiens hinaus, in den medizinischen Kreisen deutlich Ablehnung und Isolierung einbrachte nicht bleiben sollte. Was sich in den nächsten etwa zwei Jahren änderte, war Freuds Überzeugung, dass die Ätiologie der Hysterie weniger mit einer tatsächlich stattgefundenen sexuellen Traumatisierung zu tun habe, die von den meist weiblichen Analysandinnen erinnert wurde. Ein, oder zwei Jahre später war Freud sich dieser Sache nicht mehr so sicher und betrachtete die Berichte über sexuelle Übergriffe, sexuellen Missbrauch als Phantasieprodukte seiner Analysandinnen. „Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr.“ lautet der entscheidende Satz in seinem Brief an Fließ vom 21. September 1897. (Freud 1986, S. 283)

Nun geht es mir hier aber weniger darum die Geschichte über Freuds Sinneswandel neu aufzurollen, bzw. über die viel diskutierte Frage zu referieren was Freud bewogen hatte seine Ansicht über die Entstehung der Hysterie zu ändern. Er selbst sagt in seiner Selbstdarstellung mehr als 30 Jahre später dazu: „Ich schenkte diesen Mitteilungen Glauben und nahm also an, dass ich in diesen Erlebnissen sexueller Verführung in der Kindheit die Quellen der späteren Neurose aufgefunden hatte.“ (Freud 1925, S. 59)

Wer sich mit der Frage ‚Warum änderte Freud seine Ansicht?‘ näher beschäftigen möchte, sei auf das bis heute umstrittene aber informative Buch aus den 80ger Jahren von Jeffrey Masson Was hat man Dir, Du armes Kind getan?, verwiesen. Wir halten aber fest, dass Freud es sehr früh in der Entdeckung und Geschichte der Psychoanalyse mit der Frage nach Wahrheit und Lüge im Sprechen seiner Analysand:nnen zu tun bekam.

Im Rahmen des Themas von Lügen – psychoanalytisch hören, d.h. der Frage, wie hält es die Psychoanalyse mit der Lüge, steht für mich hier die Differenz von erinnerter Realität und Phantasie im Mittelpunkt. Pointiert lässt sich mein Interesse an den genannten Geschehnissen innerhalb der Historie der Psychoanalyse vielleicht durch die Frage verdeutlichen: „Ist der Bericht eines (Alb-)Traums, der vom Analysanden – eigentlich – nicht geträumt, sondern auf der Couch phantasiert wird, Traumphantasie – oder Lüge?“

Diese Frage ist weder mit Ja noch mit Nein zu beantworten, sondern eher mit dem Hinweis auf Freuds Konzeption des Begriffs der psychischen Realität. Nachdem er „an seine Neurotica nicht mehr glaubte“ blieb ihm die, damit wieder offene Frage nach der Entstehung der Neurosen. In Abgrenzung zur faktischen, äußeren Realität beschreibt der Begriff der psychischen Realität die innere unbewusste Seelentätigkeit des Einzelnen, die sich aus unbewussten Wünschen und Phantasien speist. Mit der Verwerfung der Verführungstheorie war es also nötig eine andere, eine zweite, innerpsychische, subjektive Realität einzuführen, mit der sich erklären ließ, dass innere unbewusste Vorgänge, d.h. die Phantasien zur Entstehung neurotischer Symptome nicht weniger bedeutsam sind als tatsächlich reales, in der äußeren Wirklichkeit Erlebtes. Spätestens mit und seit der Traumdeutung, also um 1900 stellt sich für Freud somit das Unbewusste als das eigentlich real Psychische dar, denn:

„Das Unbewusste muss […] als allgemeine Basis des psychischen Lebens angenommen werden. Das Unbewusste ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewussten in sich einschließt; […]. Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.“ (Freud 1900, S. 617 f.)

Mit diesem zentralen Konzept der psychodynamischen sowie psychoanalytischen Theorie und Krankheitslehre – genannt psychische Realität – geht es bei dem zwar erzählten, aber nicht geträumten Traum demnach weniger um die Suche nach objektiver Wahrheit als vielmehr um die Frage: Wofür steht der erfundene Traum? Welche subjektiv erlebte, innerpsychische Realität veranlasst den Sprechenden auf der Couch einen phantasierten Traum als einen geträumten auszugeben? Ist das Sprechen dazu deshalb weniger bedeutsam? Diese Fragen halte ich für den psychoanalytischen Umgang mit diesem Sprechen für ertragreicher und auch angebrachter als die Suche nach einer möglichen Lüge. Wo kämen wir im Hören dessen, was da von der Couch aus vernehmbar ist, denn auch hin, wenn wir uns zuhörend detektivisch auf die Lauer legten, um im Sprechen der Analysand:innen Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden. Auf der Lauer liegend, bzw. sitzend stellt sich kaum gleichschwebende Aufmerksamkeit ein, die uns von Freud als Pendant zum freien Assoziieren der Analysand:innen ja angeraten wurde.

 

Was ist Wahrheit

Fester Bestandteil meiner Erstgespräche mit Jemandem, der mich mit einem Analysewunsch in meiner Praxis aufsucht und sich entschließt – nicht nur im klassischen Setting auf der Couch – eine Psychoanalyse zu beginnen, ist die Mitteilung der psychoanalytischen Grundregel. In ihr geht es um die Aufforderung an die Analysand:innen die Sprache, das Sprechen von der Leine zu lassen. Idealerweise richtet sich durch die psychoanalytische Grundregel ein Diskurs ein, in dem „das Subjekt […] davon befreit ist“ sagt Lacan, „[diesen Diskurs] durch ein ich behaupte zu stützen.“ Oder deutlicher: „[Es ist] davon befreit, das zu stützen, was es aussagt.“ (Lacan 2022, S. 20)
Bei Freud liest sich diese Grundregel so:

„[…] volle Aufrichtigkeit gegen strenge Diskretion. Das macht den Eindruck, als strebten wir nur die Stellung eines weltlichen Beichtvaters an. Aber der Unterschied ist gross, denn wir wollen von ihm nicht nur hören, was er weiss und vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiss. […] Wir verpflichten ihn auf die analytische Grundregel, die künftighin sein Verhalten gegen uns beherrschen soll. Er soll uns nicht nur mitteilen, was er absichtlich und gern sagt, was ihm wie in einer Beichte Erleichterung bringt, sondern auch alles andere, was ihm seine Selbstbeobachtung liefert, alles, was ihm in den Sinn kommt, auch wenn es ihm unangenehm zu sagen ist, auch wenn es ihm unwichtig oder sogar unsinnig erscheint.“ (Freud, 1938, S. 99)

Die psychoanalytische Grundregel legt das Fundament für die psychoanalytische Situation und den Vertrag, der mit ihr zwischen Analysand:in und Analytiker:in zustande kommt.

„Das […] Ich verspricht uns vollste Aufrichtigkeit, d.h. die Verfügung über allen Stoff, den ihm seine Selbstwahrnehmung liefert, wir sichern ihm strengste Diskretion zu und stellen unsere Erfahrung in der Deutung des vom Unbewußten beeinflußten Materials in seinen Dienst. Unser Wissen soll sein Unwissen gutmachen, soll seinem Ich die Herrschaft über verlorene Bezirke des Seelenlebens wiedergeben. In diesem Vertrag besteht die analytische Situation.“ (Freud 1938, S. 98)

Ich möchte ergänzen, der Psychoanalyse geht es nicht nur um das ‚Was?‘, sondern auch um das ‚Wie?‘ des Gesagten. Dieses ‚Wie?‘ des Gesagten, mit dem wir es in der Praxis zu tun haben, ist zumeist auch eines, das sich als Symptom zeigt. Im Symptom geht es um eine verborgene Wahrheit, ein Nicht-Sagbar-Gesagtes, das im Rahmen einer psychoanalytischen Kur durch das Sprechen der Analysand:innen und das Hören der Analytiker:in zur Sprache kommen und zu Sprache werden kann.

Jedoch – und damit bewege ich mich ein Stück weiter im Kontext der strukturalen Psychoanalyse eines z.B. Jacques Lacans – kann Wahrheit immer nur halbgesagt werden. Eine absolute Wahrheit wie in ‚die Wahrheit und nichts als die Wahrheit‘ ist schon aufgrund der sprachlichen Strukturiertheit des Unbewussten, als das Andere in uns nicht erreichbar. Das Unbewusste als sprachlich Strukturiertes und Anderes führt in uns als Sub-jekte, die der Sprache unterworfen sind eine Kluft ein, die sich in der Unmöglichkeit zeigt Alles sagen zu können.

„Was Freud uns zum Anderen liefert, ist eben dies, dass es Anderes nur gibt, wenn es gesagt wird, dass es jedoch völlig unmöglich ist, dieses ganz Andere vollständig zu sagen – dass es ein Urverdrängtes* gibt, ein irreduzibel Unbewusstes – und dass es zu sagen im strengen Sinne das ist, was nicht nur dadurch bestimmt ist, dass es unmöglich ist, sondern es ist das, wodurch die Kategorie des Unmöglichen als solche eingeführt wird.“ (Nemitz 2022, o.S.)

Auf der psychoanalytischen Spurensuche nach der verborgenen Wahrheit des Symptoms durch das Sagen, tut sich die Grenze des von Freud als Urverdrängtes Bezeichnetes auf. Dieses Urverdrängte steht für die Unmöglichkeit alles sagen zu können. Auch ein, im Gesagten gedeutetes und dadurch möglicherweise verflüssigtes Symptom, behält aufgrund des Urverdrängten - als Motor der Nachverdrängung – ‚Etwas’ für sich. Auch deshalb spricht Lacan davon, dass die Wahrheit nur halb-zu-sagen sei, sie immer ein Halbgesagtes bleibt.

Denn: „Das Unbewusste ist jenes Kapitel meiner Geschichte, das durch eine Leerstelle [blanc] markiert ist oder durch eine Lüge besetzt ist: Es ist das zensierte Kapitel. Doch Wahrheit kann wiedergefunden werden; zumeist ist sie bereits anderswo geschrieben.“ (Lacan 2016, S. 305) Zum Beispiel im oder am Körper – als Symptom.

Diese immer nur halb zu sagende Wahrheit, verankert in der sprachlichen Strukturiertheit des Unbewussten, hütet sich davor bis zum Geständnis zu gehen, in dem die Ursache des eigenen Begehrens dem Verrat preisgegeben wäre.

Schon deshalb kann und darf der Wahrheitsbegriff der Psychoanalyse kein theologischer oder juristischer sein, meine ich. Und wenn von der Couch eine Beichte, ein Geständnis zu hören ist, wir Ohrenzeugen eines Sprechens werden, das sich als Lüge im alltäglich-moralischen Sinn entlarvt, ist es dennoch die Aufgabe der Psychoanalyse/ die Aufgabe als Psychoanalytiker:in, darin die unbewusste Orchestrierung des Gesagten zwischen den Zeilen, zwischen den Wörtern, zwischen den Buchstaben hörend hörbar zu machen. Jenseits von Gut und Böse, jenseits von Wahrheit und Lüge.

 

Nachtrag

Der Vortrag, den Sie eben hörten, ist über mehrere Monate – etwa von September 2022 bis jetzt in den Januar 2023 hinein entstanden.

Die allmähliche Verschriftlichung der Gedanken zum Thema Lügen – psychoanalytisch hören verlangsamte sich, weil in dem, was mein Schreiben dauern ließ, die Hoffnung gegenwärtig war, dass über das Verfassen dieses Textes, der Krieg in der Ukraine geendet haben möge. Dem ist leider bis heute, am 28. Januar 2023 nicht so.

Geändert hat sich aber – und da weiß ich zuweilen noch nicht, wie das auffassen, wie damit umgehen – dass ich, anders als im Frühjahr des vorigen Jahres, mit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, in den Analysen weniger zu den Empfindungen, Ängsten, Befürchtungen der AnalysantInnen wegen der Kriegshandlungen höre. Die Gewalt ist dieselbe geblieben. Die Propagandalügen nicht minder.

Wie dieser Krieg die Welt aber letztlich verändern wird, ist offen. Und damit auch, wie er zukünftig im Sprechen der Analysand:innen auftauchen wird.
Ich danke Ihnen für’s Zuhören!

 


1 Vortragstext im Rahmen der Jahrestagung des ÄPK e.V. München am 27.-28. Januar 2023 mit dem Thema „Zuhören im Schatten der Gewalt“.


Literaturverzeichnis

Ferenczi, Sándor (1984): „Das Problem der Beendigung der Analysen“. In: Bausteine zur Psychoanalyse. Bd. 3: Arbeiten aus den Jahren 1908-1933. Unveränderter Nachdruck der 1938 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag Leipzig erschienenen Erstausgabe. München: Ullstein Taschenbuch Verlag.

Forrester, John (2017): „Auf der Couch liegen. Auf der Couch lügen“. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte. Bd. 74: Lüge. Hg. v. Angelika Ebrecht-Laermann et. al. Stuttgart: Psychosozial Verlag, S. 17-45.

Freud, Sigmund (1896): Zur Ätiologie der Hysterie. In: GW I, S. 424-459.

Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. In: GW II/III.

Freud, Sigmund (1904): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: GW VI.

Freud, Sigmund (1925): Selbstdarstellung. In: GW XIV, S. 31-96.

Freud, Sigmund (1938): Abriss der Psychoanalyse. In: GW XVII, S. 63-138.

Freud, Sigmund (1986): Briefe an Fließ. 1887-1904. Frankfurt/M.: S. Fischer.

Lacan, Jacques (2016): „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“. Bericht auf dem Kongress von Rom, abgehalten am Istituto di psicologica della Universitá di Roma, am 27. und 27. September 1953. In: Schriften I. Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 278-381.

Lacan, Jacques: (2022): Von einem Anderen zum anderen. Das Seminar XVI. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Masson, Jeffrey (1984): Was hat man dir, du armes Kind getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek: Rowohlt.

Nemitz, Rolf (2022): „Lacans Sentenzen. ‚Die Wahrheit lässt sich nur halbsagen.‘“ (2013). https://lacan-entziffern.de/wahrheit/die-wahrheit-kann-man-nur-halb-sagen/ [29.06.2023]

O’Shaughnessy, Edna (2013): Kann ein Lügner analysiert werden? Emotionale Erfahrungen und psychische Realität in Kinder- und Erwachsenenanalysen. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel.

 

Autor:in: Ulrike Bondzio-Müller, Dipl.-Psych., ist seit 1994 in eigener psychoanalytischer Praxis in München tätig.