Die Kulturanthropologie Mary Douglas', Philosophie, Popkultur und Horror
Hilmar Schmiedl-Neuburg
Y – Z Atop Denk 2022, 2(10), 1.
Abstract: In diesem Aufsatz widmet sich Hilmar Schmiedl-Neuburg der Kulturtheorie der Kulturanthropologin Mary Douglas und ihrem klassischen Werk Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo (1966). Douglas ethnologische Analysen von Schmutz, Ekel, Schrecken und Gefahr werden dann zur Analyse akademischer Philosophie wie der Popkultur, insbesondere des popkulturellen Horrorgenres, herangezogen.
Keywords: Mary Douglas, Ethnologie, symbolic anthropology, Tabu, Horror, Heiliges, Ekel, Philosophie, Popkultur
Veröffentlicht am: 30.10.2022
Artikel als PDF: Reinheit, Schmutz und Schrecken
Was ist das Eklige am Ekligen, was das Schreckliche am Schrecklichen? Und was macht gleichzeitig, neben der Abstoßung, die Faszination des Ekelhaften und des Schrecklichen aus?
1. Mary Douglas: Reinheit und Gefahr
1.1. Douglas' ethnologische Kulturtheorie
Betrachten möchte ich diese Fragen mit Hilfe von Überlegungen der Kulturanthropologin Mary Douglas (1921-2007), welche als bedeutendste Vertreterin der symbolic anthropology in der Ethnologie gilt. Im Jahr 1966 veröffentlichte Mary Douglas ihr bekanntestes Werk Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, in welchem Douglas, vom Strukturalismus beeinflusst, eine tiefgehende Theorie der Kultur, der Symbole und der Gesellschaft entwirft.
Basierend auf einer Analyse von Reinheits- und Verschmutzungsvorstellungen geht Douglas davon aus, dass eine jede Gesellschaft ihre Struktur und Ordnung durch verschiedene, meist miteinander verflochtene Dichotomien erhält, welche i.d.R. strukturisomorph sowohl die Ebene des Gesellschaftlichen wie die des Symbolischen ordnen.1 Binäre, oppositäre Distinktionen wie männlich/weiblich, alt/jung, innen/außen, oben/unten, roh/gekocht, Dorf/Wald, Mensch/Tier etc. organisieren, ähnlich wie bei Claude Lévi-Strauss (1968/1971), auf gleichförmige Weise die Strukturen beider Ebenen. Die resultierenden Strukturisomorphien erstrecken sich dabei nicht nur auf das Gesellschaftlich-Kulturelle, sondern auch auf die kosmische Ordnung, d.h. die Sicht der Welt, der Natur und des Göttlichen, ebenso wie auf die symbolische Ordnung des einzelnen Menschen selbst, seines Leibes und seiner Psyche. Die den Strukturisomorphien zugrundliegenden organisierenden und strukturierenden Distinktionen sind dabei aber, dies contra Lévi-Strauss, nicht notwendig universell, wenngleich sie sich durchaus nicht selten in verschiedenen Kulturen finden lassen. Die symbolischen Klassifikationssysteme, die auf diesen binären Distinktionen basieren und die die gesellschaftliche, die geistige und kulturelle, die individuelle und die kosmische Ordnung strukturieren und formieren, bilden die Grundstruktur einer jeden Gesellschaft, sie bilden mit den Worten Michel Foucaults (2003) „Die Ordnung der Dinge“.
Aufgrund der Zentralität dieser Distinktionen für eine Gesellschaft, so Douglas, ist eine Übertretung dieser Grenzziehungen hochproblematisch. Werden die zentralen symbolischen Grenzen durch Ambiguität, Transgression oder Anomalie aufgelöst oder durchbrochen, droht in gewisser Weise der Untergang der Ordnung der Welt. Kulturen reagieren auf solche symbolischen Grenzüberschreitungen insbesondere zentraler Distinktionen, welche oft explizit oder, besonderes in modernen Gesellschaften, implizit als Tabuverletzungen operationalisiert werden, ausgesprochen drastisch.
Douglas unterscheidet dabei fünf verschiedene typische Reaktionsweisen einer Gesellschaft auf eine Transgression ihrer symbolischen Ordnung (Douglas 1966, S. 40 f.):
- Die erste Strategie reduziert Ambiguitäten durch eine erzwungen-eindeutige Zuordnung (Douglas 1966, S. 40). Die bis vor wenigen Jahren durchgeführten verstümmelnden Zwangsoperationen an intersexuellen Säuglingen, die es ermöglichten, sie eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, bieten ein harsches modernes Beispiel für eine solche Praxis.
- Die zweite Strategie ist die physische Vernichtung der Transgressiven (Douglas 1966, S. 40). Auch hierfür bieten die moderne Geschichte mit ihren Völkermorden, die sich verräterisch ethnische Säuberungen nennen, aber auch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte mit ihren Inquisitionsprozessen zur Auslöschung von Häretikern viele Beispiele.
- Die dritte Strategie ist Ignoranz, d.h. die Transgression wird vermieden und ausgeblendet (Douglas 1966, S. 40). Man denke etwa beispielhaft daran, wie lange historisch der weibliche Geist – und mit ihm Philosophinnen, Autorinnen etc. – unsichtbar gemacht wurden, da der Geist zumindest in der westlichen Kultur männlich konnotiert war.
- Wenn ein Ignorieren der Transgression nicht möglich ist, bietet sich die Stigmatisierung, also ein Verachten des Transgressiven als gefährlich, dreckig und schmutzig an (Douglas 1966, S. 40 f.), wie es etwa fahrendem Volk widerfuhr, das nicht, wie es die symbolische Ordnung gebietet, sesshaft ist und an seinem Platz bleibt. Diese vierte Strategie stigmatisiert die Ambiguitäten wahlweise als gefährlich, unnatürlich, irrational, sündhaft, pervers, verrückt, kriminell, krankhaft und verschmutzt. Und auch für diese vierte Strategie bietet die Diskriminierungsgeschichte des Abendlandes einen ausgesprochen reichen Schatz an Beispielen.
- Die fünfte, in der christlich-abendländischen Geschichte, so Douglas, eher seltene, aber bei anderen Kulturen deutlich häufigere Strategie ist die Strategie des „Recycling“ (Douglas 1966, S. 41). Die Ambiguitäten und Transgressionen werden dabei als notwendige und bereichernde Bestandteile der symbolischen Ordnung begriffen und in die Ordnung integriert, jedoch ohne ihren Transgressions- oder Ambiguitätscharakter zu leugnen oder zu beseitigen. Beispiele hierfür sind hermaphroditischen Göttergestalten, wie die griechische bärtige Aphrodite bzw. der Aphroditos, oder der hinduistische Gott Ardhanārīśvara, „der Herr, der halb Frau ist“.
In der neueren Geschichte ließen sich illustrierend die Transgressionen, Ambiguitäten und Umkehrungen des Karnevals, wie sie Michail Bachtin 1940/1965 im Rahmen seiner Rabelais-Studie beschreibt, heranziehen. Die Charakteristika des Karnevalesken bei Bachtin (1987), also (1) familiale und freie Interaktion aller, (2) exzentrisches und sozial transgressives Verhalten, (3) karnevalistische Mésalliancen und Vereinigung von Gegensätzen und (4) Sakrilegscharakter des Handelns ohne Strafandrohung umschreiben auf eine etwas andere Weise die Strategie eines solche douglasschen „Recycling“.
1.2. Reinheit, Schmutz und Religion
Im Mittelpunkt der Analysen Mary Douglas' steht dabei das Konzept der Reinheit. Rein sind diejenigen Dinge, welche sich entsprechend der Ordnung der Dinge, d.h. der symbolischen Klassifikationssysteme verhalten, unrein, d.h. verschmutzt sind die Dinge, welche Grenzen durchbrechen oder diese auflösen. „Uncleanness is matter out of place“, so Douglas klassische Definition (Douglas 1966, S. 41). Wir empfinden Dinge als schmutzig, wenn sie sich nicht an ihrem vorgesehenen Ort befinden. So erscheint uns Tomatensoße auf dem Teller oder im Mund als rein, Tomatensoße auf dem Hemd oder im Gesicht hingegen als Schmutz. Bei einer phänomenologischen Betrachtung unserer Alltagsempfindungen über Schmutz und Verunreinigung finden sich, so scheint es mir, zahlreiche Bestätigungen dieser Ansicht Douglas'. Mit medizinischer Hygiene hingegen haben diese schmutzbezogenen Alltagsempfindungen jedoch oft nur begrenzt etwas zu tun, auch wenn es unser modernes rationales Selbstbild gern anders sähe.
Schmutz ist für Douglas nichts Absolutes, sondern stets relativ (Douglas 1966, S. 36), und was in einer Kultur als Schmutz, also als Grenzüberschreitung, als „matter out of place“ gesehen wird, kann in einer anderen Kultur als vollkommen rein gelten, wovon die unterschiedliche Sicht des Kuhdungs in Indien und in Europa Zeugnis ablegt – ist er in Europa auf einem Altar oder auf dem Körper ekelhafter Schmutz, so ist er in Indien heilige Opfergabe oder reines Gesundungs- und Heilmittel.
Mary Douglas nutzt diese Einsichten in Purity and Danger unter anderem, um die Speiseverbote des Buches Leviticus zu untersuchen und zu zeigen, dass dort diejenigen Tiere als unrein gelten, welche gegen die alten symbolischen Klassifikationssysteme der Israeliten verstießen (Douglas 1966, S. 42-58). Ist ein Tier bspw. ein Paarhufer, wie das Rind, kann es nach den Klassifikationen der altisraelitischen symbolischen Ordnung nicht zugleich ein Fleischfresser sein. Ein omnivorer und damit auch fleischfressender Paarhufer, wie das Schwein, muss, als Transgression dieser Ordnung, insofern als unrein gelten. Sich auf dem Land bewegende Tiere haben vier Beine zu haben, haben sie jedoch sechs oder acht oder keine, wie Käfer, Spinnen oder Schlangen, sind sie als unreine, schmutzige Anomalität anzusehen. Extrapolierend könnte man so mit Douglas davon ausgehen, dass auch nichtfliegende Vögel, wie Pinguine, oder eierlegende Säuger, wie das Schnabeltier, als unrein klassifiziert worden wären, wenn die Verfasser des Buches Leviticus diese beiden Tierarten gekannt hätten.
Diese symbolischen Klassifikationen sind dabei weitestgehend zufällig, es handelt sich bei ihnen um menschengemachte Kategorien der Welterkenntnis und der Weltordnung, sie sind – contra Lévi-Strauss – quasi konventional und arbiträr, und, wenn auch meist unbewusst, zugleich aber gesellschaftlich außerordentlich bedeutsam. In ihnen ordnet sich die Gesellschaft und mit ihr die gesamte Welt, und in ihnen kondensiert und gefriert die soziale Energie und Macht der Gesellschaft.
Werden nun diese Grenzen durchbrochen, so wird die in ihnen gefrorene soziale Energie freigesetzt und erfüllt den Transgressor. Denn der Tabubrecher gilt nicht nur als schmutzig, er gilt auch als sehr gefährlich, da er in seiner anomalen, transgressiven Existenz zum einen eine Gefahr für die Ordnung der Dinge darstellt, zum anderen aber auch durch seine Übertretungstat gleichsam mit sozialer Energie aufgeladen und damit als ausgesprochen mächtig und gefährlich erscheint (Douglas 1966, S. 95-114). Diese Aufladung oder Ansteckung mit freigewordener sozialer Energie, welche sich für Douglas z.B. im polynesischen Mana- oder auch im islamischen Baraka-Konzept manifestiert (Douglas 1966, S. 110 ff.), zeigt sich in einem ambivalenten Verhältnis der Gesellschaft zu diesem transgressiven Menschen oder Ding. Tabubrecher und Tabubrüche sind unrein-verschmutzt, aber zugleich machtvoll-gefährlich.
Auf einer mehr religiösen Ebene sind sie zudem – man denke an den römischen homo sacer, den Giorgio Agamben (2002) analysiert – verflucht und zugleich heilig. In manchen Sprachen, wie hier dem Lateinischen, werden mithin die gleichen Worte für das Heilige und das Verfluchte verwendet, was aus Sicht der douglasschen Kulturtheorie nicht überraschen kann, da in beiden Fällen, dem des Heiligen wie dem des Verfluchten, die Grundordnung des Kosmos und der Gesellschaft in Form ihrer basalen Distinktionen und Klassifikationen thematisiert wird. Dies erklärt auch die enge Verbindung der Verschmutzungskonzepte zur Sphäre des Religiösen, in der Grenzüberschreitungen oft als Sünde, Sakrileg, Unheiligkeit, Perversion, Greuel, Abscheulichkeit, Unnatürlichkeit, Ungeheuerlichkeit, Abartigkeit, Groteske, Unheimlichkeit, Ungeordnetheit, Unmöglichkeit, kurz als Verletzungen der göttlichen und/oder natürlichen Ordnung betrachtet werden.
An dieser Stelle zeigen sich die großen semantischen Übereinstimmungen dieser religiösen Bezeichnungen für symbolische Transgressionen mit den mehr aus der Popkultur vertrauten Bezeichnungen des literarischen wie des filmischen Horrorgenres für Schreckensgestalten und –taten. Auch die mit diesen Überschreitungsphänomenen verbundenen Gefühle von Angst, Ekel, Schrecken und Faszination finden sich in der Sphäre der religiösen Erfahrung und verweisen so auf die vielen Bezüge zwischen dem Heiligen, mit dem Religionsphänomenologen Rudolf Otto (2004) erlebt als mysterium tremendum et fascinans, und dem Horror.2
Diese schreckens-, angst- und ekelerfüllte Betrachtungsweise des Transgressiven gilt aus Douglas' Sicht allerdings vorzugsweise, wenn auch keineswegs ausschließlich für in ihrer Diktion unvollständige Religionen (Douglas 1966, S. 167), wie etwa das Christentum, denen es aufgrund einer Fetischisierung der Reinheit nicht gelingt, den transgressiven, schmutzigen, die Ordnung auflösenden Phänomenen, der hybriden oder anomalen marginal position (Douglas 1966, S. 96-99) einen würdigen Platz in der Ordnung zu geben. Diese Fetischisierung der Reinheit kann dabei ihre Quelle sowohl in der Dogmatik einer Religion, wie z.B. im Manichäismus, oder, wie eben im Christentum, in seiner gelebten Praxis in der Geschichte finden. Anders als vollständige Religionen (Douglas 1966, S. 167), „dirt-affirming“ (ibid., S. 165) oder „composting religions“ (ibid, S. 168), wie der chinesische Daoismus oder auch die griechische Religion, hängen unvollständige Religionen, so Douglas, der dualistischen Idee an, dass klassifikatorische symbolische Distinktionen – etwa zwischen Gut und Böse, Geist und Fleisch oder zwischen Mann und Frau – vollkommen, ausnahmslos und ewig sind und damit vollkommene Reinheit eine reale bzw. wirklich realisierbare Möglichkeit darstellt (Douglas 1966, S. 172). Bezüglich der gleichwohl real existierenden Transgressions- oder Ambiguitätsfälle, also jeglichen Schmutzes, jeder Abscheulichkeit, jedes Horrors, jeder Unheiligkeit und jeder Monstrosität besteht in unvollständigen Religionen die sehnliche Hoffnung, dass diese irgendwann, meist spätestens bei einem Jüngsten Gericht, endgültig vernichtet werden.3
1.3. Das Abjekte und das Liminale – Kristeva und Turner
Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich auf die großen Verwandtschaften der douglasschen Theorie des Schmutzes mit Julia Kristevas poststrukturalistisch-psychoanalytischer Theorie des Abjekten in Pouvoirs de l'horreur (1982[1980]) und Victor Turners ethnologischen Ideen zum Liminalen, dem „Betwixt and Between“, hinweisen (Turner 1964).
Die Abjektion bei Julia Kristeva (1982[1980]) bezeichnet ursprünglich die Distanzierungsleistung des (insbesondere männlichen) Subjekts, welches sich vom Mütterlichen, d.h. dem symbiotischen, grenzverwischenden Fluiden, entfernt, (in der Passage des Ödipuskomplexes) klare, eindeutige symbolische Grenzen des Subjekts und der Welt errichtet – man denke an Jacques Lacans non du père – und so von der semiotisch-maternalen in die symbolisch-paternale Lebensphase übergeht (Kristeva 1982, 1999). In Folge werden alle Phänomene, welche die Grenzen des Subjekts oder der Ordnung der Welt destabilisieren oder erodieren als abjekt verdrängt oder verachtet, sie gelten als ekelhaft, schrecklich und gefährlich. Sie sind als Abjekte weder Subjekte noch Objekte. Ihre Abjektion gewährleistet die Stabilität und Eindeutigkeit der symbolischen und sozialen Ordnung, ihre Verwerfung und Exklusion ist gleichsam Bedingung der Möglichkeit der jeweiligen symbolischen Ordnung. Das Abjekte ist das Jenseits der symbolischen Ordnung, das Jenseits der symbolischen Signifikation, kann also nicht bezeichnet werden und wirkt auf die mit dem Abjekten Konfrontierten traumatisch; es erweist sich damit dem Sublimen, Erhabenen verwandt. Seine grenzverwischende Macht kann nur durch soziale Rituale der symbolischen Reinigung, also der (auch gewaltsamen) Grenzbefestigung, gebrochen werden, seien es symbolische Waschungen, Hexenverbrennungen oder der Einsatz als Duschen getarnter Gaskammern. In all diesen Aspekten des Abjekten und der Abjektion sind dabei die Ähnlichkeiten zu Douglas' Analysen des Schmutzes recht auffällig.
Victor Turner, wie Mary Douglas einer der Hauptvertreter der symbolischen Anthropologie, aber zudem auch der Manchester School in der britischen Social Anthropology verpflichtet, thematisiert im Anschluss an die Ritualtheorien Arnold van Genneps den Topos der Liminalität im Ritual (Turner 1964). Turner wie van Gennep untersuchen rites de passage, Übergangsriten, in denen der Status eines Menschen oder Dings qualitativ und grundlegend verändert wird, z.B. ein Kind zum Erwachsenen sich wandelt. Hierbei unterscheidet Turner (1) die Trennungsphase, in welcher die alte Ordnung aufgelöst wird, (2) eine liminale Schwellen- oder Zwischenphase, in der keine Ordnung, keine Hierarchie, keine symbolischen Klassifikationen existieren, sondern stattdessen eine reine Communitas, eine unterscheidungslose Gemeinschaftlichkeit, z.B. zwischen den Initianden, besteht, und (3) eine Eingliederungsphase, in welcher die neue Ordnung bzw. der neue klassifikatorische Status des nun Initiierten affirmiert werden. Jede Person, die sich oder jedes Ding, das sich in diesem rituellen Prozess in der Phase der Liminalität befindet, ist mehrdeutig, undefiniert, „betwixt and between“ (Turner 1964), steht außerhalb der gesellschaftlichen symbolischen Ordnung und wird von ihr rituell getrennt gehalten. Die Familienähnlichkeit oder sogar Entsprechung des turnerschen Heterotopos4 des Liminalen mit dem Abjekten Kristevas wie auch mit dem Unreinen Douglas' ist hier augenfällig. Zugleich zeigt Victor Turners Darlegung der kritischen soziokulturellen Rolle der liminalen Communitas aber auch, wie eine Gesellschaft konstruktiv, im Sinne Douglas' fünfter Strategie (Douglas 1966, S. 41), mit dem Unreinen und Abjekten umgehen kann – d.h., statt zu versuchen, das Transgressive zu vernichten, seine Macht zur kreativen gesellschaftlichen Neuschöpfung zu verwenden.
2. Die Philosophie und der Schmutz
Im Folgenden möchte ich nun im Sinne einer Anwendung dieser kulturanthropologischen Überlegungen zum einen einige Implikationen der douglasschen Kulturtheorie für die Philosophie betrachten und zum anderen einen durch Douglas' ethnologische Einsichten geschärften Blick auf einige popkulturelle Phänomene des Horrors werfen.
Philosophie ist in großen Teilen Arbeit an Begriffen mit Begriffen, Begriffe selbst jedoch beruhen auf Unterscheidungen, Distinktionen, Differenzen. Nimmt man Mary Douglas' Einsichten zur gesellschaftlichen und symbolischen Rolle von Distinktionen und Klassifikationssystemen ernst, dann werden auch die symbolischen Distinktionen der Philosophie, ebenso wie die der Wissenschaften, Teil und Ausdruck der gesellschaftlichen symbolischen Klassifikationssysteme sein. Entsprechend ist zu erwarten, dass die philosophischen (und wissenschaftlichen) Distinktionen und Klassifikationen bzw. deren bestallte Vertreter ebenfalls aversiv auf transgressive Phänomene reagieren, die in der Philosophie entweder in der Sache, z.B. in Form ‚unphilosophischer‘ Themen, und/oder formal, etwa als unklare, ambige Definitionen oder auch als begriffliche Antinomien und Paradoxien, auftreten.
Anders als alle Wissenschaften arbeitet die Philosophie allerdings nicht nur mit Begriffen, sondern auch an Begriffen, d.h. sie ist, zumindest prinzipiell, in der Lage, mit solchen anomalen, ambigen oder transgressiven Phänomenen, Themen und Begriffen umzugehen, etwa, indem sie begriffliche Unterscheidungen, Differenzierungen, Systematiken und Klassifikationen nicht nur verwendet, sondern diese auch befragt und ggfls. auflöst und neu schafft – ein Prozess, der nicht zufällig an Victor Turners (1964) drei Phasen erinnert.
Gleichwohl ist es auch in der Philosophie möglich und zudem keinesfalls selten oder ungewöhnlich, dieser, an sich zutiefst philosophischen, Aufgabe aus dem Weg zu gehen und mit Hilfe der ersten vier Strategien Mary Douglas' (1966, S. 40) ‚unphilosophische‘ Themen und Gegenstände sowie begriffliche Ambiguitäten und Transgressionen, Paradoxien und Antinomien zu vermeiden, indem sie (Strategie I) zwangsweise definitorisch festgelegt und vereindeutigt, (Strategie II) als häretisch oder unlogisch verboten, (Strategie III) als Phänomene und Konzepte ignoriert, ausgeschlossen, verdrängt oder vernachlässigt, oder (Strategie IV) als irrational, ‚literarisch‘ oder ‚unphilosophisch‘ stigmatisiert und verächtlich gemacht werden.
In der Philosophie des 20. Jahrhunderts liefern die begrifflichen Strategien der klassischen analytischen Philosophie gegenüber nichtanalytischen Philosophien mannigfache Beispiele für eine jede dieser Strategien. Man sei nur an das Strategie I und Strategie III kombinierende Diktum des jungen Ludwig Wittgenstein im Vorwort des Tractatus erinnert: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken“ (Wittgenstein 1984, Vorwort). Man denke aber auch bzgl. der Strategie I an den definitorischen Eindeutigkeitsfuror der frühen analytischen Philosophie, an das an der Strategie II orientierte typentheoretische Verbot der russellschen Antinomie, an die Strategie III folgende Ignorierung von Philosophien wie der eines George Bataille angesichts ihrer ‚unphilosophischen‘ Thematiken, wie auch an die von Strategie IV inspirierten Invektive analytischer Philosophen gegen die ‚dunkle‘ Schreibweise Martin Heideggers oder die ‚zu literarische‘ Schreibweise Friedrich Nietzsches und die die Strategien II und IV illustrierende institutionelle Vertreibung Richard Rortys aus der akademischen Philosophie in die Literaturwissenschaften.
Wirklich philosophisch gerecht wird diesen begrifflichen und thematischen Transgressionsphänomenen in der Philosophie jedoch nur die fünfte Strategie Mary Douglas' (1966, S. 41), welche versucht, diese Anomalien, Paradoxien und Ambiguitäten nicht auszulöschen, sondern sie vielmehr, unter Akzeptanz und Achtung ihrer Anomalität, Transgressivität, Paradoxalität und Ambiguität einschließlich deren grundlegender philosophischer wie gesellschaftlicher Bedeutung, philosophisch zu integrieren. Philosophische Paradigmen für eine solche integrative Strategie bieten etwa die hegelsche und die adornitische Dialektik, aber auch die derridasche Dekonstruktion, welche es vermögen, allerdings auf je unterschiedliche Weise, Gegensätze zusammen- bzw. ineinander zu denken, indem sie sich selbst grenzgängerisch in der Sphäre des Transgressiven und Paradoxalen bewegen.
Weitere, strukturell etwas anders gelagerte, Beispiele eines solchen an der integrativen Strategie V orientierten philosophischen Vorgehens könnten auch die existentialphänomenologischen Theorien der Angst bzw. des Ekels in Martin Heideggers Sein und Zeit (2006) und in Jean-Paul Sartres La nausée [Der Ekel] (1982) sein, da hier auf einer philosophischen Ebene diese durch Heiligkeit und Schrecken konnotierten Gefühle und Stimmungen eine welterschließende und -entbergende Funktion erhalten, d.h., in der Sprache der Kulturtheorie Mary Douglas', die Funktion, die symbolischen Klassifikationssysteme der Gesellschaft, welche Gesellschaft, Geist, Individuum und Kosmos ordnen, zu enthüllen und in ihrer Arbitrarität und Kontingenz deutlich zu machen.
3. Transgressionen und Ambiguitäten des Horrors in der Popkultur
3.1. Phänomene der Transgression im popkulturellen Horrorgenre
Im ersten Teil hatten wir festgestellt, wie sehr die Gefühle der Angst, der Furcht und des Schreckens, aber auch des Ekels im popkulturellen Horrorgenre den Gefühlen gleichen, die empfunden werden, wenn basale gesellschaftliche symbolische Klassifikationen durchbrochen werden. Auch die semantischen Übereinstimmungen zwischen den religiösen bzw. gesellschaftlichen Bezeichnungen von Transgressionen und Ambiguitäten, wie Unheiligkeit, Abscheulichkeit, Unnatürlichkeit, Perversion, Ungeheuerlichkeit, Abartigkeit, Greuel, Groteske, Unheimlichkeit, Ungeordnetheit, Unmöglichkeit oder Monstrosität, mit den semantischen Bezeichnungen von Figuren und Topoi des popkulturellen Horrorgenres sind im Vorhergehenden bereits deutlich geworden. Betrachten wir nun vor dem Hintergrund dieser Einsichten einige dieser Topoi und Figuren durch die Linse der douglasschen Kulturtheorie.
Auffällig erscheint die transgressive Natur der Horrorfiguren etwa in der Figur des Vampirs. Der Vampir überschreitet als Untoter nicht nur die Grenze zwischen Leben und Tod und, sich verwandelnd in eine Fledermaus, auch diejenige zwischen Menschen und Tieren, sondern transgrediert zudem im penetrierend-phallischen Biss die Körpergrenze. Auch das Gespenst und der Zombie wandern auf der Grenze zwischen Leben und Tod, während aber das Gespenst dazu die Grenze zwischen materiell und immateriell auflöst, erodiert der Zombie die Grenze zwischen organischer gesunder Ganzheit und verfaulend-verwesender Zersetzung. Der Werwolf hingegen, welcher sich zu Grenzzeitpunkten, wie dem Vollmond, verwandelt, ist ein Hybrid aus Mensch und Tier. Er überschreitet die Grenze zur nichtmenschlichen Natur, wie es auch oft dem Teufel widerfährt, wenn er bockshufig und –hornig dargestellt wird. Mutanten und Außerirdische wiederum illustrieren die Auflösung der Grenzen des Menschlichen und des Irdischen. Ein dahingegen klassisches Beispiel ist die Hexe, in alten Darstellungen oft als auf einem Zaun, also der Grenze, sitzend gezeichnet, die anomal als Mensch in der nichtmenschlichen Natur, dem tiefen Wald lebt – in anderen Kulturen erfüllen die Wüste, das Hochgebirge oder die Hochsee zum tiefen Wald äquivalente Funktionen, in denen denn auch konsequent transgressive Figuren wie Djinns, Yetis oder Sirenen erscheinen. Die Grenzen zwischen dem Organischen und dem Anorganischen sowie dem Intelligenten und Nichtintelligenten werden zum Thema, wenn es sich bei den Monstren der Horrorliteratur oder des Horrorfilms um menschengeschaffene Wesen handelt, gleich, ob es sich dabei um Frankenstein, Golems, Androiden oder T-800, Skynet oder HAL 9000 handelt. Psycho-Horrorfilme erodieren hingegen eher die Grenze von psychischer Gesundheit und Wahnsinn. Der Parasit zerfrisst die Grenze von Ich und Nicht-Ich, während der Doppelgänger diese Grenze undeutlich werden lässt. Alle Grenzen porös werden lässt das ‚Ding‘ – man denke an den Blob (1958) aber auch an die Solaris (Lem 1983) –, da es sich allen Klassifikationsversuchen entzieht. Schon auf der materiell-physischen Ebene stellt sich hier oft ein profunder Ekel verbunden mit einem Grauen ein, da noch nicht einmal die Grenze zwischen fest und flüssig oder flüssig und gasförmig erhalten bleibt (vgl. Douglas 1966, S. 38 f.).
Doch die Ambiguitäten und Transgressionen müssen sich nicht notwendig auf Personen beziehen. Auch Orte und Zeiten können einen solchen unreinen, unbestimmten und zugleich machtvollen und gefährlichen Charakter annehmen und spielen insofern in der Religion wie im Horror oft eine zentrale Rolle. Das von Menschen verlassene Haus wird von einem Heim zu etwas Unheimlichem, Fremden; die Anomalie der menschengemachten Hütte im tiefen Wald, der Sphäre der Natur, ist ebenfalls oft ein Ort des Schauerns, gleich, ob es sich bei ihr um das Häuschen einer Hexe oder die Einsiedelei eines Heiligen handelt.
Auch Grenzzeiten wie der Jahreswechsel, die Zeit zwischen den Jahren mit dem nordischen Mythos der wilden Jagd, der Beginn von Jahreszeiten, wie etwa die Walpurgisnacht am traditionellen Sommerbeginn, die Sonnenwenden, der Karneval als Grenze zur Fastenzeit oder Halloween, All Hallows Eve, der Abend, also die Tag- und Nachtgrenze, in deren Zwielicht man neben den Heiligen auch der Verstorbenen gedenkt, sind Beispiele solcher unreiner und/oder sakraler, auf jeden Fall liminal-unbestimmter und machtvoll-gefährlicher Zeiten, weswegen es nicht verwundern darf, dass solche Orte und Zeiten eine herausragende Rolle im popkulturellen Horrorgenre wie in der Sphäre des Religiösen spielen.
3.2. Strategien der Transgressionsbeseitigung im popkulturellen Horrorgenre
Wie Gesellschaft, Religion und Philosophie nutzt auch das popkulturelle Horrorgenre, gleich ob in Literatur oder Film, die verschiedenen Strategien Mary Douglas' (1966, S. 40 f.), um den Schrecken, den Ekel und die Gefahr durch die Klassifikationsverletzungen zu beschränken. Die für das Horrorgenre typischen Umgangsweisen scheinen dabei die Strategien II, III und IV zu sein. Nach anfänglicher Ignorierung und Verdrängung oder alternativ Verächtlich- und Lächerlichmachung der Horrorphänomene durch die Protagonisten, z.B. eines Horrorfilms, also den Strategien III und IV, folgt meist, nachdem einige der Protagonisten den Horrorphänomenen zum Opfer fielen, der Versuch der physischen Vernichtung der Horrorfiguren oder -objekte, d.h. die Strategie II. Das klassische Ende von Horrorfilmen, das nach gelungener Vernichtung des Monstrums im Abspann dessen schlüpfende Brut zeigt, verweist aber einsichtig auf die Unmöglichkeit, eine symbolische Klassifikationsordnung endgültig vor jeder Transgression zu bewahren und ewige Reinheit zu garantieren, wenn auch die Transgressionsphänomene hier weiterhin als rein negativ betrachtet werden.
Die Strategie I zeigt sich hingegen seltener. So kann bspw. die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen befriedet werden, wenn die transgressive Figur definitorisch auf eine der beiden Seiten festgelegt wird. Die immer weiter zunehmende Vermenschlichung des Roboters Sonny in I, Robot (2004) bietet möglicherweise ein solches Beispiel für die Festlegung auf die Seite des Menschlichen. Eine Vereindeutigung kann aber auch das Vorspiel zur Vernichtung sein, etwa, wenn eine ambige Figur mittels der Strategie I als Abscheulichkeit festgelegt und dann der Strategie II folgend zur Vernichtung freigegeben wird – man denke z.B. an Gregor Samsas Schicksal in Franz Kafkas Die Verwandlung (Kafka 1995).
Die fünfte Strategie hingegen ist kaum zu finden, wohl, da hier die für das Horrorgenre konstitutive und sich eventuell dualistischem, unvollständig-religiösem Denken verdankende radikale Abwertung des schmutzigen, Ekel und Abscheu, Angst und Schrecken erzeugenden Transgressiven nicht mehr durchhaltbar wäre und damit das Horrorgenre sich selbst dekonstruierte.
Kulturwissenschaftlich ließe sich ggfls. sogar fragen, ob eine genuin entfaltete, einschlägige Horrorliteratur und -filmkultur, die auf einer massiven Furcht und einem großen Ekel vor dem Transgressiven, aber auch einer korrespondierenden Faszination an diesem beruht, nur vor dem kulturellen Hintergrund einer unvollständigen Religion, wie etwa dem Christentum, entstehen kann, da vollständige Religionen sich dem Transgressiven eher mit ehrfürchtigen Ambiguitätsgefühlen nähern, statt mit massiver Abwehr.
3.3. Twilight – Ein Beispiel simulierter Transgressionstoleranz
Abschließend möchte ich nun noch ein komplexeres popkulturelles Beispiel der Beseitigung und Befriedung transgressiven Horrors geben, das auf den ersten Blick eine Applikation der fünften Strategie Douglas' zu sein scheint, dann aber deutlich werden lässt, dass die zur Strategie V gehörende Würdigung und Achtung der Transgression als Transgression, Anomalie und Ambiguität hier nicht erfolgt und stattdessen alles Anomale geradezu reaktionär assimiliert wird – ich rede von den kommerziell sehr erfolgreichen Twilight-Filmen der späten 2000er und frühen 2010er Jahre, die das Thema der Grenze und ihrer Transgression bereits im Namen tragen.
Die pentalogische Twilight-Verfilmung (2008-2012), welche sich auf die verwobenen Schicksale einer menschlichen Frau, eines Vampirs und eines Werwolfs konzentriert, scheint diese Figuren des Transgressiven weder als zu verfolgende und zu vernichtende darzustellen, noch sie zu ignorieren, zu diskriminieren oder lächerlich zu machen, sondern würdigt diese Gestalten, scheinbar an der Strategie V orientiert, als integralen, ja zentralen Teil der Gesellschaft. Bei eingehenderer Betrachtung allerdings zeigt sich, dass diese Integration nur durch einen konzentrierten Gebrauch der ersten douglasschen Strategie, d.h. mittels einer massiven vereindeutigenden Anthropomorphisierung und Normalisierung der Transgressiven, die sie ihrer Unreinheit und Gefährlichkeit beraubt, möglich ist. Werwölfe sind hier nun keine gefährlichen und hässlichen Zwitter- und Zwischenwesen mehr, sondern treten entweder als schöne Männer oder als schöne Wölfe auf, nie jedoch als beides gleichzeitig, und die Vampire, eigentlich untote, blutsaugende Kreaturen der Dunkelheit, werden kristallfunkelnd zu Gestalten des Lichts.
Trotz dieser ambiguitätsreduzierenden Normalisierung könnte man immer noch aufgrund der Integration und Wertschätzung dieser Gestalten vermuten, dass implizit in Twilight wenigstens eine, wenn auch im foucaultschen Sinne normalisierte, Version des Transgressiven im Sinne der fünften Strategie Mary Douglas' integriert wurde. Dass aber auch nicht einmal dies geschieht, sondern es sich hier lediglich um eine, im Jargon der Kritischen Theorie gesprochen, spätkapitalistische Pluralitäts- und Toleranzsimulation zum Zwecke einer rigiden Affirmation der gesellschaftlichen Ordnung handelt, wird mit den folgenden Überlegungen offensichtlich.
Denn zum einen gestalten sich die Genderrollen der Akteure als ausgesprochen konservativ, die Frau erscheint als passiv, emotional und wankelmütig, dümmlich-naiv und schwach, die Männerrollen als stark, klug, bestimmt und aktiv, jegliche Aufweichung der Heteronormativität, wie es in den 1990er Jahren noch ein Film wie Interview with a Vampire (1994) leistete, ist strikt vermieden. Neben der Geschlechterordnung werden auch die Klassenordnung und die rassistische Ordnung affirmiert. Der Unterschichtswerwolf, der zudem einer ethnischen Minderheit, einem Indianerstamm, angehört, hat keine Chance, die weiße Mittelklassefrau zu gewinnen. Nicht zufällig ist er ein Werwolf, was klassistisch die vermeintliche Nähe der Unterschicht und rassistisch die der ethnischen Minderheiten zum Tierischen und zur Natur hervorhebt und durch die besonders körperliche Präsenz des Werwolfs unterstrichen wird. Der im Kontrast vergeistigte, kulturell verfeinerte, blass-weiße Mittelklassevampir hingegen leidet mit bürgerlichen Gewissensqualen, die auf penetrante Art und Weise an Goethes Werther erinnern, an der Frage „Beißen oder nicht beißen“. Insoweit der Biss des Vampirs eine klassische Verhüllung und Andeutung des Geschlechtsakts bedeutet, offenbart dieser Vampir eine geradezu viktorianische Sexualmoral, die in ihrer Verklemmtheit nicht zufällig an die gegenwärtige US-amerikanische sexuelle Enthaltsamkeitsbewegung mit ihren purity rings und virginity pledges erinnert. Der zusätzliche Sieg über die dekadenten adligen Vampire Europas am Ende der Pentalogie bedient ebenfalls klassisch die siegreiche Abgrenzung des neuen bürgerlichen, ‚gesunden‘ Amerikas gegenüber dem alten adligen, dekadent-morbiden Europa. Auf diese Weise werden in der Twilight-Pentalogie im Prinzip alle US-amerikanischen gesellschaftlichen Herrschaftsdistinktionen im Innen und Außen rigide affirmiert, bei gleichzeitiger foucaultscher Normalisierung alles Transgressiven.
Die Twilight-Verfilmungen bieten damit in der Popkultur ein reaktionäres und für gegenwärtige politisch-kulturelle Auseinandersetzungen durchaus einschlägiges Musterbeispiel normalisierender gesellschaftlicher Herrschaft über alle Transgression bei simulierter Transgressionstoleranz und bezeugen gleichzeitig damit die Leistungsfähigkeit der douglasschen Kulturanthropologie für die Analyse von Ekel, Angst und Schrecken.
1 Das Gesellschaftliche meint hier den sozialen, aber auch politischen und ökonomischen, das Symbolische den kulturellen, interpretativen Aspekt einer Gemeinschaft. Diese Scheidung erinnert an die marxistische Distinktion von Unterbau und Überbau, ohne allerdings einem der beiden Aspekte einen Primat einzuräumen.
2 In der Kunst wird dieser Konnex z.B. im Werk des Renaissance-Malers Hieronymus Bosch deutlich, dessen Höllengemälde als religiöse Visionen ebenso wie als kulturelle Horrorphantasien betrachtet werden können.
3 Dass diese Vernichtungsphantasien, wie etwa die Apokalypse des Johannes, selbst alle Grenzen überschreiten und monströsen Charakters sind, zeigt, dass die religiösen Puritaner sich nicht einmal im Versuch seiner Vernichtung dem Transgressiven ganz entziehen können.
4 Am Rande sei vermerkt, dass auch Michel Foucaults Konzept der hétérotopie den Ort der marginal position Douglas bzw. des Liminalen Turners beschreibt. Für Foucault sind Heterotopien „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (Foucault 1967, S. 39), Andersorte, Randorte mithin, in denen sich besonders die von Foucault stets fokussierten gesellschaftlichen Randgruppen bewegen, die aus Sicht Douglas den Status von verachteten und zugleich machtvoll-gefährlichen Tabubrechern innehaben. Und wie Douglas verbindet auch Foucault mit diesen abjekten und liminalen Gruppen die Hoffnung auf kreative Neuschöpfung gesellschaftlicher Ordnungen, falls die Gesellschaft sich für diese Andersorte öffnet, d.h. sie mittels Douglas fünfter Strategie integriert, statt sie zu vernichten.
Literaturverzeichnis
Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bachtin; Michail (1987): Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Douglas, Mary (1966): Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. London: Routledge and Keegan Paul.
Foucault, Michel (1967): „Andere Räume“. In: Karlheinz Barck (Hg.) (1993): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Leipzig: Reclam, S. 39.
Foucault, Michael (2003): Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.
Kafka, Franz (1995): Erzählungen. Ditzingen: Reclam.
Kristeva, Julia (1982[1980]): Powers of Horror: An Essay on Abjection. New York: Columbia University Press.
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Otto, Rudolf (2004): Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Beck.
Sartre, Jean-Paul (1982): Der Ekel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Turner, Victor (1964): „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage”. In: Melford E. Spiro (Hg.): Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Seattle: American Ethnological Society.
Wittgenstein, Ludwig (1984): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Filmverzeichnis
Interview with a Vampire. USA 1994. Regie: Neil Jordan. 123 Minuten.
Twilight. USA 2008. Regie: Catherine Hardwicke. 122 Minuten.
The Twilight Saga: New Moon. USA 2009. Regie: Chris Weitz. 131 Minuten.
The Twilight Saga: Eclipse. USA 2010. Regie: David Slade. 119 Minuten.
The Twilight Saga: Breaking Dawn – Part 1. USA 2011. Regie: Bill Condon. 117 Minuten.
The Twilight Saga: Breaking Dawn – Part 2. USA 2012. Regie: Bill Condon. 116 Minuten.
Autor:in: PD Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg, ist Privatdozent am Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Faculty am Department of Philosophy der University of Massachusetts Boston. Zu seinen beruflichen Stationen gehören Vertretungsprofessuren, Gastdozenturen und Fellowships in Kiel, Hamburg, Wien, Berlin, Prag, Boston und Harvard in den Gebieten Philosophie bzw. Psychotherapie. Er ist Dozent am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Kiel, und Gestalttherapeut in freier Praxis.