Rezension von Malte Kayßers: From the Ethical to Politics. On Deconstruction’s Necessary Leap Toward Immanence in Light of the Other

Hilmar Schmiedl-Neuburg

Y – Z Atop Denk 2022, 2(6), 2.

Abstract: In dieser Arbeit widmet sich Malte Kayßer der Untersuchung der ethischen und politischen Dimension der Dekonstruktion Derridas anhand einer Untersuchung ihrer Bezüge zu Lévinas und Heidegger und ihres Einflusses auf Laclaus politische Theorie.

Keywords: Dekonstruktion, Derrida, Lévinas, Heidegger, Laclau

Artikel als Download: pdfRezension From the Ethical to Politics

 

Alternative facts sind in den letzten Jahren zu einem Schlagwort der politischen Diskussion geworden. Sie stehen für Lügen, Trug und Verschwörungstheorien, die nicht nur die politische Diskussion um gesellschaftliche Streitfragen erschweren, sondern auch vor wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, etwa in der Klimaforschung, nicht haltmachen. Dabei bewegen sich die alternative facts im Spektrum von offensichtlichen und bewussten Lügen, über Verzerrungen, eklatante Vereinfachungen, Unwissenheit, kognitive Denkfehler und Biases bis hin zu elaborierten, wahnhaft anmutenden Verschwörungsideologien und -theorien. Ihr Effekt in der politischen Diskussion ist dabei zumindest ein doppelter. Zum einen unterminieren sie den politischen Diskurs, da dieser idealiter, Jürgen Habermas (2011) folgend, Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit1, voraussetzt. Alternative facts lassen offensichtlich den Begriff der Wahrheit erodieren, aber ihr Relativismus erfasst auch die normative Richtigkeit, ihr oftmaliger Lügencharakter die Wahrhaftigkeit und die häufigen Denkfehler die Verständlichkeit des politischen Diskurses. Zum zweiten erfassen sie auch die Rezeption wissenschaftlicher Befunde und Einsichten im politischen und gesellschaftlichen Diskurs, von der Klimaforschung über die COVID-Forschung bis zur Evolutionsbiologie, da sie den Anspruch der Wissenschaft auf einen privilegierten Zugang zu Wahrheit und Rationalität bestreiten und die Gütekriterien des wissenschaftlichen Forschungsprozesses nicht anerkennen.

Politisch ist die Behauptung von alternative facts ein Phänomen, das, nahezu ausschließlich, mit den neuen rechten Bewegungen der 2010er Jahre verbunden ist, wenngleich es allerdings, etwa in der Abwehr evolutionsbiologischer Einsichten in amerikanischen rechten evangelikalen Kreisen, auch ältere Wurzeln hat. Die schamlosen Lügen der Trump-Administration, die wahnhaften Verschwörungstheorien Q-Anons, die Leugnungen wissenschaftlicher Befunde durch die Regierung Bolsonaros in Brasilien, die fake news des russischen Putinismus, aber auch die Manipulation der Wahrheit durch die britischen Brexiteers, im Regime Chinas oder im indischen Hindunationalismus zeugen von der weltweiten Konjunktur der alternative facts.

Bei der Ursachensuche für dieses Phänomen verorten interessanterweise viele Kommentatoren des Feuilleton die Quellen für die Konzeption der alternative facts allerdings nicht in rechten Diskussionen, etwa faschistisch-esoterischen Verschwörungstheorien, neoliberal-pragmatistischen Auffassungen von Wahrheit als (ökonomischer) Nützlichkeit oder christlich-fundamentalistischen, demokratie- und wissenschaftsfeindlichen Diskursen, sondern im tendentiell linken Diskurs des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion. Hatte sich der klassische Marxismus noch als Wissenschaft verstanden, die objektive Wahrheit kündet, so verschrieb sich die postmoderne Bewegung des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion der Relativierung der Ansprüche auf objektive Wahrheit, die sich aus dem Denken von Aufklärung und Moderne speisten und das moderne Wissenschaftsverständnis informierten. Foucault’sche, Macht und Wissen in ihrer Verwachsenheit aufzeigende Diskursanalysen, ebenso wie Derrida’sche, Begriffe, Begriffsdistinktionen und Theorien erodierende Dekonstruktionen schufen, so diese Feuilletonkommentatoren, ein intellektuelles Klima der epistemologischen, wahrheitstheoretischen, rationalitätstheoretischen, wissenschaftstheoretischen und ontologischen, aber damit auch ethischen und axiologischen Relativierung und Perspektivierung, ein Einfordern  identitätspolitischer Erkenntnisprivilegien und Rücksichtnahme auf identitäre Empfindlichkeiten, kurz, eine Feier inkommensurabler Differenzen von Weltbildern ebenso wie Selbst- und Lebensentwürfen. Dieser Relativismus sei nun von der Rechten politisch unter dem Schlagwort der alternative facts aufgegriffen worden; die linke Postmoderne ernte nun die rechten Früchte ihrer dekonstruktiven Saat.2

Malte Kayßers Buch From the Ethical to Politics. On Deconstruction’s Necessary Leap towards Immanence in Light of the Other (2021)3 nimmt sich kritisch dieser Kommentatorenthese von den dekonstruktiven Wurzeln der rechten alternative facts an. Dazu entfaltet der Verfasser in seiner „Introduction“ luzide und eingehend die obige skizzierte Problematik, insbesondere anhand einer Auseinandersetzung mit Überlegungen Bruno Latours (2004), die von vielen der besagten Feuilletonkommentatoren als philosophische Garanten ihrer These vom Ursprung der rechtspopulistischen alternative facts in Dekonstruktion bzw. Poststrukturalismus generell betrachtet werden. Kayßer streicht dabei neben den genuin philosophischen Aspekten und Problemen dieser These besonders ihre politische Dimension hervor, da diese These in der politischen Debatte zum einen dazu dient, den Fokus linker Politik zu verschieben, weg von differenzbasierten, etwa antirassistischen, postkolonialen, antisexistischen und LGBTIQ-freundlichen Politiken, zurück zu sozialer Arbeitnehmerpolitik für Arbeiter, Kleingewerbetreibende und kleine Angestellte, und zum anderen zudem die Inkommensurabilität dieser beiden linken Politiken behauptet.

Diese einleitende philosophisch-politische Frage wird dann auch wieder rahmenhaft, nun die Befunde des Buches aufnehmend, in der „Conclusion“ desselben aufgegriffen. Kayßer gibt dabei der obigen Kommentatorenthese insoweit recht, dass ein sich missverstehender, da die eigene ethische Grundierung und Intention ausblendender Dekonstruktivismus in der Tat eine Quelle des Denkens der alternative facts sein könnte oder zumindest diesen keinen Widerstand entgegenzusetzen vermag. Paradigmatisch entfaltet der Verfasser diesen Umstand im Kapitel „Ernesto Laclau – Democracy without Foundation“. Da Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes postmarxistische politische Philosophie (Laclau/Mouffe 1991) sich offen als eine politische Umsetzung dekonstruktiven wie grundsätzlich poststrukturalistischen Differenzdenkens versteht, erscheint ihre Analyse von besonderem Interesse für die Bewertung der infragestehenden These. Laclaus und Mouffes theoretisches Projekt einer pluralen, radikalen Demokratie stützt sich neben den Einflüssen der Dekonstruktion Jacques Derridas auf die Hegemonieanalyse Antonio Gramscis, postmarxistische Debatten, das lacanianisch-marxistische Denken Slavoj Žižeks, ebenso wie das Differenzdenken Lyotard’scher und Foucault’scher Diskursanalysen. Im Zentrum dieses radikalen Demokratieprojekts steht die Frage, wie die Einheit eines Gemeinwesens mit der Achtung der radikalen Differentialität der Menschen und Gruppen innerhalb dieses Gemeinwesens vereinbar ist. Hierbei konstituiert sich das Gemeinwesen oder die Bewegung differentiell über einen basalen antagonistischen Gegensatz zu einem Anderen, in dessen Ablehnung, unbeschadet aller weiteren Differenzen untereinander, Einigkeit besteht. Der Antagonismus nimmt dabei signifikativ in der Regel die Form eines leeren Signifikanten an, etwa „Freiheit“, „Gleichheit“, „Sozialismus“ oder „Demokratie“, der den positiven Gegensatz zum Antagonisten bezeichnet und damit hegemonial die Identität des Gemeinwesens produziert und signifiziert. Da die Verständnisse dieses hegemonialen Signifikanten allerdings zwischen den partiellen, radikal-differentiellen Gruppierungen des Gemeinwesens radikal variieren, kann dieser seine Funktion nur durch eine nahezu vollständige signifikative Entleerung erfüllen. D.h. man ist sich etwa im Kampf für die Demokratie gegen die Feinde der Demokratie einig, wenngleich die Verständnisse, was nun denn genau demokratisch sei, radikal differieren. Aus Laclaus und Mouffes Sicht erlaubt dieses Modell politischer Verfassung einen tiefen Respekt vor radikalen Differenzen und eine Hochschätzung differentieller Pluralität, verzichtet im Sinne eines anti-foundationalism auf problematische politisch-philosophische Grundlegungen und erlaubt gleichwohl einen solidarischen Einsatz für die gemeinsame Sache.

Kayßers Analyse zeigt nun luzide, dass das Modell Laclaus und Mouffes, unbeschadet seiner Vorzüge, gleichwohl, ob der Leerheit des transzendentalen Signifikanten und des dekonstruktivistischen anti-foundationalism der Theorie, zu einem politisch-ethischen Relativismus einlädt. Zwar erscheint dem Rezensenten das Laclau’sche Modell aufgrund seiner Achtung der inneren Pluralität und Differentialität der Appropriation durch rechte Diskurse nach wie vor strukturell gewisse ethische Riegel vorzuschieben, doch sind die Familienähnlichkeiten, etwa zu konservativen kommunitaristischen Konzeptionen wie auch zu der anfänglich diskutierten radikal-differentiellen alternative facts-Bewegung zweifelsohne auffällig. Die kayßersche Analyse Laclaus scheint insofern ein ethisches Desiderat in dessen Denken offenzulegen, das es ermöglicht, dass dieses Denken rechten Diskursen, soweit sie nur relativistisch, differentiell-partikularistisch und anti-foundational argumentieren, keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen kann, womit die These vom Ursprung der alternative facts in der Dekonstruktion oder zumindest deren Mitschuld am Entstehen derselben zwar nicht belegt, aber doch um einiges plausibiliert wird.

Ist vor diesem Hintergrund nun der besagten Feuilletonthese rechtzugeben und die Dekonstruktion bzw. der Poststrukturalismus generell des Relativismus zu zeihen und ihm eine Mitverantwortung am Entstehen der rechten alternative facts zu geben? Aus Kayßers Sicht hängt dies davon ab, auf welche theoretischen Quellen sich eine dekonstruktive politische Philosophie bezieht. Für Kayßer lädt das dekonstruktive Denken dann zu einem problematischen Relativismus ein, wenn seine, zumindest implizite, ethische Grundorientierung vergessen wird. Dies geschehe dann, wenn, wie etwa bei Laclau, die ethischen Grundlagen Derridas, die sich vornehmlich dem Denken Emmanuel Lévinas’ verdanken, aus dem Blick geraten und stattdessen nur das in Derridas Werk modifiziert weitergeführte heideggerianische Denken in den Mittelpunkt gerät.

Im zweiten Kapitel „Martin Heidegger – Ethics of the Self“ nimmt sich der Verfasser mithin einer eingehenden Analyse des heideggerianischen Denkens an. Der Fokus liegt dabei auf Sein und Zeit (Heidegger 2006), allerdings wird dieses Werk kenntnisreich und belesen in den Kontext des Gesamtwerkes eingeordnet. In diesen Analysen vertritt Kayßer die Auffassung, Martin Heidegger formuliere eine Ethik des Selbst, die nur an der eigenen, sich vom Man abhebenden Authentizität orientiert ist, und, ob ihrer Egozentrität, keine Notiz vom Anderen nimmt, diesen dabei ignorant verletzt, und zudem die offene, infinite Unbestimmtheit des Seins nichtet und auf bestimmte Auslegungen von sich und Welt einschränkend festlegt. Nun ist es einerseits sicherlich zutreffend, dass die dem und auch vom Dasein ausgelegte Welt das Sein nur auf eine je bestimmte Weise entbirgt und lichtet, was sich als Einschränkung transzendenter Unendlichkeit lesen lassen kann; allerdings verliert eine interpretative Schwerpunktsetzung auf diesen Seitenaspekt aus Sicht des Rezensenten das Anliegen und die Grundstruktur der Seinsphilosophie Heideggers aus dem Blick.4 Dies schlägt sich dann auch in der für Kayßers Auslegung zentralen Interpretation des heideggerschen Seyns als Prozess, der vom Sein zum Seienden führt, der damit verbundenen Begriffsbildung vertikaler Zeit, der zwar nicht falschen, aber zu einfachen und  umstandslosen Identifikation des Seins und des Nichts und, wohl am gravierendsten und folgenreichsten, der Auslegung des Nichtens des Nichts als Nichten des Seins, und zwar nicht als genitivus subjectivus sondern als genitivus objectivus, d.h. nicht als Nichten des Seienden und damit der Welt durch das Nichts, sondern als das Nichten des als Sein verstandenen Nichts durch das Dasein, nieder, die mir Missverständnisse der heideggerianischen Philosophie zu markieren scheinen. Diese mögen zum einen mit der multisprachlichen Figuration des kayßerschen Textes zu tun haben, in dem in deutschem akademischen Stil, allerdings in englischer Sprache, deutsche und französische, mit der Sprache spielende philosophische Texte in ihren englischen Übersetzungen rezipiert werden, was allein durch die damit verbundenen Übersetzungsprobleme verschiedene Deutungsunschärfen mit sich bringt; wohl zum anderen aber auch mit der kayßerschen Auslegung Heideggers am Leitfaden der dekonstruktiven Heideggerkritik Derridas und, noch wirkungsmächtiger, der ethisch-ontologischen Kritik Lévinas’ an Heidegger, da beide die heideggersche Philosophie interpretativ auf je ihre sehr eigene Weise zurichten.

Doch diese Differenzen des Rezensenten hinsichtlich der Heideggerexegese spielen für die grundlegende Argumentation keine entscheidende Rolle. Denn der basale Einwand Kayßers gegenüber Heideggers Position, dass diese den Anderen nicht denkt und somit übergeht und in seiner Andersheit verletzt, ist, unbeschadet obiger Auslegungsdifferenzen, ohne Zweifel ein grundlegender Mangel der heideggerianischen Philosophie, und auch der damit verbundene Vorwurf einer zu starken Zentrierung auf das authentische Subjekt – ohne dass diese Authentizität inhaltlich gebunden wäre – und dessen Auslegung und damit notwendig auch Einschränkung des Seins des Seienden, ist, zumindest für Sein und Zeit, wenn auch wohl nicht für die spätere Seinsphilosophie, zutreffend. Und es sind eben diese berechtigten Einwände die Lévinas, Derrida und Kayßer dazu führen, zentrale Revisionen der heideggerschen Philosophie einzufordern und durchzuführen. Diese Revisionen zielen darauf ab, postheideggerianisch das alteritätsethische Manko der heideggerschen Philosophie zu beheben, ohne allerdings in ein präheideggerianisches Philosophieren zurückzufallen.

Diesem Zweck widmet sich das Kapitel „Jacques Derrida and Emmanuel Lévinas: Ethics by the Other“. In diesem Abschnitt konturiert Kayßer die fundamentale Kritik Lévinas’ an Heideggers Philosophie und skizziert Lévinas’ Gegenentwurf einer Fundierung der Ontologie, und damit auch der Fundamentalontologie Heideggers, in der Ethik und einer Konzeptualisierung der Ethik als Alteritätsethik und Fundamentalphilosophie aus der Erfahrung des Anderen, des begegnenden Du, das einen unverhandelbaren, unbedingten Anspruch an das einzelne Dasein erhebt (vgl. Lévinas 1998, 2002, 2012). In der Begegnung mit dem Du des Anderen erkennt das Dasein, wie es der Unendlichkeit des Seins des Anderen Gewalt angetan hat, indem der Andere so ausgelegt – und damit eingeschränkt – wurde, damit das Dasein sich selbst über den Anderen erkennen konnte. Die Erkenntnis dieses transzendentalen Gewaltaktes, so Lévinas, der das Gesicht des Anderen nach der Auslegung des Daseins zurichtet und limitiert, lässt das Dasein Schuld erfahren, und in dieser durch seine Autonomie verursachten schlaflosen Schuld erlebt das Dasein den unverhandelbaren Anspruch des Anderen in seiner Unendlichkeit, der an den Anspruch des göttlichen Du gemahnt, und so auch seine Ver-Antwort-ung dem Anspruch des Anderen gegenüber. Es gilt, eingedenk dieser Ver-Antwort-ung dem Anderen in seinem Sein nicht transzendentale Gewalt anzutun bzw. dieses nur zu tun, wenn der andere selbst einem anderen Dritten Gewalt widerfahren lässt. Die Autonomieorientierung des Daseins Heideggers und seine Fundierung der Philosophie in Fundamentalontologie sind mithin durch eine heteronome Orientierung am Du des Anderen bzw. am Du und am Dritten zu ersetzen, ebenso wie die heideggersche Fundierung der Philosophie in Ontologie durch eine Fundierung der Philosophie einschließlich der Ontologie in der Ethik.

Diese radikale ethische Anspruch des Anderen informiert, da Jacques Derrida in seiner ethischen Ausrichtung in hohem Maße von Lévinas’ Alteritätsethik beeinflusst ist, auch die Dekonstruktion, wenngleich auf etwas implizitere und vielleicht moderatere Weise, und gibt ihr eine ethische Grundierung und Intentionalität, die auf der einen Seite ob der komplexen dekonstruktivistischen Begriffsvolten und Argumentationen und der Ablenkung der Lesenden durch die philosophische Intrikatheit derselben leicht übersehbar ist – insbesondere in den frühen Werken Derridas, wie der Grammatologie (1983) oder auch frühen Sammelbänden wie Schrift und Differenz (2006) – zugleich aber auch unverzichtbar und entscheidend alle Dekonstruktion leitet, wie es dann explizit und offener in späteren Werken Derridas, z.B. Schurken: Zwei Essays über die Vernunft (2005), deutlich wird, die sich offensichtlicher als die frühen Werke ethisch bedeutsamen Thematiken annehmen. Mit anderen Worten, es gibt aus Derridas Perspektive keine Dekonstruktion, die ethisch neutral oder relativistisch wäre, und bei der Dekonstruktion handelt es sich auch nicht um ein literatur- oder sprachphilosophisches, wissenschaftstheoretisches oder epistemologisches Verfahren, dissoziiert von ethischen Fragen, sondern um eine genuin ethische, genaugenommen alteritätsethische und politische Praxis.

Wenn diese alteritätsethische Grundierung der Dekonstruktion aus dem Blick gerät, wie etwa bei Laclau, dann besteht, so Kayßer, in der Tat das Risiko der Beförderung eines Relativismus, der rechten relativistischen und partikularistischen alternative facts-Diskursen in die Hände spielen kann. Wenn die alteritätsethische Intention und Grundlage der Dekonstruktion und ihre politischen Implikationen allerdings wahr- und ernstgenommen werden, so dass sich bereits im Titel des Buches From the Ethical to Politics. On Deconstruction’s Necessary Leap Toward Immanence in Light of the Other spiegelnde und argumentativ überzeugende Fazit des kayßerschen Werkes, unterbindet dieses nachhaltig und ausnahmslos alle Möglichkeit, die relativierenden, ontologische wie begriffliche Absolutismen und Fundamente subvertierenden Argumentationsstrategien der Dekonstruktion für rechte relativierende alternative facts-Diskurse in Dienst zu nehmen. Ganz im Gegenteil wären diese rechtspopulistischen Diskurse, eben gerade, weil sie Alterität transzendent wie immanent, philosophisch und lebensweltlich gewaltsam vernichten, ein bevorzugtes Ziel zeitgenössischer Dekonstruktion.

 


1 Ich spreche mich zwar nicht für ein habermasianisches Grundverständnis des politischen Prozesses aus, da die Konsensorientierung dieses Denkens subkutan auch eine totalitärhomogenisierende Wirkung entfalten kann. Die Diskurskriterien der Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit erscheinen gleichwohl, zumindest prima vista, als sinnvolle heuristische Leitgedanken in der Analyse und Wertung politischer Diskurse.

2 Politisch schlägt sich diese Auffassung in innerlinken Debatten um die Frage nieder, ob der postmoderne Fokus auf Minderheitenrechte, strukturellen Rassismus und Sexismus, der sich philosophisch u.a. mit auf den Poststrukturalismus stützt, nicht doch wieder durch klassisch-moderne politisch-ökonomische linke Projekte ersetzt werden sollte, also ob, statt sich für Migranten, von Rassismus Betroffene, LGBTIQ, Frauen, Behinderte, psychisch Kranke, Langzeitarbeitslose, Obdachlose etc. einzusetzen, nicht doch der (weiße, heterosexuelle, mittelalte, männliche) Arbeiter, kleine Angestellte oder Kleingewerbetreibende im Mittelpunkt linker Politik stehen solle.

3 Malte Kayßer: From the Ethical to Politics. On Deconstruction’s Necessary Leap Toward Immanence in Light of the Other. Erschienen auf Englisch 2021 bei Bautz, Nordhausen, in der Reihe libri virides, 161 Seiten.

4 Wobei eine solche Fokusverschiebung auf diesen Seitenaspekt der heideggerschen Philosophie vom Verfasser dekonstruktiv durchaus beabsichtigt sein mag.

 

Literaturverzeichnis

Rezensiertes Werk:

Kayßer, Malte (2021): From the Ethical to Politics. On Deconstruction’s Necessary Leap Toward Immanence in Light of the Other. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz

Weitere Literatur:

Derrida, Jacques (1983): Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Derrida, Jacques (2005): Schurken: Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Derrida, Jacques (2006): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (2011): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.

Laclau, Ernesto und Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen Verlag.

Latour, Bruno (2004): „Why has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern“. In: Critical Inquiry 30 (4), S. 225-248.

Lévinas, Emmanuel (1998): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Karl Alber.

Lévinas, Emmanuel (2002): Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Freiburg: Karl Alber.

Lévinas, Emmanuel (2012): Die Spur des Anderen: Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg: Karl Alber.

 

Autor:in: PD Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg, ist Privatdozent am Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Faculty am Department of Philosophy der University of Massachusetts Boston. Zu seinen beruflichen Stationen gehören Vertretungsprofessuren, Gastdozenturen und Fellowships in Kiel, Hamburg, Wien, Berlin, Prag, Boston und Harvard in den Gebieten Philosophie bzw. Psychotherapie. Er ist Dozent am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Kiel, und Gestalttherapeut in freier Praxis.