Ein Interview mit Udo Hock über Jean Laplanche

Interviewee: Udo Hock

Interviewer:innen: Marie Meyer-Sahling und Lutz Götzmann

Y – Z Atop Denk 2025, 5(2), 2.

Abstract: Udo Hock ist Psychoanalytiker in Berlin und Übersetzer sowie Herausgeber der Werke von Jean Laplanche. In einer sehr lebendigen und anschaulichen Weise kommen die zentralen Motive in Jean Laplanches Werk zu Sprache. In einem Interview mit Y am 23.01.2025 erzählte Udo Hock darüber.

Keywords: Laplanche, Allgemeine Verführungstheorie, Quellobjekt, das Sexuale, Mytho-Symbolisches

Copyright: Udo Hock, Marie Meyer-Sahling, Lutz Götzmann | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 28.02.2025

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Wer war Jean Laplanche?

Y: Lieber Herr Hock, wir möchten uns ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie sich Zeit nehmen für ein Interview über Ihr neues Laplanche-Buch: Die rätselhaften Botschaften des Andern, das 2024 erschienen ist. Sie sind Übersetzer und Herausgeber einer Vielzahl von den Werken, die Jean Laplanche geschrieben hat. Vielleicht können Sie uns zu Beginn berichten, wie Sie auf Laplanche gestoßen sind?

Udo Hock: Ja, geben Sie mir etwas Zeit für die Antwort. Das war ein etwas längerer Weg, vielleicht kann man drei Etappen unterscheiden. Ich war als Student sehr angetan von der französischen Philosophie. Der erste, dem ich begegnete, war Michel Foucault. 1984 habe ich dann zufällig im Fernsehen gesehen, dass er gestorben war. Das war eine Zeit, in der keine digitalen Medien existiert haben, es war wirklich reiner Zufall. Dann dachte ich mir, da ich so begeistert war, ich fahre zu seiner Beerdigung nach Paris. Es war eine spontane Entscheidung. Ich bin nach Paris gefahren und habe dort an einer Zeremonie ihm zu Ehren teilgenommen. Sein Leichnam wurde gezeigt, beerdigt wurde er in seiner Geburtsstadt Poitier, und diese Szene war wie eine Urszene für mich, ich habe gesehen, wer da zusammenkam, ich kannte wenige, eigentlich kannte ich eher Yves Montand und Simone Signoret als die Philosophen, die anwesend waren. Später hatte ich erfahren, dass Deleuze die Rede gehalten hat, Deleuze, den ich da noch gar nicht kannte. Und ich ging zurück nach Berlin nach dieser Reise und wusste, da will ich mehr wissen. Dann bin ich 1985/86 nach Paris gegangen als Psychologie- und Philosophiestudent und hatte viele, viele Begegnungen mit französischen Philosophen, die sehr berühmt geworden sind und die es damals auch schon waren, Derrida, Deleuze und Lyotard, und habe eben auch erste Kurse besucht an der Universität in Saint-Denis bei den Lacanianern, zum Beispiel bei Catherine Millot, die ja die Geliebte Lacans war, nachdem sie vorher seine Patientin war. 1986 bin ich nach Berlin zurückgekommen und wusste, die Psychoanalyse, das ist meine Perspektive im Leben. Ich habe diese Perspektive verfolgt und bin damals Lacanianer pur et dur gewesen. Ich habe viele Jahre jeden Tag Lacan gelesen und dann auch meine Diplomarbeit geschrieben über Lacan, über den Traum von Irmas Injektion. Dann stand aber an: Was mache ich mit der Ausbildung? Wo gehe ich hin und ich wusste irgendwie, dass Lacan in Deutschland eine besondere Geschichte ist. Ich war zunächst unentschlossen und habe später entschieden, das ist nicht der Kontext für mich in Deutschland, sodass ich mir schon überlegte, wie kann ich gut meine französischen Interessen weiterverfolgen und doch gleichzeitig zur IPA Zugang finden. Laplanche kannte ich vor allem als Schüler Lacans, der er ja lange Zeit war, und in den ersten Bänden merkt man es auch noch deutlich. Und so kam es, dass ich mich 1991 für die Universität Paris 7 beworben habe und dort eine DEA [Diplôme d’études approfondies] de Psychanalyse gemacht habe. Ich konnte schon wirklich sehr gut Französisch. Dann gab es viele Begegnungen mit Laplanche. Er hatte drei Funktionen inne: Er gab eine Vorlesung („Problématiques VII“), die wir später, also meine Frau Bettina Lindorfer und ich, übersetzt haben: „Ein biologistischer Irrweg in Freuds Sexualtheorie“ (Laplanche 2021). Er war auch Übersetzer des Freud'schen Œuvres. Es gab deshalb einen Übersetzungskurs, und es wurde eben auch ein Doktorandenkolloquium angeboten. Ich habe Laplanche also auf vielfältige Weise kennengelernt, und es entwickelte sich sehr schnell eine bestimmte Nähe. Er hat mich zu sich in seine Wohnung, Rue de Varennes eingeladen, die neben dem Musée Rodin gelegen ist, in der gleichen Straße. Ich konnte auf seinem Computer die digitale Version von Freuds Werk benutzen, um alle Textstellen zu markieren, in denen von Wiederholung und Wiederholungszwang die Rede ist. Das war mein Dissertationsthema, Wiederholung – Wiederholungszwang – Todestrieb und ab da waren wir im Gespräch. Bald kam es dann auch zur ersten Übersetzung: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse (Laplanche 2005). Ab da waren wir in einem stetigen Austausch, am Ende zwanzig Jahre lang.

Y: Wie war Laplanche als Mensch, als Kollege?

Udo Hock: Er war auf jeden Fall eine Autorität. Es war damals zwar schon sein letztes Uni-Jahr. Er hatte viele Doktoranden aus vielen Ländern, viele aus Südamerika, und dieses Doktorandenkolloquium war wahrscheinlich für mich das Wichtigste, weil man hier auch die Psychodynamik, die man zu ihm unterhielt, am besten erkennen konnte. Er war schon darauf aus, dass seine Allgemeine Verführungstheorie verbreitet wird, insbesondere durch diejenigen, die bei ihm eine Doktorarbeit durchführten. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht an dem Punkt, um das unterschreiben zu können. Ich hatte meine Interessen, die weiter gestreut waren als nur Laplanche, ich war auch bei Jacques-Alain Miller 1991/92 und bei Samuel Weber – also ich hatte die verschiedenen Schulen nebeneinander kennengelernt, die dekonstruktivistische, die lacanianische und eben Laplanche. Ich wollte mich nicht für Laplanche alleine entscheiden müssen. Das hatte eine gewisse Konflikthaftigkeit nach sich gezogen – aber im Nachhinein würde ich sagen, dass es eine ganz gute Entscheidung war, zu sagen, ich bleibe erstmal bei meinen eigenen Interessen. Hätte ich ihn gefragt, ob er auch in meine Doktorandenkommission kommen würde, ich glaube, er hätte „Ja“ gesagt. Aber ich hatte einige von den Disputationen in Paris miterlebt und fand sie eher schwierig. Diese Erfahrung hat mich davon abgehalten, da stärker einzusteigen. Er war nicht nur eine Autorität, sondern auch etwas autoritär, aber auch sehr kollegial. Er hat mir von Anfang an den Weg zu sich geebnet, das war recht einfach.

Y: Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch, dass Laplanche zwei Standorte hatte, zwei Schwerpunkte in seinem Leben, wo er wohnte. Sein Weingut, also sein Chateau im Burgund und dann eine, wie Sie sagen, ziemlich schöne und elegante Wohnung in Paris. Ich musste an Harold Searles denken, der ja aus der Natur kam, in der Natur aufgewachsen ist. Und sich immer sehr mit Natur beschäftigt hat, d. h. mit der Umwelt und mit Dingen. Kann man sagen, dass sich in irgendeiner Form diese Polarität zwischen Paris und dem Burgund in Laplanches Denken niederschlug?

Udo Hock: Ich finde Laplanche, ich kannte ja viele Autoren, Philosophen und auch Analytiker, und ich finde Laplanche war in seinem Denken eigentlich der Klarste von allen. Er war nicht zu haben für die zu rhetorischen Texte, die andere viel mehr produziert haben als er. Er war ja schon ein Mann der Wissenschaft – Psychoanalyse als Wissenschaft, das würde er immer unterschreiben. Inwieweit da auch diese Verankerung in der ländlichen Umgebung wichtig war, darüber können wir nur spekulieren. Aber es war wirklich sehr ländlich, wo er gewohnt hat, es gab eigentlich nur Weinbauern in seiner Heimatgegend, er war kein Mann der Pariser Intelligenzia, die die ganze Zeit miteinander im Austausch gewesen war. Er war schon ein singulärer Typ, der übrigens auch nicht zu seiner Psychoanalytischen Vereinigung eine besonders enge Beziehung gehabt hatte. Er war natürlich Teil seiner Generation, Pontalis war lange Zeit sein Freund. Aber er war schon eine besondere Gestalt. Eigene Theorie, eigener Landsitz, relative Klarheit und übrigens auch ein sehr bürgerliches Leben im Gegensatz zu den anderen, die ich kennengelernt habe.

 

Die anthropologische Grundsituation und die Allgemeine Verführungstheorie

Y: Vielleicht können Sie von da ausgehend beschreiben, was Laplanche unter der anthropologischen Grundsituation versteht?

Udo Hock: Ja, das ist in gewisser Weise der Gegenbegriff zum Ödipuskomplex. Die anthropologische Grundsituation besagt, dass es – egal wo wir sind, egal in welchem Land, egal in welcher Zeit, egal in welcher Staatsverfassung wir leben – immer diese Grundsituation gibt, dass ein Erwachsener und ein Kind zusammenkommen. Diese Beziehung lässt sich so definieren: Der Erwachsene hat ein Unbewusstes und das Kind hat kein Unbewusstes. Genauso konkretistisch stellt sich Laplanche das vor, und darüber gibt es eine ganz besondere Form der Kommunikation, eine asymmetrische Kommunikation. Es gibt vom Erwachsenen ausgehend rätselhafte Botschaften und die Aufgabe des Kindes ist es, diese rätselhaften Botschaften zu übersetzen. Das betrifft immer exklusiv den Bereich des Unbewussten. Auf der Seite der Selbsterhaltung gibt es natürlich viele Veranlagungen des Kindes, da braucht es den Erwachsenen nicht, da braucht es keine Botschaften, damit überhaupt so etwas entsteht wie Reifung usw. Aber auf dem Gebiet des Unbewussten gilt diese Formel: der Erwachsene hat ein Unbewusstes und das Kind es am Anfang noch nicht. Darüber entsteht eine bestimmte Dynamik, die er dann als Allgemeine Verführungstheorie ausformuliert hat.

Y: Wie ist die Situation dann pränatal? Da hat sozusagen das Ungeborene noch kein Unbewusstes, kann man das so sagen?

Udo Hock: Pränatal hat der Fötus für Laplanche kein Unbewusstes. Es gibt kein pränatales Unbewusstes, kein angeborenes Unbewusstes, keine Phylogenese – das nimmt er eigentlich nur kritisch auf und versucht andere Wege zu finden, um zu erklären, was im Rückgriff auf diese Begriffe bei Freud erklärt wird.

Y: Wie kam Laplanche dazu, den Ödipus-Komplex zu relativieren und von dieser Theorie, dass bereits das Kind über eine Sexualität verfügt – eine von Freuds Grundideen – wegzukommen?

Udo Hock: Also der entscheidende Text sind sicher die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Freud 1905a), und diesem vorgelagert ist natürlich Freuds eingeschränkte Verführungstheorie. Das sind die beiden Kerngedanken, die er gegeneinanderstellt. Er sagt, bei Freud – ich glaube, da gibt es keinen Zweifel – ist die infantile Sexualität irgendwie auch konstitutionell, das kann man einfach an sehr vielen Stellen lesen. In dieser ursprünglichen Verführungstheorie hatte Freud noch gemeint, dass die Psychopathologie darauf gründet, dass es eine Verführung durch einen erwachsenen Anderen gibt. Man muss dazu sagen, Freud hatte da noch keinen Begriff von der infantilen Sexualität. Es ging wirklich, wenn man genau in die Texte schaut, es ging um die genitale Sexualität seitens des Erwachsenen. Es ging eigentlich um Missbrauch. Er hat diese Überlegungen dann verworfen und eine endogene Theorie entwickelt. Das betont Laplanche und führt dafür gerne Zitate Freuds aus den Fließ-Briefen an.

Y: Also Freud entwarf eine endogene Theorie der kindlichen Sexualität.

Udo Hock: Genau, der kindlichen Sexualität und potenziell auch von der Psychopathologie, das ist zu diskutieren. Wie entstehen Neurosen? Wie entstehen Psychosen? Laplanche war nicht zufrieden mit dieser Wende und hat diese drei Abhandlungen durchgeforstet, über Jahrzehnte! Es ist unglaublich, wie oft er sie gelesen und neu über sie geschrieben hat. Und am Ende hat er gesagt, ich sehe keinen Grund anzunehmen, dass es eine konstitutionelle, d. h. eine angeborene infantile Sexualität gibt. Er war ja sehr wissenschaftlich. Er hat gesagt: „Zeigt mir Bücher, wo sie beschrieben steht“, z. B. bei den Pädiatern, in der Sexualmedizin. Er meinte, es gibt nichts, was sozusagen ein Beweis dafür wäre, dass die infantile Sexualität letztlich angeboren ist. Und so hat er jetzt eben eine neue Theorie der infantilen Sexualität begründet, die eben über die Allgemeine Verführungstheorie läuft. Er sagt, die infantile Sexualität entsteht durch die Konfrontation des Kindes mit dem erwachsenen Anderen, der eben rätselhafte Botschaften aussendet und das Kind vor eine unlösbare Aufgabe stellt, weil diese Botschaften nicht hinreichend gut übersetzbar sind. Er sagt dann, dieser Übersetzungsvorgang besteht aus zwei Teilen: Einem übersetzten Teil und einem nicht übersetzten Teil. Der nicht übersetzte Teil bildet das, was er dann das verdrängte Unbewusste nennt und mit der infantilen Sexualität sozusagen eng zusammenführt. Also das verdrängte Unbewusste ist für Laplanche ganz lange fast synonym mit der infantilen Sexualität, das wüsste ich jetzt nicht sofort zu belegen, aber das ist meine Erfahrung mit seinen Texten. Es gibt keinen großen Unterschied zwischen infantiler Sexualität und verdrängtem Unbewussten. So gibt es eine Neukonstitution der infantilen Sexualität in der Allgemeinen Verführungstheorie.

Y: Also die frühkindliche Sexualität, die infantile Sexualität bei Laplanche, ist das ein anderer Begriff als bei Freud? Wird Freuds Konzeption der infantilen Sexualität von Laplanche verworfen, oder wird sie aufgenommen – und dann gibt es dieses Primat des Anderen, das eingeführt wird und der infantilen Sexualität vorausgeht...

Udo Hock: Genau, also die eine Frage kann man schnell beantworten. Die Konzeption der infantilen Sexualität wird auf keinen Fall verworfen, sie steht vielmehr im Zentrum seiner Theorie. Nur – das stimmt schon: Sie wird über dieses Primat des Anderen neu gedacht, das gibt es ja bei Lacan auch. Die Formeln gleichen sich fast, aber die Ableitung ist natürlich eine ganz andere. Das Primat des Anderen und die infantile Sexualität hängen insofern zusammen, als z. B. die Triebobjekte, der Objektbegriff bei Laplanche zusammengeht mit dem Begriff der Triebquelle. Das nennt er dann Quellobjekt. Das Quellobjekt ist die Quelle der infantilen Sexualität, und das wird wiederum eng geführt mit Freuds Begriff des Fremdkörpers. Quellobjekte sind sozusagen innere Fremdkörper, die eine Quelle von Erregung sind und die Aufgabe von Kindern wie auch Erwachsenen ist es, mit diesen Regungen in irgendeiner Form umzugehen. Das ist die Umschreibung der infantilen Sexualität bei Laplanche, insofern sie über den Anderen konzipiert wird. Quellobjekte nehmen im Anderen ihren Ausgang.

Y: Könnte man sagen, das Quellobjekt ist das Lacan'sche Objekt klein a?

Udo Hock: Einfache Antwort: Ja. Es gibt sogar Stellen, wo Laplanche sagt, dass sich Quellobjekt und Objekt klein a miteinander vergleichen lassen. Die gemeinsame Schnittmenge ist grösser als der Unterschied.

Y: Sie schreiben in Ihrem Buch über die Anlehnung. Könnte man diese auch so verstehen, dass sich die Sexualität des Anderen, also die unbewusste, an die Selbsterhaltungstriebe des Kindes anlehnt, und daraus dann das sexuelle Unbewusste des Kindes entsteht?

Udo Hock: Also auf jeden Fall kann ich Ihrer Idee etwas abgewinnen. Laplanche hat ja die ganze Bindungstheorie abgelehnt und doch zugleich eingebaut. Die Bindungstheorie ist auf der einen Seite ein Werkzeug gegen das Denken des Unbewussten, aber gleichzeitig ist es der Weg, damit überhaupt rätselhafte Botschaften übermittelt werden können. Und da ist das ganze Pflegeverhalten zentral. Also insofern ist es überlegenswert, inwieweit sich die infantile Sexualität des Erwachsenen sozusagen anlehnt an das Pflegeverhalten und in dieser etwas komplexen Situation dann auch so etwas wie die neue infantile Sexualität des Kindes entsteht. Das ist schon ein wichtiger Punkt, dass die Freud'sche Anlehnungstheorie einerseits verworfen wird, aber in gewisser Weise über die Bindungstheorie auch wieder eingebaut wird.

 

Der perverse Vater und die Väterätiologie

Y: Vielleicht können Sie dies auch mithilfe des Begriffs der Väterätiologie etwas ausführen?

Udo Hock: Also der Begriff der Väterätiologie, der stammt aus meinem Aufsatz über den perversen Vater (Hock 2024, S. 71-98). Das sprengt übrigens die Theorie von Laplanche. Die Väterätiologie war ein Bestandteil der frühen Verführungstheorie Freuds, ohne dass er sie in den offiziellen Texten ausgearbeitet hätte. Aber diese Fließ-Briefe sind die Quellen, um über die Väterätiologie mehr lesen zu können. Das heißt im Kern, dass der perverse Vater die Tochter missbraucht, verführt und dadurch neurotisiert. Das nennt Freud an manchen Stellen seiner Korrespondenz mit Fließ Väterätiologie. Und man muss dazu sagen, dass Freud dann gerätselt hat, dass es gar nicht so viele perverse Väter geben kann, wie es neurotische Kinder gibt, und das kann man ja bis in die Gegenwart verlängern. Ich persönlich fand dieses Argument immer ganz überzeugend. Es mag schon mehr Missbrauch geben heute wie damals, als ans Licht kommt, aber ausschließlich durch Missbrauch kann man meines Erachtens nicht die Entstehung von Neurosen oder andere psychopathologische Erkrankungen erklären. Aber das ist sehr präzise Freuds Väterätiologie. Sie bedeutet, der Vater missbraucht seine Tochter.

Y: Ich frage mich, ob dann der reale bzw. tatsächliche Missbrauch der Tochter auch eine rätselhafte Botschaft ist, oder ob diese Handlung eben keine Botschaft ist.

Udo Hock: Auf diese Frage ist Laplanche in seinen späten Texten zurückgekommen. Wie ist das eigentlich mit dem realen Missbrauch? Was bedeutet dieser Missbrauch innerhalb seiner Theorie? So viel Rätsel ist da ja erstmal nicht dabei. Der Erwachsene befriedigt sich genital, indem er Kinder zu seinen Objekten macht. Also der Rätselcharakter ist nicht so hoch. In gewisser Weise zeigen ja solche Missbraucher ihr Begehren ganz direkt. Insofern ist das kein Proto-Beispiel für eine rätselhafte Botschaft, sondern eher für eine fast unübersetzbare Botschaft, also für eine Botschaft, die so traumatisierend ist, dass eine Übersetzung kaum möglich ist. Ich würde in diesem Fall nicht von einer rätselhaften Botschaft sprechen. Natürlich kann man immer überlegen, welche Pathologie hinter einem missbrauchenden Erwachsenen steckt. Aber im Akt selbst ist weniger Rätsel als in den klassischen Beispielen: Die stillende Mutter, sie übermittelt etwas von ihrer eigenen Lust. Der strenge Vater, der die Kinder maßregelt und dabei abgleitet ins Sadistische und so weiter. Freud hat da ja auch überall etwas dazu geschrieben, das sind eher klassische rätselhafte Botschaften. Ein Text übrigens, den Laplanche daraufhin auch nochmal durchdekliniert hat, ist die Arbeit über Leonardo da Vinci (Freud 1910) – dieser Geier, der in der Kindheitserinnerung Leonardos auftaucht, das ist eine klassische rätselhafte Botschaft, die dann im Text decodiert wird.

Y: Wir sind ja beim Anderen inzwischen angekommen, und ich hätte gern im Zusammenhang mit der Väterätiologie nachgefragt: Gibt es nicht auch eine Mütterätiologie? Gibt es nicht auch die perverse Mutter?

Udo Hock: Also unbedingt, da bin ich völlig einverstanden. Das war schon auch eine gewisse historische Situation, in der Freud seine Ideen formuliert hat, und in gewisser Weise haben die Theorien ja viele Wendungen erlebt. Ich glaube sogar, dass bei der kleinianischen Theorie die Perversion wahrscheinlich viel stärker über die Mutter als über den Vater erklärt wird. Ganz klar, das ist schon historisch zu relativieren, was Freud da gesagt hat. Aber vielleicht darf ich noch mal auf meinen Text Der perverse Vater (Hock 2024, S. 71-98) hinweisen, der mir persönlich sehr wichtig ist. Es gibt eben doch diese Figur des perversen Vaters in den Gesellschaften. Insbesondere in den totalitären Gesellschaften und vielleicht auch in jeder Gesellschaft, finden wir perverse Väter. Schauen wir einen Trump oder Putin an – ich meine, das ist auch ein perverses Spiel, das da getrieben wird. Ich finde, der Begriff ist da nicht zu weit ausgedehnt. Ja, die Leute unterwerfen sich, weil Trump wie Putin so viel Macht haben. Keiner sagt, was er denkt, und wenn einer sagt, was er denkt, muss er Angst haben, dass er sozusagen abgesetzt wird. Ich will damit sagen, dass dieser Begriff eine große gesellschaftliche Resonanz in meinem Denken hat, auch wenn er als ätiologischer Faktor zu relativieren ist.

Y: So dass das Sexualisierte in diesen Auftritten von Trump und Musk in dem Moment eigentlich rätselhafte Botschaften sind, um die Massen zu verführen?

Udo Hock: Also, ich würde diese Idee auf jeden Fall verfolgen wollen. Wenn wir als Analytiker aufgefordert wären, über Trump etwas zu sagen, dann würde ich sagen, das stimmt. Wir sollten von rätselhaften Vaterbotschaften ausgehen, die ins Perverse abgleiten. So könnte man diese Figur angehen und wäre sicher in unserem Feld und doch auch im Politischen.

 

Der Andere und seine rätselhaften Botschaften

Y: Und wer ist der Andere bei Laplanche?

Udo Hock: Darauf kann man eine erstmal sehr präzise Antwort geben: Jeder Erwachsene kann im Prinzip der Andere sein. Also, natürlich zunächst einmal sind dies Vater und Mutter, dann aber auch die Pflegepersonen und überhaupt alle Personen, die im Umfeld von Kindern eine gewisse Bedeutung haben. Laplanche will hier weg von der ödipalen Verwandtschaftsätiologie „Vater – Mutter – Kind“. Er fand den Aufsatz von Ferenczi (2019 [1933]) über die Sprachverwirrung ganz gut. Da geht es nicht um Vater und Mutter, sondern um Erwachsene und Kinder – das fand er vorbildlich. Der Andere für Laplanche ist der Andere, der ein Unbewusstes hat und mit diesem Unbewussten in den Nähebereich von Kindern hineinragt. Also schon weiter weg von dem Lacan'schen Begriff des Anderen, der viel struktureller gedacht ist.

Y: Wie ist das dann in der analytischen Praxis? Könnte der Psychoanalytiker oder die Analytikerin diese Position des Anderen einnehmen? Und wenn er oder sie das tut, werden dann auch rätselhafte Botschaften an den Analysanten oder die Analysandin gesendet?

Udo Hock: Ja, Sie lachen, aber genauso wird es gedacht! Also ganz klar, der Analytiker sitzt auf dem Sessel des Anderen, könnte man sagen – auf dem Sessel des großen Anderen. Im Deutschen sieht man ja dem Wort nicht an, ob es groß oder klein geschrieben ist. Es wird ja eigentlich klein geschrieben. Wenn man „das oder der andere“ großschreibt, ist das eigentlich grammatikalisch falsch, aber wir haben ja bestimmte Freiheiten im Deutschen und ich muss Ihnen das kurz sagen, Laplanche mit seiner Freudliebe sagte dann: Udo, regarde, hier schreibt Freud Andere groß, er fand das bemerkenswert, weil das eine Aufforderung war, den Begriff des Anderen neu zu denken. Ja, also der Analytiker sitzt am Ort des Anderen, und tatsächlich ist für ihn, für Laplanche, die Analyse auch eine Verführungssituation. Das ist die Blaupause. Er denkt tatsächlich die analytische Situation in ähnlichen Kategorien, und sagt, der Analytiker sendet durch seine spezielle Art der Kommunikation dem Patienten oder derb Patientin rätselhafte Botschaften, die im analytischen Prozess zu übersetzen sind. Und er erneuert damit diese ursprüngliche anthropologische Situation. Also die analytische Situation wird sehr stark vom Anderen ausgedacht. Le transfer, sa provocation par l´analyste heißt ein Aufsatz (Von der Übertragung und ihrer Provokation durch den Analytiker, Laplanche 2005, S. 177-201). Der Analytiker provoziert die Übertragung durch seine besondere Art des Seins im analytischen Prozess.

Y: Axel Honneth schrieb über die Anerkennung, dass in der französischen Kultur der Andere vor dem Hintergrund des Königs zu sehen ist, der da zwar geköpft wurde, aber immer noch eine mächtige, unbewusste Figur ist. Also, dass der Andere eine wesentlich stärkere Stellung hat als zum Beispiel in der deutschen Philosophie, etwa bei Hegel und der wechselseitigen bürgerlichen Anerkennung. Könnte es sein, dass diese französische Akzentuierung auf den Großen Anderen etwas ganz Typisches ist, auch für den Unterschied zwischen der französischen und der im weitesten Sinne deutschen Psychoanalyse. Oder der angelsächsischen?

Udo Hock: Also ich finde diese Frage wirklich interessant, auch Macron ist ja gleichsam ein petit roi und hat eine ganz andere Position inne als unser Scholz. Das ist wirklich eine andere Figur. Es gibt ja Zwischenschritte zu diesem Anderen über Hegel und Kojève und eben denjenigen, die dann weitergedacht haben – aber wir müssen da gemeinsam spekulieren. Aber es stimmt schon, diese Grande Nation hat schon auch große Andere, wenn man so will, die irgendwie einen anderen Status haben als unsere. Nennen wir sie Politiker-Väter, das ist interessant, da ist die Asymmetrie auch im Staatswesen viel größer als bei uns.

Y: Und so auch in der analytischen Theoriebildung?

Udo Hock: Ich meine, Laplanche – also nochmal zu der Frage, wie war er eigentlich? Man muss jetzt nicht nach Frankreich gehen, um autoritäre Analytiker kennenlernen zu wollen. Aber Frankreich hat schon große Namen hervorgebracht, die zumindest nach 1945 in Deutschland nicht mehr aufgetaucht sind – vielleicht mit Ausnahme von Mitscherlich. Wir sind jetzt doch in Deutschland viel stärker beim Intersubjektivismus gelandet. Selbst Lacan hat ja von der Intersubjektivität gesprochen, wenn auch in einem anderen Sinne. Er hat sogar den Terminus überhaupt erst in die Debatte in den 50er Jahren eingeführt.

 

Das Sexuale und das Sexualprimat

Y: Laplanche sagt, die rätselhafte Botschaft sei sexueller Natur. Wäre es nicht denkbar, mit oder ohne Laplanche, dass die rätselhafte Botschaft auch nicht-sexueller Natur sein könnte, also beispielsweise, wenn ein Elternteil depressiv ist und sich abwendet? Könnte diese nicht auch eine Botschaft an das Unbewusste des Kindes sein?

Udo Hock: Ja, da ist er sehr apodiktisch, also sehr streng mit dieser Überlegung, dass das Rätsel mit dem sexuellen Unbewussten des Erwachsenen zu tun hat, das ist ja die Formulierung. Natürlich hängt ganz viel auch daran, wie man dieses Sexuelle definiert. Das ist ja eine schwierige Aufgabe. Insofern könnte man Ihre Frage natürlich auch an Freud stellen. Ist jetzt Depressiv-sein etwas Nicht-Sexuelles? Oder ist es vielleicht die Negation von sexuell? Also ich glaube, das sollte man nicht alleine Laplanche aufbürden, sondern gemeinsam nachdenken, wie wir heute zu dieser These stehen, dass es ein Sexualprimat im Unbewussten gibt. Freud spricht bis in die späten Schriften von dieser Idee, dass das Symptom eine Ersatzbefriedigung von sexuellen Wünschen sei, die anders keinen Weg zur Darstellung fänden. Bis in die späten 30er Jahre, etwa im Abriss der Psychoanalyse (Freud 1941, S. 63-140). Also da müssen wir Freud hinzunehmen und sollten Laplanche nicht alles aufbürden. Vieles hängt eben auch an der Frage: Wie finden wir eine gute Definition des Begriffes der Sexualität? Laplanche hat den Vorschlag gemacht, das Wort Sexual zu schaffen, über das ich oft nachgedacht habe, und ein Aufsatz in meinem Buch handelt nur vom Sexualen (Hock 2024, S. 53-70). Meine Idee dazu war ja eine Besonderheit der deutschen Sprache zum Anlass zu nehmen, um über das Sexual nachzudenken, da in unserer Gegenwart Sexual nur als Kompositum vorkommt: Sexualobjekt, Sexualtheorie usw. Ich habe davon abgeleitet, auch Sexual kommt nur im Kompositum vor. Also sprich, die Mutter säugt das Kind, das ist jetzt kein Sexualakt. Aber es gibt etwas Sexuales in diesem Akt des Stillens. Das finde ich wirklich sehr verführerisch, vor allem auch deshalb, weil wir ja wissen, dass die sogenannte orale Zone, an die wir weiter glauben sollten, im Erwachsenenleben der Konfliktort par excellence ist: im Rauchen, Trinken, im Nicht-Essen, im Zuviel-Essen, im Küssen, Lieben. Also, das Orale ist eine Konfliktzone ersten Ranges.

Y: Und das Sprechen...

Udo Hock: Ja, das Sprechen! Hier brauchen wir den Begriff der Nachträglichkeit. Er erklärt, dass der Stillvorgang am Anfang noch selig zu sein scheint, dann aber ganz schnell abgleitet ins Konflikthafte und sich diese Konflikthaftigkeit erst viel, viel später in unseren oralen Konflikten in ihrer ganzen Massivität zeigt. In dieser Oralität hat sich der Stempel des Anderen aufgedrückt. Das ist das Problem! Nicht die orale Konstitution, wie Freud manchmal sagt, etwa bei Dora (in seiner Arbeit Bruchstück einer Hysterie-Analyse, Freud 1905b). Können Sie da gut mitgehen? Also wir sollten wirklich Freud auf der Spur bleiben und wirklich auch die Spuren des Sexuellen in der Pathologie unserer Patienten suchen, und uns nicht zu schnell in andere Gefilde begeben. Zum Beispiel, indem wir fragen, was die Depression mit Sexualität zu tun hat. Oftmals gibt es manifeste sexuelle Symptome in der Depression, z. B. das zwanghafte Masturbieren. Es ist zwar libidinös keine Objektwahl mehr möglich, aber auf einer anderen Ebene ist die Anspannung so groß, dass die Sexualität mit Händen zu greifen ist.

Y: Ihre Hypothese ist, dass sich das menschliche Leben um das Sexuelle, genauer gesagt, um das Sexuale organisiert?

Udo Hock: Genau! Auch beim Arbeiten müssen wir auf das Sexuelle schauen, d. h. auf die Sublimierungsleistung, die im Arbeiten vollbracht wird und ja oftmals dazu führt, dass da gar kein Platz mehr ist für eine genitale Sexualität. Die berühmten Fälle: Man schreibt eine Dissertation und hat keine Reserve mehr für eine objektbezogene Sexualität. Das finde ich ein interessantes Phänomen, das mich immer wieder dazu ermutigt, diesem Sexualprimat im Unbewussten die Treue zu halten. Darf ich einen Satz noch dazu sagen – ich glaube ja, dass es schon eine psychische Leistung ist, wenn wir uns im Sexualprimat befinden, weil das Arbeit ist, diese infantile Sexualität im gemeinsamen Prozess herzustellen. Das Schwierigere ist wahrscheinlich, wenn es gar nicht dazu kommt, dass die Zonen einen sexuellen Impact haben, also wenn der Körper nicht libidinös besetzt wird. Also wo es die psychische Arbeit nicht geschafft hat, libidinöse Bindungen herzustellen. Dann herrscht ein Jenseits des Lustprinzips. Da gibt es eine Rigidität, die ich auch jenseits des Sexualprimats ansiedeln würde. Ist das zu kompliziert?

Y: Ich habe tatsächlich eine Verständnisfrage. Könnte man also sagen, das Sexual bezeichnet das ins Unbewusste verdrängte Sexuelle – aber in einem Begriff sozusagen.

Udo Hock: Da würde ich mitgehen.

Y: Beziehungsweise das Unbewusste ist das sexuell Verdrängte?

Udo Hock: Ich glaube, es ist sehr nah beieinander, aber hundertprozentig geht das bei Laplanche in diese Richtung: Die beiden Begriffe haben eine hohe Schnittmenge.

Y: Was ja heißen würde, das Sexuelle und das Unbewusste kann bei diesem Begriff nicht getrennt gedacht werden.

Udo Hock: Bei dieser Konzeption ist das so.

Y: Und das Reale – ist das nicht das eingeschlossene Unbewusste Laplanches?

Udo Hock: Ich habe ja vor zwei Jahren einen Text geschrieben: Ist Freuds Psychoanalyse eine Theorie der Repräsentation oder des Realen? (Hock 2022). Da habe ich diesen Gedanken aufgenommen, ich finde den Begriff des Realen wirklich durchaus produktiv. Wie er mit der Sexualität verkoppelt ist, das ist natürlich eine Frage, die ich so schnell jetzt nicht beantworten kann. Aber auf jeden Fall sind das Reale von Lacan und das eingeschlossene Unbewusste von Laplanche Nachbarbegriffe. Ich glaube, man müsste nochmal im Detail nachdenken, wie nachbarschaftlich diese Begriffe tatsächlich sind, aber ich würde sie auf jeden Fall zusammendenken. Das Reale Lacans wie das eingeschlossene Unbewusste Laplanches tauchen weniger in der neurotischen Entstellung auf, sondern eher halluzinatorisch, oder als Dekompensation. Mein Kollege Christoph Dejours arbeitet sehr stark über die Psychosomatik. Er konzeptualisiert das eingeschlossene Unbewusste ganz stark über schwere Krankheitsausbrüche oder somatische Dekompensation, ich glaube, das kann man gut mit le réel von Lacan verbinden, auch wenn Dejours nicht so wie Sie und auch ich eine Verbindung zu Lacan zu schlagen versucht.

Y: Das wäre ja die gleiche Verwandtschaft wie zwischen Quellobjekt und Objekt klein a.

Udo Hock: Ich kann's nur nochmal sagen: So sehr sich Laplanche von Lacan ja faktisch abgewendet hat, so sehr ist Lacan eine Quelle der Inspiration geblieben. Und warum auch nicht? Wer Lacan gut gelesen hat, weiß einfach, dass man damit nicht aufhören sollte, auch wenn man nicht sofort in die Lacan-Schule gehen muss. Aber ich glaube, für Laplanche ist Lacan schon eine entscheidende Quelle für sein Denken geblieben, das ist in der Theorie spürbar. Ich wüsste jetzt nicht, wenn ich eine Gegenfrage stellen darf, wie das eigentlich mit dem Sexualprimat bei Lacan ist. Ob ihn das nicht so interessiert, ob es da einfache oder schwere, komplexe Antworten gibt – darf ich mal eine Frage zurückstellen?

Y: Vielleicht, dass die körperlichen Triebe zunächst im Realen sind, und die imaginäre und symbolische Repräsentanz dann das Sexuelle umfasst, das verdrängt ist oder nicht verdrängt ist. Das verdrängte Sexuelle wäre dann das Sexuale. Ein Primat des Sexualen ließe sich wohl an den Formeln der Sexuierung ablesen – mit der Vorstellung der Kastration und des phallischen bzw. unendlichen Genießens, welche die gesamte Subjektivität strukturieren.

Udo Hock: Aber in dieser Antwort sind sie ja auch nah bei Laplanche. Da gibt es, so mein Eindruck, nicht die ganz großen Unterscheidungen.

 

Nicht übersetzen heißt im Trauma bleiben

Y: Wir würden gerne auf die Frage der Übersetzung kommen. Es handelt sich ja um ein Schlüsselbegriff in Laplanches Denken. Laplanche hat Freud übersetzt, Sie haben Laplanche übersetzt und gleichzeitig gibt es diese rätselhaften Botschaften des Erwachsenen, die vom Kind übersetzt werden. Wie kann man sich eine Übersetzung aus dem eingeschlossenen Unbewussten ins Bewusstsein vorstellen? Und was bedeutet eine scheiternde Übersetzung?

Udo Hock: Das sind schon schwierige Fragen. Insbesondere die erste Frage, die Übersetzung vom eingeschlossenen Unbewussten aus. Die Übersetzung erfolgt ja immer irgendwie ins Vorbewusste – wohin sonst? Ich glaube, dass der analytische Prozess von Laplanche im Prinzip so gedacht wird, dass er das Medium bereitstellt, um neue Übersetzungen oder vielleicht sogar erste Übersetzungen anstellen zu können. Wobei die Aufgabe der Übersetzung immer die des Patienten ist. Des Analysanten. Für Laplanche ist es die Aufgabe des Analytikers zu ent-übersetzen. Das heißt, ein Narrativ gemeinsam mit dem Patienten aufzutrennen. Die Unterscheidung zwischen Übersetzung aus dem eingeschlossenen und dem neurotischen, verdrängten Unbewussten ist nicht so einfach. Aus dem eingeschlossenen Unbewussten eine neue Übersetzung, eine erste Übersetzung anzufertigen, das zeigt sich durch relativ extreme Manifestationen im analytischen Prozess. Vielleicht durch Agieren oder vielleicht wirklich durch vorübergehende Symptomverstärkung, wo man vielleicht neues Material erhält, um etwas zu übersetzen, gemeinsam, was vorher nicht übersetzbar war. So stelle ich mir das vor, aber ich bin tastend. Der Begriff taucht übrigens auch sehr spät bei Laplanche auf, das eingeschlossene Unbewusste. Die Verdrängung, das ist das Versagen der Übersetzung, sagt Freud. Das heißt, man kann mit dem, was an einen herangetragen wird, einfach nicht arbeiten. Es ist eine totale Überforderung, wie wir sie ja manchmal auch noch im Erwachsenenleben haben. Dadurch, dass vielleicht eine zu große Angst im Spiel ist, oder die Erfahrung traumatisierend ist. Man sollte zur Illustration den Begriff des Traumas hinzunehmen. Beim Trauma ist die Übersetzungsmöglichkeit minimal. Denken Sie an die Träume. In den traumatischen Träumen kommt es zu einem Vorgang des Mentalisierens; immerhin träumt man es ja, aber es bleibt so nah am Realgeschehen und wiederholt sich unendlich mit einem unverrückbaren Affekt, so dass man kaum von Übersetzung sprechen kann. In den entwickelteren Träumen funktioniert die Traumarbeit nach anderen Gesetzen. Es kommt zu Entstellungen aller Art. Das ist dann rätselhafter, d. h. es ist weniger nachvollziehbar, aber es ist eben doch auch eine Übersetzungsarbeit, die geleistet wird. Je näher der Traum am Realgeschehen bleibt, desto geringer ist die Symbolisierungs-Übersetzungsleistung des Träumers. Desto weniger kommt es zu einer Wunschbefriedigung in den Träumen, meine ich. Es kommt nicht dazu, dass die Wünsche über die Traumarbeit entwickelt werden.

Y: Was ist dann, wenn eine Übersetzung überhaupt nicht gemacht wird, zum Beispiel im Gegensatz auch zu einer scheiternden Übersetzung vielleicht, die ja eher neues Material hervorbringt.

Udo Hock: Also ich finde die Frage ist jetzt mit der Referenz auf das Trauma nicht so schwer zu beantworten. Nicht übersetzen, heißt im Trauma bleiben. Ich habe einmal einen öffentlichen Fall, einen spektakulären Fall aufgegriffen, als eine Gefängnisleiterin von einem Gefangenen vielfach vergewaltigt wurde, und damit auch an die Öffentlichkeit gegangen ist, vor ein paar Jahren. Sie hat wirklich alles versucht, um aus diesem Raum des Traumas herauszukommen. Am Ende gab es einen Film im ZDF, 20.15 Uhr, ganz bekannte Schauspieler, aber im Laufe dieser Realisierung des Filmes hatte sich diese Gefängnisleiterin umgebracht. Da würde ich sagen, es gab vielfache Übersetzungsversuche. Sie war im Fernsehen, man kann das im Internet nachhören und -sehen, aber da würde ich sagen, da war die Übersetzungsleistung nicht groß genug, um weiterleben zu können. Ist das ein gutes Beispiel?

Y: Ja, danke für Ihr Beispiel. Kann man dann sagen, dass wenn man sich im Raum der nicht gemachten Übersetzung befindet, dass man sich eigentlich auch wie im Traumatisch-Realen befindet?

Udo Hock: Ja, das finde ich eine gute Formulierung, weil – für diese Frau gab es das andere Leben nicht mehr, es gab nur noch das Reale des Traumas, das sie da erlebt hat, und das heißt, dass sie überlebt hat – und dann eben doch nicht. Ich finde den Begriff des Realen passend. Das Reale ist ja dann irgendwie auch ein psychisches Reales, was aber so im Außen ist, dass man denkt, das ist jetzt mein Leben und nicht die Erinnerung. Das ist ja der Clou an dieser Formel von Lacan, real heißt, es ist zwar außen, aber es ist zu 100 % psychisch. Das ist die Schwierigkeit, das Reale gut zu verstehen, etwas ist 100 % psychische Realität und zugleich draußen, das kann die Hölle sein, glaube ich.

Y: Könnte man in dem Zuge sagen, dass Übersetzen Durcharbeiten ist?

Udo Hock: Nein. Das Durcharbeiten ist ein ganz spezifischer Begriff bei Freud, der in diesem Dreischritt auftaucht: Erinnern, wiederholen, durcharbeiten. Und das ist wichtig, weil die Wiederholung dem Durcharbeiten vorangeht. Das Übersetzen ist in gewisser Weise ein besserer Umgang mit den rätselhaften Botschaften als die Wiederholung. Freud verknüpft hier das Durcharbeiten und die Wiederholung untrennbar miteinander. Das Übersetzen würde ich eher mit dem Erinnern verbinden. Wir erinnern, machen Erinnerungsfehler, aber glauben doch, dass wir ein gutes Narrativ für unser Leben finden, das wäre eher das Übersetzen, okay? Aber das Durcharbeiten ist der dritte Schritt, wenn dann in der Übertragung einfach die Dinge sich nochmal mit dem Analytiker abspielen und irgendwie nicht zu Ende gehen wollen, wie es ja leider Gottes in Analysen oft der Fall ist, dass man auch in der Wiederholung verbleibt, ohne zum Durcharbeiten vorzustoßen.

Y: Sie sind Übersetzer aus dem Französischen ins Deutsche, man könnte ja sagen, dass Sie französische Wörter in Ihrer Tätigkeit als Übersetzer durch deutsche Wörter ersetzen.

Udo Hock: Ja.

Y: Ich frage mich, ob es da Hinweise gibt, wie Laplanche sich das Übersetzen der rätselhaften Botschaft in etwas Bewusstes vorgestellt hat.

Udo Hock: Also, Laplanche hat ja an manchen Stellen wirklich über das linguistische Übersetzen gesprochen, um das psychische Übersetzen zu demonstrieren. Und da geht er zum Beispiel zurück auf Texte, wie Luther oder besondere Bibelübersetzungen, wo er sagt, bestimmte Übersetzer haben es geschafft, erst einmal eine Schicht herunterzunehmen von einer bestehenden Übersetzung, um, sagen wir mal, mehr an die Quellobjekte heranzukommen. An die Quelltexte! Das ist übrigens eine sehr konkrete Vorstellung, wie sich Laplanche das auch im psychischen Apparat vorstellt. Der Analytiker muss zusammen mit dem Patienten versuchen, sozusagen Übersetzungsschichten abzutragen, die zu viel Geröll mittransportiert haben, das eigentlich den Zugang zu den Quellobjekten, Quelltexten verstellt. Die Arbeit des Analytikers ist es eben, diese Geröllschichten abzutragen, um an die Quellobjekte, sprich Quelltexte, heranzukommen. Insofern gibt es konkrete Vorstellungen von Laplanche, wie Übersetzung zu verstehen ist. Die Dekonstruktivisten würden wahrscheinlich sagen: Gibt es denn überhaupt diese Quellobjekt? Meine Antwort ist: Nicht in der originären Version. Das ist das berühmte Beispiel vom Wolfsmann (Freud 1918). Freud wollte wirklich zum Quellobjekt, sprich der Urszene, vorstoßen. Diese Urszene lässt sich durchaus als Quellobjekt betrachten. Aber wir kennen alle die Schwierigkeiten, die Freud hatte, dieses Quellobjekt zu finden bzw. es zu rekonstruieren. Vielleicht ist es am wichtigsten, eine Ethik des Spurensuchens an den Tag zu legen, d. h. zusammen mit dem Patienten wissen zu wollen, wie es um das eigene Unbewusste steht. Aber um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Die Übersetzung vom Französischen ins Deutsche oder auch seine Freud-Übersetzung ins Französische hat Laplanche immer im Hinterkopf, wenn er über die Übersetzung spricht.

Y: Das ist ja sehr nah an Freuds Konzeption von der analytischen Technik, wo er das Bild von da Vinci erklärt, von der aufdeckenden und abdeckenden Technik (Freud 1910).

Udo Hock: Sie spielen auf die beiden Techniken des Bildhauers bzw. Malers an…

Y: Per via di porre, per via di levare…

Udo Hock: Genau, da würde Freud auch dazu sagen, der Analytiker arbeitet wie der Bildhauer: Er nimmt weg, er gibt nicht dazu, wie es der Maler tut. Dieses Bild ist passend, auch wenn ich nicht weiß, ob er sich darauf bezieht, aber hundertprozentig Laplanche: Wegnehmen, nicht hinzusetzen! Keine neuen Narrative, das sollen die Analysanten machen.

Y: Vielleicht kann ich an der Stelle kurz anschließen: In einer Fußnote erwähnen Sie, dass Laplanche Hermeneutik und Psychoanalyse gegenüberstellt, als Gegenteile und ich habe mich gefragt, gut, dann ist die Analyse eine Zerlegung. Aber da bleibt ja dann etwas bei dieser Zerlegung, vielleicht das Objekt, und was passiert damit, also wird das nicht dann doch wieder im hermeneutischen Sinne ausgelegt?

Udo Hock: Einfache Antwort, Laplanche sagt: Die hermeneutische Arbeit macht dann der Patient. Wir zerlegen, der Patient setzt zusammen. Er macht neue Narrative, neue Auslegungen. Unsere Aufgabe als Analytiker ist eher die Zerlegung. Da gibt es das berühmte Beispiel der Chemie: Wie in der Chemie werden die einzelnen Elemente auseinandergenommen, wobei die analytische Situation das Medium erzeugt, in dem dieser Vorgang überhaupt erst möglich ist, diese Zerlegung. Also die analytische Situation funktioniert wie ein chemisches Experiment, wo bestimmte Stoffe und Materialien erhitzt werden, damit sie in ihre Einzelteile zerlegt werden können. So ist dies auch bei Freud und Laplanche. Nur sagt Laplanche: In den schwereren Pathologien müssen wir auch übersetzen. Wir müssen helfen, dass die Patienten aus diesem zerstückelten Zustand herausfinden. Deswegen teile ich Laplanches Position nicht rückhaltlos, wenn er sagt, der Analytiker ent-übersetzt und der Patient übersetzt. Ich glaube, es ist komplizierter. Aber er gibt manchmal klare Lösungen vor, das ist gut fürs Denken, man kann sich daran abarbeiten.

Y: Es gibt ja die Vorstellung, dass in der Psychoanalyse vor allem gedeutet wird, das würde der Sichtweise Laplanches entgegenstehen?

Udo Hock: Nein, das würde dem nicht entgegenstehen. Freud sagt an x Stellen, Psychoanalyse ist eine Deutungskunst. Da sagt Laplanche, man deutet eher auf etwas hin, also dieses Deuten, dieses Deiktische ist gemeint, und weniger, dass neue Narrative gebaut werden. Das Deuten als praktische Aktivität finde ich deswegen gut, weil man dann eher sagt: Kann das denn stimmen, was Sie mir sagen? Also dieses Staunen über das Gesagte, auch weil eine scheinbare Kohärenz eher verbirgt, dass da noch andere Impulse, Wunschregungen im Spiel sind.

Y: Deuten heißt dann zeigen und nicht auslegen.

Udo Hock: Zeigen, nicht auslegen, man sollte es nicht zu viel auslegen. Ich bin kein Freund allzu klarer technischer Vorgaben, aber es geht um eine Tendenz, das finde ich schon ganz wichtig.

Y: Bei Lacan heißt es irgendwo, an das Reale heranführen. Ich vermute das Zeigen und das Heranführen sind verwandt.

Udo Hock: Das ist denkbar, „an das Reale heranführen“, so heißt es auch bei Leclaire. Das berühmte Buch aus den 60er Jahren hieß ja Démasquer le réel (dt. Leclaire, 1976). Immer dieses „dé“ – démasquer, découvrir – „dé“ ist die Vorsilbe im Französischen für die Arbeit am Unbewussten, so wie im Deutschen z. B. das „ver“ in den verschiedenen Fehlleistungen, aber auch in den Abwehrvorgängen wie Verdrängen, Verleugnen, Verschieben usw.; darauf sollte man immer achten. Die De-konstruktion bei Derrida geht in die gleiche Richtung – genau wie die „détraduction“, die „Entübersetzung“ bei Laplanche. Das „dé“ ist gut, um über das Unbewusste zu sprechen. Das finde ich hilfreich.

Y: Vielleicht wie ent-ziffern, ent-decken…

Udo Hock: Genau, das „dé“ und das „ent“ sind neben dem „ver“ die Silben, die am meisten miteinander verwandt sind. Ich habe ja über den Begriff der Entstellung besonders gearbeitet und der heißt im Französischen ja auch déformation oder défiguration, das sind zentrale Wörter zur Beschreibung des Unbewussten, finde ich.

 

Das Mytho-Symbolische

Y: Wollen wir noch über das Mytho-Symbolische sprechen?

Udo Hock: Ja, das ist ein ganzer Aufsatz, den ich diesem Begriff gewidmet habe (Hock 2024, S. 131-146). Da bin ich auch für eine einfache Lösung. Der Begriff Mytho-Symbolisch besteht aus zwei Wörtern: dem Mythischen, also dem Mythos und dem Symbolischen, dem Symbol. Beide Begriffe entlehnt Laplanche dem Text Freuds. Das Symbolische in diesem Kontext ist sehr stark an den Symbolismus im Traum angelehnt. Also es gab ja diese Jahre, in denen die Analytiker-Generation nach symbolischen Gleichungen gesucht hat: Der Schirm ist der Phallus. Das Zimmer ist die Frau. Das gibt es alles in der Traumdeutung, ein Kapitel heißt Die Darstellung durch Symbole im Traume (Freud 1900, S. 355-409). Da sagt Laplanche, da nehme ich Abstand davon, obwohl diese Texte in einer bestimmten Epoche geschrieben wurden und wirklich interessant sind. Laplanche nimmt davon Abstand, weil er findet, da geht es nicht ums dynamische Unbewusste. Hat eine Ursprache noch etwas mit Verdrängung zu tun? Das ist das Symbolische, und auch dem Mythos gegenüber ist er kritisch – obwohl es ja viele Fürsprecher des Begriffs des Mythos auch in Deutschland gibt, z. B. in der Dialektik der Aufklärung – Logos und Mythos gehen dort ein dialektisches Verhältnis ein. Laplanche meint, dass der Mythos eher ein Narrativ sei, dass Mythen gesponnen werden, um sozusagen das Verdrängte verdrängt zu halten. Die Mythen helfen uns nicht so sehr, das Verdrängte zu heben, als das Verdrängte in der Verdrängung zu bewahren. Sodass er diesen Begriff von Mythos, diesen Begriff von Symbol nimmt, zusammenschiebt und sagt, das Mytho-Symbolische hat nichts mit dem verdrängten Unbewussten zu tun, sondern hilft uns eher die Welt zu verstehen. Wir machen unsere Alltagsmythen und bilden Narrative, die in der Wirklichkeit die eigenen Wünsche und Triebregungen im Verborgenen behalten.

Y: Dann wäre der Ödipus-Komplex ein Mythos der psychoanalytischen Praxis?

Udo Hock: Ödipus ist auch ein Mythos. Übrigens, als er das das erste Mal gesagt hat, hat Laplanche wirklich Angst vor der Reaktion der Kollegen gehabt. Er hat diese These im Kreis seiner Freunde durchgespielt – ich würde sagen, es dauert ja lange, bis er etwas wirklich öffentlich sagt. Da gibt es ein paar frühere Quellen, die dann später wieder aufgenommen werden. Ich denke, es ist eher in den späten Neunzigern und dann in den 00er Jahren, dass er diesen Gedanken ausformuliert. Es ist ja wirklich eine heilige Kuh, die er da geschlachtet hat. Selbst meine Freunde, die Laplanche nahestehen, sprechen weiterhin vom Ödipus-Komplex – auch wenn es eigentlich in seinen Augen eher ein Narrativ ist, um die eigene Geschichte erträglicher und verständlicher zu machen.

Y: Für den Psychoanalytiker hieße das ja auch, dass er selber schon ein Narrativ über den Patienten hat und dass er dieses auf dem Patienten stülpt – und die freie Assoziation darunter auch verschwindet?

Udo Hock: Würde ich genauso auch sehen, ja. Wobei wir ja versuchen durch Ausbildung, Supervision, Intervision diese Narrative im Zaum zu halten. Aber es gibt klassische Beispiele, wo Freud ödipal deutet und sagt: „Sie werden nie mehr einen Mann so lieben wie mich.“ Anna Koellreuther (2010) hat ja ein Buch herausgegeben über ihre Großmutter, die bei Freud in Analyse war, und die Protokolle ihrer Großmutter wurden dann von ihr veröffentlicht – 80, 90 Jahre später, und da kann man solche Deutungen von Freud lesen, die natürlich auch Narrative sind, also das ist nicht alles vom Sprechen der Patienten abgehört. Das ist schon auch sehr theoriegeleitet, was Freud teilweise gemacht hat.

Y: Wie Melanie Klein.

Udo Hock: Wie Klein, ja.

 

Laplanches Bedeutung

Y: Wir haben noch eine Frage zum Abschluss unseres Interviews: Wie sehen Sie die Bedeutung von Laplanches Werk – in Deutschland, in Frankreich und auch in der Zukunft?

Udo Hock: Letztlich bin ich ja der Einzige in Deutschland, der diese Sache wirklich kontinuierlich vorangetrieben hat mit Übersetzung und der Herausgabe, daraus ist ein Wahnsinnserfolg entstanden. Laplanche wird so oft zitiert, auch wenn er nicht so viel gelesen, wie er zitiert wird. Insofern bin ich jetzt nicht der Beste, um die Zukunft vorauszusehen, was sein Werk anbelangt. Ich glaube, was wirklich seinen großen Wert ausmacht, ist seine Verständlichkeit. Man kann sich an ihm abarbeiten. Er ist insofern auch ein Anti-Lacan, und er hat einfach klargestellt, das ist nicht meine Art des Schreibens. Ich will, dass die Leute klare Positionen vorfinden, wenn sie meine Texte lesen. Ich glaube, deshalb wird auch die Zukunft von Laplanche andauern, man kommt an ihm nicht vorbei, um zu eigenen Positionen zu gelangen. Er war ja in Frankreich nie so beliebt, wie er berühmt war. Er hat nicht so viele Schüler gehabt, die Pariser Laplanche-Community ist sehr klein. Manchmal denke ich mir, es gibt eine einzige wichtige Person – und das ist Christoph Dejours, wir sind auch in der Stiftung, die Jean Laplanche gegründet hat, eine kleine Gruppe, die relativ tatkräftig war und ist, aber ich bin erstaunt, was daraus entstanden ist. Auch bei uns in der Psyche gibt es viele Texte, die sich auf Laplanche beziehen, so dass manche sagen, lasst uns nicht zu viel zu Laplanche veröffentlichen. Denn er ist gerade auch in der Gendertheorie sehr präsent durch seinen, ich nenn es mal Anti-Biologismus, aber da müssten wir jetzt ein neues Thema aufmachen...

Y: Lieber Herr Hock, wir danken Ihnen für das Interview!

 


Literaturverzeichnis

Ferenczi, Sandor (1967 [1933]): „Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind“. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 21, 256-265.

Freud, Sigmund (1900): „Die Traumdeutung“. In: Gesammelte Werke. Bd. 2/3.

Freud, Sigmund (1905a): „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. In: Gesammelte Werke. Bd. 5, S. 27-145.

Freud, Sigmund (1905b): „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“. In: Gesammelte Werke. Bd. 5, S. 161-286.

Freud, Sigmund (1910): „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“. In: Gesammelte Werke. Bd. 8, S. 127-211.

Freud, Sigmund (1918): „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“. In: Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 27-157.

Freud, Sigmund (1941): „Abriss der Psychoanalyse“. In: Gesammelte Werke. Bd. 17, S. 63-140.

Hock, Udo (2024): Die rätselhaften Botschaften des Andern. Zum Werk Jean Laplanches. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Hock, Udo (2022): „Ist Freuds Psychoanalyse eine Theorie der Repräsentation oder des Realen?“. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 9/10, S. 790-824. DOI 10.21706/ps-76-9-790.

Koellreuher, Anna (2010): „Wie benimmt sich der Prof. Freud eigentlich?“: Ein neu entdecktes Tagebuch von 1921 historisch und analytisch kommentiert. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Leclaire, Serge (1976): Das Reale entlarven. Walter-Verlag: Olten.

Laplanche, Jean (2005): Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial Verlag.

Laplanche, Jean (2021): Ein biologistischer Irrweg in Freuds Sexualtheorie. Gießen: Psychosozial-Verlag.

 

 

udo hock

Interviewee: Udo Hock, Dr. phil., ist Psychoanalytiker (DPV/IPV) in eigener Praxis in Berlin. Er ist Mitherausgeber und Übersetzer des Werks von Jean Laplanche auf Deutsch, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Fondation Jean Laplanche und Autor zahlreicher Publikationen zur Freud’schen Metapsychologie.

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Interviewer:in: Marie Meyer-Sahling studierte Kulturwissenschaften und Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg, war Veranstalterin im ArchipelagoLab und Organisatorin des Feminist Futures Salon 2021 in Hamburg. Heute lebt sie in Berlin und studiert Psychotherapiewissenschaften an der SFU Berlin.

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Interviewer:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa/IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.

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