Stille und Einsamkeit
Ute Müller-Spieß
Y – Z Atop Denk 2025, 5(1), 1.
Abstract: Chantal Akerman war kein agierender, politischer Mensch, sie war vorsichtig und in ihren Antworten oft ratlos. Verließ sie jedoch die Bühne ihres Lebens auf der anderen Seite, wenn sie manisch erkrankte, wie 1984 in Paris, wurde sie aktiv. Sie stellte einen Antrag an Amnesty international mit dem Ansuchen 10000 sozialistische Juden nach Israel zu holen, um dort Frieden herzustellen. In psychisch ausgeglichener Verfassung nahm sie bis zuletzt keine runde Stellung, drückte jedoch Hoffnung aus auf eine friedliche, sozialistische Lösung dort drüben unten in Là bas. Sie überließ die Verantwortung denen, die dort leben. Es sei zu kompliziert. Im „Pyjamainterview“ vom 15. Juli bis 6. August 2011 sagte sie, sie habe nie in Israel gelebt – und spricht die Israelkritiker:innen auf deren Ahnungslosigkeit an. Das war 2011.Von der unsagbaren und sich jeder Vorstellung entziehenden Katastrophe im Oktober vorigen Jahres wusste sie noch nicht, hier kommt ein Reales hinzu, das sich jeder Fassung entzieht. Ein Loch. Es war das Licht in Tel a viv, das sie zu ihrer Reise verführte. Die Farben zwischen hereinbrechender Dunkelheit und letzter Sonnenkraft, diese Lücke, dieser Spalt, diese Ruhe im Raum faszinierten sie. Und – sie kritisiert die ungebrochene antisemitische Haltung der auf Sympathie setzenden Linken Europas.
Keywords: Gesetz der Mutter, Phantasma der Mutter, Übergangsobjekt, Heimweh, Schweizer Krankheit
Copyright: Ute Müller-Spiess | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.01.2025
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„Da gibt es nichts zu sagen.“
„Da ist kein Loch in meinem Stoff, das zu reparieren wäre, der ganze Stoff meines Seins ist marod.“
„Mir ist kalt, ich habe Hunger.“
(J’ai faim, j’ai froid 1984)
Die belgische Filmemacherin und Schriftstellerin Chantal Akerman beschreibt und inszeniert in ihren Filmen – insbesondere in Aujourd’hui dis-moi (1980) und No Home Movie (2015) – die Beziehung zu ihrer Mutter Natalia, von der sie sich nie lösen konnte. Akerman vermittelt in ihrem Werk, welches Genießen die Bindung an das mütterliche Phantasma birgt.
Während ihrer Arbeit liegt sie in allen Städten in den jeweiligen Hotelbetten, um ,behaust‘ zu sein, um sich in dieser, wie verschluckten Stille, der Mutter nicht zu weit entfernt zu fühlen.
Bei Chantal Akermans Trauerfeier betonte die Rabbinerin Delphine Horvilleur, dass sich Leben und Tod in ihren Filmen eher befruchten als ausschließen, dass Depression und Manie, Heiterkeit und Komik, Selbstmord und Gewalt bei ihr in einem Dialog stehen (vgl. Michaela Ott 2020).
Ihr gesamtes Werk ist von Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen durchzogen – allesamt Briefe ihrer Mutter und ihrer Großmutter mütterlicherseits, die die Shoah nicht überlebt hatte.
Sowohl ihre Mutter Natalia als auch ihre Großmutter litten zeitlebens an nostalgischem Heimweh. Beide sehnten sich nach der verlorenen Heimat Polen, jenem Land, das von Belgien aus betrachtet ,drüben auf der anderen Seite‘ lag. Ihre Nostalgie hatte aber auch eine zeitliche Dimension: die Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der Zeit vor dem Krieg, als alles noch anders gewesen war. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit wog noch schwerer, ja sie raubte ihnen förmlich den Verstand.
Nur das Phantasma konnte den Schmerz lindern und ein wenig erträglicher machen.
Es ist ein Phantasma mit unscharfen Konturen und seltsamen Farben, das in den außergewöhnlichen Filmen von Chantal Akerman auftaucht. Und immer ist da ihre Mutter, sind da all die Mütter, bei denen sie Zuflucht findet. Aber sie treten in keinen Dialog, sie sind einfach da. Punkt.
Akermans Position erinnert an Jean-Jacques Rousseau, der ebenfalls eine tief verwurzelte Sehnsucht nach seiner Schweizer Heimat in sich trug: ein Heimweh, das sich außerhalb von Raum und Zeit, rahmenlos im Nichts verlor, unstillbar. Zwischen Naturerkundung und philosophischer Reflexion benennt Rousseau (1762) dieses Gefühl in seinem Contrat social1 als Urschrei der Entfremdung (aliénation).
Fast scheint es, als sei Chantal Akerman selbst nie ins Leben eingetreten, als habe sie gar kein Leben gehabt, nicht einmal ein noch so gewöhnliches. Außer in ihren Filmen. Und so lebte sie durch Stellvertreterinnen, durch all die Mütter und Großmütter. Selbst abwesend. Abwesend durch eine diffuse Nostalgie.
Den Mangel auf sich zu nehmen, war ihr fremd. Winnicott würde den Platz, den Akerman einnahm, als Übergangsraum bezeichnen, eine Art Wachtraumzustand (Winnicott 2020, S. 295). Laplanche wiederum würde von einem „eingekapselten Unbewussten“ (inconscient enclavé) sprechen – ein Unbewusstes außerhalb des Namens-des-Vaters, „ein Ort des Stillstands […], aber auch ein Ort der Erwartung, eine Art ›Fegefeuer‹ für Botschaften im Wartezustand.“ (Laplanche 2004, S. 905). Fort. Da.
Sag mir, wo kann ich mir begegnen.
In Akermans Filmen taucht ein gleichsam geographischer wie psychischer Topos auf: ihr locus natalis und locus naturalis. Nach Aristoteles und seiner Topik hat jeder materielle Körper seinen eigenen Ort, unabhängig von seiner Lage und Ausrichtung (thesis) (vgl. Prantl 1854).
Chantal Akermans locus naturalis, der auch ihr locus natalis ist, offenbart sich in ihrem Film No Home Movie (2015) in den Gesprächen, die sie bei ihrem letzten Besuch in Brüssel mit ihrer Mutter führte.
„Ich bin zu allem bereit, Chantal“, sagt die Mutter, „aber erzählen kann ich nicht. Sonst werde ich verrückt. Es ist mir unmöglich, etwas darüber zu sagen. Da gibt es nichts zu sagen.“
In einem ihrer ersten Filme, Saute ma ville (1968), sehen wir, wie Chantal Akerman den Gasherd anstellt, einen Brief ihrer Mutter verbrennt und dann alles in die Luft sprengt: sich selbst, ihr Apartment, das Wohnhaus, die ganze Stadt. Das ist ihre Antwort an eine Mutter, die nichts erzählt.
J’ai faim, j’ai froid (1984) dreht sich um die unaufhörliche Suche nach Essen, das, einmal gefunden, geradezu verschlungen wird. Hier offenbart sich eine Leere, die von einem unbeschreibbaren, unsagbaren, nicht annehmbaren Realen und der Unmöglichkeit eines Rückzugsortes zeugen könnte. Gerade dieser Leere entspringt Chantal Akermans ankerloses Imaginäres, dem es am Gewicht des Realen fehlt.
Erst als das Wort der Mutter die Sache benennt und damit einen Stepppunkt setzt, trifft sie auf sich selbst. Und dann kann es passieren, dass sie in einen manischen Zustand verfällt, in einer passage à l’acte den Schauplatz verlässt und sich ins Reale stürzt. Dazu kam es erstmals 1984, als sie psychisch erkrankte und die Manie sie vor dem Loch der Depression bewahrte: Barfuß rannte sie durch die Straßen von Paris.
Ohne die Arbeit, befruchtet durch das Da der Mutter, kann sie nicht leben: „Ich frage mich, was ich jetzt, wo meine Mutter nicht mehr da ist, noch zu sagen habe.“ In Bezug auf sich selbst hält sie fest: „Da gibt es nichts zu reparieren. Der ganze Stoff meines Seins, alles, was es ausmacht, ist marod“ (Hogg u. Roberts 2019, S. 53 ff.).
Die Mutter ist die Wortträgerin (Aulagnier 1975, S. 72), sie ist es, die das mütterliche Gesetz, ihre Lalangue, die ersten Worte mit ihren Äquivoken in das Leben des Kleinkindes einschreibt. Äquivoke, die uns von da an begleiten, ohne dass wir sie je abstreifen könnten. Im Gegenteil: Alle Versuche, sich davon zu lösen, sind zum Scheitern verurteilt – die Trennung ist unmöglich. Diese Versuche werden sich vielmehr unendlich oft wiederholen, wie Geneviève Morel in Bezug auf Marcel Proust anmerkt, der seine Mutter zehnmal, ja zwanzigmal um einen Gutenachtkuss anflehen konnte (Morel 2017, S. 7-8). Es ist die Nostalgie des Kindes, das im Da des Gutenachtkusses das unwiederbringlich verlorene Objekt wiedererlangen will. Ein unnachgiebiger Wiederholungszwang lässt ihn immer wieder das Genießen jener Befürchtung erleben, man könnte ihm die Locken abschneiden. Die Kraft des Triebes macht es ihm schließlich unmöglich, dem Phantasma der Mutter und dem Gesetz der ersten Worte zu entwachsen.
In Seminar V betrachtet Lacan das Gesetz der Mutter als etwas Selbstverständliches, da die Mutter ein Wesen der Sprache ist. Es ist jedoch ein unkontrolliertes Gesetz (ebd. S. 19 ff.). Geneviève Morel erweitert den Begriff und macht daraus das Gesetz der ersten Worte, der Äquivoke. Dabei wird nicht kommuniziert, sondern eher zitiert. Dieses Gesetz, das mit dem Genießen der Mutter, ihrem Begehren und Leiden in Verbindung steht, wird sich von da an ins Unbewusste des Subjekts einschreiben (ebd. S. 26 ff.).
Wie kann ein Kind die Trennungsangst überwinden? Genügt es, den Kastrationskomplex anzunehmen? Nicht immer gelingt das.
Es gibt einerseits den Signifikanten der Abwesenheit, das Fort der Mutter, das den Mangel einführt, und andererseits das Da der konkreten Worte, das ein Zuviel an Anwesenheit bedeuten kann.
Lacan zufolge lädt das Ideal-Ich zu einem grenzenlosen Genießen ein, und zwar in dem Sinne, dass der infans, der sich im Spiegel erblickt, der Vorstellung erliegt, eine Totalität zu sein. Die andere Seite des Über-Ichs, das Ich-Ideal, fordert hingegen eine Grenze ein, ein Anhalten des Genießens: die Kastration, durch die das Kind in eine Kultur, d. h. in die symbolische Ordnung, eintritt.
Chantal Akerman hört zu wie eine Analytikerin. Sie ordnet oder strukturiert nicht. In ihrem Film Dis-moi (1980) lässt sie Mütter und Großmütter zu Wort kommen. Dabei wird sie ständig zum Essen aufgefordert: „Wenn du nichts isst, höre ich auf zu sprechen“, sagt ihre Mutter. Und so isst sie ,Latkes‘, wie in einer Art Kommunion mit dem, „was vom jüdischen Tisch übrig ist“ (Hogg u. Roberts 2019).
„Da gibt es Nichts zu erzählen, sagte meine Mutter, und es ist dieses Nichts, an dem ich mich abarbeite. Ich bereite mich auf ihren Tod vor.“
Wie, wird sie gefragt: „Ich versuche, mir mein Leben ohne sie vorzustellen. Und ich denke mir: Es wird schon gehen. Oder auch nicht. Aber es heißt, man kann sich ohnehin nicht wirklich darauf vorbereiten, also verschwende ich nur meine Zeit. Meine Mutter hat so eine Lebensfreude.“
„Und du?“
„Keine Ahnung“ (Akerman 2022, S. 71, 96).
Chantal Akerman erweckte den Eindruck, als könne sie überall zu Hause sein. Dem war aber nicht so. Tatsächlich fühlte sie sich in Paris und New York zu Hause.
Im Film Là-bas (2006) verlässt sie praktisch nicht das Bett. Das drüben bzw. dort unten des Titels bezieht sich auf Israel, während es für ihre in Brüssel lebende Mutter Polen und die Lager sind.
Von ihrem Bett aus richtet sie die Kamera durch die Jalousie auf fremde Balkone und Terrassen. Nur ein einziges Mal verlässt sie die Wohnung, geht zum Strand und bleibt dort eine Weile allein stehen.
Auf den Zuschauer wirkt das Schlafzimmer mit dem Bett wie ein Gefängnis. Die Kamera bewegt sich nicht und filmt durch das Fenster und die Jalousie hindurch nach draußen. Nichts passiert. Draußen ist Tel Aviv.
Dann gibt es da noch die tiefe Stimme, die sich am Telefon meldet, vom Rauchen ganz heiser: „Nein, danke, es geht mir gut, ganz sicher.“ Später erzählt sie von ihrer Tante Ruth, deren Vater, Chantals Großvater, ein chassidischer Rabbiner aus Bels, ihr verboten hatte, zum Katholizismus zu konvertieren. Während des Krieges hatte sie Zuflucht in einem Kloster gefunden und so überlebt.
Die Zeit wirkt in Là-bas wie stehen geblieben. Von Chantal Akermans vierzig Filmen zählt dieser wohl zu den beeindruckendsten, zu jenen mit der stärksten Botschaft. Es ist allein die enorme Kraft ihres Talents, die den Film belebt und ihn vorantreibt.
Wir finden in Là-bas sowohl die Fremdheit der Welt, der die Filmemacherin gegenübertritt und die nur im Bett von ihr weicht, als auch ihr Unverständnis darüber, dass Freunde und Angehörige sich um sie sorgen, als im Gebäude nebenan ein Selbstmordanschlag verübt wurde: „Du hast Glück, dass du schlafen kannst“, bekräftigten sie immer wieder am Telefon.
Chantal Akerman sollte dem Gesetz der Mutter bis zum Schluss verhaftet bleiben. Von Geburt an wuchs sie mit der Geschichte, der Erinnerung und dem Unausgesprochenen der Lager und deren Folgen auf.
Unversehrt da herauszukommen, war unmöglich.
Und so gab es keine Ruhe vor Verfolgung.
Um zu schlafen, braucht es jedoch Stunden der Ruhe.
1 Rousseaus Auffassung nach leben wir alle in einem Zustand der Entfremdung, abgeschnitten von der Natur, unserem natürlichen Ursprung. Diese Entfremdung gilt für ihn als conditio sine qua non der Zivilisation. Rousseau selbst litt sein Leben lang an einer unstillbaren Nostalgie.
Literaturverzeichnis
Akerman, Chantal (2022): Meine Mutter lacht. Wien: Diaphanes.
Aulagnier, Piera (1975): The violence of interpretation – From pictogram to statement. Paris: Brunner-Routledge.
Freud, Sigmund (1915): Das Unbewusste. In: Ders.: GW X, S. 264-303.
Hogg, Joanna u. Roberts, Adam (2019): Chantal Akerman Retrospective Handbook. London: A Nos Amours.
Lacan, Jacques (1995): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Wien/Berlin: Turia + Kant..
Laplanche, Jean (2014): Leben und Tod in der Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Morel, Geneviève (2017): Das Gesetz der Mutter. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Ott, Michaela (2020): „Über ‚Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez vous de Tarnów‘ von Tina Rahel Völcker“. In: Texte zur Kunst, Heft 119. Leipzig: Spector Books.
Prantl, Carl [Hg.] (1854): Aristoteles' Werke. Griechisch und Deutsch und mit sacherklärenden Anmerkungen. Erster Band: Physik. Leipzig: Wilhelm Engelmann Verlag.
Rousseau, Jean-Jacques (2010 [1762]): Du contrat social / Vom Gesellschaftsvertrag. Stuttgart: Reclam.
Winnicott, Donald W. (2020): Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Filmverzeichnis
No Home Movie. Frankreich/Belgien 2015. Regie: Chantal Akerman. 115 Minuten.
Là-bas. Frankreich 2006. Regie: Chantal Akerman. 78 Minuten.
J’ai faim, j’ai froid. Frankreich 1984. Chantal Akerman. 12 Minuten.
Aujourd’hui dis-moi. Frankreich 1980. Regie: Chantal Akerman. 46 Minuten.
Dis-moi. Frankreich 1980. Regie: Chantal Akerman. 45 Minuten.
Saute ma ville. Belgien 1968. Regie: Chantal Akerman. 13 Minuten.
Autor:in: Ute Müller-Spieß, Dr. med. ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Psychoanalytikerin in freier Praxis und Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung /Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (WPV, IPV). Sie ist Mitglied der Neuen Lacan/Schule Gruppe Wien und des Arbeitskreises für Psychoanalyse, Philosophie und Klinik in Nizza. Seminare in Wien und Berlin (in der Psychoanalytische Bibliothek); Publikationen in psychoanalytischen Fachzeitschriften zu Freuds und Lacans Begriffsthematik. Sie war in leitenden Funktionen in akutpsychiatrischen und psychotherapeutischen Institutionen für Psychosen.
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