Theorie und Praxis in extremen Zeiten(wenden)
Peer Zickgraf
Y – Z Atop Denk 2024, 4(7), 4.
Abstract: Ist der Patient Erde noch zu retten? Und wie steht es wirklich um den globalen Klimaschutz und die Rettung von Millionen Arten? Nicht gut offenbar, denn auf dem blauen Planeten scheint etwas „Schreckliches“ vor sich zu gehen, dass einer Tragödie in mehreren unerbittlichen Akten gleicht. Eine äußerst inspirierende und hochgradig bewegende Tagung mit dem Titel „Im Angesicht der Katastrophe. Theorie und Aktion in Zeiten des Klimakollaps“, die am 1. und 2. Juni 2024 in Berlin-Tempelhof stattfand, versuchte, sich mit Erfolg der ungeschminkten Realität des Klimaschutzes und der Gesellschaftskrise auf dem Globus zu stellen – auf die Teilnehmer:innen wartete eine Reise in sowohl dunkle als auch helle Bereiche des Unbewussten. Wahre Rettung kann einzig aus den Beziehungen erwachsen, die im Kampf um den Erhalt des Lebens auf der Erde entstehen.
Keywords: Klimaschutz, Klimakatastrophe, Arterhalt, Zeitenwende, Psychoanalyse
Copyright: Peer Zickgraf | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.07.2024
Artikel als Download: Willkommen im Klimakollaps
Die Erdgeschichte ist über weite Strecken immer auch eine Geschichte der Katastrophen gewesen. Der Beschuss aus dem All in Form von tödlichen Meteoriten bereitete den damaligen Herrschern über die Tierarten, den Dinosauriern, ein ungeahntes Ende. Dieser disruptive Weg voller Katastrophen, der die Menschheit schließlich aufgrund einer Kette glücklicher Zufälle bis an die Spitze der Evolution hievte, fiel mit einer Epoche der Erdgeschichte zusammen, die dem Leben auf dem Planeten nahezu perfekte Bedingungen bot. Neben dem Homo Sapiens fasste eine beispiellose Fauna und Millionen einzigartiger Tierarten auf der Erde Fuß, so dass der blaue Planet bis auf dem heutigen Tag der einzige bekannte habituelle Ort im bekannten All geblieben ist. Was für eine Chance, was für ein Zusammentreffen günstiger Umstände, die zudem der vermeintlich herrschenden Tierart – dem Menschen – Vernunft und Seele verlieh.
Doch das Ende aller Arten droht – ausgerechnet durch die Hand bzw. das prometheische „Schwert“ des Homo Sapiens: Die Industrie, die desaströse Klimapolitik, die imperialistische Lebensweise, die im Zusammenhang mit derselben einhergeht, machen zusehends die Lebensgrundlagen auf der Erde zunichte. Geht es dem Ende zu? Kann man die Katastrophe (unbewusst) fühlen? Sicher ist: Vor ihrem bevorstehenden Ende waren sich die todgeweihten Dinosaurier ebenso wenig ihres Untergangs gewärtig, wie die antiken Pompejaner ihres Endes angesichts des tödlichen Vulkanausbruchs. Es hat den Anschein, dass die Menschheit auch angesichts der gegenwärtigen Klimakatastrophe mit verbundenen Augen (oder vergleichbar Stanley Kubricks Eyes Wide Shut – Augen weit geschlossen [Übers. d. Verf.]) der sich abzeichnenden Auslöschung alles Lebens entgegenschreitet. Die hausgemachte Katastrophe ist mitten im Gang, sie schreitet brennend, tobend, tosend, wirbelnd, blitzend voran – doch gibt es angesichts der Sachzwänge eine kollektive oder individuelle Basis, global zu handeln? Gibt es spezifische Hebel zu betätigen, um der Katastrophe Einhalt zu gebieten, gar eine „Notbremse“ ()? Welche Erkenntnismittel liefert die Theorie und über welche Mittel verfügt die Praxis der Klimaaktivist:innen, um angesichts der sich anbahnenden Katastrophe einen Ausweg aus der Tragödie zu finden?
Die IPPK-Tagung „Im Angesicht der Katastrophe", die vom 1. bis zum 2. Juni 2024 in den Räumen der Sigmund-Freud-Privatuniversität (SFU) stattfand, unterschied sich gründlich von fast allen Tagungen, die ich von 2003 bis 2012 als verantwortlicher Redakteur des Ganztagsschulprogramms des BMBF für das Portal www.ganztagsschulen.org deutschlandweit zwecks Erstellung von Tagungsberichten aufsuchte. Es war nämlich eine besondere, eine außergewöhnliche Tagung, die die Grenze zwischen dem Innen- und Außenraum ganz anders bespielte als dies sonst der Fall ist. Tagungen haben die Eigenschaft, dass sie in einer spezifischen Atmosphäre stattfinden, in einer Art künstlichem „Zoo“- und Raumklima, die sie von der äußeren Realität außerhalb des Raumambientes abschneiden. Sie widmen sich bestimmten Sorten von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder kulturellen Problemen, die auf eine professionelle Weise im Diskursraum als legitime Themen platziert und verhandelt werden. Dies trägt dazu bei, dass Tagungen mit einer gewissen Erwartungshaltung verknüpft werden, die aber nur dem Innenraum angehören und keinen Bezug zu den Außenräumen aufweisen – vergleichbar einem selbstreferenziellen System, das keine Brücken braucht und baut, die nach außen führen. Man möchte wohl auch deshalb gerne auf seine Kosten kommen und freut sich mehr auf Speis und Trank und die Zigarettenpause als auf dem Input als solchem.
Unter und über Menschen: kein Draußen – nur ein Drinnen
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind sich dabei der Tatsache bewusst, dass Momente der Enttäuschung und der Langeweile die Oberhand gewinnen – sie sitzen still und brav wie eine Gruppe angehender Ordner auf ihren Bänken. In den Körpern stauen sich dergestalt Energien und Spannungen auf, die aber wie durch einen großen Schwamm in einer Blase aufgesogen werden. Unter dem Eindruck dieser Abfuhr körperlicher Spannungen kommen auf Tagungen bekanntlich die substanziellsten Gespräche zustande. Doch selten ist dann der Außenraum im Spiel – der Himmel über dem Tagungsort, oder die frische Luft und die Natur, sie sind nur Beiwerk, bestenfalls sind sie Statisten, niemals Protagonisten. Der Himmel mit seinem unwägbaren Wolkenspiel, wird oft nur als Beigabe erfahren, denn die gesellschaftlich entscheidenden Dinge ereignen sich für die Menschen – seit der Sesshaftwerdung dieser Tierspezies – meist im Innenraum. Und dergestalt sind auch viele Tagungsberichte oft nichts anderes als ein eifriges Berichtswesen über die frustrierenden menschlichen Dinge im Binnenraum, nur sie genießen Geltung.
Doch die „Katastrophe“, genauer, die ökologische Weltkatastrophe, auf die der Planet zusteuert, sie findet nun einmal „draußen“ statt – sie gab der Tagung des IPPK ihren Titel: „Im Angesicht der Katastrophe – Theorie und Aktion in Zeiten des Klimakollaps“. Der Titel der Tagung spiegelt wider, dass sich die Voraussetzungen der Katastrophe nicht nur in den wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Logiken finden, sondern dass diese auch im Denken, im Handeln oder in den Körpern und Affekten der Menschen lokalisierbar sind. Je näher menschliche Geschicke und soziale und technologische Logiken mit der Jetztzeit (der Gegenwart) verknüpft sind, desto größer ist das Ausmaß der Katastrophen. Auch im Tagungsort Tempelhof finden sich Spuren einer historischen Katastrophe – die Katastrophe des Nationalsozialismus, die der Shoah den Weg bereitete. Der Flughafen Tempelhof ist noch im heutigen Berlin ein Stein gewordener Ausdruck faschistischer Ideologie, denn seine monumentale architektonische Künstlichkeit, Sinnbild des Anspruchs des weißen Herrenmenschen, war Ausdruck des nationalsozialistischen Machtwillens. Daher lassen sich auch in den Außen- und Innenräumen des Tagungsorts die Symptome vergangener Katastrophen aufspüren.
Von den naturgemachten Katastrophen zu den hausgemachten Katastrophen
Der Flughafen Tempelhof verwandelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Symbol der Hoffnung, nachdem die amerikanischen Flugzeuge die notleidende Westberliner Bevölkerung über die Luftbrücke mit Lebensmitteln versorgten; die Verschiebung des Fokus auf Frieden, die im Flughafen Tempelhof vorgenommen wurde, unterstreicht nicht zuletzt die Tatsache, dass der Gebäudekomplex heute die Private Sigmund-Freud-Universität (SFU) beherbergt. Wo Freud ist (repräsentiert in Tempelhof über die SFU), geht es um die Dimension des Unbewussten: es geht ferner um die Strukturen bzw. die Semiotik des Unbewussten, sowie um die Affekte, die die Menschen anlässlich der sich anbahnenden Katastrophe einbringen. Was die Fragen aufwirft: Welchen Beitrag können die Freudianer:innen und Lacanianer:innen dazu leisten, um die hohe Komplexität der globalen Klima- und Umweltkatastrophe im Verein mit anderen aufzuschlüsseln und zu bearbeiten? Welche Erkenntnismittel liefert die Theorie und über welche Mittel verfügt die Praxis, um Antworten auf das drohende Ende alles uns bekannten Lebens zu liefern? Die IPPK-Tagung ging diesen brennenden Fragen nach, ohne beanspruchen zu wollen, die Formel für das Löschmittel gefunden zu haben.
Ein zentraler Charakter der Tagung, die bei sommerlich heißem Wetter abgehalten wurde, war der Austausch zwischen besorgten bzw. verzweifelten Menschen, die anlässlich der Klimakatastrophe eine Orientierung bzw. einen nachhaltigen Austausch zwischen Theorie und Aktion nachfragten. Diese Erwartungshaltung wurde dadurch eingelöst, dass der Vormittag mit einer analytischen Großgruppe ausgefüllt wurde. Zuvor hatten die Psychoanalytikerin Katharina Reboly und der Philosoph Hilmar Schmiedl-Neuburg die Tagung mit einem Grußwort eingestimmt, das seitens des Philosophen Nico Graack und des Psychoanalytikers Lutz Götzmann vertieft wurde. Die in immer kürzeren Abständen wiederkehrenden Extremwettereignisse, wie sintflutartige Wolkenbrüche und Überschwemmungen, verheerende Dürren und Waldbrände, die früher, wie durch eine unsichtbare Wand vom globalen Norden getrennt schienen, haben sich längst alptraumhaft als eine Alltagsrealität in den Metropolen festgesetzt. Sie wirken auf das kollektive Bewusstsein ein und machen aus einer latenten – vermeintlichen schlummernden – Krise, eine akute große Krise, die nicht mehr weggeredet oder verleugnet werden kann.
„Auch die Welt ist nicht mit ganzer Seele das, was sie augenblicklich zu sein vorgibt“ (Robert Musil)
Vielmehr wird die offen ins gesellschaftliche Bewusstsein getretene Krise von einer alten Angst der Menschheit begleitet, einer Form der Angst, die die Fantasie von der Herrschaft über die Natur und ihrer Gesetze gerade dann schürt, wenn ein privilegierter Teil der globalen Bevölkerung sich davon dispensiert wähnt. Aktuell steht die Menschheit daher vor dem Dilemma, dass die stählerne Logik des Wirtschaftswachstums, also die Akkumulation von Kapital qua Raubbau an der Natur, die bereits seit rund 250 Jahren gleichbedeutend mit der Zukunft künftiger Generationen gesetzt wurde, wider Willen, und mit der sich gewissermaßen rächenden gleichmachenden Gewalt der Natur, außer Kraft gesetzt wird. Wo es aber keinen Planeten B gibt, da stellt sich die Frage nach der Tiefe und Dauer der gesellschaftlichen Transformation, die der Planet gegenwärtig zu durchlaufen hat. Es stellt sich ferner die Frage nach Krieg und Frieden, ja gar nach der Katastrophe auf Raten. Welche strukturellen Zwänge wirken dabei auf die Subjekte und wie werden diese subjektiv im Bewussten oder im Unbewussten repräsentiert? Der österreichische Schriftsteller Robert Musil liefert im unvollendeten Roman Der Mann ohne Eigenschaften eine wohl zeitlose Hypothese dafür, in welchem Wechselverhältnis die Natur-Katastrophen des Planeten und die Psyche („Seele“) stehen:
„‚Das war vor etlichen tausend Jahren ein Gletscher. Auch die Welt ist nicht mit ganzer Seele das, was sie augenblicklich zu sein vorgibt‘ erklärte [der Erzähler]. ‚Dieses rundliche Wesen hat einen hysterischen Charakter. Heute spielt es die nährende bürgerliche Mutter. Damals war die Welt frigid und eisig wie ein bösartiges Mädchen. Und noch einige tausend Jahre früher hat sie sich mit heißen Farrenwäldern, glühenden Sümpfen und dämonischen Tieren üppig aufgeführt. Man kann nicht sagen, dass sie eine Entwicklung zur Vollkommenheit durchgemacht hat, noch was ihr wahrer Zustand ist. Und das gleiche gilt von ihrer Tochter, der Menschheit. Stellen Sie sich bloß die Kleider vor, in denen im Laufe der Zeit Menschen hier gestanden haben, wo wir jetzt stehen. In Begriffen eines Narrenhauses ausgedrückt, gleicht das alles lang andauernden Zwangsvorstellungen mit plötzlicher Ideenflucht, nach deren Ablauf eine neue Lebensvorstellung da ist. Sie sehen also wohl, die Wirklichkeit schafft sich selbst ab‘“ (Musil 2023, S. 289 [Herv. d. Verf.]).
Eine per se gute Mutter Erde hat es nie gegeben. Diese Wahrnehmung ist vielmehr das Ergebnis einer psychischen Spaltung. Der durch externe Katastrophen traumatisierten Menschheit ist es von Anbeginn an durch die Geschichte aufgetragen worden, die Begriffe erst zu entwickeln, um das kollektive traumatische Moment rational zu bewältigen. Und – wie Musil ausführt – die Gletscher sind bereits vor Millionen Jahren nach dem Ende der Eiszeit geschmolzen. Nun hat es die industrielle Produktionsweise der Menschheit aber fertiggebracht innerhalb von 250 Jahren, dass nicht nur die Gletscher wegschmelzen, sondern Millionen Tierarten vom Aussterben bedroht sind – das Ausmaß der Verluste an Vielfalt und Leben – auch das Wegschmelzen von Zukunft und individuellen menschlichen Zukünften auf der Erde ist ohne Beispiel. Der Soziologe Jens Beckert beschreibt das Szenario in „Verkaufte Zukunft“ (2024) wie folgt:
„Im Herbst 2022 berichtet der amerikanische Autor Tom Kizzia von einer Kreuzfahrt zum Glacier-Bay-Nationalpark im Süden Alaskas. Von Bord aus beobachtet er den Sturz wuchtiger Eisbrocken in die Arktische See. Dieses eindrückliche Naturschauspiel des Kalbens der Gletscher war einmal, so schreibt Kizzia, ein erhabenes Erlebnis der Kraft und Schönheit einer fast unberührten Natur. Heute hingegen könne man gar nicht anders, als den Abbruch des Gletschereises als Menetekel eines sich beschleunigenden und unkontrollierten Prozesses der Naturzerstörung zu erleben. Jeder weiße ‚Donner‘ des abbrechenden Eises fühle sich wie ein weiterer Verlust“ (Beckert 2024, S. 9).
Die Tagung des IPPK „Im Angesicht der Katastrophe“ setzte sich zum Ziel, auf dieses Szenario mittels interdisziplinärer Perspektiven der Theorie und Praxis Antworten zu geben.
Willkommen im Kollaps: Die Chance das Klima zu retten, steht gleich Null
Das Einrichten einer analytischen Großgruppe im Rahmen der Tagung, die die Teilnehmenden aufforderte, dem Unbewussten dieser globalen Tragödie Ausdruck zu verleihen, war die probate Antwort auf das aktuelle kollektive Trauma der globalen Gesellschaft – denn die von Menschen produzierte Vernichtung der Lebengrundlagen auf dem Planeten bedeutet nicht weniger als eine einzigartige Geschichte und Gegenwart des Verlusts planetarischen Lebens. Jede Stimme zählte in der analytischen Großgruppe, jede und jeder war angesprochen worden, sich angesichts des unfassbaren Schrecklichen zu artikulieren. Assoziative Gedanken und Themen hatten ebenso Platz wie Gefühle der Verzweiflung. Dies trug dazu bei, dass eine bewegende Atmosphäre Raum greifen konnte, die den Repräsentanten der Theorie und der Aktion gleichermaßen die Gelegenheit bot, innerhalb der Öffentlichkeit der Großgruppe aufzutreten – dabei gewannen zunächst die Beiträge derjenigen leicht die Oberhand, die Verantwortung als Workshopleiter oder als Referenten übernommen hatten. Mehr und mehr artikulierten sich aber auch diejenigen, die „normal“ an der Tagung teilnahmen. Dies waren in nicht geringem Umfang junge Studierende der Philosophie, Medizin oder der Psychoanalyse, die auf lange Sicht besonders von der Klimakatastrophe betroffen sind. Ich möchte repräsentativ herausgreifen, um zu verdeutlichen, wie viel auf der Ebene der Basis und Partizipation während der Tagung diskutiert wurde. Preslav Mantchev setzte sich dafür ein, dass die Menschheit einen Weg zurück zur Natur finden müsse. In der Bevölkerung, so eine Stimme, gebe es eine Tendenz, das wahre Ausmaß der Klimakatastrophe zu verdrängen – das Reale, das nicht symbolisierbar sei, falle umso mehr der Verdrängung oder der Verleugnung anheim als mit einer Ohnmacht einhergehe. Der Ansatz der Last Generation die Öffentlichkeit durch Klebeaktionen wachzurütteln, hätte sein Ziel nicht erreicht. Das Anliegen der Klimabewegung habe dadurch sogar einen Schaden erlitten, da es eine gesellschaftliche Gegenbewegung erzeugt habe. Auch der Versuch der Klimaaktivist:innen durch Hungerstreiks Druck auf die Regierungen auszuüben, hätte sich nicht ausgezahlt. Gegenwärtig würden andere Themen, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Agenda der Regierungen füllen.
Auf die intensive analytische Großgruppe folgten zwei Impulsvorträge, die sich der Frage widmeten, welche gesamtgesellschaftlichen „Hebel“ jenseits individuellen Handelns in Bewegung gesetzt werden müssen, um Fortschritte in der Klimapolitik zu erzielen. Ein Ansatz, mehr Bewegung in die Klimapolitik zu bringen, wurde darin gesehen, den Staaten des globalen Südens die Schulden zu erlassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe ein Schuldenerlass der Bundesrepublik Deutschland es erst ermöglicht, die daniederliegende Wirtschaft wiederaufzubauen und die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung zu überwinden. Es müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die Verschuldung des globalen Südens ein Produkt des Kolonialismus sei. In dieses Bild passt auch, dass der Süden ungleich stärker von den verheerenden Auswirkungen der Klimakatastrophe betroffen ist – er befinde sich an der Front der Katastrophe; betroffen seien insbesondere Indigene, Frauen und die globale prekäre Arbeiterschaft.
Die Mittagspause schaffte die Gelegenheit, sich vor dem Gebäude des Tempelhofer SFU im Sonnenschein auszutauschen. Aufgrund der Intensität der Sonnenstrahlen war es hilfreich, dass einige vorausschauende Teilnehmerinnen Sonnencreme vorrätig hatten und diese bei Bedarf anderen auch zur Verfügung stellten. Dieses Auftanken durch Sonnenenergie kam dem weiteren intensiven Tagungsprogramm zugute. Denn nach der Mittagspause wurden drei Impulsvorträge mit Diskussion angeboten, die nun Theorie im Angebot hatten – denn ohne Theorie ist alle Praxis blind. Tadzio Müller, der zuvor bereits in der analytischen Großgruppe durch sein beherztes Auftreten und seine prononcierten Beiträge auf sich aufmerksam gemacht hatte, setzte den richtigen Akzent – denn statt wohlfeilen Trost zu spenden oder anderweitigen Augenwischereien anheimzufallen, hielt er einen packenden Beitrag.
„A time to mourn“ – Wir haben nur eine „Scheißstory“
Der Impulsvortrag des bekannten Klimaaktivisten Tadzio Müller mit dem Titel „A time to mourn – Klimakollaps in der Verdrängungsgesellschaft“ bestach durch seine radikale Offenheit, Selbstkritik, rückhaltlose Leidenschaft und einem scharfen Verstand. Tadzio Müller sieht den Planeten in einem Ausnahmezustand, im Klimakollaps. Die Chancen, das Klima zu retten, stehen für Müller gleich Null. Es stelle sich die Frage, warum die Menschheit trotz dieser dystopischen Szenarien wie in einer Zwangshandlung die Ressourcen des Planeten immerfort und ohne Rücksicht auf die eigene Existenzgrundlage plündert. Jedes Jahr, nein jeden Monat ein Jahrhunderthochwasser; in Afrika fallen Affen aufgrund der sprichwörtlichen Affenhitze tot von den Bäumen. In dieses Bild passt ein verändertes Klimabewusstsein: So brachte vor vielen Jahren eine Werbekampagne das Dilemma zum Ausdruck, die den Kölner Dom zeigt, wie er in den Wassermassen unterzugehen droht. Die Wetterextreme produzieren nie gekanntes Leid. Tadzio Müller zufolge entstehe dadurch eine Dunkelheit. Die Klimakatstrophe führe die Klimaaktivist:innen in einen dunklen emotionalen Raum.
Scham sei eine sehr neuralgische Thematik, die die dunkelsten Punkte der Seele tangiert. Klaus Theweleit habe analysiert, warum die Deutschen, als sie wussten, dass der Zweite Weltkrieg verloren ist, sich dem Thanatos ausgeliefert hätten – zwecks Schuldabwehr. Ab 1943 wusste man, dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verlieren; man war inzwischen auch über die Konzentrationslager und die Shoah informiert. Die Leute haben deswegen weitergekämpft, weil ein sich schämendes Subjekt gesagt hat: „Du bist schlecht, du bist falsch“. Ein sich schämendes Subjekt kann den Thanatos der Auseinandersetzung mit der Scham vorziehen, wenn die Änderung der Struktur, die die Scham hervorgerufen hat, zu kompliziert ist. Deswegen gibt es nirgendwo Klimaschutz, weil das bedeuten würde, dass man sich der Scham stellt, die durch den Klimawandel verstärkt wird. Die Klimakatastrophe stärkt das Gefühl von Scham, weil sie einen daran erinnert, dass man ohnmächtig ist. Wird die Handlung, die zur Scham führt als unabänderlich begriffen, entstehe eine kognitive Dissonanz, die den Mechanismus der Verleugnung und Schuldabwehr auslöst. Zur Verdeutlichung dieses Dilemmas rekurrierte Tadzio Müller auf den staatserhaltenden Automobilsektor – der lasse sich nicht einfach von heute auf morgen umbauen. Auch der selbstmörderische deutsche Volkssturm am Ende des Zweiten Weltkriegs habe nach diesem Muster der Schamabwehr durch die Hinwendung zum Thanatos funktioniert.
Tadzio Müller entwickelte eigens zum Verständnis dieses Mechanismus in seiner Dissertation ein theoretisches Modell: Das Modell beschreibt, was in der Klima-, Energie- und Produktionswelt bzw. im Rahmen der klimapolitischen Debatte aus welchem Grund passiert, und ist Müller zufolge viel besser als alle Modelle, die mit traditionellen Rationalitätsannahmen operieren. Denn keine politische oder ökonomische Vorgabe, etwa des Klima Aktivismus oder der Klimawissenschaften haben in irgendeiner Form konkrete Auswirkungen auf den Klimaschutz gehabt. In diesem Zusammenhang betonte Müller die Relevanz des Beziehungskonflikt, denn für den Klimaaktivisten ist die Klimadebatte auch ein gescheiterter Beziehungskonflikt. Pushing on a string heißt dieses Phänomen: Wenn in der Wirtschaft keine Investitionen aufgenommen werden können, kann ich so viel in die Wirtschaft investieren, wie ich will und trotzdem ändert sich nichts. Ich schiebe bloß einen Faden (John Maynard Keynes): Klima Aktivismus ist im besten Fall wie Pushing on a string. Das führt im Endergebnis dazu, dass Menschen in den Hungerstreik gehen, was eine reine Verzweiflungspraxis sei, der es vorwiegend darum gehe, ein emotionales Bekenntnis abzulegen. Das aber ist für Tadzio Müller keine strategische Handlung. Am Beispiel von Schach verdeutlichte Tadzio Müller, dass man nicht einmal drei Züge in dieser Strategiesportart voraussehen könne: „Wir haben keinen Zug auf dem Schachbrett, der uns dem Klimaschutz näherbringt. Das Problem dabei ist, dass ich mit dieser Erzählung niemand abholen kann. Die Geschichte – also die Existenz der Klimakatastrophe und des Kollapses ist nämlich wahr, aber es ist eine Scheißstory!“. Die positive Psychologie schärft derweil ihre Waffen, weil sie annimmt, dass niemand die Wahrheit hören will. Die positive Psychologie habe daher in den 1990er Jahren begonnen, die Geschichte von der Win-win-Situation beim Klimaschutz zu erzählen. Es könne allen Leuten gut gehen, sogar denen, die ihr Geld einst in der Kohleindustrie verdient haben. Angst: Fehlanzeige! Soziale Bewegungen haben aber Müller zufolge immer mit Angst gearbeitet. Diesen Hebel habe nun die politische Rechte in ihrer Hand. Gegenwärtig widme sich die Antimigrationsbewegung erfolgreich dem Geschäft mit der Angst.
„Der Kollaps kommt nicht absolut sicher – er ist schon da“
Negative Gefühle sind für Tadzio Müller politische Produktivkräfte. Er selbst habe sich viel Zeit genommen, um sich mit den eigenen negativen Emotionen auseinanderzusetzen. Der Wendepunkt war Lützerath: „Lützerath war für mich der Moment, wo es wieder besser wurde.“. Das Gefühl der Ermächtigung, der allen Aktivist:innen gut bekannt ist, habe in Lützerath – trotz der späteren Niederlage – Platz genommen, wozu auch das Katz- und Mausspiel mit der Polizei gehörte. Während der Kämpfe in Lützerath sei er, nachdem er früher als Linksradikaler im Knast gefoltert wurde, aber vor jeder Auseinandersetzung mit der Polizei heulend und zitternd davongerannt. Darüber sei eine Scham entstanden, nicht mehr an der „frontline“ zu stehen. Es ist aber etwas Wichtiges zurückgeblieben: Die sozialen Beziehungen mit den Menschen, die die Häuser in Lützerath besetzt hatten, seien ihm noch heute sehr nah.
„Für mich war und ist die Klimabewegung der Kampf für eine bessere Welt. Ich bin im Grunde ein areligiöser Mystiker: Die Aktion ist mein Hochamt auf der Straße. Da ist für meine eine persönliche Transformation, das ist Ekstase, das ist Transzendenz.“. Die Hoffnung komme nicht vom Traum vom großen Sieg; sie liege vielmehr in den Beziehungen, die man zu den Menschen aufbaut und mit denen man versucht, die Welt zu ändern: „Seitdem denke ich, dass ich zaubern kann, dass ich Harry Potter bin.“. Nach dem Klimakampf um Lützerath, so Tadzio Müller weiter, sei er nach Schweden ausgewichen, „einem total in sich selbst verliebten, liberalen Land“. Dort gebe es inzwischen aber eine ausgeprägte Bandenkriminalität: die Banden missbrauchen Minderjährige als Kuriere, da sie nicht die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. So kam es, dass in den Vororten von Stockholm vermehrt getötete Teenager zu beklagen waren. Eines Tages sei vor den Augen seines besten Freundes und am helllichten Tage ein junger Mann angeschossen worden, bis er verblutete. Der Krankenwagen kam erst zwölf Minuten nach der Verwundung; der junge Mann hätte eventuell gerettet werden können. Freund Peer habe daraufhin gehandelt: Statt sich über die Gewaltexplosion in seinem Viertel aufzuregen, ließ er sich beibringen, wie man Schuss- und Stichwaffenwunden versorgt. Denn jede Minute zählt, da die Krankenwagen oft zu spät kommen, um die jungen Menschen zu retten.
„Das ist ein Sicherheitskollaps: Der Krankenwagen, der zwölf bis fünfzehn Minuten braucht, um zum Tatort zu kommen, ist für den Mann, der stirbt ein Kollaps der medizinischen Versorgung. Kollaps bedeutet nicht das Ende aller Dinge, Kollaps bedeutet vielmehr, dass ein System zusammenbricht“, erläuterte Müller. Er sei auch deswegen nach Schweden gefahren, um zu lernen, wie ein System im Kollaps funktioniert. Die Lehre hieraus ist: Politik im Kollaps beginnt nicht etwa bei den Bedürfnissen und Interessen anderer, etwa in Gestalt eines großen Programms, sie beginnt vielmehr bei den eigenen Bedürfnissen. Der schwedische Freund brauchte das Wissen, um anderen zu helfen. Erst vor diesem Hintergrund sei ihm bewusst geworden, dass man auch dafür sorgen müsse, dass Watertrucks, die für die künftige Wasserversorgung existenziell sein könnten, nicht von „beschissenen Nazis“ gekapert werden: „Das ist natürlich ein absurdes Szenario. Die Vorbereitung auf den Kollaps heißt nicht Vorräte zu schaffen, sondern Beziehungen zu knüpfen“, schlussfolgerte Müller. Bei guten und stabilen Beziehungen wird man auch ein passendes Angebot für die eigenen Bedürfnisse finden, das heißt, der eine ist für die Wasserversorgung zuständig, die andere stellt die medizinische Versorgung sicher. Das sei das Gegenteil der faschistischen Idee der Preppers, die die Individualisierung des Kollapses betreiben, also einen Mythos züchten.
„Wenn wir nicht über die Ängste reden, überlassen wir die Zukunft den Faschisten“
„Es braucht daher keine Superhelden, sondern es braucht uns als kollektive Superhelden. Kollaps ist ein sich vernünftiges Vorbereiten auf Situationen, die mit großer Wahrscheinlichkeit eintreten. Der Kollaps kommt nicht absolut sicher – er ist schon da!“, unterstrich Tadzio Müller. Es sei daher nur dumm, sich nicht auf den Kollaps vorzubereiten. Es betreibe deshalb keinen Defätismus, wenn er sich auf ein solches Szenario vorbereite. Der konkrete Kampf gegen die Faschisten sei ein anderes heikles Thema: „Ich bin ein sehr sichtbarer, sehr lauter, Linksradikaler. Die Faschisten mögen mich nicht, das sagen sie mir immer wieder in den verschiedenen Medien.“. Als zwei Freunde von ihm durch die Faschisten angegriffen wurden, habe ihm dies unglaubliche Angst bereitet und er habe sich längere Zeit verstecken müssen und die Angst mit Drogen betäubt. „Es ist eine Welt, in der ich als sichtbarer Klimaaktivist, querer Antifaschist einfach gefährdet bin. Die Beziehungen, die wir aufbauen, um auf Kollaps-Szenarien zu reagieren, sind genau das, was wir brauchen, um stabile gesellschaftliche Situationen gegen die Faschisten aufzubauen.“. Dass das wichtig ist, sieht man daran, dass wir mit dieser Angst leben.
„Warum hat man denn gerade diesen Switch nach rechts bei den jungen Menschen? Weil nur eine politische Kraft diese jungen Menschen mit ihrer Angst vor der Zukunft wirklich abholt. Natürlich mit einem abgefuckten Diskurs, aber Fakten sind nicht wichtig. Donald Trump musste keine Sachen sagen, die wahr sind, er musste nicht mal Sachen sagen, die sich wahr anfühlten, er musste Sachen sagen, die sich so anfühlten, wie die Anhänger fühlten. You don't have to say something that feels good, you have to say something that feels feel. Wenn wir uns nicht auf den Kollaps vorbereiten, wenn wir nicht über die Ängste und die Dunkelheit reden und die jungen Menschen mitnehmen und diese in eine solidarische Richtung lenken, überlassen wir die Zukunft den Faschisten.“.
„Wenn du dich scheiße fühlst, sei ehrlich und milde zu dir“
Es erübrige sich zu sagen, dass dies kein politischer Outcome sei, der akzeptabel ist. Das wäre eine Wiederholung der Situation des faschistischen Europas von 1934. Die Hoffnung liegt in den Beziehungen und in der Bewegung, aber sie kommt nicht trotz der Gefühle, sondern sie kommt erst durch und nach den Gefühlen. Entscheidend sei der Aufbau stabiler gesellschaftlicher Beziehungen in Vorbereitung auf den Kollaps. Denn anderweitig drohe uns eine Zukunft unter den Faschisten. Während seines Vortrags ereignete sich mit Tadzio Müller eine Art körperlich-seelische Krise. Es war deutlich wahrzunehmen, dass die bereits geschlagenen Schlachten Müllers nennenswerte Erfolge aber auch krachende Niederlagen beinhalten, und dass sie nicht der Vergangenheit angehören, da die Spuren dieser Kämpfe sich quasi in jeder Pore von Tadzio Müller eingenistet zu haben schienen. Müller musste die Schmerzen wie ein Exorzist aus sich herausschreien. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott habe im Zweiten Weltkrieg eine Methode entwickelt, um die Menschen in Krisen emotional zu begleiten. Müller lobte vor diesem Hintergrund die Ermächtigungsmomente des IPPK, die ein Unterstützungsnetz auf der Meso-Ebene anbiete. Die analytische Großgruppe habe zudem eine Matrix bereitgehalten, um möglichst viele Teilnehmende zu ermutigen miteinander zu kommunizieren.
Klima-Aktivismus beinhalte ohnehin permanente Informationsvermittlung, also auch Aufklärung in nuce. Das Warschauer Ghetto sei ein Beweis dafür, dass die Menschen noch in der Hölle Menschen bleiben, indem sie ihre Würde auch dann verteidigen, wenn der Kampf verloren schien. Während Tadzio Müllers mitreißendem Vortrag zeigte sich deutlich, wie die Geschichte und Gegenwart sich gegenseitig durchdringen. Tadzio Müller, der jüdische Vorfahren hat, die in der Shoah ermordet wurden, brach zitternd und weinend in sich zusammen. Durch den Vortrag setzte er sich dem scheinbar Vergangenen aus – allerdings wurde Müller von anwesenden Teilnehmer:innen ganz im Sinne Winnicotts gehalten – held.
Klima-Aktivismus, ebenso wie die theoretische Analyse und Kritik, ist harte, zuweilen unerbittliche Arbeit, Arbeit an der Grenze: Es war daher Zeit für einen Rhythmuswechsel, Zeit, um die Wahrheit des „Schrecklichen“ zu verarbeiten. Die anschließenden Workshops eröffneten einen Erfahrungs- und Möglichkeitsraum, der mittels spezifischer Kunst- und Kulturangebote angeregt werden sollte, die thematisch, das heißt inhaltlich und methodisch zudem in einem Zusammenhang mit der Psychoanalyse, Philosophie und dem Klimawandel standen. Es galt dem Unbewussten des „Schrecklichen“ der Klimakatastrophe eine sichtbare Gestalt zu verleihen. Den Tagungsteilnehmer standen folgende Angebote zur Auswahl: Zeichnung/Kartographie bei Ana Rodriguez Bisbicus (Berlin), Tanz bei Preslav Mantchev (Kiel), Skulptur bei Jana Rippmann (Hamburg), Schreiben bei Anne Döring (Kiel), und Gaming bei Norman Marquardt (Kiel) und Nico Graack (Prag). Nach Impulsvorträgen und Diskussion versammelten sich alle Teilnehmer:innen nun in den jeweiligen Räumlichkeiten des SFU. Insbesondere in dem Raum, eine Art Hauptraum des SFU, wo Tadzio Müller zuvor referiert hatte, wurde nun ein gut besuchter Tanzworkshop von Preslav Mantchev dargeboten, der unser gewohntes Raum- und Körperempfinden im Sinne der Themenstellung der Tagung kreativ infrage stellte.
Aufbau von haltenden Verbindungen zwischen den Körpern
Der Ballett- und Tanzmeister Mantchev hatte sich bereits im Rahmen der analytischen Großgruppe mit vielen Beiträgen engagiert. Der Mensch müsse zurück zur Natur finden. Nun war er in einer anderen Rolle aktiv. Er nahm als Workshopleiter Tanz im Großen Hörsaal das Heft des Handelns in die Hand. Es hatten sich überraschend viele Bereitwillige gefunden, die ihre Emotionen mittels Tanzes ausdrücken wollten. Bei einer Mehrzahl von Frauen nahmen auch viele Männer am Tanzworkshop teil. Die Teilnehmenden konnten wohl kaum antizipieren, welcher Herausforderung sie sich gestellt hatten:
„Unser Körper ist das Instrument, das uns lebenslänglich begleitet. Durch die Wahrnehmung von Musik, Geräuschen und Stille sowie andere äußere oder innere Reize werden körperliche Reize freigesetzt. Diesen Impulsen zu vertrauen und sie zu kultivieren, bereichert unsere physische Existenz und schafft Verbindungen mit der geistigen Welt. So öffnen sich vor uns die Türen zu neuen Fantasiewelten, die sich im körperlichen Ausdruck widerspiegeln können. Zusammen mit unseren körperlichen Fähigkeiten wächst unsere Kreativität und damit auch dauerhaft unser Selbstbewusstsein“ (Preslav Mantchev).
Getreu dieser Leitidee begaben sich die Tanzschüler:innen von Preslav Mantchev auf eine spannende Erkundungsreise im Spannungsfeld von Körper, Raum und Musik. Es ging zunächst darum ein Gefühl für den Raum zu entwickeln – freie Räume sollten mit dem Körper ertanzt bzw. aufgespürt werden. Dies evozierte Gedanken an die Fußball-Europameisterschaft, die parallel zur Tagung des IPPK ausgetragen wurde. Der moderne Fußball ist auch durch die Allgegenwart der Algorithmen zusehends eine Disziplin geworden, in der erst die Räume für ein Torchancen kreiert werden müssen. Es folgten im Rahmen des Tanzworkshops viele weitere Übungseinheiten, in denen es vornehmlich darum ging, Verbindungen zwischen den Körpern aufzubauen. Dies setzte ein Gespür für den eigenen Körper wie auch für die Körper der anderen voraus – dadurch wurde ein Verständnis und ein Gespür für das Miteinander im Erfahrungsraum Tanz geweckt, während die eigenen Emotionen der anderen abgestimmt werden mussten. Auch die Fantasie wurde gefordert. Sie war gefordert, um dem Unbewussten und der Kreativität Ausdruck zu verleihen. Dabei entzündete sich ein Feuerwerk an Emotionen, gepaart mit Ängsten und Hoffnungen. In diesem Raum der Liebe und der Sehnsucht nach einer Welt, in der etwas Neues entstehen konnte, entfaltete sich ein sich gegenseitig spiegelndes Drittes, eine gemeinsame Kraft der Erneuerung: Auch ein Gehalten-werden verletzbarer Individualität im Werden von etwas Verbindendem, das gegen die Verzweiflung im Angesicht der Katastrophe aufbegehrt.
Ein anderer Workshop, der eine ehemals klassische Kunstform (das Verfassen von Romanen oder von Lyrik) – das poetische Schreiben – in den Mittelpunkt stellte, fand in einem beschaulicheren, und zur Stille einladendem, Raum statt – der Bibliothek des SFU: „Wir haben gemerkt, dass es in dem kleineren Raum weniger Abwehr gab.“. Das Schreiben steht insbesondere unter Lacanianer:innen hoch im Kurs, da es gemäß den drei Registern des Psychischen der symbolischen Ordnung angehört. Die symbolische Ordnung verankert das Subjekt durch die Sprache in die jeweilige Kultur. Ergo manifestieren sich die Widersprüche des Subjekts (inklusive der Verdrängung des Realen der Klimakatastrophe) auch über das Medium der Sprache – so liegt es nahe, dass der Workshop „Schreiben“ die Mittel der Sprache ins Blickfeld rückte, um sowohl gruppenbezogene als auch individuelle kreative Prozesse ins Laufen zu bringen. „Die Sprache erschafft etwas, das vorher noch gar nicht da war. Sie reflektiert innere Zustände“, so die Workshopleiterin Anne Döring. Wie das Tanzen eine spezifische – oft eher weibliche Klientel anspricht, so entzünden sich beim Thema Schreiben oft jene, die entweder selbst viel schreiben oder intensiv lesen. Die Sprache ist aber auch nicht mehr oder weniger als das symbolische Fenster in das Unbewusste und somit für die Profession der Psychoanalyse Handwerkszeug in nuce. Die Intention des Workshops erläuterte Anne Döring wie folgt:
„Der Ausgangspunkt war das Schreiben als eine Form der Sprache, die über die Abbildfunktion von Sprache hinausgeht, indem sie etwas erschafft. Gemeint ist Schreiben als poetisches Schreiben, das etwas Neues hervorbringt. Dinge, die noch nicht begreiflich waren, weil sie diffus oder unbehaglich sind und uns als innere Zustände oder Emotionen gegenübertreten, sollen eine kreative Gestalt annehmen.“.
Die Schreibaufgabe bestand darin, den Vortrag, den die Teilnehmenden zuletzt gehört haben, in vier Minuten und ohne innere Regel assoziativ neu zu schreiben – das heißt:
„Schreiben Sie ab, was der Gedanke ist. Wenn Sie nicht weiterwissen, schreiben Sie weiter, weiter, weiter, denn der Stift darf niemals stillstehen. Wenn diese vier Minuten des automatischen Schreibens um sind, vergegenwärtigen Sie sich, was Sie geschrieben haben und versuchen Sie dann daraus einen Satz zu greifen und ihn dann selbst zu formulieren.“.
Zum Beispiel: Wie könne man das gute Leben neu erfinden, wenn es sich nicht auf eine gelebte Tradition beruft. Der gebildete Satz sollte weitergegeben werden und der Sitznachbar wurde aufgefordert seinerseits assoziativ vier Minuten zu diesem Satz zu schreiben. Dadurch kam es zu einem intensiven Gruppenaustausch. In einer nächsten Runde wurde geguckt, wie es einem mit dem Geschriebenen geht und was für die jeweilige Person besonders wichtig ist: Was habe ich erfahren, was mir vorher noch nicht bewusst gewesen war? Anne Döring äußerte hierzu, dass sie nicht kompetent genug sei, um sowas therapeutisch zu begleiten. Aber beim Austausch darüber habe sie gemerkt, dass der kleinere Raum (die SFU-Bibliothek) die Gruppe weitergebracht , weil es weniger Abwehr gab als in der großen Gruppe. Als Resümee dieses Workshops hob sie die „Kraft der Sprache und des Schreibens“ hervor. Diese Form der Kreativität konnte vieles – auch Unbewusstes – zu Tage fördern. Dass das Angebot sehr gut aufgenommen wurde, zeigte sich auch darin, dass die Arbeitsatmosphäre durch eine große Ernsthaftigkeit gekennzeichnet war.
Wo Empathie und Schuldgefühle als Schwäche diffamiert werden
Hatten die Vorträge und die Workshops unter Einbeziehung von Kunst und Kultur das Bewusstsein für den globalen Zusammenhang von Wirtschaft, Gesellschaft und Klima geschärft, so waren die Teilnehmenden nun auf den Abschlussvortrag des ersten Tages gespannt. Dieser wurde von der Psychoanalytikerin Delaram Habibi-Kohlen gehalten. Unter dem Titel „Möglichkeiten zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit – wie verkraften wir die Klimakatastrophe?“ ging die Referentin der Frage nach, ob die Schnelligkeit der Krise noch zu bewältigen ist. Eine große (grüne) Transformation sei anlässlich der Bedrohung durch die Klimakatastrophe unumgänglich. Der für den globalen Klimakreislauf so zentrale Golfstrom drohe zum Erliegen zu kommen, während der Druck auf die Erdplatten durch den steigenden Meeresspiegel gefährlich zunehme. Die globale Problematik zeige sich darin, dass Emissionen in Deutschland abnehmen, während sie weltweit zunehmen. Dies schüre Angst vor der Zukunft. Angesichts der sozialen Verwerfungen, die der Klimawandel mit sich bringe, erfolgen eine fortschreitende Entdemokratisierung und eine zunehmende Verwundbarkeit, die zu Erstarrung beitrage: „Die Erstarrung hat etwas Verrücktes, da sie etwas Böses hervorruft.“. Maladaptive Formen der Krisenüberwindung nehmen aus Sicht von Habibi-Kohlen zu, was dazu führe, dass die Realität durch einen Schein ersetzt werde. Es verbreite sich eine dauerhafte und komplexe Abwehr von Unerwünschten auf der Basis von unkalkulierbaren Verlusten. Die Massenmedien TV, Youtube-Videos und die sozialen Medien verbreiten Hass auf die Fremden. Bestimmte Gruppen der Gesellschaft würden schuldig gesprochen. Vor dem Hintergrund ihrer These von Schuld und Verleugnung identifizierte die Psychoanalytikerin divergierende Ansätze innerhalb der Klimabewegung, um der Problematik der Katastrophe zu begegnen.
Aus der Perspektive der Öko-Miserabilisten (Jonathan Franzen), die eine postapokalyptische Utopie vertreten, steht uns eine unbewohnbare Welt (Herbert George Wells) bevor. Das, was unwiderruflich verloren gehe, müsse betrauert werden. Dass die Technologie uns retten könne, sei eine Illusion. Hoffnung könne nur in der Verankerung der Aktion in der Verzweiflung entstehen. Der Konsumismus des modernen Kapitalismus habe die Wahrnehmung der Klimakrise äußerst erschwert. Dementsprechend waren die 1980er Jahre von einer langen Leugnungsphase. In den 1990er Jahren habe die Auffassung vorgeherrscht, dass die Welt nicht zu ändern sei, jedoch wurde das Umweltproblem als Krise der Institution begriffen. Es sei schwerer geworden, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen als das Ende der Welt. Der Zusammenbruch des Ostblocks habe zum Verlust gesellschaftlicher Visionen und Utopien beigetragen. Ergo gebe einen Rückzug in das Private und eine Renaissance des „Biedermeiergeistes“ – das Interesse an großen Themen habe dadurch entscheidend eingebüßt. Die psychischen Kosten der verallgemeinerten Hoffnungslosigkeit beschrieb Habibi-Kohnen wie folgt: Es lasse sich auf der Basis der zynischen Leugnung der Klimakatastrophe eine Abwehr der Depression durch Aktivismus verzeichnen sowie ein allgemeiner Zynismus als kollektive Reaktion. In einer Welt ohne intrinsische Bedeutung sei die Natur nur noch Mittel zum Zweck: Empathie und Schuldgefühle werden als Schwäche und als Heuchelei diffamiert. Hierzu passen eskapistische Fantasien über einen Planeten B, den Mars, die zunehmend unter den Reichen und Milliardären wie Elon Musk kursieren. Vor diesem Hintergrund sah die Referentin eine neue Baseline am Horizont auftauchen: Die Gewöhnung an das Grausame und an den Tod ist für die Miserabilisten die zynische Losung – sie setzen sich dafür ein, dass das allgemeine Sterben organisiert werden müsse: „Wir brauchen keine Politik, sondern Hospize.“. Diese Verdinglichung der Verzweiflung beinhaltet Habibi-Kohlen zufolge, dass der Hoffnung auf eine Transformation eine Absage erteilt werde. Die antizipierende Vorausschau auf unwiederbringliche Verluste besitzt historische Vorläufer, die übrigens mit dem Zeitalter der Völkerschau/Menschenzoos eng verwoben sind – der Legende nach fielen die Herzen der Crow-Indianer zu Boden als die Büffel verschwanden. In der Folge eigneten sich die Crow das weiße Wissen an, um für ihr Land zu kämpfen.
Von der Notwendigkeit der antizipierenden Vorausschau auf unwiederbringliche Verluste
Das Beispiel der Crow-Indianer verdeutliche, dass die Klimaaktivist:innen einen langen Atem benötigen. Wo man auch hinschaue, regierten Sachzwänge. Mit anderen Worten: Die vorherrschenden Strukturen von Wohlstand stellen sich möglichen Exitstrategien in der Klimapolitik diametral im Weg. Daher werde die Rettung des Klimas kaum allein von der Wasserstofftechnologie zu erwarten sein. Ein Beispiel für adaptive Hoffnung, die über die Trauer hinausgeht, die die Verluste mit sich bringen, habe zuletzt der Soziologe Jens Beckert geliefert. Beckert geht es insbesondere um realistische, lösungsorientierte Ansätze im Rahmen der Klimapolitik. Ein gordischer Knoten könne nicht mehr zerschlagen werden, da es eine „komplexe Verschachtelung von Interessen, und Strukturen, Lebensformen und Überzeugungen sowie Möglichkeiten und Alternativen“ gebe, die sich in globaler Perspektive als Dilemmata bemerkbar machen. Er plädiert dafür, dass die Menschen den Wandel mitvollziehen und nicht überfordert werden. Die Hauptverantwortung liege in den Strukturen und Sachzwängen der Wohlstandsvermehrung. Natürlich gibt es auch eine individuelle Verantwortung, aber diese müsse im Rahmen bleiben: „Eine individuelle Verhaltensänderung kann die Welt nicht ändern.“. Eine adaptive Hoffnung, wie sie Beckert vertritt, bedeute allenfalls eine relative Hoffnung, keineswegs aber könne sie einfache Antworten innerhalb hoch komplexer Problematiken und Strukturzusammenhänge beanspruchen. Es sei möglich, dass zu einem langsamen Verfall an Errungenschaften komme. Die Individualisierung hindere uns daran, uns als politische Wesen zu empfinden. Ein Gefühl der Verbundenheit mit der Welt bedürfe der Verbindung von Leben und Emotion. In der anschließenden Diskussion wurde auf eine verzerrte Definition von Wohlstand aufmerksam gemacht. Jeder Hanswurst sei in der konsumorientierten Marktgesellschaft auf der Jagd nach Wohlstand, obwohl er sich nicht wohl in seiner Haut fühle.
Zweiter Tag der Tagung
Der zweite Tagungstag gehörte zunächst den Initiativen der Klimaaktivist:innen. Es gab ein Forum für Handlungen, das den Zweck erfüllte, sich mit Gruppen von Aktivisten und Aktivistinnen aus Deutschland an einem Informationsstand über ihre Strategien auszutauschen und zu vernetzen. Nach der Begrüßung der Teilnehmer:innen durch Melanie Reichert und Nico Graack konnten sich die aktivistischen Frühaufsteher:innen von der Vielfalt der Ansätze innerhalb der Klimabewegung überzeugen. Natürlich waren Vertreter:innen der Last Generation und auch ehemalige Klimakleber:innen vertreten. Innerhalb der Klimabewegung gebe es masochistische Anteile, ohne die es wohl kaum möglich wäre, sich der direkten Repression seitens der staatlichen Behörden zu stellen, so ein Klimaaktivist. Die Richter in Berlin hätten erst dann eine größere Offenheit gegenüber den Anliegen der Klimaaktivist:innen gezeigt, seit nicht mehr „geklebt“ werde. Dass es eines langen Atems bedarf oder die Fähigkeit, dicke Bretter zu bohren, verdeutlichte das Beispiel der Initiative Schuldenschnitt. In dieser wirken Menschen mit und ohne Migrationshintergrund daran, dass die reichen Industrienationen den betroffenen Ländern des globalen Südens einen Teil ihrer Schulden erlassen.
Den Teufelskreis von Verschuldung und Klimakollaps durchbrechen
Die Verschuldungsproblematik hat sich erstmals in den 1980er Jahren wie ein Krebsgeschwür manifestiert. Viele Schwellenländer wie Brasilien oder verarmte Länder der damaligen Dritten Welt litten in dieser Zeit an der neoliberalen Rosskur von Weltbank und IWF, die euphemistisch als „Reformen“ bezeichnet wurden. Sie mussten sich ungeschützt dem internationalen Kapital öffnen und den öffentlichen Sektor zurückfahren, was dazu führte, dass die staatlich finanzierte Bildungspolitik, das öffentliche Gesundheitswesen oder die öffentliche Infrastruktur kaputtgespart wurden. All dies diente dem Zweck die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer des globalen Südens zugunsten eines entfesselten Marktes zurückzufahren. Die sozialen und politischen Folgen dieser radikalen Sparmaßnahmen verursachten Massenverelendung, Obdachlosigkeit, Kriminalität, bürgerkriegsähnliche Zustände. In manchen betroffenen Ländern, wie Argentinien, kam aufgrund von Hyperinflation sogar der Geldverkehr zum Erliegen. Diese kollektiven traumatischen Erfahrungen muss man wohl als einen Hintergrund für die Bereitschaft der Massen für populistische Verführer:innen bzw. die Verführbarkeit der Massen verstehen. Unerlöste Menschen verlangen stets nach dem Erlöser. In den 1980er Jahren existierte aber – trotz des Berichts des Club of Rome 1972 – noch kein breiteres Bewusstsein für die Zusammenhang von Schuldenfalle und Klimakrise. Die Initiative Schuldenschnitt hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren, wie die strukturelle Verschuldung, die Naturzerstörung und der Klimawandel zusammenwirken. Auch und wegen ihrer Erfolge schöpfen diese Klimaaktivist:innen Hoffnung, dass die Industrieländer auch im eigenen Interesse zu einem vermehrten Schulden bereit sind, damit auch die armen Länder die Ziele des Pariser Klimagipfels erreichen können.
Die Destruktivität von Verleugnung und Verschwörung – und ihr Gegengift
In der sich anschließenden zweiten analytischen Großgruppe dieser Tagung hatten die Klimaaktivist:innen dann die Gelegenheit, sich den eigenen Gefühlen von Scham und Ohnmacht zu stellen. Dabei kamen auch wieder diejenigen zu Wort, die eher von der Theorie und Wissenschaft kamen. Es ging im Rahmen der Großgruppe auch darum, sich der Hoffnungslosigkeit und dem Pessimismus zu stellen – denn im Unterschied zur Abwehrstrategie der Verleugnung, die oft mit Aggressivität begleitet ist, beruht der Pessimismus auf einer Anerkennung. Ein Beispiel für die Aggressivität und die Destruktivität der Verleugnung gab es nach dem ersten Tagungstag, Samstagabend – anlässlich einer Begegnung mit einer Volleyballgruppe in Berlin ergab sich eine geradezu feindselige Stimmung, als ich das Wort „Klimakatastrophe“ erwähnte. Der Spiritus Rector der Gruppe bestritt nicht nur die Existenz des Klimawandels, er identifizierte auch umgehend die Schuldigen in Gestalt der Politik und der Medien sowie in Form einer internationalen Verschwörung. Diese vehemente Abwehr, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, könne auch auf eine Schuldabwehr zurückgeführt werden. Die Schuldigen werden demzufolge ausgerechnet unter den Klimaaktivist:innen ausgemacht, denen unterstellt wird, sie wollten den Leuten etwas wegnehmen – ihre Autonomie, ihren Konsum, ihren privilegierten Platz auf dem Planeten. Das Muster ist gerade in Deutschland allzu bekannt: Täter:innen gerieren sich als Opfer. Doch es gibt zweierlei Sorten von Täter:innen: die kleinen und die großen Fische. Verweisen die Verschwörungsmystiker:innen mitunter auf ein Zeitalter autoritärer Lösungen im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Krisen und klimapolitischer Aporien? Vieles deutet darauf hin, so die Meinung eines Teilnehmers, dass die Legitimität und Kapazität demokratischer Formen der Regulierung sozialer Unordnung und der Bekämpfung der Klimakatastrophe bereits an ihr Ende gekommen sind: Diktaturen wie China oder Russland könnten in der Zukunft – wenn die Reproduktion von Wirtschaft und Gesellschaftsstrukturen sich erschöpft hätten – der Welt gar als Modell dienen, um notwendige Maßnahmen der Anpassung an extreme Klimabedingungen zu gewährleisten. Das sind keineswegs schöne, aber durchaus nicht unwahrscheinliche Aussichten. Denn wer könne noch den Reichen und Superreichen auf dem Globus Einhalt gebieten, wenn nicht auf Zwang gegründete Gesellschaften, die auf den asiatischen Despotismus basieren?
Zweifellos haben die unsolidarischen Reichen, die dem Prinzip huldigen „Nach mir die Sintflut“ eine ungleich größere Verantwortung als die armen oder prekär lebenden Menschen auf dem Planeten. Ein Beispiel: Allein in Deutschland verfügen zwei Superreiche über 40 % des BIP. Die Reichen und Superreichen stellen zudem einen verschwindend kleinen Anteil an der Weltbevölkerung von 1 bis 5 %, aber durch ihre gesellschaftliche Macht und ihre luxuriöse und ressourcenverschwendende Konsumweise, die übrigens auch auf größere Teile der Bevölkerung ausstrahlt und von diesen nachgeahmt wird, tragen sie maßgeblich dazu bei, dass die herrschende Ideologie der Reichen die Köpfe und das Begehren der normalen Menschen beherrscht. Sie könnten mit Fug und Recht als „Arschlöcher“ betrachtet werden, so ein Teilnehmer der analytischen Großgruppe: „Vielleicht merken die Arschlöcher gar nicht, dass sie Arschlöcher sind“, kommentierte Lutz Götzmann lakonisch. Götzmann fügte hinzu, dass der Blick auf die gesellschaftlich und politisch Verantwortlichen, also der Blick auf jene die von der Klimakatastrophe besonders profitieren und ihr Handeln demzufolge nicht auf die nächsten Generationen ausrichteten, die Schuld- und Schamgefühle derjenigen mildern könnte, die weniger Verantwortung tragen. Nicht alle sind gleichermaßen verantwortlich, zumal das gesellschaftliche Bewusstsein für die allgemeinen Krise(n) und Klimawandel zunehme. Klima ist nämlich auch und nicht zuletzt ein Aspekt der Klassenproblematik.
Was hat die Psychoanalyse mit der Klimakatastrophe zu tun?
In diesem Zusammenhang wurde die Frage gestellt, was die Klimakatastrophe mit der Psychoanalyse zu tun habe: Worauf beruht die Legitimität der Psychoanalyse sich diesem komplexen Thema zu stellen? Da die Stärke der psychoanalytischen Theorie und Klinik per se darin besteht, die individuellen Spuren und psychischen Symptome spezifischer historischer und gesellschaftlicher Traumata im Unbewussten des Subjekts zu lokalisieren, schafft sie die Basis dafür, dass das Subjekt dem Wiederholungszwang entkommt. „Die Krise zeigt, dass die Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker anlässlich der globalen Bedrohungslage sich der Offenlegung der dunkelsten und schlimmsten Seiten der Menschen zu stellen haben“, erläutert der Sozialwissenschaftler Reinhard Jansohn. Und mit Blick auf die Krise der sozialen Ordnung ergänzt Jansohn:
„Neben der kosmopolitischen Bedeutung der Klimakatastrophe als totalitäre Rückwirkung ökonomischen Raubbaus scheint mir der Gesichtspunkt der rechtskonservativen bis extremen Regression als Folge von zunehmendem Konkurrenzdruck bei sinkenden Reallöhnen, strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, gesellschaftlicher Marginalisierung immer breiterer Gesellschaftsgruppen, schleichender Rückzug des Staates aus sozialen und infrastrukturellen Verpflichtungen einhergehend mit einer deregulierten Wirtschaft besonders wichtig zu sein. Dies markiert den nächsten Schritt des Neoliberalismus zu staatlichem Autoritarismus.“
Die Psychoanalyse hat es ergo mit einer Mammutaufgabe zu tun. Sie leistet einen gesellschaftlichen Beitrag dazu, dass das Ich des Subjekts sich erfolgreich umbauen kann und infolgedessen eine erweiterte Handlungsfähigkeit in Gruppen erzielt: Die Psychoanalyse vermittelt dergestalt die Kraft etwas gemeinschaftlich zu ändern, so die Auffassung eines Gruppenteilnehmers. Doch da die Psychoanalyse eine zusehends minoritäre Bewegung inzwischen überwiegend älterer Männer und Frauen innerhalb des Mainstreams der positivistischen Psychologie und Psychotherapie ist, stehen ihre Nachwuchskräfte unter großem Erwartungsdruck. Dabei kommt der negative Affekt gegen die Psychoanalyse meist inmitten aus den Reihen der Universitäten selbst. Menschen ohne akademische Sozialisation stehen der Psychoanalyse erfahrungsgemäß wesentlich offener gegenüber als Menschen, die über akademische Grade oder sonstige akademische Meriten verfügen. Der Name Freud triggert, wie das Wort „Klimawandel“, oft eine prompte negative Reaktion, nicht selten sogar ein allergisches Verdikt. So entsteht nicht ohne Grund eine Art Wagenburg-Mentalität und die Reihen unter den Psychoanalytiker:innen schließen sich, statt sich virulenten Frage- und Problemstellungen der Gegenwart zu öffnen: „Du bekommst oft gesagt, du musst die Psychoanalyse retten“, beschrieb ein junger Nachwuchspsychoanalytiker den immensen Erwartungsdruck, der von den ausbildenden psychoanalytischen Institutionen ausgehe.
Einem hohem Erwartungsdruck sind auch die Klimaaktivist:innen ausgesetzt. Und das obwohl sie einem großen gesellschaftlichen Risiko von Verfolgung durch die Strafjustiz und Diffamierung durch die Medien ausgesetzt sind – viele Klimaaktivist:innen setzen zudem ihre Gesundheit oder ihr bürgerliches Fortkommen auf das Spiel. Trotzdem sollen gerade sie die Welt retten. Der Aufforderungscharakter, sich politisch zu engagieren, macht es einem nicht unbedingt leichter über den eigenen Schatten zu springen. Vor diesem Hintergrund war ein Erfahrungsbericht eines Vertreters von Extinction Rebellion aufschlussreich. Er führte aus, wie er bereits in jungen Jahren zum Klimaaktivisten wurde. Hierfür musste er seine Selbstzweifel überwinden, was ihm dadurch gelungen ist, dass er in eine Gruppe aufgenommen wurde, die ihr Engagement zur Rettung der Arten mit einem hohen Maß an gegenseitiger Hilfsbereitschaft und unbedingter Solidarität verbindet. Diese sozialkulturelle Ressource ist schon deswegen unabdingbar, da viele Klimaaktivist:innen sich mit einem gesellschaftlichen Machtapparat konfrontiert sehen, der ihre soziale und wirtschaftliche Existenz von heute auf morgen vernichten kann. Die entscheidende Erfahrung, die hieraus resultierte, lautete daher: „Vernetzt euch!“. Anlässe, die Grenze von der Theorie zum Handeln zu übertreten, gibt es reichlich: ein mächtiger Antrieb ist die Wut, oder auch der Hass, auf jene Strukturen und Akteur:innen, die es billigend in Kauf nehmen, dass die Artenvielfalt sowie die ökologischen Grundlagen auf dem Planeten zerstört werden. „Mir hat die Wut sehr geholfen im Leben“, äußerte Pavel Kabat. Mit der Wut gehe eine Aggression einher, die beispielsweise erforderlich sei, um jeden Wochentag pünktlich um 7 Uhr aufzustehen. Es gibt das neoliberale Märchen, wenn du etwas leistest und Eigenverantwortung praktizierst, erreichst du deine Ziele: du kannst dann einen fetten SUV fahren. Das aber verstößt für Pavel Kabat diametral gegen die Menschenwürde. Jeder SUV ist ein Statement dafür, dass nach mir die Sintflut kommen möge. Vor diesem Hintergrund kam Pavel ein Traum in den Sinn, der passenderweise die zweite analytische Großgruppe abschloss: „Es gibt einen großen Vulkanausbruch und ich stehe gebannt daneben.“. Den Traumanlass schilderte Kabat wie folgt: „Ich liebe den Winter, vor allem den Winter in Prag. Das Wetter ist aber so unordentlich geworden.“. Reguläre Winter, wie früher, gibt es schon lange nicht mehr. Der Psychoanalytiker Florian Fossel deutete den Traum wie folgt: „Im Traum geht es um Trauma und Verlust.“.
Zwischen Trauma und Verlust. Oder: die Sehnsucht nach Schnee
Nach der intensiven, aber für manche auch erschöpfenden Großgruppe bog die Tagung auf die Zielgerade ein. Im Großen Hörsaal der SFU gab ein Forum für Handlungen. Dabei waren Dianah Mugalizi (Kenia), Max Wilbert (USA) und Guido Berguida (Panama) online zugeschaltet. Sie präsentierten ihre jeweiligen Projekte und schilderten die Erfolge und Misserfolge im Zusammenhang mit der Klimakatastrophe. Die Möglichkeit, das Themenspektrum einer Tagung durch Online-Schaltungen global auszurichten, sollte in keiner Klimatagung fehlen, da auch vermeintlich lokale Klimaereignisse, wie der ausbleibende Schnee in Prag, immer auch mit globalen Klimaereignissen vernetzt eng sind. Natürlich lichteten sich zum Ende der Tagung angesichts der fälligen Abreise die Reihen der Teilnehmer:innen deutlich. Nichtsdestotrotz vermittelten auch die abschließenden Vorträge samt Diskussion wichtige Impulse für die kommende Arbeit des IPPK. Die Vernichtung der natürlichen Ressourcen des Planeten geschieht ohne Unterlass 24 Stunden weltweit. Sie geschieht im Namen des Wohlstands einer kleinen Minderheit der Menschheit, ohne, dass ein nachhaltiges psychisches Wohlsein sich damit verbinden würde. Im Gegenteil: Der Raubbau ist von einer unaufhörlichen Gier nach Ressourcen, nach finanzieller Bereicherung und einer wachsenden globalen Ungerechtigkeit begleitet. So viele individuelle Opfer die Klimaaktivist:innen vor diesem Hintergrund auch zu bringen haben, so gewiss ist es auf der anderen Seite, dass ihr Agieren auf die Erhaltung der Zukunft der Menschheit und der Artenvielfalt abzielt. Ob dies von Erfolg gekrönt sein wird, ist fraglich. Sie sind die potenziellen Retter, Sozial- und Klimarebellen in einem. In den Geschichtsbüchern in 50 oder 100 Jahren, wenn es uns als Gattung noch gibt, dürfte ihnen ein Platz als Pioniere eines neuen neuartigen Zusammenlebens zwischen Menschen, Natur und Tier gewiss sein. Ein Blick auf den Flughafen Tempelhof zeigt, dass, was als weltweit ausgreifendes Monument des deutschen Faschismus angelegt war, – eine auf fossilen Brennstoffen basierende Kriegswirtschaft samt Automobilverkehr für Volksgenossen – heute inmitten Berlins in eine grüne – zivile – Oase transformiert worden ist. Allerdings steht diese Oase auch für unnennbare Opfer an Menschenleben, die für den Sieg über den Faschismus erforderlich waren. Und für Traumata, die sich von Generation über Generation weitervererben. Die Menschheit ist mit Katastrophen „groß“ geworden; sie hat selbst in Gestalt ihrer vermeintlich auserwählten Völker und Anführer Katastrophen über Katastrophen produziert. Nun aber steht sie und steht an ihrer Seite die Artenvielfalt auf dem Spiel.
Die Tagung „Im Angesicht der Katastrophe“ des IPPK, die ein viel größeres Auditorium verdient hätte, hat nicht weniger geleistet als eine Vermessung der unbewussten Verursachungs- und Abwehrmechanismen des Klimawandels. Dies ist in einer Atmosphäre der Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und auch Empfindsamkeit geschehen, die nur selten anzutreffen sind. Es bleibt abzuwarten, ob von dieser außergewöhnlich intensiven und bewegenden Tagung oder von anderen vergleichbaren Formaten ein Impuls für den Klimawandel in den Köpfen der Menschen ausgehen kann. Eines kann dabei als sicher angenommen werden: Nur Beziehungen und Kontakte, die aus dem Kampf und dem Engagement für eine lebenswerte und inklusive Welt resultieren, haben das Zeug, um die Transformation auf diesem einzigartigen nachhaltig zu bewältigen.
Literaturverzeichnis
Beckert, Jens (2024): Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht. Berlin: Suhrkamp.
Müller, Tadzio (2024): Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps. Wie ich lernte, die Zukunft wieder zu lieben. Wien/Berlin: Mandelbaum.
Musil, Robert (2023): Der Mann ohne Eigenschaften. München: Anaconda.
Autorin: Peer Zickgraf, Diplom-Politologe und Doktorand, ist Autor und freier Journalist, pädagogischer Mitarbeiter/Dozent der Deutschen Angestellten-Akademie GmbH, Duisburg.
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