Psychoanalytische Überlegungen zu Frühformen psychischen Geschehens

Ludwig Janus

Y – Z Atop Denk 2023, 3(10), 1.

Abstract: Rezension des Buches: Jaques Press (2023): Schicksale des frühen Ich. Psychoanalyti-sche Überlegungen zu Frühformen psychischen Geschehens. Hg. v. Uorschla Guidon u. Anna-Leta Schucany. Gießen: Psychosozial-Verlag. 261 Seiten.

Keywords: Pränatale Psychologie, Trauma, Winnicott, Klein, Bion, Green

Veröffentlicht: 30.10.2023

Artikel als Download: Rezension: Jaques Press


Bei dem Sammelband von Werken des Genfer Psychoanalytikers Jaques Press handelt sich um ein sehr bemerkenswertes Buch, um einen Durchbruch in der Erfassung der „Schicksale des frühen Ich“. Es ist den Herausgeber:innen Uorschla Guidon und Anna-Leta Schucany sehr zu danken, dass sie in dieser kenntnisreichen Auswahl von Texten die zentralen Einsichten von Jaques Press den deutschen Psychoanalytiker:innen zugänglich machen. Ein Ausgangspunkt ist die Auseinandersetzung mit seinen Lehrern Michel Fain und Pierre Marty. Seine Bezugspunkte sind dabei insbesondere Winnicott, aber auch Melanie Klein, Bion und Green.

Im ersten Teil des Buches geht es, wie die Herausgeberin zusammenfassen,

„um die Frage der frühen Ich-Schicksale im Zusammenhang mit dem ‚Zusammenbruch‘, einem Ausdruck von Winnicott, um einen frühen Zusammenbruch der Bezogenheit zu bezeichnen, und der Aktualisierung von frühkindlichen agonistischen Erfahrungen im analytischen Prozess [... , ...] um einen Zugang zu den primären, vorsprachlichen Traumatisierungen im Zusammenhang mit der Hilflosigkeit [... , die] auf dem üblichen Weg nicht erinnerbar sind, aber gleichwohl als Spuren, Reste existieren [...] oder als Einschreibungen im Psychosoma“ (Press 2023).

Wichtiger Bezugspunkt ist dabei die Arbeit von Winnicott „Regression auf die absolute Abhängigkeit“ und dessen Konzept des „Zusammenbruchs“. Es gehe auf Seiten des Behandlers um die „Bereitschaft mit dem ‚Zusammenbruch‘ unserer Analysand:innen in Kontakt zu kommen“ und darüber die Erfahrung (zu ermöglichen), „in der Hilflosigkeit geliebt zu werden. Erst aus einer solchen Erfahrung heraus kann sich das psychische Subjekt weiter entwickeln, sich die Erfahrung des Zusammenbruchs als Teil seiner Geschichte aneignen und sie ins Ich-Subjekt integrieren.“

Im zweiten Teil des Buches geht es um die Kritik des „objektivierenden und defizitorientierten Ansatzes psychosomatischer Theorien“. Damit sind wohl die Theorien von Michel Fain und Pierre Marty zum pensée operatoire und zum Konzept der Alexithymie gemeint. Press versteht diese Theorien als Abwehr von Angst vor dem Nicht-Wissen, vor dem Negativen und vor dem Formlosen.

Den Inhalt des dritten Teils fassen die Herausgeberinnen dann so zusammen:

„Im dritten Teil erörtert Jacques Press [...] eine Gestalt von Leere oder von Nicht-Existenz, die im Inneren des Ichs vorherrscht, ein Negatives, dass zurückgeht auf frühe Erfahrungen beziehungsweise Nicht-Erfahrungen mit einem Primärobjekt, das für das sich entwickelnde Subjekt psychisch nicht zur Verfügung stand. Im Ich konnte sich kein Ort für das werdende Subjekt errichten, stattdessen wurde das Negative, dass Nicht-Gewordene des Seins zum inneren Kern. Um diesen negativen Kern herum bildete sich eine psychische Existenz, welcher der Zugang zum eigenen Empfinden und zur eigenen Triebhaftigkeit verwehrt blieb. Nur wenn in der Arbeit mit solchen Analysand:innen dieser negative innere Kern erreicht und durchgearbeitet wird, kann eine Entwicklung in Gang kommen.“ (Press 2023).

Seine Charakterisierung der analytischen Tätigkeit fassen die Herausgeberinnen dann so zusammen:

„Neben dem Deuten von Widerständen und der Aufhebung von Spaltung kommt dem Sich-dem-Formlosen-Öffnen eine gleichwertige Bedeutung zu. Es fordert von uns Analytiker:innen die Fähigkeit und Bereitschaft zu einer ‚binokularen Sicht‘, die sich sowohl von außen auf die Analysand:innen richtet, wie sie auch das eigene Innere mit den eigenen Körperempfindungen in den Blick nimmt [...]. Gelingt die binokulare Öffnung gegenüber diesem körpernahen Formlosen im Übertragungs-Gegenübertragungsprozess, kann erstmals Sinn auftauchen und die Geschichte des Subjekts konstruiert werden.“ (Press 2023).

Dann könnte der von Freud beschriebene „gewachsene Fels“ der Begrenzung der Analyse doch noch in Bewegung geraten und auch die „negative therapeutische Reaktion“ überwunden werden.

Ich habe in dieser Rezension so ausführlich die Einleitung der Herausgeberinnen zitiert, weil sie aus ihrer intensiven Beschäftigung mit den Texten von Jaques Press in besonderer Weise in der Lage sind, seine komplexen Einsichten stringent zusammen zu fassen. Ich halte die Texte von Jacques Press für in besonderer Weise einsichtsreich und bewundere die gedankliche Klarheit. Gleichzeitig zeigen sie aber auch das Dilemma einer Analyse in klassischer Form auf, die in ihrer kognitiven Orientierung frühe Erfahrungen gewissermaßen nur in einer slow motion-Einstellung zugänglich machen kann. Erst in jahrelangen Wiederholungen werden frühe traumatische Muster sukzessive so deutlich, dass sie auch nacherlebend verstanden werden können, wie die klinischen Beispiele von Press es zeigen.

Nun zeigen die vielfältigen und gut belegten Erfahrungen aus den regressionstherapeutischen Settings im Rahmen der Pränatalen Psychologie (Janov 1983; Grof 1984; Hollweg 1995; Emerson 2012; ders. 2021; Evertz 2014; Janus 2013a; ders. 2013b; ders. 2022; Hochauf 2014; Klippel-Heidekrüger; Janus 2022; u.a.), dass diese Erlebnisdimensionen viel unmittelbarer und direkter zugänglich gemacht werden können, wie dies auch letztlich schon Otto Rank in Das Trauma der Geburt (1924) und in seiner Arbeit Die analytische Situation von 1926 und ebenso Gustav Hans Graber in seiner Arbeit Die Ambivalenz des Kindes aus dem Jahr 1924 gezeigt haben.

Was ist nun der Grund für diese klaffende Dichotomie von behandlungspraktischen Erfahrungen und Beobachtungen? Die Antwort scheint mir verblüffend einfach und gleichzeitig herausfordernd: Jacques Press blendet entsprechend der Dissidenztradition in Bezug auf Rank die vorgeburtliche und geburtliche Erlebenswirklichkeit seiner Patienten und Patientinnen wie ganz selbstverständlich aus. Auch von den Herausgeberinnen wird aus der gleichen Tradition heraus zu diesem Aspekt keine Anmerkung gemacht, obwohl man bei Ihnen als Frauen ein intuitives Wissen um diese Zusammenhänge eigentlich annehmen könnte. Dabei ist es auf Grund sowohl der empirischen Forschung (Gluckman u. Hanson 2004; u. a.), wie auch auf Grund der Beobachtungen im Rahmen der Pränatalen Psychologie klar, dass Beziehung und Bindung bereits vor der Geburt beginnen (Levend u. Janus 2011; Hidas u. Raffai 2021; Blazy 2015; u.a.). Merkwürdig ist auch die Ausblendung der so erkenntnisreichen Forschung in der Psychotraumatologie (Van der Kolk 2014; 2023), die zum Verständnis des „Zusammenbruchs“ eine so grundsätzlich wichtige Ressource hätte sein können.

Darüber hinaus bleiben auch evolutionsbiologische Aspekte der Besonderheiten von menschlicher Schwangerschaft und Geburt außerhalb der Wahrnehmung und Reflexion, obwohl Freud diese dezidiert festgestellt hatte: „Der biologische Faktor ist die lang hingezogene Hilflosigkeit und Abhängigkeit des kleinen Menschenkindes. Die Intrauterinexistenz des Menschen erscheint gegen die der meisten Tiere relativ verkürzt; er wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. Dadurch wird der Einfluss der realen Außenwelt verstärkt, die Differenzierung des Ich vom Es frühzeitig gefördert, die Gefahren der Außenwelt in ihrer Bedeutung erhöht und der Wert des Objekts, das allein gegen diese Gefahren schützen und das verlorene Intrauterinleben ersetzen kann, enorm gesteigert. Dies biologische Moment stellt also die erste Gefahrensituation her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird“ (Freud, 1926, S. 186). An anderer Stelle wird der biopsychologische Zusammenhang noch einmal explizit gemacht: „Das psychische Mutterobjekt ersetzt dem Kinde die Fötalsituation“ (Freud 1926, S. 169).

Diese evolutionsbiologische Realität einer Geburt in neurologischer und organismischer Unreife (Portmann 1969; Gould, 1992; Haeusler et al. 2021) hat die Folge einer existenziellen Abhängigkeit, wie sie von Winnicott und Press so anschaulich beschrieben wird. Die hieraus resultierende Gefahr einer affektiven Dysregulation kann nur durch eine begleitende emotionale Koregulation durch die Mutter, den Vater und andere Beziehungspersonen ausgeglichen werden. Wegen der elementaren Angewiesenheit auf die Eltern für eine konstruktive Ich-Entwicklung haben Mängel dieser Koregulation die fatalen Folgen, die von Jaques Press so eindrucksvoll beschrieben werden. Die systematischen Hintergründe dieser Zusammenhänge habe ich in meiner Arbeit „Die Psychodynamik der ‚frühzeitigen‘ Differenzierung des Ich vom Es“ (2023) im Einzelnen beschrieben, worauf ich hier nur verweisen kann.

Ein Hintergrund für die hier angedeutete Problematik besteht in dem auch durch die Zeitverhältnisse bedingten Bruch in der psychoanalytischen Tradition, weil durch diesen Bruch der Konflikt zwischen Freud und Rank um die Relevanz der Erlebnisbedeutung von vorgeburtlichen und geburtlichen Erfahrungen nicht konstruktiv ausgetragen werden konnte. Dadurch gab es in Bezug auf diese Erlebnisdimension in England mit der Psychoanalyse Melanie Kleins eine Art Neuanfang, der wesentliche Einsichten von Rank ausblendete, insbesondere seinen unmittelbaren Bezug auf das Grundwerk Freuds. Die in beschreibbarer Weise um die Erlebnisdimension der Erfahrungen vor und während der Geburt verkürzten Konzepte Kleins, Bions, Winnicotts und anderen sind wiederum der Bezugspunkt der nachfolgenden Generation und eben jetzt auch von Jaques Press, während die Einsichten Ranks und Grabers im Rahmen der Pränatalen Psychologie weitergeführt wurden (Janus 2000). Dabei hat m. E. das Buch „Grundzüge einer Genetischen Psychologie“ von Rank (1927) mit der ausführlichen Darstellung des Abwehrmechanismus der Verleugnung das Potenzial die genannten Verkürzungen nachholend zu reflektieren.

Ein Grund für die sich oft über viele Jahre hinziehenden Behandlungsverläufe in der Psychoanalyse, wie sie auch Jaques Press beschreibt, besteht dabei m. E. wesentlich darin, dass im üblichen psychoanalytischen Setting einerseits eine regressive Situation angeboten wird, die aber wegen der Ausblendung der vorgeburtlichen und geburtlichen Lebens- und Erlebenswirklichkeit zugleich blockiert wird, weil gerade in der Gegenübertragung die Resonanzräume für frühestes Erleben wegen fehlender Selbsterfahrung des Behandlers nicht vorhanden sind. Das scheint mir, wie gesagt, ein wesentlicher Aspekt für die lange Dauer von manchen Psychoanalysen und auch für deren nicht seltene Unabschließbarkeit zu sein. Der bei dieser Thematik manchmal erwähnte Hinweis auf die schwere Gestörtheit des Patienten oder der Patientin scheint mir den oben genannten Zusammenhang nur zu verdecken.

Ein wesentliches Problem in dieser Situation besteht darin, dass die Einsichten in die Folgen frühen Beziehungsmangels nicht auf die kollektivpsychologische Ebene übertragen werden können, weil sie an sich so über aus evident zum Verständnis auch des aktuellen Kriegsgeschehens in der Ukraine beitragen könnten. Aber der Argumentation von Jaques Press folgend sind die Einsichten nur in jahrelangen Analysen ansatzweise bei einzelnen Patienten zugänglich. Darum sind die gegenteiligen Beobachtungen in der Pränatale Psychologie über eine direktere Zugänglichkeit zu frühen Traumatisierungen so bedeutsam.

 


Literaturverzeichnis


Blazy, Helga (2015) (Hg.): Jenö Raffai. Gesammelte Aufsätze. Heidelberg: Mattes.

Emerson, William: (2012): Behandlung von Geburtstraumata bei Säuglingen und Kindern. Heidelberg: Mattes.

Emerson, William (2021): Geburtstrauma. Die Wirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Psyche der Menschen. Heidelberg: Mattes.

Evertz, Klaus (2015): „Kunsttherapie und Geburtserfahrung“. In: Ludwig Janus u. Sigrun Haibach (Hg.): Seelisches Erleben vor und während der Geburt. Kulmbach: ML, S. 235-246.

Evertz, Klaus, Janus, Ludwig u. Linder, Rupert (Hg.) (2014): Lehrbuch der Pränatalen Psychologie. Heidelberg: Mattes.

Freud, Sigmund (1966): Hemmung, Symptom und Angst (1926). In: Ders.: GW XIV. Frankfurt/M.: Fischer, S. 111-205.

Gluckman, Peter u. Hanson, Mark (Hg.) (2004): The Fetal Matrix. Evolution, Development and Disease. Cambridge: Cambridge University Press.

Graber, Gustav H. (1924): Die Ambivalenz des Kindes. In: GS I. Berlin: Pinel. (Bezug: Sekretariat der ISPPM, Friedhofweg 8, 69118 Heidelberg.)

Grof, Stanislav (1983): Topographie des Unbewussten. Stuttgart: Klett-Cotta.

Gould, Stephen J. (1982): „Human Babys as Embryos“. In: Ders.: In the Beginning. New York: Columbia University Press, S. 9-14.

Haeusler, Martin, Grunstra, Nicole D. S., Martin, Robert D., Krenn, Viktoria A., Fornai, Cinzia, Webb, Nivole M. (2021): „The obstetrical dilemma hypothesis: there’s life in the old dog yet“. In: Biological Reviews 96 (5), S. 1-27.

Hidas, György u. Raffai, Jenö (2021): Die Nabelschnur der Seele. Gießen: Psychosozial.

Hochauf, Renate (2014): „Der Zugang der analytischen Psychotherapie zu früher Traumatisierung“. In: Klaus Evertz, Ludwig Janus u. Rupert Linder (Hg.): Lehrbuch der pränatalen Psychologie. Heidelberg: Mattes, S. 383-424.

Hollweg Wolfgang H. (1995): Von der Wahrheit, die frei macht. Heidelberg: Mattes.

Janov, Arthur (1984): Frühe Prägungen. Frankfurt/M.: Fischer.

Janus, Ludwig (2000): Die Psychoanalyse der vorgeburtlichen Lebenszeit und der Geburt. Gießen: Psychosozial.

Janus, Ludwig (2023): „Die Psychodynamik der ‚frühzeitigen‘ ‚Differenzierung des Ich vom Es‘“. www.ludwig-janus.de [zuletzt eingesehen am 24.10.2023].

Klippel-Heidekrüger, Marita u. Janus, Ludwig (Hg.) (2022): Vielfältige Zugänge zum vorsprachlichen und geburtlichen Erleben. Heidelberg: Mattes.

Levend, Helga, Janus, Ludwig (Hg.) (2011): Bindung beginnt vor der Geburt. Heidelberg: Mattes.

Portmann, Adolf (1969): Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel: Schwabe.

Rank, Otto (2007): Das Trauma der Geburt (1924). Gießen: Psychosozial.

Rank, Otto (1926): Die analytische Situation, illustriert an der Traumdeutungstechnik. Technik der Psychoanalyse. Bd. 1. Leipzig/Wien: Deuticke.

Rank, Otto (1927): Grundzüge einer Genetischen Psychologie. Leipzig/Wien: Deuticke.

Van der Kolk, Bessel (2014): Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper. Lichtenau: Probst.

Van der Kolk, Bessel (2023): Das Trauma in dir. Berlin: Ullstein.

 

Autor:in: Ludwig Janus, Dr. med., ist Facharzt für Psychotherapie in eigener Praxis in Dossenheim bei Heidelberg; Psychohistoriker, Pränatalpsychologe und Ausbilder in der Förderung der vorgeburtlichen Mutter-Kind-Beziehung. Leiter des Instituts für Pränatale Psychologie und Medizin.