Gedanken zur Ausstellung Die ganze Stadt – Hamburger Wettbewerbe und Verfahren 2017 – 2023, Hafen City Hamburg

Melanie Reichert

Y – Z Atop Denk 2023, 3(9), 1.

Abstract: Der folgende Text geht auf einen Ausstellungsrundgang mit dem „Kunsthasser-Stammtisch“ der Hamburger noroomgallery zurück. Entstanden ist eine kritische Betrachtung unter Einbeziehung der Theorien von George Bataille, Jean Baudrillard und Bojana Kunst. Im Fokus steht zunächst der allgegenwärtige Einfluss von marktwirtschaftlichen und spätkapitalistischen Prinzipien auf Stadt- und Raumplanung, welche sich in der Installation, aber auch der Stadt Hamburg als Ausstellungsort widerspiegeln. Auf einer zweiten Ebene formuliert der Text den Verdacht, dass die Ausstellung den Exzess postfordistischer Produktionsweisen als unheilvolle Mesalliance von Kunst und Kapital sichtbar macht – und zwar eher unbeabsichtigt.

Keywords: Installation, Architektur, Raumplanung, Kunstkritik, Spätkapitalismus, Neoliberalismus

Veröffentlicht: 30.09.2023

Artikel als Download: pdfEin Haufen Steine


In einer alten, äußerlich unscheinbaren Lagerhalle mitten in der Hafen City konnte man im Rahmen des Hamburger Architektur Sommers eine riesige Rauminstallation vorfinden, die aus Architektur- und Städtebauplänen bestand. Diese Pläne wurden in den letzten fünf Jahren auf Ausschreibungen der Stadt hin eingereicht; manche haben den Zuschlag erhalten und werden realisiert, manche nicht. Die Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen zeigte vom 23. Juni bis 14. Juli 2023 diese „gemeinsame Ausstellungsskulptur“1 unter dem Titel Die ganze Stadt. Kuratiert wurde sie von Kawahara Krause Architects sowie Kaye Geipel.

Ich besuchte die Ausstellung zusammen mit Mitgliedern des Kunsthasser-Stammtisches, der Plattform für performative Kunstkritik der noroomgallery2. Der hierdurch gestiftete Zugang ließ die Ausstellung der Hamburger Behörde stärker im Kontext kunstbezogener Fragestellungen erscheinen. So entfaltete die Installation eine eigentümliche Wirkung und ließ tiefer blicken, als es den Veranstaltern von der Behörde womöglich geheuer gewesen wäre: Unmittelbar vor dem Rundgang präsentierte uns Jan Holtmann von der noroomgallery in der futuristisch anmutenden U-Bahnstation Hafen City die Hörversion des Ausstellungsfolders. Im Anschluss ging es durch die Ausstellung. In der Optik des Kunsthasser-Stammtisches erweckte der Kontrast zwischen Foldertext – schwankend zwischen Unternehmensberater- und Behördenrhetorik – und Ästhetik der Rauminstallation am Ende den Eindruck, die Politik der Hamburger Behörde sei von ihrer eigenen Ausstellung entlarvt worden.

Die ausgestellten Wettbewerbsbeiträge waren auf Stoffbahnen gedruckt, die von der hohen Hallendecke hingen. Um die 6000 Bahnen waren es, säuberlich in Reih und Glied, wie weiße Fahnen. Wegen ihrer zurückgenommenen Farbigkeit, aber auch wegen ihrer Anzahl war es sehr schwer, sich auf einzelne architektonische und stadtplanerische Entwürfe zu konzentrieren. So wirkten sie beim Umherstreifen in den weißen Schluchten der Installation ephemer. Allerdings setzte sich schließlich, trotz der Leichtigkeit des Materials, das beim Vorbeigehen sanft in Schwingung geriet, allein aufgrund der schieren Menge der Stoffbahnen der Eindruck des Monumentalen und des Überwältigenden durch.

Zu Beginn unseres Gangs durch die Installation ordnete der Architekt Ulrich Pfannschmidt die Installation und die Architekturwettbewerbe, auf denen sie basierten, für uns ein. Jan Holtmann kontrastierte schließlich eine poetische Hommage Wolfgang Borcherts an seine Heimatstadt Hamburg mit dem vollmundigen Titel der Ausstellung: „Das Ganze“ der Stadt ist definitiv mehr, als „ein Haufen Steine“ (Borchert 2021, S. 82). Über dieses ‚Mehr‘ schwieg die Ausstellung jedoch. Diese Leerstelle zeigte sich besonders deutlich, als wir in die Installation ausschwärmten, um uns einer von Jan Holtmann mitgebrachten Aufgabenstellung zu widmen: Die Untiefen der stadtplanerischen Entwürfe nach einem Ort zu durchforsten, mit dem wir eine persönliche Geschichte verbinden, und den anderen Stammtischmitgliedern dann davon zu erzählen. Im riesigen Labyrinth der Stoffbahnen konnte man sehr gut die Orientierung verlieren – und das lag nicht nur an der Einförmigkeit der Bildträger. Dieser an sich simple Auftrag vergegenwärtigte eine eigentümliche Widerständigkeit der Installation, die der optimistischen Rhetorik des Ausstellungsfolders entgegenarbeitete.

Das Ziel der Ausstellung war es wohl, ein überbordendes Fest der Ideen zu zeigen. Im Folder war gar die Rede von einem „Mut machenden Archiv der Zukunft“ für die Transformation von Städten und Gesellschaft. Durch die Linse der Kunstkritik jedoch erschien die Installation durch die seltsame ästhetische Gleichzeitigkeit von Luftigkeit und Strenge eher als Allegorie auf die totalitär gewordene Dynamisierung des Spätkapitalismus.

Die Installation zeigte nämlich letztlich nichts anderes als menschliche Arbeit im universellen Wettbewerb des Postfordismus, ein Ringen, ein Strecken. Projekte über Projekte, erfolgreiche und gescheiterte, beide durch die gewählte Präsentationsform ästhetisch gleichgeschaltet. Diese Relativierung war vom Archivgedanken her nur konsequent. Im Zusammenspiel von Größe, Dynamik und Statik der Materialien jedoch erschien diese Ununterscheidbarkeit eher als systemisch: Gewinner, Verlierer, egal, Hauptsache Machen. Quantität schlägt Qualität und Qualitäten, aber auch das egal, denn die Akzeleration des Outputs betäubt ohnehin jede Wahrnehmungsfähigkeit. Man könnte Dieses nehmen oder Jenes, die Welt: ein einziger großer Konjunktiv.

Bojana Kunst hat auf die Morbidität der Form „Projektarbeit“ hingewiesen, die ihr zufolge nur eine von vielen Parallelen von künstlerischer und postfordistischer Produktionsweise ist. Gemäß der Logik der Deadline vollendet sich das Projekt erst mit dem Tod des Künstlers (vgl. Kunst 2015, S. 153 ff.). Aus dieser Perspektive verwandelten sich die streng aufgereihten Stoffbahnen in die weißen Steine eines Gräberfeldes. Dieses schien aber kein Ort, an dem „die Toten ihren Tod verträumen“ unter „vögeldurchjubelten“ Wipfeln (Borchert 2021, S. 83). Die Helden dieses neoliberalen Soldatenfriedhofs können „ihren Tod nicht genießen“ (ebd.). Es stellte sich nämlich die Frage, ob die Zukunft, von der der Ausstellungsfolder sprach, tatsächlich ein glückliches Jenseits im kollektiven Ideenhimmel sein könnte. Die Installation selbst ließ eher die Zukunft Filippo Tommaso Marinettis imaginieren: Die ruinöse Verausgabung der Beschleunigung hin zum großen Crash:

„Wir wollen preisen die angriffslustige Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto mortale […]. Wir werden die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; […] die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden“. (Marinetti 1995, S. 4 f.)

Georges Bataille widerspricht ganz grundsätzlich der Annahme, das Nützlichkeitsprinzip sei das fundamentale Prinzip, das unsere Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsweise beherrscht: „das menschliche Leben kann in keinem Fall auf die geschlossenen Systeme reduziert werden, auf die es nach vernünftelnden Auffassungen gebracht wird“ (Bataille 2020, S. 49). Ganz im Gegenteil gipfelt die Apotheose der Verwertbarkeit in einer gigantischen Verschwendungsorgie (vgl. ebd., S. 49 ff.). Von dieser Verausgabung im Herzen der Ökonomie legte auch die Rauminstallation Zeugnis ab. Hier wurde sie aber nicht als orgiastisches Fest greifbar, sondern als dumpfe Wiederholung und schlichte Erschöpfung. Das einzig Rauschhafte ist der Wettbewerb selbst, sowie die totale Vermessung, die Regularien und Vorschriften, die in der als ‚Stil‘ missverstandenen copy-and-paste-Ästhetik vieler neuer Stadtarchitekturen – unter anderem auch in der Hamburger Hafen City selbst – gipfeln.

Die beschworene ‚Ganzheit‘ erschien beim Gang durch die Installation also schlicht als totalitäres Ausgreifen des marktwirtschaftlichen Prinzips auf jeden Winkel der Stadt und des Lebens. Jean Baudrillard verbindet das Verschwinden der Fabriken aus den Städten mit dem Verdacht, dass hier die Arbeit nicht etwa verdrängt, sondern vielmehr allgegenwärtig werde. (vgl. Baudrillard 2022; S. 224) Genau dies ist der Rausch des Neoliberalismus, die kalte Ekstase der unendlichen Flexibilisierung, die sich transgressiv gibt und doch immer nur auf ökonomische und soziale Kontrollierbarkeit zielt, selbst da, wo sie Experimentierfreude behauptet.

Man mag nun einwenden, die Ausstellung zeigte die Früchte des fairen Wettbewerbs der besten Ideen. Die Installation erweckte jedoch den Eindruck, die Würfel seien schon gefallen und man könne nur noch Ja sagen. Räume für Inkommensurables, für Absonderliches, für Zufälle, für das Scheitern und für die Intimität des gemeinsamen Versuchens sind in den Städten der Zukunft nicht mehr vorgesehen. In den Erzählungen der Mitglieder des Kunsthasser-Stammtisches über ‚ihre‘ Orte kristallisierte sich heraus, dass es solche Räume einmal gab. Es gab unbeachtete Winkel, in denen Wildes und oft Schönes passierte. Die Ausstellung der Pläne verriet, dass nun jeder Zentimeter unter Beobachtung steht und künftig marktförmig eingehegt wird. Man müsste wieder lernen, etwas einfach zu lassen. Welch ein Skandal wäre das. Welch ein Fest!

 


1 Folder zur Ausstellung.
2 http://www.noroomgallery.com/


KAWAHARA KRAUSE 4
Abbildung 1 (© KAWAHARA KRAUSE ARCHITECTS).

 

KAWAHARA KRAUSE 2

Abbildung 2 (© KAWAHARA KRAUSE ARCHITECTS).

 

KAWAHARA KRAUSE 3

Abbildung 3 (© KAWAHARA KRAUSE ARCHITECTS).

 

KAWAHARA KRAUSE 4

Abbildung 4 (© KAWAHARA KRAUSE ARCHITECTS).

 

KAWAHARA KRAUSE 5

Abbildung 5 (© KAWAHARA KRAUSE ARCHITECTS).

 


Literaturverzeichnis
Bataille, Georges (1933): „Der Begriff der Verausgabung“. In: Michel Surya u. Tim Trzaskalik (Hg.) (2020): Der Fluch der Ökonomie. Berlin: Matthes & Seitz, S. 19-52.

Baudrillard, Jean (2022): Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz.

Borchert, Wolfgang (1998): „Hamburg“. In: Michael Töteberg u. Irmgard Schindler (Hg.) (2021): Das Gesamtwerk. 8. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 82.

Kunst, Bojana (2015): Artist at Work, Proximity of Art and Capitalism. Winchester/Washington: Zero Books.

Marinetti, Filippo Tommaso (1909): „Gründung und Manifest des Futurismus“. In: Wolfgang Ascholt u. Walter Fähnders (Hg.) (1995): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde: 1909-1938. Stuttgart: Metzler, S. 3-7.

Autor:in: Melanie Reichert, Dr. phil., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Kiel.