Tagungsbericht

Julia Badouin und Lorenz Mangold

Y – Z Atop Denk 2023, 3(6), 3.

Abstract: Bericht zur 4. Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte (AKSG) in Kooperation mit den Kulturwissenschaften an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin vom 21.–22. April 2023 an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin.

Keywords: Tagungsbericht, Sexualitäten, Lacan, Freud, Triebtheorie, Kulturwissenschaft, Kultursoziologie, Kulturgeschichte

Veröffentlicht: 30.06.2023

Artikel als Download: 4. Jahrestagung AKSG


Die in Kooperation mit den Kulturwissenschaften der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin ausgerichtete 4. Jahrestagung des 2019 gegründeten Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte (AKSG) stand diesmal im Zeichen der sich zum fünfzigsten Mal jährenden Großen Strafrechtsreform. Diese Reform im Jahr 1973 steht gemeinhin symbolisch für eine nun auch rechtlich verankerte Liberalisierung und Diversifizierung von Sexualitäten. Die Veranstalter:innen der Tagung, Sonja Witte (Berlin), Dagmar Lieske (Berlin), Julia König (Mainz), Sebastian Bischoff (Bielefeld), nahmen dies zum Anlass, die historischen Entwicklungen von Sexualitäten – beide Begriffe bewusst in den Plural gesetzt – aus vor allem soziologischer, historischer und psychoanalytischer Perspektive genauer in den Blick zu nehmen. Als gemeinsamen Bezugspunkt der thematisch weitgefächerten Überlegungen der Einzelbeträge formulierten die Veranstalter:innen die Problemstellung der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Prozesse. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass historisch eine diskursive Verschiebung nachzuvollziehen sei, in deren Zuge die Beurteilung der „Sittlichkeit“
sexueller Handlungen zunehmend zugunsten einer Bewertung ihrer Einvernehmlichkeit aus dem Fokus der gesellschaftlichen, rechtlichen und moralischen Verhandlung von Sexualität gerückt sei, stellten sich daher Fragen nach Dynamik und Konvergenz der mutmaßlichen Entwicklung(en): Lässt sich die Geschichte der Sexualität(en) als eine lineare und einstimmige erzählen oder entstehen zwischen den verschiedenen Erzählsträngen zuweilen doch Dissonanzen? Unter psychoanalytischen Gesichtspunkten schließt sich darüber hinaus ein Nachdenken über die Rückkoppelung solcher Betrachtungen an unbewusste Triebkräfte an. Der vorliegende Bericht resümiert das Tagungsgeschehen und stellt die Beiträge der einzelnen Panels schlaglichtartig vor.

In den Eröffnungsworten der Organisator:innen wurde – in Hinblick auf das Jubiläum der Reform – eine Frage aufgeworfen, welche immer wieder aus verschiedenen Perspektiven aufgegriffen werden sollte: In welchem Verhältnis stehen staatliche Interventionen und Mehrheitsnorm als Regulativ sexueller bzw. romantischer Praktiken auf der einen und tatsächlich gelebte Beziehungs- und Begehrensformen auf der anderen Seite? Durch einen Verweis auf die Marxsche Ideologiekritik sowie auf die Freud’sche Triebtheorie schlug der Eröffnungsvortrag auch einen theoretischen Rahmen vor, der die unterschiedlichen Beiträge – unabhängig von deren tatsächlicher methodischer oder inhaltlicher Ausrichtung – miteinander in Beziehung setzte.

Das erste Panel beleuchtete eine „Sexualmoral im Wandel“ aus verschiedenen Blickwinkeln. Veronika Settele (Bremen) zeichnete in einer prägnanten historischen Darstellung den Protest feministischer Aktivist:innen angesichts rechtlicher Reformen um 1900 nach. Überzeugend argumentierte sie, dass sich unter Einbezug von Ego-Dokumenten dieser Zeit eine weitere Diskursebene neben der politisch sichtbaren und von Säkularisierung erfassten Kritik eröffne: In diesen Zeugnissen lasse sich, so Settele, die Parallelgeschichte einer unausgesetzten Bedeutung von Religion und Frömmigkeit alltäglicher Lebenswelten lesen. Ausgehend von Interviewausschnitten betrachtete Alexandra Regiert (Regensburg) mit ethnographischem Vergrößerungsglas Mikrogeschichten weiblicher Sexualität in der BRD und konterkariert damit verschlagwortete Periodisierungen bundesrepublikanischer Sexualgeschichte wie etwa der „prüden 50er“ oder „wilden 60er Jahre“. Luzid gewährte sie Einblicke in voreheliche Freiräume von Intimität und stellte diese den geltenden Normen der späten 1950er bis frühen 1970er Jahre gegenüber. Einen soziologischen Ansatz verfolgte Vanessa Rau (Göttingen) in ihrer Studie über die Verhandlung von Alterität und Differenz – sowie deren erotische Besetzung – innerhalb von Liebesbeziehungen zwischen Geflüchteten und deutschen Staatsbürger:innen. Sie skizzierte die Ambivalenz kulturalisierender sowie pathologisierender Aspekte von Prozessen des „Othering“, die sich sowohl konstitutiv als auch disruptiv auf die Partnerschaft auswirkten.

Zum Thema „Sexualität und Jugend“ sprachen die Vortragenden des dritten Panels dieses Tages. Ruth Pope (Hamburg) machte den Auftakt mit einem erhellenden Vortrag über die Schutzalterdebatte, die sich im Zusammenhang mit der Sexualstrafrechtsreform von 1973 um die Deutungshoheit sexualisierter Gewalt zwischen vornehmlich männlichen Sexualwissenschaftlern und Feminist:innen ergab. In diesem Zuge habe sich – informiert durch Erfahrungsberichte betroffener Frauen – der Gewaltdiskurs zunehmend ausdifferenziert und schloss schließlich auch die Vorstellung von Gewalt als Machtgefälle ein. Infolge kurzfristiger Programmänderungen ersetzten Einsichten zum Jugendaufklärungsbuch „Sex in echt“ des Sexualberaters und -pädagogen Marco Kammholz (Köln/Wuppertal) die ursprünglich geplante Untersuchung sexualmoralischer Ambivalenzen in Draco Malfoy/Harry Potter Slash-Fanfiction durch Melanie Babenhauserheide (Bielefeld). Der Pädagoge beobachtete mit Sorge, wie das Buch bereits eine ausgeprägte Reflexionsfähigkeit bei seinen Leser:innen voraussetze und Jugendliche mit der Sexualtherapie Erwachsener entlehnten Konzepten überfordere. Durch diese Form von Therapeutisierung, so gab er zu bedenken, werde die adoleszente Sexualität implizit pathologisiert. So plädierte er für eine stärkere pädagogische Zurückhaltung im Bereich sexueller Bildung, die Heranwachsenden ein höheres Maß an sexueller Ziellosigkeit, Unbestimmtheit und Unreife zugesteht. Merlin Sophie Bootsmann (Berlin) beschloss das Panel mit einem geschichtlichen Überblick bildungspolitischer Transformationsprozesse und deren Brüche sowie Interferenzen mit den LSBTIQ*-Bewegungen in West-Berlin zwischen 1969 und 2016.

Lilli Gast (Berlin) erkundete in ihrem dichten Keynote-Vortrag „Erkenntniswege der Psychoanalyse“ in Engführung mit Freuds Triebbegriff. Sie betonte die wesentliche Unverfügbarkeit des Triebes, dessen Erscheinungs- und Entziehungsweisen sie mit erkenntnislogischen Prozessen parallelisierte. Auch historisch habe ein durch die Psychoanalyse geprägtes Wissenschaftsverständnis epistemische Sprengkraft entfaltet, die Gast wiederum im Licht eines differenzierten Triebbegriffs artikulierte: So wie der sich ständig umformende Trieb, der als Repräsentant des Somatischen im Konflikt mit der Realität unter einer „Verdeckungsobligation“ stehe, so sei auch das erkennende Denken mit seiner eigenen Ursprungslosigkeit bzw. Dezentriertheit und der Widerständigkeit des Gegenstands konfrontiert.

Da der angekündigte Vortrag der Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel (Kiel) kurzfristig abgesagt werden musste, eröffnete der zweite Tagungstag mit einem Panel zum Thema „Diskursive Verwicklungen: Queere Sexualitäten, Gesundheitsprävention und Menschenrechte“. In Andrea Rottmanns (Berlin) bewegungs- und institutionsgeschichtlichem Vortrag stand die Beziehung zwischen der „International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association“ (ILGA) – vormals „International Gay Association“ (IGA) – und der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ ab den späten 1970er Jahren im Mittelpunkt. Im Rahmen der Untersuchung einer Lobbykampagne der IGA und der resultierenden Politisierung von Amnesty International hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität exemplifizierte sie zwei allgemeinere Thesen: Zum einen stelle diese historische Entwicklung den institutionellen Wandel in der Anerkennung dieser Sexualitäten dar; zum anderen zeige sie den konflikthaften Charakter des entsprechenden Durchsetzungsprozesses auf. Adrian Lehnes (Berlin) Vortrag handelte von der schwulenpolitischen Mobilisierung in Reaktion auf Diskriminierungen am Arbeitsplatz in den 1980er und 1990er Jahren. Lehnes insbesondere anhand der Analyse von Schwulenmagazinen gewonnenen Einsichten zufolge, hätten die im Kontext von HIV erlassenen repressiven Maßnahmen – Zwangstests und Kündigungen – zu einer Veränderung im Verhältnis von Schwulenbewegung und Staat bzw. Recht geführt. Letztere Instanzen seien trotz weiter bestehender Vorbehalte nun vermehrt auch als Ressource mit Blick auf einen arbeitsrechtlichen Schutz sowie sexualpolitische Aufklärung verstanden worden. Kevin-Niklas Breu (Bremen) fokussierte die Mobilisierungsmechanismen der Schwulenbewegung im dritten Panelvortrag durch eine Differenzierung von collective action frames bzw. commitment frames. In einer von Angst und Trauer motivierten Abgrenzung gegenüber einem restriktiven Staat zu Zeiten der AIDS-Pandemie sei die politische Kraft der Krise auch als erweiterter Möglichkeitsraum, etwa durch die ACT-UP-Bewegung, entdeckt worden, in dem die eigene kollektive Identität und das politische Commitment erstarken konnten. Vor allem in der sich auf diesen Vortrag beziehenden Diskussion wurden die ambivalenten Folgen der AIDS-Krise für eine schwule Autonomie herausgestellt, da diese zwar einerseits neue Repressionen nach sich gezogen habe. Durch die nun gesamtgesellschaftliche, gesundheitspolitische Problemlage habe sie andererseits aber Druck auf den Staat zur Auseinandersetzung mit und Anerkennung von homosexuellen Positionen ausgeübt.

Das abschließende Panel war aufgrund des bedauerlichen Ausfalls des Lacanianischen Psychoanalytikers und Philosophen Leon Brenners (Berlin) mit einem Beitrag zu Autismus und Sexualität mit nur einem Vortragenden besetzt. Christoph Sulyok (Wien) reflektierte die Rolle von Psychoanalytiker:innen innerhalb der repressiven Politik der McCarthy-Ära. In den USA der Nachkriegsjahre sei die sogenannte „lavender scare“, die institutionalisierte Sorge um die Bekleidung von Staatsämtern durch homosexuelle Menschen, mit der „red scare“, eine Mobilisierung gegen kommunistische Aktivitäten, verknüpft worden. Er führte aus, wie die Psychoanalyse dieser Zeit in der Folge ihr radikal-visionäres Verständnis von Sexualität zunehmend revidierte und sich in den Dienst jenes homophoben Kalküls stellte.

In der nur zögerlich anlaufenden Abschlussdiskussion wurde wiederholt auf die Produktivität von Transfers zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie im Bereich sexualgeschichtlicher Forschung verwiesen. So ergäben sich Berührungspunkte und produktive Querbezüge häufig erst durch den interdisziplinären Seitenblick. Des Weiteren wurde in der Abschlussdiskussion hervorgehoben, dass auf der Tagung auch Verschränkungen heterosexueller und queerer Sexualitätsgeschichte in vielfacher Hinsicht in den Blick kamen. Außerdem wurde angemerkt, dass sich – exemplarisch am Vortrag von Marco Kammholz – mitunter ‚Erregungswogen‘ in der gemeinsamen Diskussion ankündigten, die sich sodann unversehens wieder glätteten. Hier habe sich, so die Beobachtung, im Gegensatz zu den interdisziplinären und thematischen Kontaktaufnahmen dieser Tagung auch ein „Berührungsverbot“ abgezeichnet. Tatsächlich ließ sich beobachten, dass der Umstand, dass Berührung manches Mal auch Reibung bedeuten kann, Diskutant:innen doch eher zu umsichtigen Ausweichbewegungen verleitete. Vielleicht – so ließe sich abschließend mit psychoanalytischem Blick und einem Augenzwinkern formulieren – entfaltete hier das Konsensgebot, ein zentrales Leitmotiv der Tagung, auch hintergründig seine unbewusste Wirkung.

 

Vollständiges Tagungsprogramm:

https://www.ipu-berlin.de/fileadmin/user_upload/2023_Programm_4._Jahrestagung_AK_Sexualita__ten_in_der_Geschichte.pdf [28.06.2022]

 

Autor:in: Lorenz Mangold studierte Musikwissenschaft und Geschichte in Heidelberg und studiert zurzeit Kulturwissenschaften an der International Psychoanalytic University Berlin.

Autor:in: Julia Badouin ist Ärztin und promoviert gegenwärtig über Genesungsbegleitung in der Akutpsychiatrie. Darüber hinaus studiert sie berufsbegleitend Kulturwissenschaften an der International Psychoanalytic University Berlin.