Gedanken zur Aufgabe der Psychoanalyse
Peter Widmer
Y – Z Atop Denk 2023, 3(4), 1.
Originalarbeit
Abstract: Dieser Text wurde als Vortrag an der Universität Teheran (Fakultät der Anthropologie) im Jahre 2016 gehalten, als die Legitimation des Regimes in der Nachfolge von Ayatollah Khomeini bereits mehr als brüchig war. Die freudsche wie auch die lacansche Psychoanalyse legen großen Wert auf das Konzept der menschlichen Hilflosigkeit, das sowohl biologisch – physiologische Frühgeburt – wie auch anthropologisch, d.h. als Folge des Einflusses des Anderen der Sprache begründet wird. Hilflosigkeit wird schlecht ertragen und steht deshalb am Ursprung von Religionen und politischen Ideologien, deren Bezug zum Narzissmus des Ichs offensichtlich ist. Hilflosigkeit, wie auch Erfahrungen menschlicher Begrenztheiten, könnten jedoch auch am Ursprung von Solidarität, Freiheit und demokratisch organisiertem gesellschaftlichem Leben stehen.
Keywords: Religion, Ideologie, Kulturkritik, Symbolische Ordnung, Macht, Demokratie, Sprechwesen (parlêtre)
Veröffentlicht: 30.02.2023
Artikel als Download: Hilflosigkeit und Ethik
Hilflosigkeit ist für die Psychoanalyse von großer Bedeutung, wie auch Ohnmacht. Beide sind mehrdeutig; bei Freud finden sich mannigfache Aspekte dazu. Wir können Ursachen von Folgen unterscheiden, zudem auch Felder, auf denen sich Hilflosigkeit manifestiert.
1. Ursachen der Hilflosigkeit
Beginnen wir mit den Ursachen von Hilflosigkeit: Freud unterscheidet drei Ursachen von Hilflosigkeit, eine biologische, eine phylogenetische und eine psychologische. Mit der biologischen Hilflosigkeit meint er das, was einzelne biologische Schulen die physiologische Frühgeburt des Menschen nennen, seine lange Abhängigkeit von der Pflege anderer Menschen, die dadurch Macht über den kleinen Menschen gewinnen, die sich später fortsetzen kann. Mit der phylogenetischen Hilflosigkeit bezeichnet er den Sachverhalt, dass die menschliche Sexualität sich nicht wie bei Tieren linear bis zur Reifung entwickelt, sondern dass sie zweizeitig ist, wobei zwischen der ersten Manifestation während den ersten fünf Lebensjahren und der Pubertät eine Latenzphase liegt. Die dritte Ursache der Hilflosigkeit nennt Freud eine psychologische, wobei er an die Unvollkommenheit unseres seelischen Apparates denkt. Diese zeige sich in der entstandenen Differenzierung in ein Ich und ein Es, die er als Folge des Einflusses der Außenwelt sieht. Freud spricht von äußeren Gefahren, gegen die das Ich sich zur Wehr setzen müsse. Dabei entstehe die Notwendigkeit, sich gegen Triebregungen des Es zur Wehr zu setzen, sie wie eine Gefahr aufzufassen, die die Aufmerksamkeit für die Gefahren der Aussenwelt absorbieren würden.
Anders gesagt: Die Auseinandersetzung mit der Natur, der Kampf gegen sie, gegen Kälte, Hitze, Überschwemmungen, Trockenheit und Dürre, Hunger und Durst, Erdbeben, Unfälle, gefährliche Tiere, sicher auch gegen fremde Eindringlinge führen dazu, dass Triebwünsche nicht oder nicht sofort befriedigt werden können, ihr Drang im Gegenteil als Gefahr empfunden wird. Das Realitätsprinzip erfordert den Aufschub der Triebansprüche.
Die dritte Argumentation impliziert, für sich allein betrachtet, dass eine befriedete Umwelt mehr Platz für die Triebe, für das Ausleben der Sexualität lassen würde. Sobald jedoch die drei Argumente der Hilflosigkeit miteinander in Beziehungen gesetzt werden, sieht die Sache anders aus: Der zweite der drei Gründe für die menschliche Hilflosigkeit beinhaltet die Notwendigkeit einer Distanzierung von der frühkindlichen Sexualität, die Pubertät darf nicht in diese frühen Stadien zurückfallen. Freud sagt nicht direkt, warum diese Regression zu vermeiden ist, aber seine Konzeptualisierung des Ödipuskomplexes lässt es leicht erraten: Die frühkindliche Sexualität ist inzestuös, an die Elternimagos gebunden, der Hilflosigkeit und Ethik. Gedanken zur Aufgabe der Psychoanalyse Ausgang des Ödipuskomplexes sollte jedoch zu einer Trennung von ihnen führen, das ist es, was Freud als ichgerecht bezeichnet. Damit wird dem werdenden Ich auch zugemutet, dass es den ersten Grund der Hilflosigkeit, die Abhängigkeit von den Anderen, so weit wie möglich überwindet, jedenfalls was die Beziehung zu den versorgenden Eltern betrifft.
Freuds Gründe für die Hilflosigkeit sind anthropologischer Art; etwas vereinfacht gesagt, die Abhängigkeit von anderen Menschen, das Ausgeliefertsein an Triebe, die ihre infantile Herkunft nicht ablegen können, und die Gefahren der äußeren Natur, die Triebaufschub notwendig machen. Freud argumentiert dabei atheistisch, wissenschaftlich; wenn Religion ins Spiel kommt, so nicht als Ursache von Hilflosigkeit, sondern als Abwehr, als Mittel, sie zu ignorieren. An anderer Stelle sagt er, dass materielle Hilflosigkeit aus der Einschätzung unserer (zu geringen) Stärke im Vergleich zur Realgefahr entstehe; psychische Hilflosigkeit basiere dagegen auf der Triebgefahr. Dennoch spielt die Religion im Kontext seiner Ausführungen über Hilflosigkeit eine bedeutsame Rolle, wie wir noch sehen werden.
Man kann sagen, dass Lacan sich Freuds Argumentation anschließt; auch er spricht von physiologischer Frühgeburt, so dass an dieser Stelle nur der Hinweis angebracht ist, dass Lacan das Spiegelstadium an dieser Stelle einführt, wo das kindliche Subjekt, das noch in motorischer Ohnmacht gefangen ist, in einer jubilatorischen Reaktion sich über seine tatsächliche Lage, seine Hilflosigkeit hinwegsetzt.
2. Erleben der Hilflosigkeit
Wie erleben nun die Menschen die Hilflosigkeit? Freud spricht von Trauma:
„Was ist der Kern, die Bedeutung der Gefahrsituation? Offenbar die Einschätzung unserer Stärke im Vergleich zu ihrer Größe, das Zugeständnis unserer Hilflosigkeit gegen sie, der materiellen Hilflosigkeit im Falle der Realgefahr, der psychischen Hilflosigkeit im Falle der Triebgefahr. Unser Urteil wird dabei von wirklich gemachten Erfahrungen geleitet werden; ob es sich in seiner Schätzung irrt, ist für den Erfolg gleichgiltig. Heißen wir eine solche erlebte Situation von Hilflosigkeit eine traumatische; wir haben dann guten Grund, die traumatische Situation von der Gefahrsituation zu trennen.“ (Freud 1992, S. 199)
Nun kann man sagen, dass ein Trauma nicht einem Erlebnis entspricht, ein Trauma ist ein theoretisches Konstrukt, erlebt wird ein Versagen, eine Ohnmacht, ein Gefühl von Nichtigkeit, vielleicht sogar Scham, Unfähigkeit, eine Orientierungslosigkeit – und vor allem Angst. Ist Angst nicht ein erstrangiges Zeichen von Hilflosigkeit? So sehr das zutrifft, kann dem entgegenhalten werden, dass das Auftreten von Angst bereits einen Ausgang aus der Hilflosigkeit anzeigt, was sich in Erwartung, Antizipation zeigt. Angst situiert sich an der Schwelle zwischen der empfundenen Hilflosigkeit mit all seinen befürchteten und darüber hinaus unvorhersehbaren Folgen und der von Wünschen geleiteten Antizipation auf das, was kommen wird bzw. kommen soll. Gegen diese Argumentation lässt sich einwenden, dass sie die tiefsten Wurzeln der Angst verkennt, dass der Gedanke, die Erwartungshaltung sei der Grund für die Angst zu bewusstseinsnah, zu „rationalistisch“ ist. Der Einwand wird dadurch gestützt, dass die Angst bereits vor jeder Unterscheidung in Bewusstsein und Unbewusstsein, auch diesseits von Erwartung und Erinnerung sich manifestiert, so dass die Auffassung berechtigt erscheint, Angst sei letztlich tief ins Organische eingelagert, sei eine Folge der Umstellung vom intrauterinen Leben in das extrauterine, eine Umstellung, die mit der beginnenden Atmung durch Nase und Lunge zu tun habe und generell mit einem Unangepasstsein des menschlichen Organismus für die Umwelt. Freud selber legt einem diese Begründung nahe, wenn er schreibt:
„Als wir vor langen Jahren junge Spitalärzte um den Mittagstisch im Wirtshause saßen, erzählte ein Assistent der geburtshilflichen Klinik, was für lustige Geschichte sich bei der letzten Hebammenprüfung zugetragen. Eine Kandidatin wurde gefragt, was es bedeute, wenn sich bei der Geburt Mekonium (Kindspech, Exkremente) im abgehenden Wasser zeigen, und sie antwortete prompt: Dass das Kind Angst habe. Sie wurde ausgelacht und war durchgefallen. Aber ich nahm im stillen ihre Partei und begann zu ahnen, dass das arme Weib aus dem Volke unbeirrten Sinnes einen wichtigen Zusammenhang bloßgelegt hatte.“ (Freud 2007, S. 384)
Wenn dem so ist, dass Angst zweistöckig strukturiert ist, diesseits und jenseits der Ebene der Repräsentation durch Signifikanten, besteht eine Parallele zur Strukturierung des Begehrens, das sich einerseits an austauschbaren, von Signifikanten bezeichenbaren Objekten orientiert, andererseits aber um ein unmögliches Objekt kreist, das Objekt, das Ursache des Begehrens ist, das empirisch nicht fassbar ist. Noch anders gesagt: Wir treffen hier sowohl bei der Angst wie beim Begehren auf das Objekt a, wie Lacan es in immer neuen Anläufen konzipiert hat. Nicht nur beginnen Angst und anderer mit diesem Buchstaben a, das könnte ja bloß ein zufälliger Zusammenhang sein, sondern die Sache selbst ist hier betroffen, die Sache, d.h. das Ding, dieses sich der Empirie entziehende Objekt, das gleichwohl Anlass gibt, einzelne empirische Objekte mit seiner Würde auszustatten.
Eine zweite Folgerung drängt sich auf: Wenn Angst somit nicht unbedingt an das Auftreten von Signifikanten gebunden ist, sondern jegliche Rationalität unterläuft, das Imaginäre und das Reale dort, wo sie kaum unterscheidbar sind, betrifft, dann lässt sich behaupten, dass Angst selber die Autoaffektion von Hilflosigkeit ist.
3. Ausgang aus der Hilflosigkeit
Wie zeigen sich Möglichkeiten, aus dieser prekären Situation der Hilflosigkeit, des Irrens, der Kontingenz und der Unbestimmtheit herauszukommen? Es gibt hierfür eine breite Palette, auf der pathologische Wege mit kulturellen Mustern, die als normal gelten, nur schwer zu unterscheiden sind:
Freud erwähnt in Triebe und Triebschicksale einen ersten Ausweg, der sich auf die Dauer doch als nicht tragfähig erweist, nämlich die Einkapselung in den eigenen Narzissmus, in dem das Subjekt sich selber liebt und gegen die Befriedigung verschaffende Außenwelt (Pflege) gleichgültig bleibt (vgl. Freud 2010, S. 227). Der Grund für die fehlende Tragfähigkeit dieses Auswegs ist derselbe wie bei der Befriedigung, die im Traum stattfindet: Die Befriedigung kann nicht wirklich gelingen, bleibt halluzinatorisch oder angewiesen auf die Zufuhr von einem anderen Menschen, so dass sich der Rückzug in den Narzissmus als trügerisch erweist.
Einen zweiten Ausweg aus der Hilflosigkeit sieht Freud in der Vatersehnsucht, die Lacan eher als Verlangen nach dem Anderen bezeichnet:
„Wir wissen schon, der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren – Vaters verursacht. Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen.“ (Freud 2010b, S. 352)
Die Erwartungshaltung an die Anderen setzt sich in der Religion fort. Für Freud ist klar, dass die Religionsbildungen sich der unerträglichen Hilflosigkeit verdanken; in ihnen wird grundsätzlich die Verlassenheit des Menschen, das Alleine-auf-sich-gestellt-Sein, dadurch verleugnet, dass mit Allmacht ausgestattete, göttliche Figuren geschaffen werden, die imstande sind, der menschlichen Not ein Ende zu machen. Ein eindrückliches Beispiel lieferten die Mayas, die den Göttern Menschen opferten, um sicherzustellen, dass die Sonne jeden Tag aufsteht und Wärme spendet, auch dass der Regengott dafür sorgt, dass keine Trockenheit das Wachstum der Nahrungsmittel beeinträchtigt und das Trinkwasser versiegt. Um die Götter zu beeinflussen, entstanden Priesterkasten, die von sich Nähe zu göttlichen Mächten behaupteten und die infolgedessen unter den Gläubigen eine Sonderstellung bekleideten; andererseits wurden und werden von ihnen die Einhaltung von ethischen Normen erwartet, die den Zweck haben, die durch die Priester ausgeübte Macht und deren Genießen zu legitimieren.
Freud zufolge findet der Übergang von der Vater-Imago zur Religionsbildung dann statt, wenn das kindliche Subjekt die Schwächen und Unvollkommenheiten des eigenen Vaters entdeckt hat, und es sein Ideal auf göttliche Figuren verlagert. Dies geschieht nicht ohne Aufrichtung einer Instanz, die Freud das Über-Ich nennt und die als Erbe des Ödipuskomplexes die Trennung der Generationen akzeptiert, jedoch die präödipalen Ideale dadurch weiter bestehen lässt, dass sich das Subjekt in eine Glaubensgemeinschaft einfügt, die es auch vor Alleinsein oder zumindest Einsamkeit bewahrt.
Freud weist noch auf eine zusätzliche Funktion hin, die vielen, wenn nicht sogar allen Religionen zukommt, nämlich die Beschwichtigung der Angst vor dem Tode durch den Glauben an das ewige Leben. Dieser Glaube lässt sich in monotheistischen Religionen feststellen, er reicht bis zum Buddhismus, wo das Nirvana, von dem man doch annehmen müsste, dass es das Ende des Lebens bedeuten würde, als Paradies ausgemalt wird, in dem die Wünsche endlich in Erfüllung gehen, die einem in der Zeit der irdischen Existenz versagt bleiben. In anderen Religionen wird der Tod überhaupt nicht als Ende des Lebens aufgefasst, sondern als Übergang in eine andere Form des Lebens.
Während der Glaube an das ewige Leben im Zeitalter der Vorherrschaft der Naturwissenschaft zwar schwindet, aber nicht verschwindet, stößt sich der Glaube an göttliche Mächte, an Allmacht an den Erfahrungen, dass trotz Gehorsam, trotz Opfergaben Katastrophen eintreten, Seuchen ausbrechen, Kinder sterben. Während die einen daraus folgern, dass der Glaube nicht genügend ausgebildet, oder dass die eingetretene Katastrophe eine Strafe Gottes sei, was letztlich auf dasselbe hinausläuft, nämlich auf die Aufrechterhaltung einer allmächtigen Instanz, deren Begehren man zu gehorchen hat, ziehen die anderen einen anderen Schluss, sehen einen dritten Ausweg aus der Hilflosigkeit: Sie beginnen am Glauben zu zweifeln und fangen an, das eigene Geschick und die Geschicke der Menschen selber zu gestalten, ausgehend von der Überzeugung, dass nicht durch Glauben und Opfer sondern durch Studium der Naturkräfte Katastrophen verhindert und eine Umwelt geschaffen werden kann, in der das Leben weniger beschwerlich wird. Treten zuerst Sklaven an die Stelle der Kräfte, die die Natur bezähmen, so ist es im Verlauf der Geschichte immer mehr die Technik, die zum Werkzeug der Menschen wird, das eine Verfügung zumindest über die Kräfte der äußeren Natur ermöglicht. Dazu Freud:
„Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Es ist wiederum nur Illusion, wenn man von der Intuition und der Selbstversenkung etwas erwartet; sie kann uns nichts geben als – schwer deutbare – Aufschlüsse über unser eigenes Seelenleben, niemals Auskunft über die Fragen, deren Beantwortung der religiösen Lehre so leicht wird. Die eigene Willkür in die Lücke eintreten zu lassen und nach persönlichem Ermessen dies oder jenes Stück des religiösen Systems für mehr oder weniger annehmbar zu erklären wäre frevelhaft.“ (Freud 2010b, S. 354)
Mit der Bekämpfung und Eindämmung der äußeren Natur wird auch das Triebgeschehen beeinflusst. Die Menschen müssen sich zusammentun, feindselige Strömungen, die sich gegen kulturelle und wissenschaftliche Errungenschaften richten, bekämpfen; auch ist es wichtig, die Verteilung der Güter zu beachten, sonst kann eine Kontrolle der Naturkräfte nicht gelingen, eine Gesellschaft nicht überleben. Freud schreibt von einer erforderlichen sittlichen Ordnung, die den Menschen wiederum Opfer abverlangt, aber diesmal sind die Opfer von anderer Art, man könnte auch sagen, dass an die Stelle der früheren Götter die Wissenschaft getreten ist, das Göttliche lebt in den geistigen Vermögen der Menschen weiter, in ihrer Fähigkeit, das Zusammenleben so zu gestalten, dass die äußere und innere Natur eingedämmt, in eine Ordnung gebracht werden, die bei den Betroffenen auf Akzeptanz stößt.
Freud erweist sich als entschiedener Parteigänger der Wissenschaft. Er gesteht zwar ein, dass die Wissenschaft die großen Rätsel der Menschheit nicht gelöst habe, das ändert aber nichts daran, dass er in ihr die einzige Macht sieht, die imstande sein kann, nicht nur die Naturkräfte zu bändigen, sondern auch ein Zusammenleben zu ermöglichen. Dabei denkt er nicht nur an die Sexualtriebe, sondern ebenso sehr und mit zunehmendem Alter an die Aggressionstriebe. Die Erfahrungen des ersten Weltkrieges, das Aufkommen des Nationalsozialismus mit dem einhergehenden Antisemitismus machten erforderlich, dass die Psychoanalyse der menschlichen Bereitschaft zu Gewalt einen Platz in ihrem Theoriegebäude gab, was von der 1920 erschienenen Schrift Jenseits des Lustprinzips (2010a, S. 5-69) zweifellos geschah, wovon auch die religionskritischen Arbeiten und vor allem Das Unbehagen in der Kultur (2010c, S. 419-506) zeugen.
Wenn Freud in der Wissenschaft die einzige Macht sieht, die Naturkräfte zu bändigen und ein Zusammenleben zu ermöglichen, so darf deswegen nicht übersehen werden, dass viele Gesellschaften einen anderen Weg gewählt haben, der sich sogar dort, wo Wissenschaft ein großes Ansehen genießt, immer wieder durchsetzt: Es ist der Weg, mächtige Figuren, meist Männer, an die Spitze einer Gesellschaft oder einer Gruppierung zu setzen, wenn es nicht sogar so ist, dass sich solche Gestalten selber in Machtpositionen bringen, durch List oder gar durch Gewalt.
Was ist dazu zu sagen? Im Lichte der menschlichen Hilflosigkeit stellt sich Macht anders dar als sie meistens in der Presse, in der öffentlichen Meinung beurteilt wird. Entweder wird ein Diktator, ein Tyrann als mit einem göttlichen Auftrag ausgestattet aufgefasst, oder es wird ihm auch ohne explizite religiöse Mission ein quasi-gottgleicher Status zugesprochen. In beiden Fällen handelt es sich um eine Abwehr menschlicher Hilflosigkeit, um die Delegierung von Allmachtswünschen auf eine Person, so dass diese in Tat und Wahrheit nicht nur ein Tyrann ist, sondern ebenso ein Opfer eines unaufgeklärten Kollektivs, dessen Mitglieder nichts wissen wollen von Hilflosigkeit und dementsprechend bereit sind, einen Machthaber zu akzeptieren, der über ihre Geschicke bestimmt. Etwas weniger problematisch erscheint die Situation, wenn sich ein Kollektiv selber einen Machthaber erkürt – immerhin ist mit der Wahl eines solchen ein demokratisches Element eingeführt. Als Folge davon blüht der Diskurs der Hysterie auf: Solange der Machthaber seine Sache gut macht, d.h. im Interesse derer handelt, die ihn gewählt haben, kann er bleiben; wird dieser Sachverhalt nicht mehr als gegeben erachtet, so muss er gehen. Bis es so weit kommt, kann ihm Versagen vorgeworfen werden, was darauf hinausläuft, dass der angebliche Machthaber in der Rolle eines Knechts ist, dem nur so lange gestattet wird, die Rolle des Herrn zu spielen, als es denen gefällt, die ihn auf den Schild gehoben haben.
Welches ist nun der Ausgang der Hilflosigkeit im Sinne der Psychoanalyse, der Einsichten und Behauptungen Freuds? Welche Ethik resultiert daraus? Ein vorherrschender Zug liegt sicher darin, dass die Hilflosigkeit nicht verleugnet, sondern aufgedeckt, erkannt wird. Das betrifft sowohl die kindliche Seite der Abhängigkeit wie auch die Anerkennung der außermenschlichen Naturmächte und der unüberwindbaren Triebstruktur des Menschen. Die Folge davon ist jedoch nicht eine passive Haltung, nicht eine Resignation im Sinne „Man kann nichts dagegen tun, man muss es nehmen wie es kommt“, sondern die Einsicht mündet in eine aufgeklärte Hoffnung, die nicht ohne Pessimismus auskommt, dass die Wissenschaft im Zusammengehen mit den Einsichten der Psychoanalyse dereinst die Grundlagen für ein besseres Zusammenleben ermöglicht.
„Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, dass es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück lange zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht. Wir wollen aber nicht vergessen, dass in der Urfamilie nur das Oberhaupt sich solcher Triebfreiheit erfreute; die anderen lebten in sklavischer Unterdrückung. Der Gegensatz zwischen einer die Vorteile der Kultur genießenden Minderheit und einer dieser Vorteile beraubten Mehrzahl war also in jener Urzeit der Kultur aufs Äußerste getrieben. Über den heute lebenden Primitiven haben wir durch sorgfältigere Erkundung erfahren, dass sein Triebleben keineswegs ob seiner Freiheit beneidet werden darf; es unterliegt Einschränkungen von anderer Art, aber vielleicht von größerer Strenge als das des modernen Kulturmenschen.
„Wenn wir gegen unseren jetzigen Kulturzustand mit Recht einwenden, wie unzureichend er unsere Forderungen an eine beglückende Lebensordnung erfüllt, wieviel Leid er gewähren lässt, das wahrscheinlich zu vermeiden wäre, wenn wir mit schonungsloser Kritik die Wurzeln seiner Unvollkommenheit aufzudecken streben, üben wir gewiss unser gutes Recht und zeigen uns nicht als Kulturfeinde. Wir dürfen erwarten, allmählich solche Abänderungen unserer Kultur durchzusetzen, die unsere Bedürfnisse besser befriedigen und jener Kritik entgehen. Aber vielleicht machen wir uns auch mit der Idee vertraut, dass es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden.“ (Freud 2010c, S. 474 f.)
Aus dem, was im Inneren der Psychoanalyse, nämlich in psychoanalytischen Kuren geschieht, lässt sich dies erkennen: Es gibt ein Interesse des Analytikers, dem Analysanden zur Selbständigkeit, Mündigkeit zu verhelfen. Er widersetzt oder entzieht sich Liebesansprüchen, nimmt dem Analysanden keine Entscheide ab, mutet ihm sein Alleinsein zu und arbeitet somit der Übertragungstendenz, sich mit dem Analytiker zu identifizieren, der eigenen Subjektivität aus dem Weg zu gehen, entgegen. Kurzum: Der Analysand soll wieder lebenstüchtig gemacht werden. Freuds Motto der Psychoanalyse „Wo Es war soll Ich werden“ (2010d, S. 96.) weist klar in diese Richtung, sie weist dem Ich, der Stätte der Vernunft, das Primat zu, auch wenn ihre Stimme leise ist.
An dieser Stelle zeigt sich eine Differenz zwischen Freud und Lacan, die viel mit dem Thema Hilflosigkeit zu tun hat. Während Freud auf die Macht der Vernunft, auf das Ich und das Bewusstsein setzt, geht Lacan den umgekehrten Weg. Wenn Freuds Motto lautet „Wo Es war soll ich werden“, sagt Lacan, scheinbar ähnlich: „là où c'était je dois advenir“ / „da wo es war, soll ich ankommen“ (1966, S. 416-418).1 Das Ich ist bei Lacan das sprechende Subjekt, das je, das sich nun nach dem, was eben noch da gewesen ist, im ça, orientieren soll. Das ça ist bei Lacan der Träger der Vernunft, nicht das Bewusstsein, er spricht in diesem Zusammenhang auch vom Anderen. Ist das eine Rückkehr zum Göttlichen und zugleich zur Passivität, zum Ausgeliefert-Sein an den Anderen, damit auch zur Hilflosigkeit? Das wäre zu einfach gedacht, denn der Andere ist ja nicht eine fixe, objektive Instanz, die sagt, was man tun soll, sondern eine Instanz, von der Lacan sagt, dass sie nicht existiert. L’Autre n'existe pas (1975, S. 196; 1995, S. 220)2 heißt es bei ihm, bisweilen auch L’Autre de l’Autre n'existe pas, (1975, S. 118) womit er darauf hinweist, dass mit dem Anderen nicht in jedem Fall dasselbe gemeint ist, manchmal die Sprache, die sich nicht der Natur verdankt, manchmal ein Nebenmensch, manchmal eine göttliche Instanz. Aber wie kann eine Instanz, die nicht existiert, einen Einfluss auf das Subjekt haben? Das eben zeigt sich unter anderem in der Analyse, aber auch im Alltag, wenn Rat und Orientierung gesucht wird und ein anderer Mensch nicht seines Aussehens oder seines erotischen Reizes wegen wichtig wird, sondern wegen seinen ihm zugeschriebenen kognitiven Kompetenzen. D.h. der Andere wird verkörpert in anderen Menschen; in diesem Sinne hat schon Freud vom Anderen gesprochen und dabei die Majuskel verwendet. Aber da der göttliche Andere nicht erkennbar ist, rätselhaft bleibt und das Subjekt doch an ihn glaubt, wird er narzissiert – Lacan spricht vom sekundären Narzissmus. Das Subjekt sieht eigene Züge im Anderen, idealisiert ihn, erkennt Züge, die mit ihm selbst zu tun haben oder die dem entsprechen, wie es sein möchte. Das ist durchaus vergleichbar mit dem Glauben an Gott, von dem Freud seine kindlichen Wurzeln nachgewiesen hat. Wenn es keinen Gott gibt, wenn sich der Glaube an den göttlichen Anderen als haltlos erweist, treten eben andere Menschen oder Mächte an seine Stelle, um diese empfindliche Lücke zu füllen.
Mit der Einsicht in die narzisstische Verfassung der Figuren des Anderen wird auch deutlich, dass es sich bei Lacan nicht um eine Ethik der Passivität handelt, vielmehr lässt sich das, was im Anderen als Ideal gesehen wird, analysieren, auch wenn der Andere nicht nur Ort des Wissens, der Kompetenz ist, sondern auch der Liebe, der Anerkennung. Die Analyse arbeitet zwar mit der Übertragung, kann sie wohl auch nicht gänzlich auflösen, tut aber nichts, um sie zu verstärken.
Die Freisetzung der Subjektivität, die ohne Angst nicht möglich ist, bekommt ihren Sinn erst im Kontext einer Gruppierung, eines Kollektivs, einer Gesellschaft. Und da Hilflosigkeit existenzielle Dimensionen hat, ist es schwer vorstellbar, dass es andere als demokratische Formen gibt, die ihr entsprechen. Ich meine, diese Hilflosigkeit eines jeden bindet nicht nur die Generationen aneinander, sei es in der Familie oder in einem anderen intergenerationellen Verbund, sondern führt auch intergenerationell zu einem gegenseitigen Angewiesensein aufeinander. Liegt nicht darin der Sinn dessen, was in Frankreich als fraternité, als Brüderlichkeit gedacht worden ist, diesseits von geschlechtsspezifischen Einengungen?
4. Zum Schluss
Wir haben gefragt: Warum wird der Mensch als hilfloses Menschen bezeichnet? Wie zeigt sich die Hilflosigkeit? Was folgt daraus? Eine Folge davon besteht in Religionsbildungen, in denen Gott als allmächtige Figur vorgestellt wird, dessen Gunst es zu erlangen gilt. Was aber, wenn Gott nicht eingreift, Katastrophen, Ereignisse, die kaum jemand wünscht, zulässt? Was man zuerst sagen muss: Menschen sind nur allzu schnell bereit, Gott als Parteigänger eigener Interessen vorzustellen, als ob andere Menschen nicht auch berechtigte Interesse und Wünsche hätten! Das kann so weit gehen, dass sich eine Sportmannschaft göttlichen Beistand wünscht und nicht sieht, dass die Gegner diesen ebenso – oder ebenso wenig – verdienen würden. Ist es tatsächlich Gottes Funktion, sich gegen Naturkatastrophen, Unfälle und andere Widerwärtigkeiten, die im Leben auftreten können, zu wehren oder sie gar zu verhindern? Ist es tatsächlich seine Funktion, die eigenen Interessen auf Kosten der Interessen der anderen durchzusetzen? Es gibt andere Auffassungen, die sich nicht durch Verleugnung der eigenen Hilflosigkeit charakterisieren lassen. Wenn nämlich das Göttliche als Offenheit, als Ort der Wahrheit, Lauterkeit, ja sogar als Ort von Freiheit gesehen wird, dann entfällt diese absolute Schranke von Oben und Unten, von Göttlichem und Menschlichem, von Führerschaft und Gefolgschaft. Es liegt dann an den Menschen, Verantwortung für das eigene Leben und das Leben in der Gemeinschaft zu übernehmen. Das heißt auch, für die Sprache einzustehen, für die Zugehörigkeit zur Symbolischen Ordnung, die niemandem gehört, was zugleich heißt: die allen gehören soll. Das Symbolische ist nicht auf Natur rückführbar, in ihm wohnt das Göttliche, das immer schon da ist, bevor jeder Mensch auf die Welt kommt. Es ist das Medium der Freiheit, Offenheit, die jeden Menschen als gemeinschaftliches Wesen konstituiert, da er alleine nicht bestehen kann.
1 Ähnliche Passagen finden sich in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens (Lacan 1975, S. 175 f.) sowie in Die Wissenschaft und die Wahrheit (ebd., S. 242).
2 Dort, wo es heißt: „Gott existiert nicht“.
Literaturverzeichnis
Freud, Sigmund (1992): Hemmung, Symptom und Angst (1926). Frankfurt/M.: Fischer.
Freud, Sigmund (2007): „Die Angst. 25. Vorlesung“ (1915-1917). In: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Stud. Ausg. Bd. 1. Frankfurt/M.: Fischer.
Freud, Sigmund (2010): Triebe und Triebschicksale (1913-1917). In: GW X. Frankfurt/M.: Fischer.
Freud, Sigmund (2010a): Jenseits des Lustprinzips (1919-1920). In: GW XIII. Frankfurt/M.: Fischer.
Freud, Sigmund (2010b): Die Zukunft einer Illusion (1927). In: GW XIV. Frankfurt/M.: Fischer.
Freud, Sigmund (2010c): Das Unbehagen in der Kultur (1920). In: GW XIV.
Freud, Sigmund (2010d): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1932). In: GW XV. Frankfurt/M.: Fischer.
Lacan, Jacques (1966): La chose freudienne. In: Ecrits. Paris: Seuil.
Lacan, Jacques (1995): Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar VII. Sitzung vom 23. März 1960. Weinheim/Berlin: Quadriga.
Lacan, Jacques (1975): Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens. In: Schriften II. Olten/Freiburg/Br.: Walter.
Lacan, Jacques (1975): Die Wissenschaft und die Wahrheit. In: Schriften II. Olten/Freiburg/Br.: Walter.
Autor:in: Dr. phil. Peter Widmer ist Psychoanalytiker und seit 1975 in eigener Praxis in Zürich tätig. Er ist Initiant und Mitbegründer der Zeitschrift RISS (1986) und des Lacan Seminar Zürich (1997). Neben seiner Gastprofessur in Kyoto und Lektorat an der Columbia University New York, seiner ausgedehnten Vortragstätigkeit und Seminaren in Teheran, Mexiko, Santiago de Chile u.a. veröffentlichte er auch einschlägige Werke. Sein aktuelles Forschungsinteresse liegt bei der Einführung der Deixis in die Psychoanalyse.