Alenka Zupančič
Y – Z Atop Denk 2022, 2(12), 1.
Abstract: Der Text kehrt zu einigen Überlegungen Freuds in seinem Aufsatz Das Unbehagen in der Kultur zurück und untersucht sie erneut aus der Perspektive des gegenwärtigen „Unbehagens in der Kultur“, das mit vielen verschiedenen Krisen zusammenhängt. Er konzentriert sich auf die soziale Dimension des psychologischen Unbehagens, genauer gesagt auf die Beziehung zwischen dem Sozialen und dem Libidinösen. Der Text untersucht die verschiedenen Ebenen der Negativität und des Überschusses (Überschussproduktion, Mehr-Lust) sowie die unterschiedlichen Weisen, wie diese sich aufeinander beziehend eine „Krise“ erzeugen.
Übersetzung: Michaela Wünsch
Keywords: Unbehagen, Krise, Moderne, Negativität, Überschuss, Verdrängung
Veröffentlicht am: 30.12.2022
Artikel als Download: Das Unbehagen in der Kultur 2.0
Der Titel von Freuds Aufsatz von 1930 Das Unbehagen in der Kultur könnte als eine Form verstanden werden, Krise zu sagen. Genauer gesagt: das Unbehagen, in Bezug auf das, was Freud hier die Kultur nennt, könnte als das Gefühl, der Affekt von etwas im Sozialen verstanden werden, das sich mit seiner Krise reimt.
Beginnen wir mit ein paar Worten über den Begriff das Unbehagen und was er affektiv andeutet. Der Begriff ist das Ergebnis einer gewissen Unentschiedenheit bei Freud, denn der von ihm gewählte Originaltitel lautete „Das Unglück in der Kultur“. Die Herausgeber der englischen Standardausgabe bemerken dazu, dass die Ersetzung von das Unglück in das Unbehagen, es schwieriger machte, den Titel zu übersetzen, da Unglück im Unterschied zu das Unbehagen problemlos mit unhappiness übersetzt werden kann. Es gibt jedoch Gründe, diese Überlegung in Frage zu stellen. In seinem Seminar Die Ethik der Psychoanalyse erinnert Lacan die Geschichte „der aus Deutschland nach Amerika eingewanderten Person, die gefragt wird – Are you happy? – Oh yes, I am very happy. I am really very, very happy, aber nicht glücklich!“ (Lacan 1996, S. 21 [Hervorhebung d. Verf.])1.
Wie diese Geschichte schön verdeutlicht, lassen sich Glück und Unglück nicht so leicht ins Englische übersetzen, wie es vielleicht den Anschein hat, weil der Ausdruck happiness zugleich ein Zuviel als auch ein Zuwenig abdeckt. In einem anderen Zusammenhang könnte unluck2 (unluckiness, misfortune) eine bessere mögliche Übersetzung für Unglück sein, weil es die Dimension von fortuna (eines glücklichen oder unglücklichen Ereignisses oder eines glücklichen oder unglücklichen Schicksals) bewahrt, der im deutschen Begriff enthalten ist3.
Der Ausdruck das Unbehagen, den Freud schließlich wählte, suggeriert etwas anderes, Hartnäckigeres oder innerlich Komplizierteres als Unglück: das Element des (Un-)Glücks oder Zufalls ist weniger präsent, der Begriff suggeriert etwas mehr Systemisches und Dauerhaftes; etwas macht uns unbehaglich, nagt an uns – auf eine andere Weise als wenn wir sagen, etwas macht uns unglücklich. Statt dass uns etwas von außen (mehr oder weniger zufällig, unerwartet) zustößt, suggeriert das Unbehagen die Anwesenheit eines verstörenden, unbehaglichen, fremden Elements im Herzen unserer gewohnten, vertrauten Umgebung.
Und was ist diese Umgebung? Hier kommen wir zu dem zweiten Ausdruck in Freuds Titel: Kultur – ein weiteres Wort, das sich einer reibungslosen Übersetzung ins Englische (oder Französische) widersetzt und daher in diesen Sprachen als Zivilisation wiedergegeben wird.
Dies ist Freuds Definition dessen, was es mit dem Begriff auf sich hat:
„[...] das kulturelle Element sei mit dem ersten Versuch, diese sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben. Als letzten, gewiß nicht unwichtigsten Charakterzug einer Kultur haben wir zu würdigen, in welcher Weise die Beziehungen geregelt sind, die den Menschen als Nachbarn, als Hilfskraft, als Sexualobjekt eines anderen, als Mitglied einer Familie, eines Staates betreffen” (Freud 1974, S. 225).
Beachtenswert ist die Zirkularität, die hier am Werk ist, denn wir könnten auch behaupten, dass diese Beziehungen erst sozial werden, wenn sie reguliert sind, außerhalb dieser Regulierung sind sie genau genommen nicht sozial.
Um es auf den Punkt zu bringen, Das Unbehagen in der Kultur behandelt den Affekt, den die sozialen Beziehungen betreffen, es geht um den sozialen Affekt, ein Gefühl oder Empfinden, das mit dem Sozialen, mit Gemeinschaft einhergeht. Ich betone dies, weil es falsch wäre, es einfach als einen Effekt zu begreifen, den das Soziale auf das Individuum hat (auch wenn Freuds Formulierungen dies manchmal nahelegen), eine Begrifflichkeit, die eine Trennung oder Unterscheidbarkeit zwischen den beiden, dem Sozialen und dem Individuellen, suggeriert. Die Wirkung, die das Soziale auf das Individuum hat, ist nichts anderes als der Effekt, den unser Zusammenleben auf uns hat. Das wir als Subjekte/Objekte dieses Effekts und das wir des Gemeinschaftslebens, welches das gemeinschaftliche Wir konstituiert, sind miteinander identisch, wenn auch nicht aufeinander reduzierbar. Wir (als Individuen) sind Teil dessen, was auf uns einwirkt, weil wir zusammenleben, unsere Beziehungen gestalten und regeln und sie somit sozial sind. Wir befinden uns auf beiden Seiten der Gleichung, wir sind (in dem/) das Soziale(n), das uns angeht. Es versteht sich von selbst, dass das Soziale größer ist als wir (und mehr ist als nur die Summe von Individuen), es funktioniert darüber hinaus ziemlich autonom, unabhängig von uns, und in diesem Sinne kann es auf uns als fremde, externe Realität treffen. Aber unsere Einbindung in das Netz sozialer Beziehungen bedeutet, dass wir doppelt involviert sind, auch auf der Ebene dessen, was wir schließlich als Unterdrückung erleben.
Dieser Loop, diese doppelte Einbindung (die auch eine subjektive Spaltung beinhaltet) und ihr Double-Bind steht im Zentrum von Freuds Das Unbehagen in der Kultur: er bildet seine zentrale konzeptuelle und topologische Figur. Es handelt sich nur nicht nur um ein inneres Außen oder äußeres Innen (Exitimität, um den Lacan’schen Begriff zu verwenden), sondern auch um eine ähnlich verdrehte Ökonomie, die vor allem in Freuds Theorie des Über-Ichs, die für den diskutierten Aufsatz von zentraler Bedeutung ist, am hervorstechendsten wird. Das Über-Ich ist nicht einfach eine Verinnerlichung einer externen Autorität, sondern hält eine ganze Ökonomie am Laufen, die auf dieser Verinnerlichung beruht, einer Ökonomie, die auf einem Überschuss an Wissen/Schuld basiert (während wir Dinge vor den äußeren Autoritäten verstecken können, lässt sich nichts vor dem Über-Ich verbergen), und in einer invers proportionalen Strenge resultiert. Je mehr wir gehorchen, je mehr wir seinen Forderungen folgen oder ihnen opfern, desto strenger und gnadenloser behandelt es uns, desto mehr fordert es von uns. Es handelt sich um eine Art exponentiellem Wachstum. Je mehr du mitspielst, desto schuldiger und elender bist du. Freud begründete dies damit, dass das Über-Ich sich von den Trieben speist, auf die wir verzichten (und dann neue Entsagungen fordert). Wir können also behaupten, dass das Über-Ich seinen Sitz nicht im Ich hat, sondern im Es; es ist kein höheres oder moralisch überlegenes Ich, sondern eher eine egoistische Form des Es. Oder, um es anders zu formulieren, es ist das Es, das in Form des Gesetzes erscheint, als Gesetz. Lacan wird diesen Punkt in seiner üblich provokativen Art akzentuieren: „Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens – Genieße!“ (Lacan 2015, S. 9).
Ich komme gleich auf diesen Double-Bind zurück, möchte aber vorerst nur festhalten, dass das Unbehagen den Affekt benennt, der damit einhergeht, den Affekt eines unmöglichen Paradoxons, der tief im Herzen des Sozialen verweilt und der – wie es scheint – durch keine noch so umfangreiche Regulierung beseitigt werden kann. Dies bedeutet, dass die symbolische Regulierung sich nicht einfach über die Libido und ihre Forderungen stülpt: wir haben keine rein symbolische Regulierung auf der einen Seite und eine schmutzige libidinöse Substanz auf der anderen, mit einer symbolische Regulierung, die versagt, die Libido vollkommen zu adressieren‚ zu unterwerfen. Die Konfiguration ist anders: das Paradoxe ist, dass die symbolische Regulierung selbst den eigentümlichen Effekt hat, einen Teil von sich in die schmutzige Substanz einzuschmuggeln. Deshalb verhält es sich so, dass je mehr wir regulieren, desto mehr gibt es zu regulieren, weil jedes neue Genießen immer wieder im Prozess seiner Regulierung produziert wird (darin produziert wird, statt ihm zu entkommen – das Genießen, das der Regulierung entkommt, ist nicht wirklich ein Problem). Während das Soziale auf die Schwierigkeiten und Anforderungen unseres Zusammenlebens reagiert, produziert es neue Schwierigkeiten und Anforderungen. Nicht nur, weil es sich weiterentwickelt (und damit wächst), sondern weil die besagte Sackgasse oder der Double-Bind immer neue und verschiedene Probleme und Sackgassen im Prozess der Regulierung selbst generiert. Es ist also nicht nur die Menge an Regulierung, die in dem Fortschritt der Kultur wächst, sondern auch die Menge dessen, was als libidinöse Anti-Kultur erscheint. Mit anderen Worten, die Aggression, die Freud in seinem Aufsatz so stark betont, ist nicht nur eine Antwort, eine Gegenströmung, eine Erwiderung auf die wachsenden kulturellen Anforderungen, sondern das libidinöse Nebenprodukt der Kultur selbst, ihres inneren statt äußeren Anderen. Weit davon entfernt, immer mehr reduziert zu werden, durch die Kultur begrenzt zu werden, expandiert die libidinöse Dimension mit der Kultur und wiegt schwer auf uns.
Ein anderes, weniger komplexes Bild, das Freud uns in dieser Hinsicht vorschlägt – das die aggressive, destruktive Dimension des Sozialen betrifft – ist das eines ewigen Kampfes zwischen Eros und Thanatos, Lebenstrieben und Todestrieb(en), Trieben, die sich hinter Liebe und Vereinigung und hinter Aggression und Destruktion, befinden. Ich werde nicht darauf eingehen, was an dieser dualistischen Triebtheorie problematisch ist, sondern nur erwähnen, dass sie nicht so sehr irgendetwas erklärt, sondern ein bestimmtes Narrativ der menschlichen misslichen Lage liefert. Sie vereinfacht ein viel komplexeres Bild, das Freud selbst entworfen hat und ihre Kehrseite ist die Idee, dass Freud den Charakter dieses Konflikts (oder der Krise) im Grunde als etwas Zeitloses, Ewiges und mit einigen primären Prinzipien Verwandtes begreife.
Nun, es stimmt sicherlich, dass Freud das Unbehagen in der Zivilisation als irreduzibel begreift, dass es etwas beinhaltet, als etwas, das essentiell zur Zivilisation gehört – es könnte keine Zivilisation ohne sie geben. Daher wird oft von Freuds Pessimismus gesprochen. Aber dieser Pessimismus ist sehr weit von einem Pessimismus als losgelöster Weltanschauungs-Haltung, etwa ein Pessimismus, der z.B. die ästhetische Sichtweise à la Schopenhauer betrifft.
Das Irreduzible des Unbehagens bedeutet für Freud nicht, dass egal, was passiert oder was wir tun, alles auf das Gleiche hinausläuft und dass jeder Kampf für andere, weniger konflikthafte, soziale Beziehungen sinnlos wäre. Auch wenn das Ergebnis dieses Kampfes ungewiss ist, bedeutet dies nicht, dass es egal ist, ob es Kämpfe gibt oder dass die Intensität des sozialen Unbehagens immer gleich ist. Schließlich hat Freud Das Unbehagen in der Kultur nicht zu irgendeinem Zeitpunkt geschrieben, sondern 1929 – nach dem Ersten Weltkrieg, zur Zeit der Weltwirtschaftskrise, zur Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus (1933 wird die Nazipartei die Macht in Deutschland übernehmen und Freuds Bücher gehören zu denen, die sie verbrannt und vernichtet haben). Diese Umstände sind nicht irrelevant. Die Intensität des sozialen Unbehagens war zu diesem Zeitpunkt ziemlich extrem (und wuchs) und explodierte schließlich in nicht weniger als dem Zweiten Weltkrieg.
Wenn es also wahr ist, dass das Soziale ontologisch/konstitutiv (immer) mit einem Problem einhergeht, dann ist es auch wahr, dass sich das Soziale genau genommen im Prozess der Antwort auf dieses Problem, auf sein eigenes intrinsisches Problem, konstituiert: Das, was wir als soziale Probleme bezeichnen, sind nicht verschiedene Versionen des konstitutiven und irreduziblen Problems oder Double-Binds, das dem Sozialen zugrunde liegt, sondern ‚gehören bereits zu seinen Lösungen. Um ein sehr einfaches Bild zu zeichnen: Angenommen, auf deinem Weg befindet sich ein Loch im Boden – du kannst darauf reagieren, indem du es überbrückst, es umgehst, hineinsteigst und wieder hochkletterst, es mit etwas ausfüllst, Werkzeuge erfindest, um darüber zu springen oder zu fliegen... Man könnte sagen, dass alle diese Lösungen, das Problem auf ihre eigene Weise (neu) erfinden, es wird zu einem neuen Problem, zu einem Problem seiner Konfiguration. Diese Konfigurationen sind niemals ewig oder zeitlos, so dass das Problem des Sozialen (oder das Soziale als ewiges Problem) nur in diesen historischen Konfigurationen existiert, auch wenn es nicht einfach auf eine von ihnen reduzierbar ist.
Darüber hinaus sollten wir uns auch fragen, inwieweit diese Diagnose des ewigen, irreduziblen Charakters der Krise nicht selbst nur in einem bestimmten historischen Moment, nämlich dem der Moderne, möglich ist. Freud ist zweifellos eine der Schlüsselfiguren der Moderne und hier können wir sehen, warum. Das ist, was Pierre Macharey (2005) andeutet, wenn er seinen Kommentar zum Unbehagen in der Kultur mit der Frage nach der Krise der Modernität eröffnet. Wenn wir von „den Krisen der Moderne“ sprechen, so meint er, sprechen wir nicht von
„irgendeinem Unfall, der der Moderne zustoßen würde, einem Unfall, der ihre Bestimmung ändern und einen Bruch in ihrer normalen Entwicklung darstellen würde, sie unterbricht, sondern von einer Krise, die der Moderne innewohnt und sie in ihrem Tiefsten definiert: die wahre Moderne [...] wäre demnach diejenige, die zu dem Bewusstsein gelangt, dass sie sich in einer Krise befindet; für die Moderne ist die Krise kein vorübergehender Zustand, sondern etwas, das sie determiniert, sie ist sogar das Hauptmerkmal ihres Wesens, eines Wesens, das somit grundlegend krisenhaft ist, und zwar dauerhaft“ (Macherey 2005, S. 1).
Der von Macherey verwendete Begriff des Unfalls (hier geht es nicht nur um irgendeinen Unfall) ist hier sehr bedeutsam. Könnten wir nicht – im Anschluss an unsere früheren Bemerkungen über die Verbindung zwischen Glück/Unglück und dem Begriff des Unfalls sagen, dass die Moderne den Moment markiert, in dem Unglück in Unbehagen umschlägt, d.h. in etwas Systemischeres, das für die Moderne als solche ko-substantiell ist?
Aus dieser Perspektive ist Freuds Einsicht in den irreduziblen, zeitlosen Charakter der sozialen Krise selbst nicht zeitlos, sondern zu einem ganz bestimmten historischen Zeitpunkt angesiedelt. Nicht nur das, wir könnten auch sagen, dass die Krise zu einem bestimmten Zeitpunkt irreduzibel und zeitlos wird, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart, und dass dies genau das ist, was diesen historischen Moment charakterisiert. In gewissem Sinne könnte gesagt werden, dass das reflexive Moment (das Bewusstsein, in einer Krise zu sein) Teil der objektiven Realität wird und nicht nur/einfach etwas ist, das zur Wahrnehmung dieser Realität gehört.
Dies zeigt sich z. B. ganz deutlich bei einem anderen Kennzeichen der Moderne, und zwar dem Kapitalismus. Denn könnte man nicht in ähnlicher Weise sagen, dass der Kapitalismus nicht nur eine der vielen Lösungen für das irreduzible (konstitutive) Problem des gesellschaftlichen Verhältnisses ist, sondern insofern eine qualitativ andere Lösung konstituiert, indem er auch das reflexive Element – das Bewusstsein der Krise – in die Basis seiner Ökonomie inkorporiert (wenn auch nicht auf kritische Weise, wir werden darauf zurückkommen)? Was will ich damit sagen? Das Schlüsselelement ist hier der Mehrwert, der auf wundersame Weise nicht nur aus der Arbeitskraft, sondern aus der in jedem Arbeitsprozess vorhandenen, irreduziblen Kluft entsteht und diese ausbeutet. Der Mangel und der Exzess (Überschuss) sind nicht einfach eine Erfindung des Kapitalismus, der aus dieser Perspektive als Perversion einer grundsätzlich natürlichen, nicht-entfremdeten Form der Produktion und des Austauschs erscheint, in der sich alles addiert und in der die Produktion im Wesentlichen und ausschließlich der Befriedigung unserer Bedürfnisse entsprechen würde. Nein, das Nicht-Verhältnis (Kluft, Mangel/Überschuss) ist in allen Produktionsweisen, die den Arbeitsprozess beinhalten, vorhanden, was im Kapitalismus geschieht/sich verändert ist, dass er eine mögliche Produktivität dieses Elements der Krise oder des Nicht-Verhältnisses (in Bezug auf die Kluft, die entweder als Mangel oder als Exzess existiert und die die aristotelische Idee des richtigen Maßes überbrücken sollte) erkennt, erfindet. Er zieht die Krise direkt in (seine) Ökonomie hinein und macht sie zu einer möglichen Quelle eines Mehr-werts, wovon er lebt. In gewisser Weise könnte man sagen, dass der Kapitalismus blindlings modern ist, dass er eine nicht-reflektierte Reflexivität konstituiert. Es ist eine Reflexivität am Werk (in der objektiven Realität), aber diese Reflexivität selbst wird nicht reflektiert. Anders ausgedrückt: Der Kapitalismus ist ein a-subjektives System (ein System ohne Subjekt), aber ein System, das Selbstreflexion beinhaltet; diese Selbstreflexivität ist in seine anonyme, subjektlose objektive Dynamik eingebaut: Er existiert als Produktionsweise, die auf der Extraktion des Mehrwerts beruht. Und diese nicht-reflektierte Reflexivität – wir könnten auch sagen, diese unkritische Reflexivität – macht den Kapitalismus blind für eine andere Art von Krise (und unfähig, darauf zu reagieren): eine Krise, die weder systemisch noch zufällig ist, sondern aus dem resultiert, was sich als Nebenprodukt der produktiven Nutzung der Krise anhäuft.
In den vergangenen Jahrzehnten (und ganz grob bis zur Wirtschaftskrise 2008) haben wir uns daran gewöhnt, die kapitalistische Weltordnung als eine fast wundersame Kraft wahrzunehmen, die alle kritischen Punkte und ihre eigenen Krisenmomente überlebt und sie zu ihrem eigenen Profit und Aufstieg nutzt. Man denke nur an die vielen Analysen über die Fähigkeit des liberalen Kapitalismus, selbst die radikalsten und subversivsten Ideen zu kassieren und zu absorbieren, sowie an seine (damit verbundene) Fähigkeit, sich durch die eigenen Krisen und kritischen Punkte permanent selbst zu revolutionieren (wie bereits Marx aufgezeigt hat). Dies scheint sich jedoch in letzter Zeit geändert zu haben. Obwohl der Slogan jede Krise ist eine Chance (für das Kapital, sich in neuen Formen und Produkten neu zu erfinden) weiterhin gilt, gibt es auch ein wachsendes Gefühl für eine Präsenz, die wir eine unproduktive Krise nennen könnten, eine Krise, die nicht in eine Chance oder in die Produktion neuer Formen des Mehrwerts umgewandelt werden kann und die auch ernstlichen tektonischen Störungen der Weltordnung entspricht, die aus dem Realen zu kommen scheinen.
Wenn wir also heute von der Krise sprechen, geht es nicht – wie auch nicht zu der Zeit, als Freud seinen Aufsatz schrieb – um die permanente Krise, die der Entwicklung der Moderne zugrunde liegt, und es geht auch nicht um einzelne Unfälle oder Ereignisse (die COVID-Krise, die Finanzkrise, der Krieg in der Ukraine), obwohl diese Ereignisse sicherlich Teil der Krise sind, über die wir sprechen. Wenn wir heute über die Krise sprechen, dann geht es vor allem um die Grenze der – um es so auszurücken – die Grenze der Produktivität der Krise, d.h. die Grenze der Fähigkeit unserer sozialen und ökonomischen Systeme, ihre eigenen negativen Momente zu absorbieren und als Booster für weiteres Wachstum zu nutzen – zumindest für einige. Das Problem ist ein Zweifaches. Da ist zum einen die Frage des Wachstums (das nicht unendlich ist, sondern eindeutig eine Obergrenze hat – in Bezug auf die Ressourcen, in Bezug auf den begrenzten Raum, der für eine geopolitische Expansion verbleibt, einschließlich der Suche nach billigen Arbeitskräften und natürlichen Ressourcen). Aber es gibt auch das Problem der Verstopfung, die von einer neuen Art von Negativität herrührt, die nicht mehr produktiv genutzt werden kann. Ich werde das erklären.
Lacan prägte bekanntlich den Begriff der Mehr-Lust in Anlehnung an den Marx’schen Begriff des Mehrwerts. Worauf referiert die Zusammenführung dieser beiden Begriffe? Sie bezieht sich auf die raffinierte Lösung, die die kapitalistische Ordnung für die strukturelle Sackgasse des Sozialen gefunden hat, die ihr obstruktives Element konstituiert, das Lacan als Genießen konzeptualisiert, als das, „was zu nichts dient“ (Lacan 2015, S. 9) und immer als Exzess oder Mangel der Idee eines harmonischen, organischen Ganzen gegenübersteht. Dieses Element ist nicht obstruktiv, weil es exzessiv oder transgressiv wäre, dies sind alles imaginäre Vorstellungen, die als Antworten auf das Problem der Heterogenität, der Sonderbarkeit des Genießens dienen. In der Lacan'chen Terminologie bezieht sich das Genießen einfach auf ein heterogenes Element, das als Symptom des sozialen Double-Binds und der irreduziblen Kluft erscheint, das bereits kurz behandelt wurde. Mit anderen Worten: Genießen ist eine substanzielle Form der Existenz der Negativität, die dem sozialen Band als solchem innewohnt: Es ist das Sein dieser Negativität.
Lacan schlägt zudem vor, dass der Kapitalismus eine revolutionäre Lösung gefunden habe, die mit diesem heterogenen, potenziell hinderlichen (störenden, widerständigen) Element (das durch das soziale Band erzeugt wird und es gleichzeitig droht zu zerstören) umgeht: Er hat es zählbar gemacht, er hat einen Weg gefunden, es zählbar zu machen, er hat es als Mehr-Wert (wieder)erfunden, der in die Gesamtheit dessen, was sich addiert, eingeschrieben oder davon abgezogen wird (Lacan 2007, S. 152). Durch diese Geste der Homologierung wird das potenziell widerständige, störende Element, das dem sozialen Band innewohnt, zur Quelle des Profits einer neuen Ökonomie. Diese neue Ökonomie ist aber nicht nur neu im Vergleich zu früheren Ökonomien, sie ist auch neu in dem Sinne, dass sie zum ersten Mal eine ökonomische Lösung für das Problem des heterogenen und widerständigen Elements, das des Genießens, anbietet (Andere oder frühere Lösungen waren eher moralisch oder ethisch als ökonomisch: die Ethik des rechten Maßes, religiöse Vorschriften, autoritäre Verbote...). Die neue Lösung lautete: Macht es zu einem Teil der Ökonomie und lasst die Wirtschaft sich um es kümmern. Oder, noch präziser und paradoxer: die reale Sackgasse/Blockade wurde durch die symbolische Vermittlung des (Mehr)-Werts zu einem Schlüsselelement des Wirtschaftswachstums (mehr verlangt noch mehr...).
Kurz gesagt könnte man das, was Freud entdeckt und Das Unbehagen in der Kultur genannt hat, als ein (An)Erkennen der bösartigen subjektiven Auswirkungen dieser neu etablierten sozialen Verbindung betrachten, die eine Komplizenschaft zwischen symbolischen Strukturen oder Werten und der (libidinösen) Ökonomie der Triebe beinhaltet, wobei sie in ihrer Heterogenität und Unvereinbarkeit seltsam homologisiert werden (und der Begriff des Über-Ichs gehört eindeutig in dieses Register: symbolische Autorität, die von den Trieben genährt/aufrechterhalten wird). Es ist wichtig anzuerkennen, dass Freuds Konzept des Unbewussten nicht einfach aus einer Konfiguration heraus entstanden ist, in der symbolische Verbote und Versagungen die Unterdrückung bestimmter Triebe (und/oder ihrer Repräsentationen) abverlangten und somit neurotische Symptome verursachten, sondern aus einer eher dialektischen Konfiguration hervorging, die eine unerwartete Komplizenschaft zwischen Trieben und Unterdrückung, zwischen dem (rein) Symbolischen und dem Libidinösen offenbarte. Diese Komplizenschaft oder dieser Kurzschluss könnte als historische Gegebenheit betrachtet werden, doch muss man hier sehr genau sein: die Koexistenz der symbolischen Struktur und des symbolisch nicht abgedeckten Genießens (der Überschuss/Mangel) in seiner Heterogenität ist nicht historisch, sondern gehört zur undichten Ontologie des Sozialen selbst (seinem zeitlosen/konstitutiven Problem). Andererseits ist seine Homologierung (in Form einer neuen Art des Zählens oder des Wertes) und die daraus resultierende massive Komplizenschaft zwischen dem Libidinösen und dem Symbolischen eine historische Gegebenheit oder Erfindung.
Wie schon Freud feststellte, kann es riesige Ausmaße an Verdrängung geben, von denen wir einfach nichts wissen, weil sie erfolgreich ist in dem Sinne, dass sie kein neurotisches Verhalten auslöst oder einfach keine Symptome hervorruft, keine weiteren Spuren hinterlässt – erinnern wir an Lacans berühmte Behauptung, dass Marx derjenige war, der das Symptom erfunden hat (vgl. Lacan 2006, S. 24). Was ist ein Symptom? Ein Symptom (im Freud'schen/Marx'schen Sinne) macht uns darauf aufmerksam, dass Verdrängung eine daraus folgende Ökonomie und ein Nachleben beinhaltet. Neurotisches Verhalten hat immer etwas mit Ökonomie zu tun, mit einer Ökonomie, die sich aus ihrer eigenen Negativität speist, was weitreichende Konsequenzen und Auswirkungen hat. Wenn diese Art der Ökonomie des Überschusses (an Genießen), die bis dahin weitgehend ungezählt geblieben ist, als soziale Erfindung des Kapitalismus angesehen werden kann, bedeutet dies dann, dass auch die Symptome, die zur Entstehung der Psychoanalyse geführt haben, mit dieser historischen Gegebenheit zusammenhängen, mit ihr verbunden sind, von ihr abhängig sind? Noch brutaler formuliert: Bedeutet dies, dass die Menschen in vorkapitalistischen Zeiten nie oder in wesentlich geringerem Maße neurotisch waren? Ja, in gewisser Weise wäre dies die radikale Konsequenz. Woraus natürlich nicht folgt, dass sie glücklicher gewesen seien. Und noch weniger, dass dort keine Repression am Werk gewesen wäre. Im Gegenteil, es bedeutet, dass der repressive Nutzen bei weitem den wirtschaftlichen Nutzen überstieg, er war eine mögliche Quelle der Ausbeutung und Gewinnung von Profit, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Ein beträchtlicher Teil des Werks von Michel Foucault beschreibt und denkt diesen Wandel, den man präzise als den Wandel von der Repression zur Ökonomie der Repression bezeichnen könnte (z.B. von der brutalen Bestrafung und Folter bis zur Inhaftierung und Überwachung oder zur Biopolitik), in der Permissivität und Verantwortung viel bedeutsamer sind als direkte Repression. Darüber hinaus bedeutet die Ökonomie der Repression nicht nur das Abkassieren der Unterdrückung, sondern beinhaltet auch das, was Freud als Teufelskreis von Repression und ihres Gewinns oder Profits entdeckte, eine Spirale, in der sie sich gegenseitig stärken und verstärken (ein Wachstum induzieren). Auch hier sollten wir uns an Lacans Behauptung erinnern, dass die repressive Instanz (das Über-Ich) nicht dadurch regiert, dass sie das Genießen verbietet, sondern indem sie es befiehlt, gebietet (in seiner intrinsischen Unmöglichkeit).
Doch selbst unter rein ökonomischen Gesichtspunkten ist diese Komplizenschaft kein Märchen, das perfekt funktioniert, wie Foucault zu suggerieren pflegt: Ihr Erfolg, d.h. die erfolgreiche Neutralisierung der widerständigen (subversiven) Elemente, die dadurch funktioniert, dass sie diese Elemente in weiteren Ökonomien hineinzieht, hat eine Grenze. Für Foucault ist diese moderne Ökonomie, um es ganz einfach auszudrücken, deshalb so bösartig, weil sie völlig unangreifbar ist; sie macht alles zu Profit, sie schlägt aus ihren eigenen Widersprüchen Kapital, anstatt von ihnen bedroht und durch sie gefährdet zu werden. Und natürlich bezieht sich Foucaults Kritik an Freud und der Psychoanalyse im Allgemeinen genau auf diesen Punkt: Die Psychoanalyse ist an dieser Ökonomie der Unterdrückung vollkommen beteiligt und unterstützt sie mit ihren eigenen Mitteln. Das ist, was die „Erfindung der Sexualität“, wie Foucault es ausdrückt, bedeutet: Indem sie sich auf die Sexualität und ihre Unterdrückung konzentrierte, erfand die Psychoanalyse etwas, über das in dieser modernen Ökonomie unendlich viel geredet, das ausgebeutet und genutzt werden konnte (vgl. Foucault 1992).
Aber es gibt noch eine andere mögliche und weitaus interessantere Perspektive darauf: Freud entdeckte die Sexualität als den bevorzugten Raum der Symptome, also als das Territorium genau dessen, was in dieser angeblich perfekten Ökonomie, die sich von ihrer eigenen Negativität speist, nicht funktioniert. Genauer gesagt, er entdeckte sie als Symptom für alles, was in dieser perfekten Ökonomie einen zusätzlichen, weiteren Überschuss zweiten Grades produziert, der nicht wieder gewinnbringend eingesetzt werden kann, sondern eine Störung, einen Zusammenbruch, eine schwere Krise darstellt. Mit anderen Worten: Was Freud in Bezug auf die libidinöse Ökonomie und das, was er Das Unbehagen in der Kultur nannte, so gut erkannte, war nicht nur, wie sich diese Ökonomie aus den Profiten der Unterdrückung speist, sondern auch, dass diese Effizienz (Produktivität) mit sich akkumulierenden Kosten einhergeht und dass letztere kurz vor dem Platzen stehen. Sie sind schließlich geplatzt, wenn auch auf eine eher unerwartete, spektakuläre global-politische Art und Weise: in nicht weniger als in Form eines Weltkriegs. Letztere war die Katastrophe, die in der Tat unter anderem dazu führte, dass die Gemeinwirtschaft eine Zeit lang stabilisiert wurde; zusammen mit dem darauffolgenden Kalten Krieg hatte sie den Effekt, dass einige ernsthafte soziale Korrekturen erzwungen wurden...
Alles kann nutz- und zählbar gemacht werden. Ja. Das Problem – eine mögliche Krise der kapitalistischen Ordnung – ergibt sich nicht aus der Tatsache, dass einige Dinge nicht genutzt werden können und sich dieser Nutzung widersetzen; der bedrohliche, kritische Punkt ist nicht einfach der Widerstand, sondern die Tatsache, dass eine andere Art von nutzlosem Überschuss produziert/konstituiert wird, während alles genutzt wird; er wird als die andere Seite dieser expandierenden Inklusion produziert. Je inklusiver die kapitalistische Ökonomie wird, desto mehr Exklusion erzeugt sie. Dies ist nur dann paradox, wenn wir den Unterschied zwischen den beiden Ebenen, auf denen dies geschieht, nicht wahrnehmen. Absolute Nutzlosigkeit ist nicht etwas, das sich der Nutzung widersetzt, sondern das, was zusätzlich aus der Nutzung von Dingen entsteht. Dieser sich akkumulierende, ungebundene, nutzlose Überschuss ist nicht das, was der kapitalistischen Wirtschaft Widerstand leistet, sondern etwas, das sie zur Explosion zu bringen droht.4 Dieser Überschuss – der sich unter anderem aus Menschen zusammensetzt, die selbst für die Zwecke der Ausbeutung nutzlos sind, da diese in vielen Sektoren im Vergleich zu anderen, spekulativen Formen der Kapitalakkumulation als nicht profitabel genug erscheint – ist nicht mit einem emanzipatorischen Plan verbunden, er ist schmerzhaft blind; die Krise ist an sich nicht schon ein Versprechen auf eine bessere Welt, die auf die Krise folgen könnte. Und obwohl dieser zusätzliche Überschuss ökonomisch nutzlos und bedrohlich ist, kann er auf einer anderen Ebene genutzt werden, zumindest vorübergehend; genauer gesagt, kann er weniger genutzt als vielmehr durch politische Ideen gebunden werden, statt direkt ökonomisch (obwohl sich aus dieser Bindung auch ein gewisser wirtschaftlicher Nutzen oder Profit ergeben kann). Das ist zum Beispiel das, was wir heute Populismus nennen. Das Problem des Populismus besteht nicht darin, dass er die Massen anspricht, nicht einmal darin, dass er durch grobe Vereinfachungen Erfolg hat, sondern darin, dass er, während er die Ökonomie der Unterdrückung intakt lässt (und weiter ausbaut), die reale und wachsende Unzufriedenheit der Menschen erkennt und dann auf alle möglichen imaginären Arten bindet, die dennoch sehr greifbare materielle Folgen haben können. Der Aufstieg des Populismus, über den in letzter Zeit viel gesprochen wurde, hat ausdrücklich nicht nur mit dem persönlichen Stil der populistischen Führer zu tun: Ihre Wette auf das Genießen als politischer Faktor mag gut zu ihren persönlichen Neigungen passen, aber die libidinöse Verbindung, die sie so treffend und ausgiebig nutzen, wird nicht dort, also von ihnen und ihren Persönlichkeiten erzeugt. Sie entsteht durch die Widersprüche und Ausweglosigkeiten des sozialen Raums, in dem diese Führer begeistern und herrschen können.
Ähnliches könnte man von vielen reaktionären Ideen und Tendenzen sagen, die im Moment der Krise aufblühen und die alle eine Eigenschaft gemeinsam haben: Sie erkennen das Problem (der Krise) an und versprechen, uns zu einem vormodernen Moment der vermeintlichen sozialen Harmonie oder organischen Einheit zurückzubringen, in der die Menschen (Geschlechter, Rassen, soziale Klassen) ihren neuen Platz im Verhältnis zueinander und zu ihren Herren einnehmen. In diesem Kontext hat die moderne Idee, die auch die Freuds ist, vom irreduziblen Charakter der Krise, ihren vollen Wert. Das bedeutet nicht, dass jeder Kampf sinnlos wäre und wir ihn aufgeben sollten. Denn die grundsätzliche Form des Aufgebens (unseres sozialen Begehrens) ist nicht einfach Depression, Apathie, Pessimismus oder Ohnmachtsgefühle, sondern im Gegenteil der oft enthusiastische Glaube an eine vormoderne Harmonie, zu der wir zurückkehren müssten; das ist die Verleugnung des irreduziblen, konstitutiven Charakters der sozialen Krise. Diese Verleugnung ist zutiefst reaktionär, nicht nur, weil sie jede mögliche Zukunft durch eine (verlorene) Vergangenheit ersetzt, sondern vor allem, weil sie den realen Kern der Krise auslöscht und verdrängt, aus dem – und nur aus dem – neue Welten hervorgehen. Aus dieser Perspektive war Freuds Pessimismus vielleicht seine Art, sein soziales Begehren nicht aufzugeben.
1 Die in kursiv gesetzten Satzteile im Original deutsch bzw. englisch.
2 Im Original groß geschrieben.
3 Glück: aus dem Mittelhochdeutschen gelücke.
4 Die gleiche Logik können wir im Fall der Klimakrise, der globalen Erwärmung und ihrer Hauptursache erkennen: den Emissionen. Letztere sind im Wesentlichen Nebenprodukte der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Nutzung von Ressourcen. Das Klima hat sich nicht nur durch unsere direkten Bestrebungen, durch das, was wir geschaffen und gebaut haben, verändert, sondern vor allem durch das, was sich in diesem Prozess als purem Abfall angesammelt hat. Die ökologische Krise ist nicht nur ein Problem der Endlichkeit der Welt, ein Problem der Tatsache, dass die natürlichen Ressourcen zur Neige gehen werden. Dies kann (und wird) natürlich zu Engpässen, Kriegen usw. führen, aber das Problem des Klimawandels kommt genau genommen von woanders her: nämlich von dem, was entsteht, wenn wir diese Ressourcen verbrennen. Wenn wir in der Lage wären, diese Ressourcen ohne Rückstände oder Überschüsse zu verbrauchen, würden wir heute nicht vom Klimawandel sprechen. Wir sprechen darüber wegen der Emissionen, die eine Art nutzloser Überschuss der industriellen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sind. Mit anderen Worten: Das Problem besteht nicht nur darin, dass die natürlichen Ressourcen zur Neige gehen (was natürlich ein Problem ist), sondern dass sie, während sie zur Neige gehen, zurückzukehren scheinen, von einer anderen Seite her, aus einem Jenseits, aus dem Realen – in Form einer anderen Art von Überschuss, einer drohenden Katastrophe – wieder in unseren Raum eintreten.
Literaturverzeichnis
Foucault, Michel (1992 [1977]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Freud, Sigmund (1974 [1930]): „Das Unbehagen in der Kultur“. In: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Studienausgabe. Band IX. Frankfurt/M.: Fischer Verlag, S. 191-270.
Lacan, Jacques (2015 [1975]): Encore. Das Seminar, Buch XX. Übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Lacan, Jacques (2007 [1970]): Die Kehrseite der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XVII. Übers. v. Gerhard Schmitz. Unveröffentlicht.
Lacan, Jacques (2006). D'un discours qui ne serait pas du semblant. Paris: Éditions du Seuil.
Macherey, Pierre (2005). „Freud: la modernité entre Eros et Thanatos“. In: Groupe d’études „La philosophie au sens large“, o.S. https://philolarge.hypotheses.org/files/2017/09/12-10-2005.pdf [13.08.2022].
Autor :in: Alenka Zupančičc ist in Slowenien ansässige Philosophin und Mitglied des Instituts für Philosophie der Slowenischen Akademie der Wissenschaften in Ljubljana. Sie arbeitet unter anderem zu den Werken von Freud, Lacan und Marx.