Evelina Jecker Lambreva
Y – Z Atop Denk 2022, 2(8), 3.
Abstract: In ihrer Briefnovelle ermöglicht Evelina Jecker Lambreva den Leser:innen im literarischen Vollzug sowie aus einer persönlichen Perspektive einen Zugang zu einigen der zentralen Themen der Psychoanalyse: Tod, Krankheit in der Familie, Traumdeutung und mehr. Im Folgenden handelt es sich um fünf der insgesamt vierundvierzig Briefe, die monatlich im Y erscheinen.
Keywords: Briefnovelle, Tod, Trauer, Familie, Traumdeutung
Veröffentlicht am: 30.08.2022
Artikel als Download: Briefnovelle (31-35)
31.
Liebe Oma,
ich nehme alles zurück, was ich dir in meinem vorigen Brief über die Kindseltern geschrieben habe! Vergiss bitte sofort, was ich da herausgelassen habe. Jetzt schäme ich mich furchtbar dafür! Es ist mir megapeinlich, Oma, echt! Denn die Kindseltern sind wahnsinnig nette Leute. Sie waren heute da.
Sie heissen Tomasi. Die Frau Tomasi sieht aus wie eine Sonne. Wenn sie zu dir spricht, strahlt sie dich die ganze Zeit an. Wenn du auch noch ihre liebe Stimme hörst, möchtest du dich sofort an sie ankuscheln. Sie hat dunkelblonde Locken und warme Augen. Sie scheint mir aber viel älter zu sein als Mama. Zwar ist sie nicht so massiv wie die Nachbarin Elena, aber dick ist sie schon. Stell dir vor, Oma, wir durften ihr sofort «Romina» und «du» sagen!
Zum Herrn Tomasi durften wir auch sofort «du» sagen. Er heisst Massimo. Er sieht jünger aus als seine Frau, trägt einen schwarzen Bart und lacht sehr herzlich.
Sie kamen mit einer Dolmetscherin und mit einer Frau aus der Agentur. «So einen will ich auch eines Tages haben», rief Anton, als er den dicken Mercedes sah, aus dem sie alle ausstiegen. Wir empfingen sie an der Hofpforte. Das erste, was Frau Tomasi sagte, nachdem wir uns begrüsst haben, war: «Ach, was für ein wunderschöner Garten!». Das übersetzte uns die Dolmetscherin. «Die Kinder kümmern sich ganz allein um ihn», erklärte Mama und umarmte Anton und mich. Die Dolmetscherin übersetzte weiter. «Das macht ihr aber ganz gut!», lächelte uns Herr Tomasi an. «Habt ihr auch Tiere?», fragte er. Mama, Anton und ich sahen uns baff an. «Nein», sagte Mama. «Schade! Tiere würden sich hier ganz wohl fühlen», erwiderte Herr Tomasi. Dann boten sie uns das «du» an. Das hat uns aber gefreut, sag ich dir, Oma!
Wir gingen ins Haus. Die beiden waren hellauf begeistert davon, wie wir leben. Mama erzählte, dass Anton und ich ihr die ganze Hausarbeit abnehmen. Romina und Massimo haben nicht schlecht gestaunt. Dann packten die beiden ihre Geschenke für uns aus. Zwei Koffer voller Geschenke! Schokolade, Gebäck, Trockenfrüchte, Kaffee, Spezialitäten aus ihrer Heimat, Konfitüre, Teigwaren, einen speziellen Reis, eine wunderbare Handtasche für Mama, T-Shirts für Anton und mich, flauschige Socken, und für alle drei je einen bunten Rucksack. Wir waren sprachlos!
Bei Kaffee und Kuchen durften Anton und ich über die Schule erzählen. Massimo fragte, ob wir auch eine Fremdsprache lernen. Ich sagte «Englisch». Da hat Romina mit mir ein bisschen Englisch gesprochen. Es klappte ganz gut! Ich war stolz auf mich, dass ich ihre Fragen verstanden habe und auch beantworten konnte! Ich bat dann die Übersetzerin zu fragen, ob wir Bilder von ihrem Schlosshotel sehen dürften, denn Anton und ich könnten uns so etwas gar nicht vorstellen. Alle lachten. Dann öffnete Massimo sein Handy und zeigte uns Fotos. Ich bin aus allen Wolken gefallen, Oma! Die haben wirklich ein Schlosshotel! Ein Schloss, wie aus den Märchen. Die beiden erzählten, dass sie in ihrem Hotelgarten eine Volière mit Tauben haben, dazu einen Stall mit Kaninchen und einen mit Zwergziegen. Im Hotel selbst haben sie eine Katze, die Rominas Eltern gehört und bereits dreizehn Jahre alt ist. Sie heisst Schiila und ist eine Tigerkatze, wie unsere Gala. «So alt wie ich!», sagte ich. Die Dolmetscherin übersetzte es und alle lachten wieder. Der ganze Nachmittag verlief so lustig mit diesem Besuch. Nachher hat Anton zu mir gesagt: «Nadja, ich habe Romina und Massimo sehr gern. Ich freue mich, wenn sie wieder kommen!» «Ich mich auch, in der Tat!», sagte ich. «Das sind ganz tolle Menschen!», nickte Mama.
Oma, Romina und Massimo machen nun eine kleine Reise durch unser Land. Bevor sie in ihre Heimat zurückfliegen, kommen sie nochmals bei uns vorbei. Denn es habe ihnen mit uns auch sehr gefallen, sagten die beiden beim Abschied.
Gute Nacht, Oma!
Deine glückliche Nadja
32.
Liebe Oma,
was für ein phantastisches Wochenende das war! Einfach total cool! Noch immer bin ich nicht ganz bei mir. Und habe das Gefühl, dass ich träume.
Oma, Romina und Massimo kamen vorbei, wie sie uns es versprochen haben. Diesmal war aber niemand von der blöden Agentur dabei. Sie waren mit einem Mietauto unterwegs und haben nur die Dolmetscherin mitgenommen. Und die ist eine ganz nette!
Sie kamen am Samstagmorgen. Wir sassen schon früh am Holztisch vor dem Haus und warteten auf sie. Anton und ich hatten bereits am Freitag das ganze Haus perfekt geputzt. Und den Hof aufgeräumt. Auch die verwelkten Blumen haben wir vom Garten weggebracht. Als Romina und Massimo aus dem Wagen ausstiegen, wunderten wir uns, was sie da für ein riesiges Paket aus dem Kofferraum holten. «Bekommen wir wieder ein Geschenk, Mama?», fragte Anton. «Wahrscheinlich schon», antwortete Mama. «Ein Aquarium vielleicht?». Das sei sein neuster Traum, ein Aquarium, verriet uns Anton. Denn Julias Bruder Andry kriege eins zu seinem Geburtstag. «Ich bin nicht so scharf auf ein Aquarium, denn mit Fischen kann man nicht spielen», sagte ich. «Lieber hätte ich einen Kaninchenstall und eigene Kaninchen, da muss ich nicht immer zu den Elenas rüber, wenn ich mit Kaninchen spielen will».
«Hallo Zusammen!», rief Romina fröhlich auf Englisch und winkte an der Pforte. «Hallo!», keuchte Massimo und zeigte sein Gesicht hinter dem schweren Paket. «Geh und hole rasch den kleinen Schubkarren», schubste mich Mama und öffnete die Pforte. Zum Glück wusste ich, wo ich den unter der Scheune aufgeräumt hatte. Sie machte Massimo mit den Händen ein Zeichen, dass er das Paket auf den Boden stellen solle. Als ich den Karren brachte und ihn vor Massimo hinstellte, sah ich das Bild auf der Verpackung. Ich bin fast ausgeflippt vor Freude, Oma! Romina und Massimo haben uns ein aufblasbares Schwimmbecken mitgebracht! Eine solche tolle Überraschung habe ich noch nie erlebt!
«So! Das ist für euch Kinder!», lächelte Massimo. «Ein Bassin, ein Bassin!», schrie Anton und klatschte in die Hände. «Werden wir schon heute darin baden können?». «Wenn eure Mama es erlaubt, warum nicht?», sagte Romina. Mama hatte nichts dagegen. Also bauten Massimo und Anton das Bassin auf, während Mama, Romina, ich und die Dolmetscherin im Schatten unter der Rebe Sirup tranken und Kekse assen. Mama erzählte Romina von ihrem Lebenstraum mit dem zweiten Stock im Haus, der eine Sicht aufs Meer haben würde und an Touristen vermietet werden solle. Und dass wir davon leben können werden. Romina war begeistert. «Massimo und ich werden dich dann in Sachen Tourismus beraten. Wir bleiben ja auch nach der Geburt in Kontakt mit euch.» sagte sie. «Und weisst du was? Ein richtiger Pool hätte auch Platz auf eurem Hof, wie ich das sehe. Der würde die Zimmer teuerer machen», meinte Romina. Jetzt war Mama total begeistert. «Ein Pool? Was für eine tolle Idee! So weit bin ich mit meinem Lebenstraum natürlich nicht gegangen». Es war so schön, ihnen zuzuhören, Oma!
Irgendwann war das Bassin voll mit Wasser, und Anton und ich plantschten hinein. Das war mega geil, sag ich dir! Bei dieser Hitze einfach daheim auf dem Hof schwimmen zu können, war irre! Anton wünschte sich, dass auch Leo dazukomme, und Mama rief Tante Elvira an. Die beiden trabten sofort an. So haben Romina und Massimo auch Tante Elvira und Leo kennengelernt. Den ganzen Nachmittag haben wir dann im Pool verbracht, Anton, Leo und ich. Und so wie Tante Elvira halt ist, schlug sie auf einmal vor, dass sie ein Abendessen kochen werde und dass wir alle gemeinsam im Garten essen sollten. Romina und Massimo sagten mit Freude zu. Auch die Dolmetscherin hatte Zeit. Anton und ich brachten alle Gartenstühle herbei, die wir haben. Leo und Anton holten noch vier von Tante Elvira. Dazu verlängerten wir den Holztisch mit zwei Brettern, die Tante Elvira für solche Anlässe immer daheim parat hat. Ich machte den Salat, Tante Elvira kochte im Backofen einen Gemüseauflauf. Zum Dessert assen wir Zuckermelone mit Honig. Mama hat danach auf dem Akkordeon gespielt, Tante Elvira, ich, Anton und die Dolmetscherin haben für Romina und Massimo Volkslieder gesungen. Und sie haben uns mächtig Beifall geklatscht. Bis spät am Abend! Die Nachbarin, die dicke Elena, war so neugierig zu erfahren, was da bei uns läuft, dass sie irgendwann auftauchte und fragte, ob wir ihr eine Packung Griess ausleihen könnten. Mir muss sie doch nicht erzählen, dass sie um neun Uhr am Abend noch Griess kochen will.
Beim Abschied kamen allen die Tränen. Aber Romina und Massimo sagten, dass sie in einem Monat wieder kommen. Ich kann es kaum erwarten, bis sie wieder da sind. Ich habe sie so liebgewonnen, Oma! Sie haben auch gesagt, dass Anton und ich in den Winterferien zu ihnen auf Besuch gehen dürfen! Sie haben uns nach Südtirol in ihr Schlosshotel eingeladen, Omaaaa! Weisst du, was das heisst? Danach wir niemand mehr aus meiner Klasse mit mir reden können!
Gute Nacht!
Deine Nadja
33.
Liebe Oma,
ich habe mich heimlich mit Julia getroffen. In der Stadt. Mama und Tante Elvira dürfen aber nichts davon erfahren.
Es war so: Ich musste für Mama aus der Apotheke in Stadt ein Mittel holen und habe Julia im Viber geschrieben. Julia textete mir zurück, dass sie sich sehr freuen würde, mich wieder einmal zu sehen. Also machten wir am Kai bei der grossen Eisbude ab. Wir kauften uns Pfirsich-Melba-Eisbecher und Fanta und setzten uns an einen Tisch vor der Bude. Julia trug ein weisses T-Shirt mit einem schönen Mann drauf. Sein Gesicht hatte Bart, Schnurrbart und eine Kappe mit einem Stern darauf. Unter dem Bild war unsere Nationalfahne aufgedruckt. Als ich mir das Gesicht näher anschauen wollte, sah ich, dass Julia schon einen BH trägt. «Du hast schon einen BH?», fragte ich. «Ja», antwortete sie. «Du noch nicht?». Oma, meine Brüste sind auch fast so gross wie die von Julia. Aber ich geniere mich irgendwie, Mama zu fragen, ob ich einen BH haben kann. «Doch!», log ich. «Aber ich trage ihn nicht immer». Dann sagte sie, dass sie einen BH trage, seit sie ihren Freund habe und Kampfsport trainiere. Sie erzählte mir auch, was sie so alles mit ihrem Freund tue. Sie gehen gemeinsam ins Karate-Training, machen viel mit den anderen aus ihrer Clique: sie schreiben anonyme Drohbriefe an reiche Ausländer, besprayen in der Nacht die Gebäude ihrer Firmen, bestellen Essen von ausländischen Restaurants auf falsche Adressen und so. Julias Freund spiele Gitarre, Julia sei eine der Sängerinnen ihrer Clique. Die beiden rauchen, trinken Bier, hängen gemeinsam rum. «Und wir machen auch Petting», sagte Julia geheimnisvoll. «Weisst du schon, was Petting ist?». «Ja», log ich wieder. Und damit sie mich nicht ertappte, dass ich keine Ahnung habe, was Petting ist, fragte ich sofort weiter: «Wer ist das auf deinem T-Shirt?». «Das ist Che. Und mein Freund sieht genauso aus wie Che», sagte Julia total stolz. «Und wer ist dieser Che? Ein neuer Popstar?», wollte ich wissen. «Ach Quatsch, Popstar. Hast du noch nie von Che gehört? Da hast du aber eine grosse Bildungslücke!», ärgerte sich Julia. «Che ist ein Genosse, ein Revolutionär aus Cuba, der für Freiheit und gegen soziale Ungerechtigkeit kämpfte. Er ist aber schon lange tot. Und wir in unserer Clique setzen diesen Kampf fort: sozial, national, frei!», rief sie aus. «Und was ist soziale Ungerechtigkeit?», fragte ich weiter. Julia schwieg kurz, dann sagte sie plötzlich: «Dass deine Mutter als Leihmutter arbeiten muss, damit ihr zu Geld kommt, das ist zum Beispiel soziale Ungerechtigkeit. Dass ihr euch von reichen Ausländern aushalten lässt, indem deine Mutter ihnen Kinder verkauft. Soziale Ungerechtigkeit ist auch, dass du und dein Bruder inzwischen ganz teure Sachen habt, die Kinder von einfachen Leuten, welche ehrlich ihr Geld verdienen, nie haben können!» Julia mich starrte ganz streng an.
Ich war baff. Ich schwieg, als hätte mir Julia eine Ohrfeige verpasst. Es wurde mir sehr peinlich! Jetzt bin ich für meine Freundin zur Feindin geworden, dachte ich. Weil wir mit Mama und Anton gut leben, weil wir ein schönes aufblasbares Schwimmbecken auf unserem Hof haben. Andry muss es Julia erzählt haben, wegen dem Pool. Denn Anton hat ihn sofort zum Schwimmen eingeladen, schon in der Woche, nachdem Romina und Massimo abgereist waren. Da packte mich die Wut. Ich lass mir doch meine Mama von niemanden schlecht machen. Und schon gar nicht von meiner besten Freundin. «Weisst du was?», brüllte ich. «Sag doch deinem Vater diese Dinge! Er hat ja neulich eine Deutsche geheiratet! Alle im Dorf erzählen, dass sie sehr reich ist und dass er sie deshalb geheiratet hat. Sonst sei sie hässlich wie die Nacht, das sagen die Leute. Meine Mama heiratet keine hässlichen Ausländer! Meine Mama ist einfach ganz gern schwanger! Deshalb ist sie wieder schwanger. Punkt. Das ist die Wahrheit!». «Ach, was, dass ich nicht lache!», prustete Julia los. «Sie sagt das euch nur so. Weil sie ganz genau weiss, dass das schlimm ist, was sie tut. Ich kenne keine Frau, die gern immer wieder schwanger ist. Sie macht das nur für Geld, weil sie sonst keine Arbeit findet!». «Das gleiche tut aber auch dein Vater! Holt sich eine aus dem Westen, gerade nachdem er gefeuert wurde!»
«Das stimmt. Nur: Ich kann nichts dafür. Ich nehme aber kein Geld und keine Geschenke von dieser Frau an. Und nächstes Schuljahr komme ich ins Schülerwohnheim. Das steht jetzt fest. So wehre ich mich. Und du? Was machst du? Du spielst das Spiel voll mit! Wir müssen uns mit allen Mitteln gegen die reichen Ausländer wehren! Kapierst du, Nadja?»
«Aber dein Che, den du so verehrst, ist ja auch ein Ausländer. Aus Cuba! Hast du doch selber gesagt!», rief ich trotzig. «Gibt’s da keine Kämpfer aus unserem Land, die man sich aufs T-Shirt malen kann? Und Petting? Warum sprichst du mit ausländischen Wörtern, wenn du eine richtige Patriotin bist?»
Jetzt war Julia baff und wusste nicht was antworten. Oma, ich habe sie mundtot gemacht! So toll!
«Ich muss jetzt gehen!», sagte ich und stand auf. «Mama wartet auf mich … Ich will aber wissen, sind wir noch Freundinnen, oder nicht mehr?»
«Was fällt dir denn ein? Natürlich sind wir weiter Freundinnen! Und ich bin sicher, dass du mich eines Tages verstehen wirst. Spätestens, wenn du nächstes Jahr aufs Gymnasium in die Stadt kommst. Jetzt bist du noch zu klein!», lächelte sie hochmütig. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte zu Julia: «Wenn du willst, dass wir Freundinnen bleiben, sagst du nie mehr was über Mama und über meine Familie! Einverstanden?». Julia stand auch auf. «Okay, einverstanden! Ich mag euch trotzdem alle, Nadja, aber ihr müsst euch besinnen! Melde dich, wenn du mich brauchst. Ich bin immer für dich da …»
Oma, ich bin so stolz auf mich, dass ich Julia meine Meinung sagen konnte!
Gute Nacht!
Deine Nadja
34.
Liebe Oma,
gestern Nacht hatte ich wieder einen irren Traum. Von dem will ich dir erzählen, und auch vom heutigen Tag, der ein ganz besonderer für mich war.
Ich träumte, dass ich ein Kind bekomme von einer Leihmutter. Die Leihmutter ist eine Romafrau. Die Hebamme bringt mir das Kind aus dem Nebenraum, wo es geboren wurde. Es ist nackt, hat dunkle Haut und kleine dunkle Locken. «Das ist jetzt dein Kind.» Die Hebamme zeigt es mir und beginnt es zu wickeln. Das Baby weint los. Da läutet das Handy der Hebamme. Es ist die Kindsleihmutter. Sie hat das Baby weinen gehört. Ich höre ihre besorgte Stimme: «Wenn die Frau das Kind doch nicht haben will, nehme ich es zu mir zurück. Ich vermisse es!», sagt sie. «Aber das ist doch jetzt mein Kind!», sage ich zur Hebamme. «Die Leihmutter war ja nur seine Leih-Mutter. Das Kind gehört mir», sage ich. «Natürlich!», nickt die Hebamme und überreicht mir das gewickelte Baby. Ich nehme es und folge der Hebamme in einen anderen Raum, wo Mama auf mich wartet. Mama aber weigert sich, das Kind in die Arme zu nehmen. Sie will es gar nicht berühren. «Ein Romakind ist das, wenn du eine Romafrau als Leihmutter genommen hast!», sagt sie. Sie ist angeekelt. «Was jetzt, Mama? Behalten wir es, oder nehmen wir es nicht? Die Leihmutter hat gesagt, sie nimmt es sofort wieder zu sich zurück, falls wir das Kind nicht wollen.» Mama ist unschlüssig, was zu tun ist. «Es ist doch mein Kind, Mama!», sage ich. «Es ist aus meiner Eizelle entstanden. Was kümmert dich die Leihmutter?» «Ich werde es nie anfassen!», sagt Mama. «Gib es der Romafrau zurück! Eigentlich gehört ihr das Kind, wenn sie es geboren hat ...»
Dann erwachte ich. Es war schon Morgen. Ich musste dringend aufs Klo. Ich dachte sogar, ich hätte eingepinkelt, denn es fühlte sich komisch nass an in meinem Höschen. Als ich das Höschen im Klo runterzog, erschrak ich. Das ganze Höschen war blutverschmiert! Ich bin ich zu Mama gerannt und habe sie geweckt. «Mama, ich habe etwas so Schlimmes geträumt, dass ich jetzt unten blute! Ich habe mich irgendwie im Schlaf selbst verletzt», sagte ich heulend vor Angst. Mama stand auf und hiess mich mein Höschen runterzuziehen. Sie schaute es sich an und fragte mich, ob ich irgendwo Schmerzen habe. «Nein», sagte ich. Dann erzählte ich ihr den Traum. Sie schüttelte nur den Kopf. Darauf umarmte sie mich und sagte: «Keine Angst, Nadja, du bist weder verletzt noch krank. Deine erste Periode ist gekommen. Du wirst jetzt zur Frau», tröstete mich Mama. Dass ich so blöd war und es nicht gecheckt habe, dass das die Periode sein könnte … So ein Mist! Das kann ich mir einfach nicht verzeihen! Ich bin doch schon so lange aufgeklärt, Oma! Ich wollte ja auch mal endlich die Periode haben, wie Julia, und damit protzen. Denn Julia sagt, wenn man die Periode hat, ist man kein Kind mehr. Und ich will kein Kind mehr sein! Als es aber soweit ist, was mache ich? Ich reisse am frühen Morgen Mama aus dem Schlaf und heule wie ein Kind los! Wie ich mich dafür schäme! Mama aber liess mich zu sich ins Bett kriechen. Wir kuschelten und schliefen noch eine Weile. Danach standen wir auf und gingen zusammen Damenbinden kaufen. Auf dem Heimweg gingen wir in die Konditorei. Wir assen dort zuerst ein Sandwich, dann Kuchen, und tranken Sirup. Mama und ich feierten ein bisschen meine erste Periode. Anton haben wir von der ganzen Geschichte nichts gesagt. Wir brachten ihm aber auch ein Sandwich und ein Stück Kuchen mit. Es war ein solch aufregender Tag! Jetzt bin ich aber sooo erschöpft.
Gute Nacht, Oma
Deine erwachsene Nadja
35.
Liebe Oma,
mit grosser Freude möchte ich dir mitteilen, dass es Mama und dem Baby ganz gut geht! Mama war gestern zur Untersuchung im Spital, und die Ärzte sagten ihr, es sei alles tipp-top. Ich bin so glücklich, dass sie nicht kotzt und dass sie nie zusammengebrochen ist. Tante Elvira sagt, wenn Mama bis jetzt nicht begonnen hat zu brechen, wird sie es auch nicht mehr tun. Das Gekotze gehe nur am Anfang der Schwangerschaft los. Danach könne es nicht mehr beginnen. Ich aber denke, dass das Baby bestimmt, ob gekotzt wird oder nicht. Dieses Baby stammt aus Mamas Eizelle, und deshalb ist es so lieb und nett wie Mama, und deshalb macht es keine Probleme. Vielleicht weiss es auch, was für tolle Eltern es bekommen wird? Vielleicht spürt es in Mamas Bauch, wie liebenswürdig Romina und Massimo sind? Es hat sicher mitbekommen, wie schön wir es alle zusammen hatten, als sie bei uns waren!
Übrigens, Oma, Romina hat Mama gestern eine Mail geschrieben, die uns die Dolmetscherin übersetzt hat. Sie möchten uns wieder besuchen kommen. Am letzten Wochenende dieses Monats. Diesmal bringen sie aber auch die Grosseltern vom Baby mit. Rominas Eltern kommen mit, Oma. Ich bin soooo gespannt, ob sie auch so sind wie Romina. Ich glaube schon. Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Sie sehen sicher wie ein König und eine Königin aus. Wenn sie ein Schlosshotel haben, müssen sie ja so aussehen. Den Opa stelle ich mir feist, mit Bart und grossem Bauch vor. Die Oma mit kurzen, blonden Locken, schlank und mit zwei Wangengrübchen, wenn sie lächelt.
Wir möchten aber nicht, dass sie alle in einem Hotel übernachten. Und da wir daheim nicht genug Platz haben, fragte Mama Tante Elvira, ob sie nicht bei ihr wohnen könnten für das Wochenende. Tante Elvira war von der Idee sofort Feuer und Flamme. Bei denen ist ja jetzt das Badezimmer ganz neu gemacht mit dem ersten Geld, das Onkel Milo als internationaler Lastwagenfahrer verdient hat. Tante Elvira ist ganz stolz auf ihr neues Badezimmer und zeigt es jedem, der ins Haus kommt. Also machen wir es jetzt so: Cousin Leo kommt zu uns schlafen und die Grosseltern kriegen sein Zimmer. Romina und Massimo schlafen in Tante Elviras Gästezimmer. Am Tag sind wir alle bei uns, Tante Elvira und ich werden kochen. Wir werden auch unsere Katzen die ganze Zeit dabeihaben. Wir müssen sie nicht mehr verstecken. Ist das nicht schön?! Mama hat gesagt, sie würde am liebsten einen Grill kaufen, damit wir ein eigenes Barbecue machen können, aber da weder Tante Elvira noch wir etwas vom Grill verstehen, werde sie für den ersten Abend grilliertes Fleisch beim Metzger bestellen. Wir machen mit dem Besuch einen Ausflug ans Meer, und vielleicht zeigen wir ihnen auch die Stadt, wenn Mama nicht zu müde ist. Mama hat Romina bereits zurückgeschrieben (durch die Dolmetscherin natürlich!) und sie eingeladen, bei Tante Elvira zu übernachten. Jetzt hoffen wir, dass sie die Einladung annehmen. Anton ist vor Freude ausgeflippt, dass Leo bei uns schlafen wird. Das hat Leo schon lange nicht mehr gemacht. Tante Elvira hat uns aber klar gesagt, dass Leo, Anton und ich ihr helfen sollen, ihr ganzes Haus zu putzen. Für einen solch hohen Besuch muss alles glänzen, hat sie gesagt. Wir drei sind damit einverstanden. Wir putzen zuerst bei uns daheim und nachher bei ihr. Wir scheuen ja keine Arbeit. Gut, dass wir alle noch Sommerferien haben.
Jetzt sage ich dir gute Nacht, liebe Oma, und hoffe, du bist mir nicht böse, dass mich Babys Grosseltern so interessieren. Du bist und bleibst meine Oma, Rominas Mutter wird deinen Platz in meinem Herzen nicht einnehmen. Das verspreche ich dir!
Deine Nadja
Autor:in: Evelina Jecker Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.