Evelina Jecker Lambreva

Y – Z Atop Denk 2022, 2(6), 3.

Abstract: In ihrer Briefnovelle ermöglicht Evelina Jecker Lambreva den Leser:innen im literarischen Vollzug sowie aus einer persönlichen Perspektive einen Zugang zu einigen der zentralen Themen der Psychoanalyse: Tod, Krankheit in der Familie, Traumdeutung und mehr. Im Folgenden handelt es sich um fünf der insgesamt vierundvierzig Briefe, die monatlich im Y erscheinen.

Keywords: Briefnovelle, Tod, Trauer, Familie, Traumdeutung

Artikel als Download: pdfBriefnovelle (11-15)

 

11.

Liebe Oma,

wir sind alle zu Hause sehr aufgeregt. Nächste Woche kommen die Eltern des Kindes aus Frankreich. Sie werden in einem Hotel in der Stadt wohnen. Trotzdem kommt jetzt jeden Tag jemand von der Agentur vorbei. Lauter unsympathische Kerle, sag ich dir! In teueren Kleidern und mit Krawatte. Sie parken ihre schwarzen Limousinen vor unserem Haus und fluchen, dass die Strasse so zerschlagen ist. Julia hat sie gehört und es mir sofort erzählt. «So? Gehört ihr jetzt auch zur Mafia?», grinste sie. «Wieso denn zur Mafia?», fragte ich. «Na, solche Karossen fährt nur die Mafia», trotzte sie. «Wir haben mit der Mafia nichts zu tun! Wir verkaufen einfach ein Kind. Punkt! Das ist doch erlaubt!», motzte ich sie an. Dass die das nicht weiss und von Mafia redet, ist einfach blöd. Keine Ahnung, was diese Leute alles mit Mama bereden, aber sie musste weiss ich nicht wie viele Formulare ausfüllen und unterschreiben. Vor meinen Augen! Welche Mafia lässt Leute Dokumente ausfüllen und unterschreiben? Keine! Die Mafia arbeitet doch ganz geheim.

Ich versuche andauernd, mir die Mama des Babys vorzustellen. Sie soll meiner Mama sehr ähnlich sehen, das habe ich dir schon geschrieben. Dann ist sie vielleicht auch so schön wie die schon lange verstorbene Prinzessin Diana. Mama gleicht ja dieser Prinzessin Diana. Ich kenne sie aus Filmdokus im Fernsehen und mag sie sehr. Denn sie hatte ein warmes Herz. Wie Mamas Herz! Ob die Mutter des Babys auch ein warmes Herz hat wie Mama und die Prinzessin Diana? Wahrscheinlich schon. Denn sie ist Ärztin. Und auch der Vater des Kindes ist Arzt. Ärzte haben ja warme Herzen, das weiss man.

Sie sind sicher nette Leute, wenn sie uns so viel Geld geben. Wir leben jetzt in Saus und Braus. Das haben schon alle aus meiner Klasse gemerkt. Und alle sind jetzt anders zu mir. Ich bin plötzlich zur Anführerin der Klasse geworden. Kannst du dir das vorstellen? Ich werde nun zu jeder Sache gefragt. Mein Wort zählt mehr denn je. Die Lehrer wissen, dass ich zu Hause den ganzen Haushalt schmeisse und dass ich mich auch um Anton kümmere. Das haben sie erfahren, als Mama ins Krankenhaus musste. «Sag mal, wie schaffst du das, dass du auch so gute Noten schreibst, schläfst du überhaupt noch in der Nacht?», fragte mich gestern die Mathematiklehrerin vor der ganzen Klasse, als sie mir die Prüfung mit der Note «ausgezeichnet» zurückgab. Ich weiss es nicht, ich schaffe es einfach, sagte ich. Nach der Schule bin ich direkt nach Hause gegangen und habe alle Teppiche und die Sofas gereinigt, die ganzen Überzüge gewaschen und die Küche gründlich geputzt. Wir müssen vor den Eltern des Babys gut dastehen, Oma! Ich wünsche mir aber ein bisschen Lob auch von Mama. Sie sagt meistens nichts. Sie schaut nur noch auf ihren Bauch und sieht kaum, was ich alles mache. Ich verstehe sie aber. Wenn jemand den ganzen Tag kotzt, kann er ja nichts ausser seiner Kotztüte sehen.

Deine Nadja

 

12.

Liebe Oma,

bei uns ist der Teufel los! Seit die Kindseltern aus Frankreich da waren, haben wir die Hölle daheim! Es ist keine Lady Diana gekommen, Oma: eine Hexe war da. Die hat mit Mama nichts zu tun! Ich wusste nicht, dass es blonde Hexen mit blauen Augen geben kann, aber jetzt weiss ich es. Immer dachte ich, Hexen sind klein, dürr, haben schwarze Haare, schwarze Augen und einen zahnlosen Mund. Jetzt aber habe ich eine ganz andere gesehen: gross wie eine Kuh, mit blitzweissen Zähnen, gläsernen Augen und Haaren wie Stroh.

Es war arschkalt an diesem Tag, alles war gefroren und ich hatte unseren Hund Hektor und auch die zwei Katzen Liza und Gala ins Haus genommen. Sie taten mir einfach Leid draussen in der klirrenden Kälte. Mama hatte nichts dagegen. Sie sagte nur zu mir, ich soll ihnen allen die Pfoten gut putzen und auch das Fell mit einem Froteetuch sauber machen. Das habe ich getan.

Ich sass mit Hektor auf dem Divan in der Küche, als es draussen an der Tür läutete. Liza und Gala lagen eingerollt auf dem Sofa neben Anton. Der schaute im Fernsehen einen Kinderfilm. Mama ging öffnen. Hektor bellte laut und wollte losspringen, ich hielt ihn aber zurück auf dem Divan. Die Kindseltern traten hinein, zusammen mit einem Mann in Schale aus der Agentur und einer herausgeputzten Frau, die Übersetzerin war. Ich lächelte die grosse, blonde Frau mit den blauen Augen an und sagte «Guten Tag! Seien Sie willkommen! Ich heisse Nadja!». Diese drei Sätze habe ich oft geübt. Die Dolmetscherin übersetzte es aber nicht. Die Frau starrte mit ihren glaskalten Augen nur Hektor an. Erst als Mama sagte, das sind meine Kinder, Nadja und Anton, öffnete sie ihren breiten Mund und lachte kurz, und da sah ich ihre glänzenden Zähne. Sie nickte und grüsste mich und Anton in ihrer Sprache. Das gleiche tat auch ihr Mann. Der stand wie ein Diener neben ihr. Die Dolmetscherin übersetzte. Mama zeigte ihnen unser Haus und erzählte, wie wir leben. Dann lud sie alle zu Kaffee und Kuchen ein. Ich hatte den Kuchen gebacken, Anton hatte den Tisch gedeckt. Als Mama das erklärte, lachte und nickte die Kindsmutter wieder. Und sie machte grosse Augen. Ihr Mann sagte «Schön» und lächelte Anton und mich an. Nachher sprachen sie nicht mehr mit uns. Wir konnten nur die Dolmetscherin hören, wie sie übersetzte, das Haus ist gut gepflegt, es macht einen sauberen Eindruck, aber die Tiere müssen weg. Die Tiere können eine Krankheit auf die schwangere Leihmutter und auf das Baby übertragen. Mama versuchte zu erklären, dass die Tiere nur heute im Haus sind, weil es draussen so kalt ist. Aber das wollten die Kindseltern nicht hören. Sie schüttelten den Kopf. Alle Tiere müssen weg, der Hund, die Katzen und auch die Hühner. Draussen auf dem Hof rieche es nach Hühnermist. Das sei nicht hygienisch. Das sei gefährlich für ihr ungeborenes Baby. Mama, ich gebe Hektor, Liza und Gala nicht weg, rief Anton und zog an Mamas Ärmel, aber die Dolmetscherin übersetzte das nicht. Mama mahnte Anton still zu sein. Er verschwand im Zimmer und knallte die Tür zu. Die Blonde zuckte mit den Schultern, lachte wieder und schaute zu unserem alten Holzkohlenofen. Sie murmelte etwas in Französisch zu ihrem Mann. Dieser Ofen muss auch weg, übersetzte die Dolmetscherin. Der Kindsvater sagte, er soll durch einen umweltfreundlichen Pelettenofen ersetzt werden. Dann assen alle ihren Kuchen fertig und gingen.

Als Mama die Tür hinter ihnen schloss, flüsterte sie «Wir müssen noch morgen die Tiere wegbringen». Darauf kotzte sie wieder los.

«Ich hasse dieses Baby, ich hasse alle, ich will da weg», schrie Anton, als ich ihm erzählte, was jetzt auf uns zukommt. «Und Geschenke haben die uns auch nicht mitgebracht», täubelte er.

Das ist es, Oma. Hektor, Liza und Gala werden noch morgen auf dem Feld ausgesetzt. Mama hat bereits Tante Elvira angerufen und deinen geliebten Schwiegersohn Onkel Milo gebeten, die Tiere in Säcke einzupacken und sie weit weg von hier auszusetzen. Dafür schenkt Mama ihnen alle Hühner.

Gute Nacht, Oma.

Deine Nadja

 

13.

Liebe Oma,

nun habe ich schlimm mit Mama gestritten. Zum ersten Mal in meinem Leben! Denn ich will und kann mich nicht von unserem alten Ofen trennen. Auf keinen Fall! Natürlich ist mir klar, dass wir nicht mehr mit ihm heizen und auch nicht mehr auf ihn kochen dürfen. Die Franzosen haben es ja verboten. Warum muss aber der Ofen ganz weg? Ich begreife das nicht! Mama will ihn auf der Müllhalde entsorgen. Das kann sie doch nicht machen! «Lass uns den Ofen im Korridor platzieren, Mama. Wir könnten die Ofenringe abnehmen und Blumentöpfe in seinen Löchern aufstellen. Dann wird aus ihm ein wunderbarer Blumenbehälter», schlug ich vor. «Nein, der alte Mist gehört nicht mehr im Haus, er muss verschwinden. Er passt nicht zu all den neuen Sachen, die wir jetzt haben», erwiderte sie. «Der ist aber schon immer da gewesen, Mama. Ich kann es mir nicht vorstellen, ihn nie mehr wieder zu sehen». «Ach, Quatsch, Nadja! Tu doch nicht so blöd, du bist ein grosses Mädchen!», rief sie aus.

Oma, Mama versteht mich nicht. Ich tue ganz sicher nicht blöd. Jedes Mal, wenn ich den Ofen anschaue, da kommt es mir in den Sinn, wie du im Winter vor ihm gesessen bist. Wie du zum Fenster hinausgeschaut hast und deine kalten Hände über die Heizplatte ausgestreckt hieltest. So hast du auf mich gewartet, bis ich von der Schule heimkam. Oder wie du Kürbisschnitten in ihm gebacken hast. Oder wie deine Kuchen aus ihm heraus dufteten, deine Suppen auf ihm blubberten. Wie du die besten gebackenen Kartoffeln der Welt aus seinem Backfach herausgeholt hast. Wie wir zusammen neben dem Ofen sassen und du uns mit Anton Geschichten erzählt hast. Und wie geheimnisvoll er knisterte, wenn das nächste Holzscheit niedergebrannt war.

«Für dich mag er ein Stück Mist sein, für mich aber nicht», schrie ich Mama an. «Schluss jetzt, der Ofen kommt weg!», schrie sie zurück. «Nichts da, Mama! Der Ofen bleibt hier! Wenn nicht im Haus, dann draussen unter der Scheune. Dort wird er niemanden stören. Ich werde ihn pflegen und ihn zum Blumenbehälter machen. Abgemacht?»

«Ich will mir hier ein ganz neues Leben einrichten! Da hat Gerümpel keinen Platz! Weder im Haus, noch auf dem Hof. Der Ofen wird entsorgt, fertig!»

Ich wurde ganz böse: «Da kommst du eines Tages vielleicht auch noch auf die Idee, Anton und mich zu entsorgen. Wenn wir zu deinem neuen Leben nicht mehr passen!»

«Schweig, Nadja! Wie unverschämt bist du denn?», brüllte mich Mama an.

«Ich schweige nicht! Ich gebe meinen Ofen nicht weg! Der geht hier fort nur über meine Leiche!», brüllte ich zurück.

«Willst du mich fertig machen, Nadja? Ach, mein Herz rast nun wie wild! Willst du, dass ich sterbe wegen diesem blöden Ofen?» Mama hob ihre Arme und plantschte auf dem Sofa.

Ich erschrak. Natürlich wollte ich nicht, dass Mama stirbt, ich kann ja ohne sie nicht leben. Also gab ich nach. Mama stand auf und rief die Nachbarn. Sie haben dann den Ofen nach draussen gebracht. Wie den Sarg eines Toten haben sie ihn aus dem Haus hinausgetragen! Und ihn dann auf der Strasse gestellt! Morgen kommt der schwarze Avram mit zwei anderen Männern und dem Pferdekarren. Sie bringen ihn auf dem Müllberg. Da werde ich mich in meinem Zimmer einschliessen. Und die Vorhänge werde ich runterlassen. Ich will nicht sehen, wie mein Ofen zum Müllberg weggebracht wird.

Jetzt ist der scheiss Pelettenofen da. Mama hat ihn schon angezündet. Er sieht aus wie ein Ungeheuer mit einem Riesenmaul voller Flammen. Und er gibt solch seltsame Geräusche von sich. Als würde ein Monster in der Küchenstube neben mir atmen. So unheimlich kommt es mir vor.

Oma, Anton und ich leben nun wie die Reichen. Es ist sehr cool! Trotzdem wünschen wir uns unseren Holzkohleofen, Hektor, Liza, Gala und die Hühner zurück. Sie werden aber nie wieder kommen. Nie wieder, Oma! Ist das nicht traurig? Ich darf mir gar nicht vorstellen wie Hektor, Lisa und Gala jetzt als streunender Hund und streunende Katzen irgendwo herumirren. Und dass sie selten etwas zu fressen finden. Und dass sie kein zu Hause mehr haben. Oma, ich heule los, deshalb höre ich jetzt auf zu schreiben.

Deine Nadja

 

14.

Liebe Oma,

Anton ist verschwunden. Heute am Weihnachtstag. Gestern, am Heiligabend hockten wir nach dem Essen noch ganz gemütlich beisammen mit Mama um den Tannenbaum. Sie sass auf dem Schemel neben der Krippe und las uns die Weihnachtsgeschichte über die Geburt von Jesus vor. Anton und ich kauerten auf ihren beiden Seiten am Boden. Oma, Mama war so schön im Lichterschein des Tannenbaums, du kannst es dir nicht vorstellen! Ihre Stimme so ruhig, ihr Gesicht so sanft, ihr Lächeln so zart! Auf einmal kam sie mir mit ihrem schwangeren Bauch vor wie die Heilige Maria selbst. «Ist die heilige Maria auch eine Leihmutter, Mama?», fragte ich am Schluss der Geschichte. Oma, du weisst ja, diese Geschichte haben Anton und ich x-mal an Weihnachten gehört. Aber jetzt klang sie für mich plötzlich ganz anders. «Eine Leihmutter? Wie kommst du denn auf so was?», wunderte sich Mama. «Ja, eine Leihmutter – vom Heiligen Geist», sagte ich. «Wer weiss? Vielleicht», lachte Mama. «Ist denn der Heilige Geist ein superreicher Übermensch, der sich alles auf der Welt leisten kann? Wie die Kindseltern aus Frankreich?», fragte ich weiter. Da sprang Anton vom Boden hoch und brüllte los: «Ich hasse den Heiligen Geist! Und jetzt mag ich auch den Jesus nicht mehr!» «Aber warum denn, Anton?» Mama stand auf und versuchte, Anton in die Arme zu nehmen. «Weil die Heilige Maria eine Leihmutter ist! Darum!», schrie er. Dann lief er davon und stürzte sich auf sein Bett. «Vielleicht denkt Anton, dass Jesus über alle bestimmt – wie das Kind in deinem Bauch, Mama», sagte ich. «Das tut es aber nicht! Denkst du denn so, Nadja?» Jetzt weinte Mama los.

Ich habe mich so schlecht gefühlt, Oma. Einfach furchtbar schuldig! Ich bereute es tausendmal, dass ich so dummes Geschwätz herausgeplappert habe. Natürlich dachte ich so, wie ich es gesagt hatte. Aber das konnte ich jetzt doch vor Mama nicht zugeben. Also log ich: Nein, Mama, ich denke nicht so! Ganz sicher nicht! Aber Anton. Er vermisst die Hühner, den Hund und die Katzen noch mehr als ich. Mama sagte nichts dazu. Sie verschwand in ihrem Zimmer.

Da ging ich zu Anton und setzte mich an sein Bett. «Hör auf Anton, bitte! Merkst du nicht, dass du Mama kaputt machst? Nun liegt auch sie in ihrem Zimmer und weint. Du hast uns das ganze Fest verdorben!» «Ich? Warum ich? Der Heilige Geist war es! Jesus war es! Und auch das dämliche Jesuskind in Mamas Bauch. Noch nicht mal auf der Welt, und schon regiert es über alle. Ich mag es nicht, ich will es nicht haben!», wimmerte Anton. «Ach, komm, noch paar Monate und dann ist es weg. Ab nach Frankreich. Und du wirst es nie wiedersehen. Wir aber werden in unserem Haus einen zweiten Stock haben, wir schauen auf die See hinaus, spielen auf der Terrasse, was weiss ich. Die Franzosen kriegen ihren Schreihals, und wir ein Luxushaus. Anton, du hältst doch die paar Monate noch aus. Du musst jetzt einfach tapfer sein! Komm, gehen wir Mama beruhigen und sind wieder lieb zu ihr. Sie darf doch nicht wegen uns leiden.»

«Mama gehört nicht mehr uns! Mama gehört nur noch ihrem dicken Bauch», rief Anton aus. «Noch ein paar Monate, dann gehört sie wieder ganz uns!», sagte ich. «Und jetzt komm, gehen wir zu ihr und trösten sie.» «Aber ich darf trotzdem den Heiligen Geist und Jesus nicht mehr mögen, oder?» Anton stand von seinem Bett auf und umarmte mich. «Nein, das darfst du nicht. Du musst sie mögen, sonst wirst du bestraft.» Ich streichelte seinen verschwitzten Kopf. «Von wem? Von Mama?», wollte er wissen. «Nein, vom Heiligen Geist¨», erwiderte ich. «Der ist allmächtig, vergiss es nicht!» Dann packte ich Anton bei der Hand und wir gingen zu Mama. Sie nahm uns beide in die Arme. Sie hat uns sofort alles verziehen. Wir kuschelten alle zusammen eine ganze Stunde lang…

Und jetzt ist Anton weg. Gib mir doch bitte im Traum einen Tipp, wo er sein könnte, Oma! Bitte! Sein Velo ist auch weg. Und niemand hat ihn gesehen. Weder Julia noch Tante Elvira und Onkel Milo noch die Nachbarn noch seine besten Schulfreunde. Wir haben schon die Polizei gerufen. Mama ist am Boden zerstört. Jetzt muss ich stark bleiben.

Gute Nacht, Oma.

 

15.

Liebe Oma,

Mama und ich sind ausser uns vor Glück! Denn Anton wurde gefunden, Omaaaa!!! Von der Polizei. Er war im Wald. Gott sei Dank hatte er sein Handy dabei gehabt. So konnte die Polizei herausfinden, wo er sich bewegte. Eine ganze Mannschaft von Polizisten mit Schäferhunden ist ausgerückt, um Anton zu suchen. Man hat ihn dann unter der alten Steinbrücke im Eichenwald entdeckt. Du weisst, wie weit der Eichenwald von unserem Dorf entfernt liegt. Fünf Kilometer! Begreifst du, Oma? Anton ist mit seinem Fahrrad ganze fünf Kilometer auf der Landstrasse bis zum Eichenwald gefahren. In dieser Kälte! Und bei solch einer Glätte! Dass er nicht vom Velo gestürzt ist und sich den Schädel gebrochen hat, ist ja ein Wunder. Einer der Schäferhunde hat ihn aufgespürt. Als ihn die Polizei gefunden hat, war er unter der Brücke eingeschlafen. Das Velo neben ihn hatte einen kaputten Reifen. Er muss durch den Wald gefahren sein, und als ihm der Reifen geplatzt war, hat er das Fahrrad weiter geschoben. Bis er die alte Steinbrücke erreicht hat. Die Brücke hat er dann als Schutzdach gegen die Kälte genutzt. Oma, er war fast erfroren, als man ihn aufgefunden hat! Dabei hatte er seine dickste Pelzwinterjacke mit der riesigen Kapuze und die warmen Wollhandschuhe angehabt. Die Polizisten weckten ihn auf und fragten ihn, was er da mache. Er sei auf der Flucht, sagte Anton. Er wollte eine der Felsenhöhlen am anderen Waldrand erreichen und sich dort verstecken. Victor, Julias Cousin, der in der Polizeimannschaft mit dabei war und den Anton kennt, fragte ihn, vor wem er denn fliehe und sich verstecken wolle. «Vor dem Heiligen Geist», antwortete Anton. «Er wird mich bestrafen. Weil ich ihn und Jesus nicht mehr mag. Und weil ich das Jesuskind in Mamas Bauch hasse», erklärte er.

Und jetzt, Oma, bin ich am ganzen Schlamassel schuld. Weil ich an Heiligabend zu Anton gesagt habe, dass es gar nicht geht, dass er den Heiligen Geist und Jesus nicht mag, und dass er bestraft wird. Dabei wollte ich ihm ja nur ein bisschen Angst machen, um ihn schneller zur Vernunft zu bringen. Damit wir Mama nicht noch mehr Kummer machen.

«Nadja kennt sich doch gar nicht aus in Sachen Gott und Heiliger Geist, Anton!», tröstete ihn Mama, als er wieder zu Hause war und sie ihm auf dem Sofa die geschwollenen Füsse massierte. «Der Heilige Geist straft nie, Liebster! Nur Menschen strafen. Sie haben die Strafen erfunden, nicht Gott. Vergiss das nie wieder!» So sprach sie zu ihm. Mir war es so peinlich. Also war ich es, die unser Weihnachten kaputt gemacht hat. Ich entschuldigte mich bei Mama und Anton und sagte, ich hätte das alles nicht absichtlich getan.

Am Nachmittag kam Tante Elvira vorbei. Als sie Antons Beine und Füsse sah, erschrak sie. Anton müsse doch sofort ins Spital, rief sie. Er müsse von Ärzten behandelt werden, wenn wir nicht wollten, dass er seine Füsse verliert. Er brauche jetzt Liebe, Aufmerksamkeit und Fürsorge, kein Krankenhaus, entgegnete ihr Mama. Dann drückte sie Anton fest an sich.

«Was habt ihr denn da für eine Rabenmutter?!», sagte Julia heute Morgen zu mir, als wir uns in der Bäckerei begegnet sind. Ihr Cousin Victor hat ihr alles erzählt, was sich mit Anton zugetragen hat. Und auch was Anton gesagt hat, als ihn Victor und seine Polizeimannschaft aufgriffen. «Mama ist keine Rabenmutter, sondern eine Heilige Mutter, merk dir das, Julia! Sonst würde sie kein Kind in ihrem Bauch tragen, das ohne Sex entstanden ist», sagte ich so laut, dass es alle hörten. «Das ganze Dorf redet aber darüber, was für eine Rabenmutter eure Mutter ist. Und wenn alle das sagen, dann muss es ja stimmen!», gab Julia nicht nach. Der Bäcker und die paar Leute in der Bäckerei guckten uns schaulustig zu. Ich wollte aber denen nicht den Spass bereiten, mit Julia weiter zu streiten. «Wer den anderen glaubt, hat keine eigene Meinung!», lachte ich sie aus und verschwand aus dem Laden.

So läuft es momentan bei uns, Oma. Jetzt warten wir alle auf die Silvesterfeier und das neue Jahr.

KUSS!

Deine Nadja

 


Autor:in: Evelina Jecker Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.