Lutz Goetzmann

Y – Z Atop Denk 2025, 5(7), 2.

Abstract: In folgendem Beitrag macht sich Lutz Goetzmann Gedanken zu einem ganz und gar wundervollen Gedicht der iranischen Dichterin Parnia Abasi (2002-2025), die im Juni 2025 ums Leben gekommen ist. Der Autor erinnert sich an ein Motiv, das bereits Hölderlin in seinem Roman Hyperion aufgegriffen hat, und versucht, Abasis Gedicht in einen Bezug zu Lacans Poetologie zu setzen, die Lacan in seinem Aufsatz über die Funktion des Sprechens und der Sprache skizziert hat. Hier geht es um die Funktion der Sprache als Evokation, aber auch um das Verschwinden des Subjekts in der Sprache und darum, dass sich der oder die Sprechende, also auch und gerade die Dichterin oder der Dichter, im Begriff ist, im Gedicht das zu werden, was einmal, wie Lacan sagt, gewesen sein wird.

Übersetzung: Ali Asghar Firoozi und Lutz Goetzmann

Keywords: Parnia Abasi, der ausgelöschte Stern, Evokation, Poetologie, Funktion des Sprechens und der Sprache

Copyright: Lutz Goetzmann | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.07.2025

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I

In diesen Tagen stieß ich auf das Gedicht der jungen Dichterin Parnia Abasi, die im Juni in Teheran ums Leben kam, in den Trümmern des Hauses, in welchem sie und ihre Familie lebten. Das Gedicht lautet folgendermaßen1:

Der ausgelöschte Stern

Ich weinte um uns beide
um dich
und auch um mich
Meine Tränen: Du pustest sie aus wie
Sterne

In deiner Welt
die Freiheit des Lichts
in meiner
nur ein Spiel mit Schatten

Du und ich, wir werden ein Ende finden.
Irgendwo
verstummt das schönste Gedicht der Welt

Du fängst an
irgendwo
zu schreien, es ist das Flüstern des Lebens an tausend
Orten.

Aber mit mir ist es aus.
ich brenne
Ich werde dieser ausgelöschte Stern
sein
in deinem Himmel
wie Rauch

Wovon handelt das Gedicht? Ich glaube, es geht um ein Liebespaar: ein Ich, vielleicht die Dichterin, und ein Du, das ist die oder der Andere. Das Ich ist ein Stern. Seine Subjektivität ist ein Stern, der ausgelöscht ist: der ausgelöscht wurde oder der ausgelöscht sein wird. Es geht ihm nicht gut. Bekannterweise leiden die Sterne sehr, wenn sie herniederschauen. Diese Sterne sind wie Tränen: die Traurigkeit, so scheint es mir, und die Tränen, sie sind eins. Vielleicht sind diese Tränen, die Sterne, die Cousinen der Traurigkeit, die endlos ist, riesig.

Jetzt aber setzt das Gedicht einen Schnitt: Es unterscheidet zwischen Ich und Du: das Du, das weilt in der Freiheit des Lichtes, es ist der Himmel, und das Ich spielt da unten, im Dunkeln, mit den Schatten. In der englischen Übersetzung heißt es: die Jagd nach den Schatten oder die Jagd der Schatten („in your world / the freedom of light / in mine / The chase of shadows“). Ist es nicht so? Immer sind die Geliebten in der Freiheit des Lichts, ganz oben, im Himmel, und die Liebenden, diese gebückten Träger der Humanität, sie spielen mit den Schatten oder jagen danach. Am Ende läuft alles auf eine und dasselbe hinaus: Die Götter sterben und auch die Sterblichen, die Liebenden und die Geliebten, das Licht und die Nacht, der Himmel und die Erde, und auch das schönste Gedicht der Welt: das Leben, die Liebe, ich glaube, selbst die Affäre zwischen dem sprechenden Dichter und der Sprache. Genau an dieser Stelle also verstummt das Gedicht. Wir alle sterben am Ende des Gedichts.

Aber dann besteht doch ein Unterschied: Das Du beginnt zu schreien, und dieses Schreien ist das Geflüster des Lebens. So viele Gegensätze, Widersprüche, die wohl einer Auseinanderlegung des Identischen folgen: komplizierte Dialektiken, welche die letzten beiden Strophen bestimmen: Das Schreien ist ein Geflüster, für das Du geht es weiter, dieses ewige Geflüster und Gemurmel des Lebens. Nur das Ich, der oder die Liebende, stirbt: sein Stern verbrennt, ihr Stern verbrennt, wird ausgelöscht, wird vernichtet. Am Schluss bleibt nur Rauch am Himmel des Lebens.

Parnia Abasi, die Dichterin, starb im Raketenhagel, gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder und den Eltern, am 13.6.2025 in Teheran, als ihr Wohnhaus, in dem auch ein Atomwissenschaftler gewohnt haben soll, über der Familie zusammenbrach. Sie ist das Opfer des Irrsinnes alter Leute, die sich und die Völker mit furchtbaren Bomben und Raketen bewerfen und die deren Auslöschung in Kauf nehmen. Warum? Aus Machtgier? Aus Hass auf das Leben und das Lebendige?

Das Du ist der Andere, ist das Andere, der Geliebte, die Geliebte, der Himmel und die Sprache und ihre Dichtung. Es ist das Verhältnis zwischen der Dichterin und der Dichtung, zwischen dem Schriftsteller und der Literatur, oder dem Gott der Literatur, der sich in der Schrift, im Schriftzug manifestiert.

So erlischt die Dichterin am Himmel des Andern, und das allerschönste Gedicht der Welt erlischt mit ihr. Aber sind nicht alle Dichterinnen und auch die Dichter wie Rauch im Himmel des Andern, wie Rauch in der Sprache und im Gesicht der Welt?

Das allerschönste Gedicht der Welt, es verstummt, es erlischt: das Leben.

 

II

Jacques Lacan hat in seinem Aufsatz „Funktion und Feld des Sprechens in der Sprache in der Psychoanalyse“ (2016), der heute in seinen gesammelten Schriften aufzufinden ist, eine, so scheint es mir, ganz wunderbare Poetologie entworfen, er, der Sprachkünstler, in welcher er das Wesen der Sprache und dasjenige des Sprechens feiert. Das klingt so:

„Denn die Funktion der Sprache ist dabei, nicht zu informieren, sondern zu evozieren. Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des andern. Um mich vom andern anerkennen zu lassen, sage ich das, was war, nur mit Blick auf das, was sein wird, aus. Um ihn zu finden, rufe ich ihn bei einem Namen, den er, um mir zu antworten, auf sich nehmen oder zurückweisen muss.“ (Lacan 2016, S. 353)

Was sagt Lacan? Er sagt, wenn ich ihn richtig verstehe, dass die eigentliche Funktion der Sprache – und ich füge hinzu: die eigentliche Funktion in ihrer reinsten Form, der Poesie – nicht die Information ist, sondern vielmehr die Evokation. Und was wird evoziert? Es ist, so Lacan, die Antwort des Andern, die sowohl den Sprechenden wie das Sprechen in seinem Antworten, in seinem Antwortgeben anerkennt. Die Dichterin oder der Dichter sagt dasjenige, was war, aber immer in Hinblick auf dasjenige, was einmal in der Zukunft sein wird. Abasis Gedicht evoziert in uns, dass der Stern am Himmel, der Leuchtende, aber auch der junge, freie Stern unter den Poetinnen und Poeten des Iran, ausgelöscht sein wird, Rauch im Antlitz des Andern, im Himmel des Andern, der wohl dessen Geist, dessen Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen ist. Der Andere oder die Andere wird gesucht und angerufen, mit einem Namen, den der Andere „auf sich nehmen oder zurückweisen“ muss. Was ist der Name? Der Andere schreit. Er hat einen Himmel. Er ist der schreiende Himmel. Und manchmal flüstert er, an tausenden Orten, er ist das Leben. Er ist das große, freie Licht.

Wie schreibt Hölderlin, in seinem Hyperion-Roman (2019), das alte Motiv von denjenigen, die in der Freiheit des Lichts wandeln und uns Sterblichen aufnehmend:

„[…]

Ihr wandelt droben im Licht
auf weichem Boden, selige Genien!
glänzende Götterlüfte
rühren euch leicht,
wie die Finger der Künstlerin
heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
keusch bewahrt
in bescheidener Knospe,
blühet ewig
ihnen der Geist,
und die seligen Augen
blicken in stiller
ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
auf keiner Stätte zu ruhn,
es schwinden, es fallen
die leidenden Menschen
blindlings von einer
stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

[…]“

(Hölderlin 2019, S. 744)2

Was ist nun das Sprechen der Dichterin? Wir hören: Es ist ein Weinen. Ihre Gedichte weinen. Und was macht der oder die Andere? Er oder sie pustet die Tränen aus, als wären diese Tränen Lebenslichter. Das ist seine Antwort auf die dichterische Evokation? Es ist ja nicht nur ein Pusten, so wie man eine kleine Wunde oder eine Verletzung, wohl eines Kindes, heilt, nein, mit diesem Akt werden die Sterne, die Lebenslichter, ausgeblasen. Die Tränen verschwinden. Ich glaube, die Tränen sind die wunderbaren Verse, die Wörter, die im Sprechen, im Weinen, in der Evokation des Weinens entstehen und über die Wangen rinnen. Es ist die Sprache, die sie ausbläst (oder auspustet, so, wie wir früher die Früchte mit ihren Flugschirmen vom Blütenstand des Löwenzahns pusteten, vom Löwenzahn, der Pusteblume). Ist es ein Aufnehmen des Namens oder ein Zurückweisen, das im Akt des Pustens, des Hauches liegt? Was ich aber weiß: Der Name des Andern ist das Gedicht, das von dem Schmerz handelt, der die Dichterin weinen lässt. In einem Interview (bei einem Treffen mit Schriftsteller:innen der Generation Z) sagte Abasi:

„Wenn ich etwas schreibe, zeige ich es meiner Mutter und meinen Freunden. Ich frage die Menschen um mich herum, was sie davon halten. Ich liebe es zu sehen, wie die Leute reagieren, wenn sie meine Gedichte lesen, ihre Mimik, ihre Reaktionen – das fasziniert mich. Ehrlich gesagt ist das ein großer Teil meines Lebens geworden. Ich betrachte alles, was mir passiert, als etwas, das ich vielleicht aufschreiben könnte, um das Gefühl, das ich in diesem Moment hatte, in Gedichten auszudrücken. In diesem Sinne schenkt mir das Schreiben Frieden.“ (Mosadeq 2025, Übersetz. aus dem Englischen von Lutz Goetzmann).

 

III

Wir kommen nun zum eigentlichen Kern der Lacanschen Poetologie. Er fährt nämlich folgendermaßen fort:

„Ich identifiziere mich in der Sprache, aber nur, indem ich mich in ihr verliere wie ein Objekt. Was sich in meiner Geschichte realisiert, ist nicht die Vergangenheit, bestimmt durch das, was war, da es nicht mehr ist, und auch nicht das Perfekt dessen, was gewesen ist in dem, was ich bin, sondern das Futurum exaktum dessen, was ich gewesen sein werde für das, was ich im Zug bin zu werden.“ (Lacan 2016, S. 354)

Es scheint also so zu sein, dass die Sprechende, die sich mit der Sprache identifiziert, im Sprechen, so natürlich vor allem im Dichten, gerade in der Dichtung, ganz zur Sprache wird, also ganz Dichtung, nur Wort und Wörter (das hat nichts mit dem lyrischen Ich zu tun), sich also „wie ein Objekt“, so sagt es Lacan, in der Sprache verliert. In der Geschichte, welche die Dichterin erzählt, und in deren Sprache sie ganz verschwindet, indem sie Sprache wird, berichtet sie davon, was sie einmal gewesen sein wird, das heißt, was sie im Begriff ist zu werden: Sie wird ein ausgelöschter Stern gewesen sein, wie Rauch im schreienden, flüsternden Himmel des Andern. Es ist der Rauch am Himmel der Sprache, des Lebens, eines Geliebten, es ist wie Rauch am Himmel des Andern, der einmal gewesen sein wird.

 


1 Für den vorliegenden Artikel wurde das Gedicht von Aliasghar Firoozi und Lutz Goetzmann aus dem Farsi bzw. Englischen ins Deutsche übersetzt. Die zugrundeliegende Übersetzung aus dem Farsi ins Englische stammt von Ghazal Mosadeq (Abasi 2025).

2 Unter folgender Adresse wird das Gedicht auch vorgelesen:
https://www.deutschelyrik.de/hyperions-schicksalslied.html. [17.07.2025].


Literaturverzeichnis

Abbasi, Parnia (2025): „The Extinguished Star“. Übers. aus Farsi ins Englische von Ghazal Mosadeq. https://www.pamenarpress.com/post/parnia-abbasi-2002-2025 [15.05.2025].

Hölderlin, Friedrich (2019): Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Bd I. Carl Hanser Verlag: München.

Lacan, Jacques (2016): „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“. In: Ders. (Hg.): Schriften. Bd. I. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 278-381.

 

Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa/IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.

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Übersetzer:in: Ali Asghar Firoozi ist ein psychologischer Psychotherapeut (Tiefenpsychologie) in Ausbildung an der IPB Berlin. Zur Zeit ist er Doktorand an der Witten-Herdecke Universität.

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