Überlegungen zum Abwehrmechanismus „Identifikation mit dem Aggressor“ in „Das Märchen von der Stiege“ von Hristo Smirnenski

Evelina Jecker Lambreva

Y – Z Atop Denk 2024, 4(10), 3.

Abstract: Wie wird aus einem Opfer ein Täter? Der Text würdigt das Werk des weltbekannten Zürcher Psychoanalytikers Arno Gruen und insbesondere seinen wertvollen Beitrag zum Thema „Die Identifikation mit dem Aggressor als Basis unserer Wirklichkeit". Dies geschieht anhand einer Übertragung gewisser psychoanalytischer Überlegungen auf das literarische Werk des bulgarischen Dichters Hristo Smirnenski „Das Märchen von der Stiege“.

Übersetzung u. Kommentar: Evelina Jecker Lambreva*

Keywords: Identifikation, Aggressor, Stiege, Opfer, Vater

Copyright: Evelina Jecker Lambreva | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.10.2024

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Zum Gedenken an den Zürcher Psychoanalytiker Arno Gruen

Und auch heute noch treffen wir ihn immer wieder in der ganzen Welt. Er ist ein übermässig erfolgreicher Geschäftsmann, ein weltberühmter Politiker, ein prominenter Industrieller, ein ultra-reicher Bankier, ein autoritärer Parteifunktionär, ein seelenloser Diktator, ein mächtiger Oligarch, der Anführer einer gefährlichen nationalistischen Bewegung, ein kaltblütiger Mörder, ein mächtiger Vorgesetzter, der seine Untergebenen erniedrigt, ein einflussreicher lokaler Bonze, ein radikaler religiöser Fanatiker, ein geschickter Waffen-, Drogen- oder Menschenfleischhändler, das Staatsoberhaupt einer Großmacht, ein Neonazi, ein skrupelloser Dschihadist – der einstige Jüngling aus Hristo Smirnenskis2 Werk „Das Märchen von der Stiege“, der vor der Entwicklungsstiege seines Lebens steht, wo der Teufel auf ihn wartet.

„Wir werden als Originale geboren, aber wir sterben als Kopien“, schrieb der englische Dichter Edward Young im 18. Jahrhundert, und daran hat sich über die Jahrhunderte bis heute nichts geändert. Warum ist das so? Was genau geschieht auf der Entwicklungsstiege des Lebens und wer ist der Teufel?

Die Überlegungen und Hypothesen in diesem Text über Smirnenskis „Das Märchen von der Stiege“ sollen zum Nachdenken über die Mechanismen anregen, die im ursprünglich unschuldigen Menschen jene Gleichgültigkeit aufbauen, die aller physischen, psychischen und sozialen Gewalt mit all ihren Folgen für die Menschheit zugrunde liegt.

In der Eröffnungsszene von „Das Märchen von der Stiege“ (s. Anhang) erscheinen zwei Gestalten – „... ein junger Bursche, mit erhobener Stirn und geballten Fäusten“ und der Teufel, beide vor einer „hohen Stiege aus weißem Marmor mit rosa Adern“ stehend. Vor der Stiege treffen sich eigentlich eine Autorität und ein junger Mensch, der sich auf den Weg zu seiner Reifung gemacht hat, aufeinander. Die Identität, mit der sich der Jugendliche präsentiert, verrät eine starke und langanhaltende Traumatisierung, aber auch seine Fähigkeit, typisch menschliche Gefühle wie Mitleid, Empathie, Groll, oder starke Wut zu empfinden. Diese Identität zeigt uns auch die Werte, zu welchen sich der junge Mann bekennt und zu welchen er in Zukunft um jeden Preis stehen will. Wir sehen die Traumata, die er seit seiner Kindheit ununterbrochen erlebt hat, metaphorisch wiedergegeben von Smirnenski im Bild der anstürmenden Menge:

„Sie zogen sich hoch, überquollen, erstreckten einen Wald aus trockenen schwarzen Händen, aus einem Donner der Empörung und wütenden Schreien erbebte Luft, und das Echo verhallte langsam, feierlich, wie ferne Kanonenschüsse. Die Massen wuchsen, sie kamen in gelben Wolken aus Staub, einzelne Silhouetten hoben sich immer deutlicher vom grauen Hintergrund ab …“ (ebd.).

Wie aber zeigt sich der Teufel? Wir können aus dem Text nicht erkennen, ob der junge Mann den Teufel als solchen in seiner teuflischen Identität erkennt. Was uns allerdings erreicht, ist, dass der Jüngling sich nicht vor ihm fürchtet, nicht die Flucht ergreift, keine Schreckensreaktion zeigt, bei der Begegnung nicht erstarrt, sondern dem Wächter inbrünstig, unerschrocken und vertrauensvoll seinen Zorn und seine Absichten gegen „die da oben“ erklärt, das heißt, er verhält sich völlig irrational in einer Situation, in der jeder, der weiß, dass der Teufel vor ihm steht, zumindest in Panik geraten würde und besonders vorsichtig wäre, wenn er mit ihm Vereinbarungen träfe. Aber nichts dergleichen geschieht in der Handlung bis zum Schluss. Es kommt der Verdacht auf, dass der junge Mann den Teufel nicht erkennt, und wir fragen uns sofort, warum er das nicht tut. Normalerweise erschreckt man nicht vor Menschen, die man gewohnt ist, jeden Tag um sich herum zu sehen, und wenn sie einem schon lange in irgendeiner Weise immer wieder Angst gemacht haben, hat man sich so sehr an diese Angst gewöhnt, dass man abgestumpft ist. Die Angst ist Teil des inneren Lebens geworden, sie hat ihre Signalfunktion der Bedrohung verloren, weil das bedrohte Individuum unbewusst entdeckt hat, dass es sie neutralisieren kann, indem es gegenüber demjenigen, der es bedroht, unterwürfig und gehorsam wird, d. h. indem es die Haltung des „gesenkten Kopfes“, aus dem bekannten bulgarischen Sprichwort, einnimmt (bulgarisches Sprichwort: „Ein gesenktes Köpfchen wird von keinem Säbel geköpft.“).

1932 beschrieb Sándor Ferenczi einen Mechanismus, den er «Identifikation mit dem Angreifer» nannte. Laut A. Gruen, konnte Ferenczi die Wurzeln dieses Prozesses in einem sozialen Umfeld entdecken, das es den Eltern ermöglichte, die Abhängigkeit ihrer Kinder von ihnen für persönliche Zwecke auszunutzen. Er zeigt auf, wie Kinder, die elterlichem Missbrauch ausgesetzt sind, vor ihren Eltern wie gelähmt erstarren.

„Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend, sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren.“ (Gruen 2003).

Nach allem, was oben gesagt wurde, versuchen wir nun, uns die Familie vorzustellen, in der der junge Mann in „Das Märchen von der Stiege“ aufgewachsen ist. Die Assoziation führt uns, die Kennerinnen und Kenner von Smirnenskis Werke, zu einem anderen, zur gleichen Zeit entstandenen Werk Smirnenskis, dem Gedichtzyklus „Winterabende“ (s. Anhang)3, und insbesondere zu jener Szene daraus, die das Leben einer Familie darstellt:

Nun ist da ein vertrautes Häuschen;
im Fenster der Kopf eines Kindes;
und grob donnern in der Stille
betrunkene keuchende Worte.

Zurückgekehrt nach Hause – brotlos,
schon wieder betrunken – flucht der Vater:
über sein nutzloses Leben,
und seinen Kummer ohne Ende.

Der Vorhang dreckig, zerfetzt,
und eine große neblige Silhouette
fuchtelt mit den Händen drohend herum,
von seltsamen Gedanken besetzt.

Die Kinder schreien und beten,
Und draussen, den Kopf gesenkt,
inmitten ihres Leides und Not
schluchzt unterdrückt eine Frau.

(Ebd.)

In der so dargestellten Familienatmosphäre dominieren nebst dem beispiellosen sozialen Elend, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit, ein aggressiver alkoholkranken Vater (häusliche Gewalt oder deren Androhung bis hin zum Selbstmord sowie manipulatives Verhalten der Erwachsenen gehören in den meisten Alkoholikerfamilien zum Alltag) und eine Mutter, die nicht in der Lage ist, ihre Kinder, die in Todesangst vor den Drohungen ihres betrunkenen Vaters geraten sind, zu trösten. Die Kinder haben keinen Halt, keinen Schutz, keine Unterstützung, sie sind sich selbst überlassen. Sie sind einerseits den seelischen (und wahrscheinlich auch körperlichen) Misshandlungen ihres Vaters ausgesetzt, andererseits der Untätigkeit ihrer emotional abwesenden Mutter, die zwischen Hammer und Amboss steht, ausgeliefert. In einer solchen Situation erscheint es uns logisch, sich vorzustellen, dass diese Kinder auf ihre Weise versuchen werden, mit der ständigen zerstörerischen Angst, in der sie zu leben gezwungen sind, fertig zu werden. Sie werden alles tun, um den unberechenbaren Vater mit ihrer völligen Unterwerfung und ihrem Gehorsam zu besänftigen, damit er seine „seltsamen“ Gedanken nicht in Taten umsetzt (dem/der mit der Psychologie vertrauten Leser/Leserin drängt sich der Gedanke an einen erweiterten Suizid auf).

Der weltbekannte Psychoanalytiker Arno Gruen weist in seinem Referat (2003) darauf hin, dass ein Kind, das von dem Erwachsenen, der es eigentlich beschützen sollte, physisch und psychisch überwältigt wird und niemanden hat, zu dem es fliehen kann, um sich zu retten, von einer rasenden Angst eingenommen wird. Sie ist so groß und lähmend, dass sie nicht nur aus dem Bewusstsein verdrängt, sondern auch abgespaltet werden muss, damit das seelische Überleben des Kindes möglich ist. Die Gewalt, die das „Eigene“ zum „Fremden“ macht, ist nach Gruen dieselbe Gewalt, die uns zur Fügsamkeit und Gehorsam zwingt. Das Ausmaß der individuell erlebten Gewalt in der Kindheit bestimmt das Ausmaß unserer Abhängigkeit von Autoritätspersonen und unserer Unterordnung unter sie im Erwachsenenalter. Eine Erziehung, die auf Gehorsam abzielt, unterdrückt oder zerstört die Fähigkeit, Empathie zu empfinden. Da eine Entwicklung, die auf der ausgesprochenen menschlichen Fähigkeit zur Einfühlung in den anderen (Empathie) beruht, unmöglich geworden ist, führt eine solche Erziehung gleichzeitig zum Aufbau einer Identität, deren Inhalt die Identifikation mit Autoritäten ist. Solche Menschen, so Arno Gruen, sind nicht in der Lage, eine wirkliche eigene Identität aufzubauen; ihre „falsche Identität“ ist nur eine Simulation, die sich darauf stützt, dass sie alles akzeptieren, was ihnen von autoritären Erziehern vorgegeben wird.

Was einem solchen Kind wie dem jungen Mann in „Das Märchen von der Stiege“ bevorsteht, wird in den letzten Zeilen von „Winterabende“ angedeutet:

Und die Schneeflöckchen quellen silbrig,
sie flattern, glitzern wie Kristall,
sie sickern so weiß und so rein
aber in den Pfützen werden sie zu Schlamm.

(Ebd.)

In den meisten Fällen wird ein solcher Jugendlicher nicht die Kraft und die Ressourcen haben, bis zum Schluss zu sich selbst zu stehen, wenn es zum Bruch und zum Konflikt mit den Autoritäten, von denen er abhängig ist, kommt. Seine Autonomie ist zerbrechlich, sein Selbstwertgefühl ist gering, und so wird er Qualitäten, Eigenschaften und Seiten am meisten von denjenigen Autoritäten annehmen, die er unbewusst fürchtet, um seine Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren und sein geringes Selbstwertgefühl auszugleichen. Das Terrain für eine weitere Identifikation mit dem Aggressor, die in der Kindheit vorbereitet wurde, ist vorhanden, wobei der aggressive Vater bereits verinnerlicht wurde und der Junge sich mit ihm identifiziert hat. Es ist naheliegend, dass der Junge aufgrund der längst erfolgten Abspaltung der frühkindlichen Angst vor dem Vater den Teufel nicht als den Teufel erkennt, der am Fuße der Stiege steht, sondern sich ohne großen Zweifel gehorsam auf eine vertragliche Beziehung mit ihm einlässt.

In ihrem Buch Das Ich und die Abwehrmechanismen (1984) stellt Anna Freud ihre eingehenden psychoanalytischen Forschungen über die wichtigsten Strategien des Ichs in der Phase der Adoleszenz vor, und neben den Abwehrmechanismen: Sublimierung, Verdrängung, Intellektualisierung, Askese und Identifikation, erörtert sie auch die Identifikation mit dem Aggressor (Hirsch 1996). Die Identifikation aus der Kindheit wird in der Adoleszenz erweitert, so dass sich der Jugendliche nicht mehr ausschließlich und nur mit seinen Eltern, sondern zunehmend auch mit anderen Erwachsenen und Gleichaltrigen identifiziert. Die Orientierung an neuen Identifikationsmustern mit anderen Erwachsenen hilft dem jungen Menschen, sich von seinen Eltern zu distanzieren und seinen eigenen Lebensweg zu gehen.

Doch wer ist eigentlich der Teufel und was geschieht auf den verschiedenen Stufen der Stiege in „Das Märchen von der Stiege? Um zu verstehen, was genau Smirnenski in das allegorische Bild des Teufels hineinlegt, müssen wir uns einen anderen wichtigen Text von ihm ansehen – das erste Gedicht seines bekannten Gedicht-Zyklus „Besuch beim Teufel“ – „Ein Märchen von der Ehre“ (s. Anhang). Dabei handelt es sich um einen kunstvoll gestalteten Exkurs über die Problematik des Narzissmus und seine Erscheinungsformen nicht nur im individuellen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich.

Beim Lesen von „Ein Märchen von der Ehre“ ist man nicht weit von dem Gefühl entfernt, Zeuge einer recht menschlich klingenden Beichte eines Vaters zu werden, der sich mit seinem unschuldigen Sohn auf ein Gläschen setzt:

Herbstliche Bitterkeit lag in seinen Augen verborgen,
Aber dennoch war er grinsend und stolz,
und er winkte mit der Hand ab: „In vino veritas!
Ich will jetzt ehrlich zu dir sein!“

Ich habe dies ewige Joch wirklich satt,
die Verstellung, die bösen Gedanken,
lass uns trinken auf deine überirdische Herzlichkeit
und auf die grauen irdischen Wesen!

(Ebd.)

Als Nächstes wird uns die Geschichte des Vaters präsentiert, der von einer Realität enttäuscht und betrogen wurde, in der es viel mehr als nur eine Wahrheit gibt. Die Enttäuschung, die er nicht hinunterschlucken konnte, ist in Hass umgeschlagen, der ihn wiederum zum Aggressor gemacht hat. Hier wird der Prozess ganz klar, in dem aus dem Opfer ein Täter wird. In einem Teufelskreis versucht er, sich von anderen das anzueignen, was ihm einst genommen wurde, und fügt ihnen genau das zu, was ihm zugefügt wurde. Aber nichts kann die Leere dessen, was fehlt, füllen.

Ich entbrannte vor Eifersucht, und in schwarzem Haß
wegen meiner zertretenen Ehre –
zertrete ich unermüdlich seit dann die Ehre des Menschen vergeblich.
Doch Ehre erlangte ich keine.

(Ebd.)

Der Teufel präsentiert sich uns als ein ehrgeiziger, narzisstisch zutiefst verletzter Mensch, der, weil er nicht gewürdigt, geschätzt und nicht anerkannt wurde, weil er keinen Erfolg hatte und die Niederlage nicht schlucken konnte, den Weg der skrupellosen Aggression wählt, wobei ihm die Aggression ein Gefühl der Macht in der Ohnmacht und in der Hilflosigkeit gibt. Aggression ist die narzisstische Plombe des unerträglichen Schmerzes, entstanden aus permanenter Erniedrigung, Demütigung und Ablehnung. Sie ist aber auch der entscheidende Motor (ob in konstruktiver oder destruktiver Form) für jede Prosperität.

Verzweifelt, erbärmlich, einmal auf dem Boulevard
schritt ich überirdisch verloren.
Und hob über mich ein krasses Plakat:
„Ein Mensch ohne jegliche Ehre geworden!“

Doch seltsam: nicht ein Tropfen Verachtung!
Mit Interesse empfängt man mich überall,
und freundlich von allen Seiten nimmt man den Hut ab vor mir:
„Bist du ohne Ehre? – Es ehrt dich!“

Ein Herr küsst mich: „Ah, Bruder,
du auch! ... He, wer könnte das wissen!“
Zwei hübsche Damen sagten süß zu mir:
„Kommen Sie morgen zu uns zum Tee!“.

Wunderbar! Unerhört! Mit seltenen Ehrungen
wurde ich bis nach Hause begleitet.
Minister, Könige und Hofschranzen
schrieben mir freundliche Briefe.

Und hier bin ich: bedeutend, brillant, elegant,
reich wie ein echter Krösus!
Und ich weiß es: ein Dieb bin ich, ein Lügner, ein Spekulant,
unehrenhaft; aber ... immer mit Ehre! ...

(Ebd.)

Hier offenbart sich uns die Aggression auch als ein Massenphänomen, das in jeder Gesellschaft, die von Konkurrenzkämpfen um die Vorherrschaft und den Wohlstand ihrer Individuen beherrscht wird, Kontinuität findet, und die Identifikation mit dem Aggressor erweist sich als unvermeidlicher Gang auf dem Weg zum Erfolg.

In der Tat verstehen wir, dass das, was dem Heranwachsenden in „Das Märchen von der Stiege“ als Lebenserfahrung noch bevorsteht, dem Teufel aus „Ein Märchen von der Ehre“ widerfahren ist.

In dem in 1923 von Siegmund Freud geschriebenen Text „Eine Teufelsneurose aus dem siebzehnten Jahrhundert“, äussert Sigmund Freud die Überlegung, dass Gott als Vaterersatz erscheint, als übergeordneter Vater, als Kopie jenes Vaters, an den wir uns aus der Kindheit erinnern und zu dem unsere Haltung von Anfang an ambivalent war. Dieselbe Ambivalenz zwischen zärtlichen Gefühlen und Ehrfurcht einerseits und Feindseligkeit und eigensinniger Rebellion andererseits bestimmt die Haltung des Menschen gegenüber seiner Gottheit. Vom Teufel wissen wir, dass er das Gegenteil von Gott ist, aber auch, dass er in seinem Wesen Gott sehr nahe ist. Eines ist klar, sagt Freud, dass Götter zu bösen Dämonen werden können, wenn sie von neuen Göttern verdrängt werden. Wenn ein Volk von einem anderen Volk besiegt wird, werden die gestürzten Götter des besiegten Volkes nicht selten zu den bösen Dämonen des Sieger-Volkes. Der Teufel des Mittelalters, der böse Dämon des christlichen Glaubens, ist ein gefallener Engel mit einer dem Göttlichen ähnlichen Natur. Laut Freud waren Gott und der Teufel ursprünglich identisch, ein einheitliches Bild, das später in zwei Bilder mit entgegengesetzten Eigenschaften aufgespalten wurde. In den prähistorischen Zeiten der Religionen trug auch Gott furchterregende Züge, die später in einer gegensätzlichen Figur integriert wurden. Freud stellt weiter fest, dass die Widersprüche in der ursprünglichen Natur Gottes die Ambivalenz widerspiegeln, die in der Beziehung eines jeden Menschen zu seinem eigenen Vater vorherrscht. Da der barmherzige und gerechte Gott ein Ersatz für den Vater ist, ist es nicht verwunderlich, dass die feindselige Haltung ihm gegenüber, nämlich diejenige, die ihn hasst, die ihn anklagt und fürchtet, in der Erschaffung des Satans zum Ausdruck kommt. Der Vater ist also das individuelle Urbild sowohl Gottes als auch des Teufels.

Aus diesem Gedankengang ergibt sich die Assoziation, dass der Teufel aus „Auf Besuch beim Teufel“ eine Vaterfigur darstellt, eine hochgradig traumatisierte, aggressive, narzisstische, autoritäre Vaterfigur, mit der sich das grossgewordene Kind aus „Winterabende“ in „Das Märchen von der Stiege“ identifiziert. Bevor wir aber aufzeigen, was dem Jüngling auf den aufsteigenden Stufen der Stiege widerfährt, wollen wir uns zunächst einem anderen wichtigen Bild in „Das Märchen von der Stiege“ zuwenden – das Bild von „die da oben“. In der Eröffnungsszene will der von Hass und Wut erfüllte junge Mann um jeden Preis die Spitze der Stiege erreichen, um die Autoritäten und Aggressoren zu bestrafen. Im Grunde genommen richten sich die Wut und der Zorn, die Absicht, Ungerechtigkeit zu bestrafen, jedoch unbewusst gegen die ersten Autoritäten in seinem Leben, die ihm am meisten Schmerz und Leid zugefügt haben – seine Eltern. Aber so wie er als Kind in seiner Todesangst, seinen Zorn unterdrückend, ihnen bedingungslos gehorchte und sich unbewusst mit ihnen identifizierte, so merkt der junge Mann jetzt, oben auf der Stiege, wo ihm der Stellvertreter des Vaters, der Teufel, als Hüter aller herrschenden Autoritäten begegnet, nicht, dass er sich selbst aufgibt und dass er, indem er den Forderungen dieser väterlichen Autorität zustimmt, auf einer höheren Ebene einen Prozess wiederholt, den er schon einmal in seiner Kindheit durchlebt hat. Es drängt sich die Hypothese auf, dass vielleicht sowohl der alte Teufel aus „Das Märchen von der Ehre“ als auch all die „da oben“, deren Wächter er in „Das Märchen von der Stiege“ ist, einst zielstrebige junge Menschen mit erhabenen Sehnsüchten waren, aber durch die Identifikation mit dem Aggressor zu herrischen, unantastbaren, unbesiegbaren, gefühllosen Granden geworden sind.

Der Weg zur Gefühllosigkeit ist der Weg die Stufen der Stiege hinauf. Gehorsam und Unterwerfung verändern die Wahrnehmung und verzerren sie in die Richtung, die der Aggressor will:

„- Du wirst wieder hören!, beruhigte ihn der Teufel und machte ihm Weg: Geh weiter!

Der Junge rannte los, nahm drei Stufen auf einmal, aber die haarige Hand des Teufels zog ihn zurück:

- Genug! Bleib jetzt stehen, und höre, wie deine Brüder dort unten stöhnen!

Der Junge blieb stehen und lauschte:

- Seltsam, warum fingen sie plötzlich an, fröhlich zu singen und so sorglos zu lachen!... Und er rannte wieder los.

Der Teufel hielt ihn wieder auf:

- Damit du weitere drei Stufen hinaufsteigen kannst, will ich deine Augen haben!
Der Junge winkte verzweifelt mit der Hand ab.

- Aber dann werde ich weder meine Brüder sehen können noch diese, zu denen ich jetzt unterwegs bin, um mich an ihnen zu rächen!

Der Teufel:

- Du wirst wieder sehen können... Ich werde dir andere, viel schönere Augen geben!

Der Junge stieg noch weitere drei Stufen hinauf und schaute dann nach unten.
Der Teufel erinnerte ihn daran:

- Sieh dir ihr nacktes, blutiges Fleisch an.

- Mein Gott! Das ist so seltsam; wann haben sie es geschafft, sich so gut zu kleiden! Und statt blutiger Wunden sind sie mit herrlich scharlachroten Rosen bedeckt!“ 

(Smirnenski 1923)

Im weiteren Verlauf der Identifikation mit dem Aggressor gibt der junge Mann sein Herz ab, jenes Organs, von dem man immer glaubte, es verorte die Gefühle. Gleichzeitig mit dem Herzen beraubt er sich auch seines Gedächtnisses und löscht damit seine früheren Lebenserfahrungen aus. Die Identifikation mit dem Aggressor ist damit vollständig vollzogen. Die große Tragik dieses Moments ergibt sich aus dem Paradoxon, Verzicht auf das Eigene zugunsten von etwas Eigenem, das bereits zu etwas Fremdem geworden ist.

„Du nimmst mir alles Menschliche“, stellt der junge Mann fest, unterwirft sich aber erneut, wenn auch wütend.

„Der Ursprung des Gehorsams ist also in den Prozessen zu suchen, der das Eigene zum Fremden macht. Mit dem Gehorsam geben wir unsere eigenen Gefühle und Wahrnehmungen auf. Wird ein Mensch im Verlauf seiner Identitätsentwicklung einmal in diese Richtung gezwungen, verläuft seine Entwicklung nach Gesetzen, die völlig anders sind als die, die das heute gängige psychologische Denken vorgibt. Das Festklammern an der Autorität wird dann zu einem Lebensgrundsatz. Obwohl man sie hasst, identifiziert man sich mit ihr. Die Unterdrückung des Eigenen löst Hass und auch Aggressionen aus, die sich aber nicht gegen den Unterdrücker richten dürfen, sondern an andere Opfer weitergegeben werden. Typisch für diese Entwicklung ist immer, dass das eigene Opfersein verleugnet wird. Denn der eigene Schmerz und das eigene Leid waren ja einmal Bestandteil dessen, was uns wertlos machte. So wird Opfersein zur unbewussten Basis für das Tätersein.“ (Gruen 2003).

So argumentiert der Psychoanalytiker Arno Gruen, der einen großen Teil seiner Karriere dem Phänomen der „Identifikation mit dem Aggressor“ gewidmet hat und es in seinem Buch Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgultigkeit (Gruen 2013) als „Grundlage unserer Zivilisation“ bezeichnet. Darüber hinaus argumentiert er, dass unsere Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, zum nächsten Opfer wird, wenn wir das Leiden unter unserem früheren Zustand des Opferseins verdrängen.

Wir sehen, dass genau das mit dem jungen Mann passiert, der die letzte Stufe zuoberst der Stiege erreicht hat. Seine neue Identität ist frei von Empathie, es gibt keinen Platz mehr für Wut, für Bitterkeit, für allgemeinen menschlichen Schmerz:

„… Und plötzlich erstrahlte ein Lächeln in seinem Gesicht, seine Augen funkelten vor stiller Freude, und seine Fäuste entspannten sich. Er blickte auf die feiernden Prinzen, blickte nach unten, auf die graue, zerlumpte, brüllende und fluchende Menge unter ihm. Er sah hin, aber kein Muskel zuckte in seinem Gesicht: es war hell, fröhlich, zufrieden. Er sah unten festlich gekleidete Menschenmengen, das Stöhnen war zu Hymnen geworden.
- Wer bist du?, fragte ihn der Teufel heiser und hinterlistig.
- Ich bin ein Fürst von Geburt an, und die Götter sind meine Brüder! Oh, wie schön ist die Erde und wie glücklich die Menschen doch sind!“
(Smirnenski „Das Märchen von der Stiege“)

„Wir werden als Originale geboren, aber wir sterben als Kopien“ (Young 1760), sagte der englische Dichter Edward Young. Dieser Gedanke bestätigt die traurige Erfahrung nicht nur des Jünglings in „Das Märchen von der Stiege“, sondern auch zahlloser junger Männer und Frauen auf der ganzen Welt, aus verschiedenen Epochen und Generationen, die sich unwiderruflich in einer narzisstischen Erziehung verloren haben, in der Gehorsam, Unterordnung und Unterwerfung ausgiebig mit materiellem Reichtum belohnt werden. Wenn der Sinn des Lebens allein durch den materiellen Erfolg bestimmt wird, dann sind nur die Menschen erfolgreich, die keine wahre eigene Identität haben, sondern es schaffen, je nach Situation die Identität zu spielen, die den gesellschaftlichen Anforderungen an sie entspricht. Menschen mit schnell wechselnden, chamäleonartigen Identitäten, so Arno Gruen, haben kein Gefühl für echten Schmerz und echtes Leid. Ihre zahlreichen Identitäten sind lediglich nur äußere Hüllen.

Unsere moderne Gesellschaft bringt Schablonen von Verhaltensmustern hervor, die auf der Identifikation mit angstauslösenden Autoritätsfiguren beruhen. Aufgrund dieser Angst tritt an die Stelle unserer eigenen Wahrnehmungen eine Entfremdung von uns selbst, die uns suggeriert, dass die Erwartungen, die Autoritätspersonen an uns stellen, eigentlich unsere eigenen Erwartungen sind. Die Übernahme solcher fremden Erwartungen führt zu Aggressionen gegen die eigenen unerfüllten Erwartungen, zu Hass gegen andere Opfer und zu einem Gefühl der Leere in sich selbst. Und dieser Hass ist es, der laut Arno Gruen das Leben in unserer Zivilisation prägt (Gruen 2013).

Tatsächlich sind alle Ideologien, alle politischen Strukturen und Systeme von (verdeckt oder offen aggressiven) narzisstischen Vaterfiguren geschaffen worden und werden von ihnen regiert. Mit diesen Vaterfiguren haben sich identifiziert und identifizieren sich weiterhin, ähnlich wie der junge Mann in „Das Märchen von der Stiege“, Millionen von Menschen. Von Hitlers Vater beispielsweise ist bekannt, dass er nicht nur seine Kinder systematisch bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt hat, sondern auch seinen Hund, bis dieser auf den Boden einnässte. Die schrecklichen Schläge, die Stalins Vater, ein aggressiver Alkoholiker, ihm ständig zufügte, machten ihn zu einem Menschen, der für menschliches Leid völlig unempfänglich war. Er entwickelte einen rasenden Hass auf alle Autoritätspersonen und erlaubte niemandem, mehr Macht zu haben als er selbst, weil ihn jede Person, die Macht anstrebte, an seinen Vater erinnerte. Weder von Hitler noch von Stalin ist bekannt, dass sie als Kinder oder Jugendliche geweint haben.

Die staatliche psychische und/oder physische Gewalt der väterlichen Autoritätsfiguren gegen das menschliche Individuum, sei es in Form einer Diktatur des Proletariats, einer faschistischen Diktatur, einer neoliberalen Diktatur des Geldes oder einer religiösen Diktatur, führt letztlich zu jener Identifikation mit dem Aggressor, die den Menschen taub, blind, gleichgültig und gefühllos gegenüber dem Unglück anderer macht, sobald er ein hohes Maß an materiellem Reichtum und/oder eine bestimmte Machtposition auf der hierarchischen Stiege erreicht hat (letzteres wie es beispielsweise bei verschiedenen radikalisierten rechten oder linken Führerinnen und Führern, Neonazis, Rechtsextremen, radikalen Islamisten, der Fall ist). Eine grosse Mehrheit der Menschen erweisen sich als Opfer jener absurden Ordnung (einschließlich der Erziehung), die von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich von der Familie bis zum Staat erstreckt, wie Hristo Smirnenski in „Das Märchen von der Stiege“ mit unnachahmlicher Überzeugung beschreibt. Es bleibt, dies zuzugeben.

Vielleicht kam der junge Hristo Smirnenski selbst am Ende seines kurzen Lebens zu einer ähnlichen Einsicht und widmete deshalb „Das Märchen von der Stiege“ „all jenen, die sagen werden: ‚Ich bin nicht damit gemeint‘!“ (ebd.).

 


* Eine Übersetzung aus dem Bulgarischen von Evelina Jecker Lambreva, mithilfe des Übersetzungsprogramms www.deepl.com. Erstveröffentlichung in der Originalsprache im online-Literaturportal www.liternet.bg, Elektronische Zeitschrift LiterNet, 14.12.2015, 12 (193).

2 Biographischer Hinweis zu Hristo Smirnenski von Conka Stankova, Bulgaristin (2024):

Hristo Smirnenski war ein bulgarischer Dichter, der nur 25 Jahre alt wurde, aber ein Werk hinterließ, das für den literarischen Kanon Bulgariens der 1920er Jahre repräsentativ ist. Er wurde am 17. September 1898 in Kukusch (Kilkis) geboren, das heute zu Griechenland gehört. Im Juni 1913 verließ der 15-jährige Junge mit seiner Familie die Stadt, die während des Verbündeten-Krieges (Zweiter Balkankrieg, 1913) niedergebrannt worden war. Träume werden ausgelöscht, das Haus des Vaters wird niedergebrannt, der Abschied von der patriarchalischen Harmonie ist endgültig. Am Rande von Sofia, wo sich die Persönlichkeit des zukünftigen Dichters herausbilden wird, stampfen die armseligen Häuschen der Flüchtlinge aus dem Boden. Die Sorge um das tägliche Brot beherrscht das Leben des jungen Smirnenski – er beendete weder sein Studium an der Technischen Schule noch an der Juristischen Fakultät der Sofioter Universität, und auch die Militärschule verließ er. Die Zeiten sind dynamisch, komplex, ideologische und kulturelle Doktrinen prallen aufeinander. In wenigen Jahren erlebt Bulgarien drei Kriege, politische Krisen, und nach der Oktoberrevolution von 1917 in Russland triumphieren die linken Ideen einer radikalen Neuordnung der Welt. In der Kultur kommt es zu einem Dialog zwischen verschiedenen ästhetischen und philosophischen Ideen. All diese Ereignisse und Erscheinungen bestimmten Smirnenskis zukünftige politische und ideologische Entscheidungen.

Dieser äußerst produktive Autor – 500 Gedichte, mehr als 200 humoristische Prosawerke – begann bereits 1915 zu publizieren, wobei er mit verschiedenen Zeitungen und Verlagen zusammenarbeitete, oft halb versteckt hinter mehreren Pseudonymen. Als er im Jahr 1922 die Gedichtsammlung Es werde Tag! (Да бъде ден!) veröffentlichte, war er bereits Mitglied der Kommunistischen Partei, und viele seiner Werke waren von der linken politischen Plattform beeinflusst. Ein Jahr später erkrankte er an Tuberkulose und starb in Sofia am 18. Juni 1923.

Bulgarische Literaturhistoriker ordnen sein Werk an der Grenze zwischen Symbolismus und Avantgarde ein (in der bulgarischen Literatur hinkten die Erscheinungsformen der Moderne den europäischen Entwicklungen bis in den 1920er Jahren nach). Ein Großteil von Smirnenskis Werke thematisiert die Revolution als Weg zur sozialen Utopie, als Feier der Sklaven und als Neugeburt der Welt. Sie sind besonders funktional wegen ihres pathetischen oratorischen Stils und ihres propagandistischen publizistischen Tons. Das Jüngste Gericht über die alte Welt wird in einem romantischen Licht gesehen, die Wahrheit wird auf den Barrikaden ein für alle Mal erreicht, die Menge ist der neue Demiurg. Vor dem revolutionären Drang steht das Leiden des Menschen an den sozialen Rändern, Smirnenski plädiert für die Abschaffung der falschen Gesellschaftsordnung.

Vielleicht liegt der wahre Smirnenski (der von der bulgarischen Literaturwissenschaft und dem Schulkanon der kommunistischen Ära Bulgariens vernachlässigt wurde, weil er nicht dem Ideologeme diente) in der riesigen Kuppel humoristischer Texte, die ein Panorama der ewigen Tragikomödie des Lebens schaffen. Ein scharfsinniger talentierter Dichter, ein artistischer spontaner Improvisator, ein selbstironischer spiritueller Träumer, ein armer Unglücksmensch, ein rücksichtsloser Spötter und ein tiefer Analysator – Smirnenski ist in seinem Element, selbst bei der Umgestaltung von Genregrenzen. Unbestrittene Meisterwerke mit universeller Tragweite sind Werke wie «Das Märchen von der Leiter» und «Auf Besuch beim Teufel».

3 Laut der Bulgaristin Conka Stankova konnte sich Hristo Smirnenski wegen seines frühen Todes nicht überzeugend in die Literatur der bulgarischen Avantgarde mit den Themen des Zusammenbruchs der Zivilisation, der Zerstörung der Werte, des Radikalismus und des Katastrophengefühls einfügen. Im Bereich der Poetik seiner späteren Texte jedoch, zu denen das Feuilleton/moralisch-politische Gleichnis/parodiertes Modell eines Zaubermärchens „Das Märchen von der Stiege“, der Zyklus „Besuch beim Teufel“ (1. Ein Märchen von der Ehre, 2. Ein Märchen vom Morast) und der Lyrikzyklus/Poem/Reportage „Winterabende“ (7 Fragmente) gehören, wird deutlich, dass Smirnenski mit den Grenzen und klassischen Merkmalen der Gattungen spielt, experimentiert und sie aufbricht. Die Werteverwerfungen der Nachkriegswelt, die Kommunikations- und Identitätskrisen, die Rückbesinnung auf die Mythologie, die Verweigerung von Logik und Sinn spiegeln sich in diesen drei Werken wider und provozieren mit ihren verwischten Gattungsgrenzen und der Vermischung von Stilebenen die Erwartungen des Lesers.

4 Mithilfe von dem Übersetzungsprogramm deepL (03.08.2024).

5 Mit Abkürzungen.

6 Mithilfe von dem Übersetzungsprogramm deepL (03.10.2024).


Literaturverzeichnis

Freud, Anna (1984): Das Ich und die Abwehrmechanismen. 22. Auflage. Frankfurt/M.: Verlag Fischer Taschenbuch.

Freud, Sigmund (1923): Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert. Kleine Schriften II – Kapitel 20, Abschnitt III: Der Teufel als Vaterersatz. Leipzig/Wien/Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. Siehe dazu auch: Gutenberg Spiegel.de http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-schriften-ii-7122/20 [14.12.2025].

Gruen, Arno (2003): „Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität“. Vortrag im Rahmen der 53. Lindauer Psychotherapiewochen.

Gruen, Arno (2013): Der Verlust des Mitgefühls. Uber die Politik der Gleichgültigkeit. 9 Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Hirsch, Mathias (1996): „Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor nach Ferenczi und Anna Freud“. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 45 (1996) 6, S. 198-205.

Smirnenski, Hristo (1923): „Das Märchen von der Stiege“. In: Mladezh, 53 (2), 25.05.1923. // Смирненски, Христо (1923): „Приказка за стълбата“. In: Младеж, г. II, 25.05.1923, бр. 53

Stankova, Conka (2024): "Biographischer Hinweis zu Hristo Smirnenski". Persönliche Korrespondenz.

Young, Edward (1760): „Gedanken über die Original-Werke“. Faksimiledruck nach der Ausgabe v. 1760.

 

Anhang

Das Märchen von der Stiege

Hristo Smirnenski

Gewidmet all jenen, die sagen werden:
‚Ich bin nicht damit gemeint!‘

- Wer bist du?, fragte ihn der Teufel ...

- Ich bin von Geburt an ein Plebejer, und alle armen Schlucker sind meine Brüder. Oh, wie hässlich die Erde doch ist, und wie elend die Menschen!

Das sprach ein junger Bursche mit erhobener Stirn und geballten Fäusten. Er stand vor der Stiege, einer hohen Stiege aus weißem Marmor mit rosa Adern. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, wo die grauen Massen des Elends wie die trüben Wellen eines Nebenflusses rauschten. Sie zogen sich hoch, überquollen, erstreckten einen Wald aus trockenen schwarzen Händen, aus einem Donner der Empörung und wütenden Schreien erbebte Luft, und das Echo verhallte langsam, feierlich, wie ferne Kanonenschüsse. Die Massen wuchsen, sie kamen in gelben Wolken aus Staub, einzelne Silhouetten hoben sich immer deutlicher vom grauen Hintergrund ab. Ein alter Mann kam, tief zu Boden gebeugt, als suche er nach seiner verlorenen Jugend. Ein barfüßiges Mädchen hielt sich an seiner zerlumpten Kleidung fest und blickte mit sanften, kornblumenblauen Augen zu der hohen Stiege hinauf. Es guckte und lächelte. Und nach ihnen kamen zerlumpte, graue, trockene Gestalten, die im Chor ein gedehntes, Bestattungslied sangen. Einer pfiff scharf mit dem Mund, ein anderer, die Hände in den Taschen gesteckt lachte laut und heiser, und in seinen Augen glühte der Wahnsinn.

- Ich bin von Geburt an ein Plebejer, und alle armen Schlucker sind meine Brüder. Oh, wie hässlich die Erde doch ist, und wie elend die Menschen! Oh, ihr da oben, ihr...

So sprach ein junger Bursche mit erhobener Stirn und drohend geballten Fäusten.

- Sie hassen die da oben?, fragte der Teufel und beugte sich hinterlistig zu dem jungen Mann vor.

- Oh, ich werde mich an diesen Prinzen und Fürsten rächen. Grausam werde ich mich rächen für die meinen Brüder, für meine Brüder, deren Gesichter so gelb sind wie Sand, die unheilvoller stöhnen als die Schneestürme im Dezember! Sehe dir ihr nacktes, blutiges Fleisch an, höre ihr Stöhnen! Ich werde sie rächen! Lass mich gehen!

Der Teufel lächelte:

- Ich bin der Wächter von denen da oben, und ohne Bestechung werde ich sie nicht verraten.

- Ich habe kein Gold, ich habe nichts, womit ich dich bestechen könnte... Ich bin ein armer, zerlumpter Jüngling... Aber ich bin bereit, meinen Kopf hinzuhalten.

Der Teufel lächelte wieder:

- Ach nein, so viel will ich aber gar nicht! Gib mir du nur dein Gehör!

- Mein Gehör? Gerne... Möge ich nie wieder etwas hören, nie wieder...

- Du wirst wieder hören!, beruhigte ihn der Teufel und machte ihm Weg: Geh weiter!

Der Junge rannte los, nahm drei Stufen auf einmal, aber die haarige Hand des Teufels zog ihn zurück:

- Genug! Bleib jetzt stehen, und höre wie deine Brüder dort unten stöhnen!
Der Junge blieb stehen und lauschte:

- Seltsam, warum fingen sie plötzlich an, fröhlich zu singen und so sorglos zu lachen!... Und er rannte wieder los.

Der Teufel hielt ihn wieder auf:

- Damit du weitere drei Stufen hinaufsteigen kannst, will ich deine Augen haben!
Der Junge winkte verzweifelt mit der Hand ab.

- Aber dann werde ich weder meine Brüder sehen können noch diese, zu denen ich jetzt unterwegs bin, um mich an ihnen zu rächen!

Der Teufel:

- Du wirst wieder sehen können... Ich werde dir andere, viel schönere Augen geben!

Der Junge stieg noch weitere drei Stufen hinauf und schaute dann nach unten.
Der Teufel erinnerte ihn daran:

- Sieh dir ihr nacktes, blutiges Fleisch an.

- Mein Gott! Das ist so seltsam; wann haben sie es geschafft, sich so gut zu kleiden! Und statt blutiger Wunden sind sie mit herrlich scharlachroten Rosen bedeckt!

Alle drei Schritte nahm der Teufel sein kleines Lösegeld. Aber der junge Mann ging, er gab bereitwillig alles, solange er nur ankommen und diese fetten Fürsten und Prinzen rächen konnte! Eine Stufe, nur noch eine Stufe, dann ist er oben! Er wird seine Brüder rächen!

- Ich bin von Geburt an ein Plebejer, und alle armen Schlucker…

- Junger Mann, noch eine Stufe! Nur noch eine Stufe, und du wirst dich rächen! Aber ich verlange immer ein doppeltes Lösegeld für diese Stufe: Gib mir dein Herz und dein Gedächtnis.

Der Junge winkte mit der Hand ab:

- Das Herz? Nein! Das ist doch sehr grausam!

Der Teufel lachte kehlig und voller Autorität:

- So grausam bin ich nicht. Ich werde dir dafür ein Herz aus Gold und ein neues Gedächtnis schenken! Wenn du das nicht annimmst, wirst du nie über diese Stufe hinauskommen, nie deine Brüder rächen – jene, die Gesichter wie Sand haben und unheilvoller stöhnen als der Dezemberschneesturm. Der Junge blickte in die grünen ironischen Augen des Teufels:

- Aber ich werde der Unglücklichste sein. Du nimmst mir alles Menschliche.

- Ganz im Gegenteil – der Glücklichste! ... Aber? Bist du einverstanden: mir nur dein Herz und dein Gedächtnis zu geben.

Der Junge dachte nach, ein schwarzer Schatten legte sich auf sein Gesicht, trübe Schweißperlen kullerten ihm über die faltige Stirn, er ballte wütend die Fäuste zusammen und zischte durch die zusammengepressten Zähne:

- So soll es sein! Nimm sie!

... Und wie ein Sommergewitter, wütend und zornig, sein schwarzes Haar wehend, passierte er die letzte Stufe. Er war bereits oben angekommen. Und plötzlich erstrahlte ein Lächeln in seinem Gesicht, seine Augen funkelten vor stiller Freude, und seine Fäuste entspannten sich. Er blickte auf die feiernden Prinzen, blickte nach unten, auf die graue, zerlumpte, brüllende und fluchende Menge unter ihm. Er sah hin, aber kein Muskel zuckte in seinem Gesicht: es war hell, fröhlich, zufrieden. Er sah unten festlich gekleidete Menschenmengen, das Stöhnen war zu Hymnen geworden.

- Wer bist du?, fragte ihn der Teufel heiser und hinterlistig.

- Ich bin ein Fürst von Geburt an, und die Götter sind meine Brüder! Oh, wie schön ist die Erde und wie glücklich die Menschen doch sind!

„Jugend“ 25. Mai 1923

Übersetzung: Evelina Jecker Lambreva4


Aus Dem Gedichtzyklus „Winterabende“5

Hristo Smirnenski

Wie ein schwarzes Grab ist auch dieser Abend
trostlos und düster die Stadt;
dumpf hallen die Schritte in die Ferne
und zerschmelzen in der Dunkelheit.

Verhallt sind die Zäune, unheimlich blickt jeder
mit gelben gläsernen Augen,
die verschneite Pappel – einem Gespenst gleich –
in den grauen Nebel ragt empor.

Seltsame Saiten sind die gedehnten Drähte,
versilbert mit dünnem Flaum,
und der Schnee, bestreut mit Perlenfunklein,
knirscht mit einer bösen und tauben Klage.

Und im Nebel – durch seine fleischlosen Netze
lautlos erlöschend vor Kummer,
bildet der junge Mond einen unbekannten Weg ab
mit seiner dünnen, feurigen Sichel.

* * *

Ich gehe an den schweigenden Hütten vorbei,
in einem Meer von undurchdringlichem Nebel,
und die ewige Armut, die ewige Sorge
schauen mich durch trübe Fenster an.

An den Fensterscheiben mit unsichtbarer Hand,
unter dem eisigen Atem der Nacht,
hat der weiße Winter gezeichnet
überirdisch silberne Blumen.

Nun ist da ein vertrautes Häuschen;
im Fenster der Kopf eines Kindes;
und grob donnern in der Stille
betrunkene keuchende Worte.

Zurückgekehrt nach Hause – brotlos,
schon wieder betrunken – flucht der Vater:
über sein nutzloses Leben,
und seinen Kummer ohne Ende.

Der Vorhang dreckig, zerfetzt,
und eine große neblige Silhouette
fuchtelt mit den Händen drohend herum,
von seltsamen Gedanken besetzt.

Die Kinder schreien und beten,
Und draussen, den Kopf gesenkt,
inmitten ihres Leides und Not
schluchzt unterdrückt eine Frau.

* * *
* * *
* * *

Mitten im Zimmer ein Sarg aufgestellt,
in dem Sarg – ein Mädchengesicht,
und gelbe alte Hände
im schwarzen Bretterbett.

Gedehnt wimmert eine alte Frau,
klagt mit bitteren Worten,
in einem Augenblick erzittert sie und
unterdrückt kaum ihren trockenen Husten.

Verwaschen, die nackten Wände auf und ab –
huschen die Schatten herum;
vor einer winzigen Ikonostase
betet ein zerlumptes Kind.

Im Fenster die erblassten Kerzen
küssen eisige Blumen,
und in ihrer kurzen Schönheit,
schmelzen spurlos die Blüten...

* * *

Und wieder an den verstummten Hütten vorbei
schreite ich im blassblauen Nebel
und die ewige Armut und Sorge
durch trübe Fenster gucken mich an.

Als würden schadenfreudige Lieder
surren von unbekannter Not,
und es flackern auf, erlöschen und erstrahlen
die zwei Sterne über dem Gefängnis.

Und angehalten für einen Augenblick bei der Laterne,
nehmend den Sack von ihrem Rücken ab,
stehen da zwei Kinder und zitter
und in ihren Augen schlummert der Gram.

Und wie zertrümmerter Glimmer,
drehen sich Schneeflöckchen um sie herum;
Und in vager Verwunderung
fangen die Kinder sie mit ihren Augen auf.

Und die Schneeflöckchen quellen silbrig,
sie flattern, glitzern wie Kristall,
sie sickern so weiß und so rein
aber in den Pfützen werden sie zu Schlamm.

 

Auf Besuch Beim Teufel

Hristo Smirnenski

1. Ein Märchen von der Ehre

Niemals hatte ich in meinem Leben
auf so ein nettes Kompliment gehofft:
Mich lud der Teufel ein – der alte Teufel –
zu sich auf ein Gläschen Absinth.

Die Kerze umrahmte sein scharfes Profil
mit einem Streifen aus goldenen Strahlen
und während er Kreise aus Qualm aufsteigen liess,
beguckte Mephistopheles mich mit feuchten Augen.

Herbstliche Bitterkeit lag in seinen Augen verborgen,
Aber dennoch war er grinsend und stolz,
und er winkte mit der Hand ab: „In vino veritas!
Ich will jetzt ehrlich zu dir sein!“

Ich habe dies ewige Joch wirklich satt,
die Verstellung, die bösen Gedanken,
lass uns trinken auf deine überirdische Herzlichkeit
und auf die grauen irdischen Wesen!

Vor Jahrhunderten machte ich Halt auf der Erde
Und spielte hier einen Streich:
Ich heiratete die heilige irdischen Wahrheit,
Doch sie krönte mich mit Hörnern gleich.

Ich entbrannte vor Eifersucht, und in schwarzem Haß
wegen meiner zertretenen Ehre –
zertrete ich unermüdlich seit dann die Ehre des Menschen vergeblich.
Doch Ehre erlangte ich keine.

Durch Wundertaten habe ich zu glänzen gedacht –
Und hunderte von Malen starb ich in Kämpfen,
Doch immer ein Ritter der ehrlichen Sache,
nie wurde ich mit Ehre bedacht.

Verzweifelt, erbärmlich, einmal auf dem Boulevard
schritt ich überirdisch verloren.
Und hob über mich ein krasses Plakat:
„Ein Mensch ohne jegliche Ehre geworden!“

Doch seltsam: nicht ein Tropfen Verachtung!
Mit Interesse empfängt man mich überall,
und freundlich von allen Seiten nimmt man den Hut ab vor mir:
„Bist du ohne Ehre? – Es ehrt dich!“

Ein Herr küsst mich: „Ah, Bruder,
du auch! ... He, wer könnte das wissen!“
Zwei hübsche Damen sagten süß zu mir:
„Kommen Sie morgen zu uns zum Tee!“.

Wunderbar! Unerhört! Mit seltenen Ehrungen
wurde ich bis nach Hause begleitet.
Minister, Könige und Hofschranzen
schrieben mir freundliche Briefe.

Und hier bin ich: bedeutend, brillant, elegant,
reich wie ein echter Krösus!
Und ich weiß es: ein Dieb bin ich, ein Lügner, ein Spekulant,
unehrenhaft; aber ... immer mit Ehre! ...

Und der Teufel verstummte. Er schenkte vom Absinth ein,
stiess herzlich mit mir an,
und den Rauch in bläulichen Schwaden ausstossend,
durchbohrte er mich mit seinem grünen Blick.

„Rotes Lachen“ 4. April 1923.

Übersetzung: Evelina Jecker Lambreva6


Autor:in: Evelina Jecker Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.

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