Lutz Goetzmann

Y – Z Atop Denk 2023, 3(3), 3.

Abstract: Der Essay kreist um die Leerstellen in Hölderlins späten Gedichten, die als Abgrund verstanden werden, d.h. als Orte oder Stätten des Realen, welche auf das Traumatische des zwischenmenschlichen Verhältnisses verweisen. Hier werden vor allem auch die Abbruchstellen, d.h. die Stellen am Abgrund des Papiers näher untersucht, und zwar sowohl hinsichtlich der unmöglichen Begegnung als auch des Ortes, wo die neue Kunst entsteht.

Keywords: Hölderlin, Laplanche, das Reale, die Leere, Abgrund, Kreativität

Veröffentlicht: 30.03.2023

Artikel als Download: pdfVom Abgrund namlich (Holderlin)

 

Das Gedicht “Vom Abgrund nämlich” hatte Friedrich Hölderlin einige Zeit nach der Jahrhundertwende, also jener Wende um 1800 verfasst. Ich möchte mich mit einem einzelnen Aspekt – oder mit einem „einzigen Zug“, wie Freud (1921, S. 120) sagte, beschäftigen, nämlich mit dem performativen Abgrund des Gedichtes. Meine These geht dahin, dass die Abbrüche in den Gedichtzeilen das Reale eröffnen, das nicht in Worte gefasst werden kann. Hölderlins Gedichte oder, wie Hölderlin die Wörter gebrauchte, habe ich schon immer als etwas extrem Wirkliches, wirklicher als einen Stein oder eine Tasse, empfunden. Diese capacity des Wirklichen, der Wirklichkeit macht Hölderlins Dichtung so unwahrscheinlich packend. Die Wörter gewinnen eine körperliche, magisch-konkrete Wirklichkeit: Angesiedelt, wie Michael Meyer zum Wischen (2007, S. 130) schreibt, „in einem Zwischenraum zwischen Körperlichem und Seelischem, in einer Vorzeit der Differenzierung, eines mythischen, prähistorischen Ursprungs, von dem aus erst die Geschichte des Subjekts an einer Grenzlinie von Somatischem und Psychischem geschrieben werden kann, nachträglich.“ Dieser Ausgangspunkt wäre eher im Klang des Wortes zu suchen und weniger in seinem Sinn. Im Prinzip handelt es sich um eine „Überbesetzung der Wortvorstellungen“ (Freud). Das Subjekt versucht „in der Sprache mittels der Wortvorstellungen selbst einen Halt zu finden (Meyer zum Wischen 2007, S. 130). Hölderlin lebt in der Erfahrung der Einheit mit einer lebendigen, von den Göttern beseelten Natur. Schiller, Hölderlin väterlicher Mentor, den er bewunderte und idealisierte, hingegen geht von der leblosen Natur aus (Laplanche 1975, S. 53). Dieser Unterschied zeigt sich in den Wörtern: Hölderlins Sprache ist lebendig, Schillers Sprache dagegen ist kalt und in ihrem theoretischen Pathos starr.

Wenn Signifikanten jedoch, das wäre die verwandte Gegenposition, die Mörder der Dinge sind: „Wörter sind Mörder“, so baut sich urplötzlich eine Spannung auf zwischen der semiotischen Nichtung und der Feier jener Dinge, die das Leben sind. Hier findet das Gedicht statt, es findet performativ statt. Andererseits ist der spezielle oder einzige Zug der Abgrund, das Nicht- Wort, das fehlende Wort, das Abwesende, die Auslassung und das Ausgelassene. Das Weiße, Leere, Verworfene, das die Wörter der jeweiligen Zeile vernichtet. Ich empfinde nicht nur die Signifikanten, die mit dem Realen gesättigt sind, als wahr, sondern diese Wahrheit spitzt sich im Abgrund, im Abbruch zu, indem sich das Reale dem relativierenden Zugriff der Wörter entzieht. Hölderlin radikalisiert, vielleicht in der Nähe der Psychose, die Demonstration des Realen. In seinen Arbeiten tauchten solche Löcher immer häufiger auf: Seine Gedichte wurden Bruchstücke. Sie wurden Fragmente, welche irritierende Abbruchränder aufwiesen – bis sich in den ganz späten Gedichten erneut eine geschlossene, jedoch seltsam starre und jenseitige, erschütternde Form zusammenfügte, die etwas von der Art einer reparierten Spieluhr oder Weltspieluhr hat. So schreibt Laplanche in seiner Arbeit über Hölderlin:

„Die Rückbewegung, die jede Lösung auf das Problem, das sie motiviert, ausübt, wird hier radikal: der schöpferische Mensch, der neurotische Künstler wandelt die Gegebenheiten um, indem er durch die „Form“ seiner Antwort einen neuen ‚Grund‘ schafft; die Psychose lässt diese Gegebenheiten am Ende zerstieben, so dass man davon nur noch gestaltlose Splitter vorfindet.“ (Laplanche 1975, S. 11)

Mit diesen Form-Löchern, die den Abgrund, so scheint es, in aller Konkretheit demonstrieren, möchte ich mich beschäftigen. Mit Löchern, so wie Lacan die Löcher verstand, nämlich in ihrem Verhältnis von Loch (trou)  und dem, was in dem Loch (nicht) enthalten ist, der Forelle (truite). Das dürfte ein Wortspiel meinerseits sein, aber ich hoffe zumindest, dass es Lacan gefallen hätte. Jedenfalls findet das Loch irgendwo in der Zeile statt. Mit „Zeile“ ist eine „Reihe mehrerer nebeneinanderstehender Dinge“, etwa eine Häuserreihe oder eben eine bestimmte Wortreihe gemeint. Zeile kommt von dem althochdeutschen „zila“: Reihe, Linie, auch: Abgeteiltes. Ihre Wurzel verweist auf die Urbedeutung „teilen, zerschneiden, zerreißen“ (https://www.dwds.de/wb/Zeile#top). Was ist das, wenn Gedicht zerreißt, oder auch ein Gedanke?

 

1. Das Gedicht

Es geht also um Hölderlins Vom Abgrund nämlich. Ich frage mich, ob Hölderlin mit dieser Epiphrase, also dem Zusatz „nämlich“ auf das Abendmahl anspielt: „Hoc est corpus meum enim – dies ist mein Leib nämlich“ – also damals, als Jesus das Brot brach und dieses Brot den Jüngern als seinen eigenen Leib anbot. Seht: Dies ist mein Abgrund, dies ist mein Körper – esst ihn oder lest ihn ...

Hölderlins Leben war in der Zeit vor der Jahrhundertwende, in dem verstörenden Dezennium der französischen Revolution, eine ziemliche Achterbahn, ein ständiges Auf-und-ab. Safranski beschreibt, wie Hölderlin sich in seinen guten Momenten stark fühlte, d.h. mit Leben erfüllt und seinsverbunden. Aber dann spürte er wieder alles Lebendige aus sich entweichen, er entglitt sich selbst, fühlte sich als ein Nichts, was ihn wiederum – wohl aus einem Gefühl der Panik heraus - zu einem „lebensrettendem Widerstand“ anstachelte (Safranski 2019, S. 118). An seinen Bruder schrieb Hölderlin im November 1797:

„Je angefochtener wir sind vom Nichts, das, wie ein Abgrund, um uns her uns angähnt, oder auch vom tausendfachen Etwas der Gesellschaft und der Thätigkeit der Menschen, das gestaltlos, seel- und lieblos uns verfolgt, zerstreut, um so leidenschaftlicher und heftiger und gewaltsamer muss der Widerstand von unserer Seite werden (MA II, S. 668 f.).

Aber der Sommer des Jahres 1800, den Hölderlin bei Christian Landauer in Stuttgart verbrachte, muss wieder eine glückliche Zeit gewesen sein. Damals und noch in den folgenden Monaten entstanden die Hymnen, diese Pracht der Sprachkultur, die Hölderlin damals in seinem neuen, sehr freien und feierlichen Stil verfasste (Safranski 2019, S. 198). Und dennoch war schon wieder etwas spürbar: In der Mitte des Gedichts Menons Klagen um Diotima stößt dessen Schönheit plötzlich auf etwas Bedrohliches:

Aber wir, zufrieden gesellt wie die liebenden Schwäne,
Wenn sie ruhen am See. oder, auf Wellen gewiegt,
Niedersehn in die Wasser, wie silberne Wolken sich spiegeln,
Und ätherisches Blau unter den Schiffenden wallt,
So auf Erden wandelten wir. Und drohte der Nord auch,
Er, der Liebenden Feind, klagenbereitend, und fiel
Von den Aesten das Laub, und flog im Winde der Reegen,
Ruhig lächelten wir, fühlten den eigenen Gott
Unter trautem Gespräch...
Aber das Haus ist öde mir nun, und sie haben mein Auge
Mir genommen, auch mich hab‘ ich verloren mit ihr.

(MA I, S. 292)

Es handelt sich um eine düstere Kälte (Safranski 2019, S. 202), die aber noch sprachlich gehalten werden kann, für die es noch eine Sprache gibt. In dem Gedicht Vom Abgrund nämlich ist das anders, mehrmals kommt es zu Löchern und Abbrüchen:

Vom Abgrund nämlich
Vom Abgrund nämlich haben
Wir angefangen und gegangen
Dem Leuen gleich, in Zweifel und Ärgernis,
Denn sinnlicher sind Menschen
In dem Brand
Der Wüste
Lichttrunken und der Thiergeist ruhet
Mit ihnen. Bald aber wird, wie ein Hund, umgehn
In der Hitze meine Stimme auf den Gassen der Gärten
In denen wohnen Menschen
In Frankreich.
Der Schöpfer.
Frankfurt aber, nach der Gestalt, die
Abdruck ist der Natur zu reden
Des Menschen nämlich, ist der Nabel
Dieser Erde, diese Zeit auch
Ist Zeit, und deutschen Schmelzes.
Ein wilder Hügel aber stehet über dem Abhang
Meiner Gärten. Kirschenbäume. Scharfer Odem aber wehet
Um die Löcher des Felses. Allda bin ich
Alles miteinander. Wunderbar
Aber über Quellen beuget schlank
Ein Nussbaum und                 sich. Beere, wie Korall
Hängen an dem Strauche über Röhren von Holz,
Aus denen
Ursprünglich aus Korn, nun aber zu gestehen, befestigter Gesang von Blumen als
Neue Bildung aus der Stadt, wo
Bis zu Schmerzen aber der Nase steigt
Zitronengeruch auf und das Öl, aus der Provence, und es haben diese
Dankbarkeit mir die Gasgognischen Lande
Gegeben. Gezähmet aber, noch zu sehen, und genährt hat mich
Die Rappierlust und des Festtags gebraten Fleisch
Der Tisch und braune Trauben, braune
                                                       und mich leset o
Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird
Untrügbarer Kristall an dem
Das Licht sich prüfet wenn                Deutschland

(MA III, S. 243)

Das erste Loch entsteht an der Stelle, als ein Nussbaum sich schlank über „Quellen“ beugt, aber dann wird unklar, was passiert. Die Fortsetzung, die mit einem „und“ eingeleitet wird, bricht ab, und auf der anderen Seite dieses Lochs, des Abgrund steht lediglich das Reflexivpronomen „sich“ – das rückbezügliche Fürwort, das sich auf das Subjekt, also den Nussbaum bezieht. Hier ist das Loch, in dieser Zuneigung, in dieser Beugung über dem Andern. Und dann geht das Gedicht so weiter: Beeren hängen in einem Strauch – genauer: eine einzige Beere, gleichwohl Hölderlin für das Tätigkeitswort den Plural verwendet, und der Strauch wirkt mit seinen Korallen und Röhren seltsam winterlich, wie tot. Vielleicht verweist der Beerenstrauch auf das, was in der Zuneigung passiert, aber nicht (re)präsentiert wird. Für Hölderlin ist das absolute Ich Fichtes, wie er in einem Brief schreibt, ein „Nichts“, weil es keine Objekte gibt (wenn das Ich absolut ist). D.h. das absolute Ich braucht Objekte, aber diese verschwinden im Nichts, in der Leere, als sich der Nussbaum, neigt (Laplanche 1975, S. 50).

Die zwei weiteren Löcher weisen eine ähnliche Struktur auf: Erst werden „gebraten Fleisch“ und „braune Trauben“ erwähnt – dann kommt der Bruch, das Loch, der Abgrund. Und auf der anderen Seite sind die Blüten Deutschlands, verbunden mit einem Akt des Lesens. Offensichtlich wird der Dichter gelesen – vielleicht von den Blüten Deutschlands, seine Gedichte oder die Trauben, als eine Weinlese des Dichters. Vielleicht spielt Hölderlin auf Susette Gontard an, seine mit einem Frankfurter Bankier verheiratete Geliebte, die nach einer äußerst dramatischen Trennung an Tuberkulose verstarb – oder an dem Schmerz. Vielleicht ist aber auch die politische Freiheit gemeint, welche sich die Intellektuellen Deutschlands in diesen Jahren erhofften. Jedenfalls ist das Herz aus Kristall, wohl angesichts des Verlusts, da ist also ein drittes Mal eine Unterbrechung, Ausdruck eines „Interrupts“, wie Ulrich Moser (2002, S. 29) die kognitive Grammatik des Gedichtes an dieser Stelle womöglich beschreiben würde, ein Interrupt, das durch „unsichtbare affektive Prozesse“ bewirkt wird. Und dann noch einmal „Deutschland“, wohl als eine verkürzte Metonymie, welche für die „Blüten Deutschlands“ stehen könnte.

So sagt Laplanche (1975, S. 54): „Für Hölderlin schließt die Liebe jenes Gefühl absoluter Armut ein, jenes Moment, in dem sich das Subjekt buchstäblich vernichtet sieht, von sich selbst losgerissen angesichts seines Objekts“. Laplanche denkt, dass diese Form der Liebe gegenüber allen Personen, ob männlich oder weiblich, auftritt, so auch in der Beziehung zu Schiller, die durch eine „absolute Armut“ in Hölderlins Erleben gekennzeichnet war, vielleicht durch einen nahezu unerträglichen Mangel (Laplanche 1975, S. 53). Die Leere könnte aber auch das Ergebnis einer frühen Verwerfung sein, nämlich die Verwerfung der väterlichen Kastrationsdrohung, und damit überhaupt die Verwerfung des väterlichen Namens, die die Triade und Struktur repräsentiert. Es ist aber genau diese Verwerfung, die das Tor ins Reale öffnet: in die erschütternde Begegnung damit, was im Nachhinein, retroaktiv das Mütterliche oder das Göttliche genannt werden kann. Entsprechend kann die plötzliche Anwesenheit des Vaters, wie Laplanche (1975, S. 57) in Bezug auf Lacans Beschäftigung mit dem Fall Schreber sagt, eine Psychose auslösen, d.h. wenn die reale Präsenz des Vaters an die Stelle einer Abstinenz, eines Fehlenden tritt. So ist wohl beides verheerend: die plötzliche Präsenz der Mutter (infolge der Verwerfung der Kastrationsdrohung, d.h. des Namens des Vaters, mit dem Zusammenbruch der Symbolisierung) wie die plötzliche Präsenz des Vaters, mit einer überwältigenden Kastrationsdrohung (diese Funktion hat Schiller wohl ausgeübt). Die Nähe löst das „Gefühl der totalen Nichtigkeit“ aus, so unerträglich andererseits die Ferne ist (Laplanche 1975, S. 67), So lässt Hölderlin seinen Hyperion sagen:

„Ich liebte meine Heroën, wie eine Fliege das Licht, ich suchte ihre gefährliche Nähe und floh und suchte sie wieder.“ (MA I, S. 624)

In den späten Hymnen, so Laplanche (1975, S. 67) sind „Nähe und Ferne der Götter die größte Gefahr, der sich der Dichter ausgesetzt sieht, eine Gefahr, die er in seiner ganzen Härte ertragen muss.“ Aber in Schiller enthüllt sich auch „schlagartig eine verschlingende Muttergestalt“ (d.h. der verschlingende Vater, der verworfen werden muss, wäre eine Umwandlung der verschlingenden Muttergestalt gewesen.“ (Laplanche 1975, S. 70). Im Kontakt mit dem Objekt sieht sich das Subjekt „schlagartig seiner selbst beraubt (...) als ein Nichts angesichts einer in sich selbst geschlossenen Totalität, die sein ganzes Sein verschlungen hat“ (Laplanche 1975, S. 71). So schwankt Hölderlin zwischen dem Enthusiasmus über das vollkommene Objekt und der Erfahrung des totalen Verlusts (Laplanche 1975, S. 80). Er riskiert die komplette Selbstaufgabe, Hegel hingegen verfolgt das Fortschreiten hin ins Selbstbewusstsein., d.h. es besteht die gleiche Bewegung hin ins Absolute, in Richtung des absoluten Ichs, aber Hegel verneint und vermeidet die totale Selbstaufgabe, es entsteht aus dem Entgegengesetzten von Subjekt und Objekt ein Drittes, der absolute Geist, während Hölderlins Weg in die Psychose führt, jenes Loch, das zwischen Nähe und Ferne aufreißt.

 

2. {RSI-PA / M}

Um die Löcher in Hölderlins Gedicht besser zu verstehen, möchte ich hier kurz einige epistemologische Überlegungen skizzieren, die sich auf Hegels Anthropologie und Lacans poststrukturalistische Semiotik beziehen. In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften kommentiert Hegel, also Hölderlins Jungendfreund, welcher sich nicht, wie Hölderlin dies tat, nach einer poetischen Wiedervereinigung mit dem Göttlichen, d.h. mit der göttlichen Natur sehnte, sondern vielmehr in Richtung des absoluten Geistes vorwärtsschritt, Hegel also beschreibt das Verhältnis von Körper (Materie) und Seele bzw. Geist (Ideelles) folgendermaßen: „Die Seele ist nicht nur für sich immateriell, sondern die allgemeine Immaterialität der Natur, deren einfaches ideelles Leben.“ (Hegel 2016, S. 43). Er spricht von »einfachen Empfindungen«, als Grundlage des ideellen Lebens (Hegel 2016, S. 102). Es ist dann Jacques Lacan, der das Ideelle durch die Register des Realen, also der nicht-repräsentierten, nicht-begrifflichen Empfindungen sowie durch die Register der Imaginären und der symbolischen Gedanken näher bestimmte. Diese »Ganzheit« setzt sich aus der Materie (M) und dem Ideellen, d.h. dem Realen, Imaginären und Symbolischen (R, S, I) zusammen. Die Register der psychischen Wirklichkeit lassen sich im Einzelnen folgendermaßen charakterisieren (siehe Evans 2002; Lacan 2012): 1.) Das Reale ist etwas Unsagbares, es lässt sich nicht vorstellen oder repräsentieren, es liegt als das Unfassbare des Nicht-Repräsentierten jenseits aller Erscheinungen. Lacan bezeichnet die Implantate, die im Unbewussten vorhanden, aber nicht-repräsentiert, d.h. real sind, als Objekt a. Davon abzugrenzen wäre der Begriff der Realität (Wirklichkeit) (Evans 2002, S. 251); 2.) Das Imaginäre ist das Bildhafte, d.h. es umfasst die Welt der Phantasmen, Projektionen und (projektiven) Identifizierungen, der Dualität, der Idealität, Ganzheit, der Spiegelungen und des Körperbildes. Das Imaginäre entwickelt sich in den Spiegelungen des Subjekts (Evans 2002, S. 146 ff.). Im Grunde handelt es sich um Freuds visuelle Sach-Vorstellungen (u.a. 1923, S. 248); 3.) Das Symbolische ist das Sprachliche, also Freuds (1923, S. 248) Wortvorstellungen, und dieses Sprachliche impliziert wesentlich Komplexeres, nämlich dass es um die Ordnung der Sprache, des Begriffs, die (triadische) Struktur, um den Diskurs, die formale Logik, die Formeln der Mathematik, den Mangel und die Gesetze geht, d.h. um Strukturen und Funktionen, die durch die Sprache ermöglicht werden (Evans 2002, S. 298 ff.). Lacan beschreibt, dass diese drei Ringe in einem sogenannten „borromäischen Knoten“ ineinander verschlungen sind (Lacan 2012).

Es sei hier noch ein weiteres Register hinzufügt, das mir unerlässlich erscheint: Es ist das Register der Gefühle. Gefühle, so die allgemeine Auffassung, sind immer bewusst (Solms 2021, S. 87). Man könnte Gefühle als bildlose und nicht-sprachliche Gedanken auffassen, die sich zunächst auf einer phänomenalen Ebene zeigen, bis sie näher, d.h. bildlich oder sprachlich bestimmt werden (vgl. Demmerling 2021). Insofern liesse sich zwischen realen Empfindungen einerseits und phänomenalen (gefühlten, atmosphärischen), imaginären sowie symbolischen Gedanken andererseits unterscheiden. Unser erstes Denken sind also solche phänomenale Körpergefühle: die früheste, wohl bis in die vorgeburtliche Zeit reichende Form des Bewusstseins. Deswegen will ich von einer {M / RSI-PA} Linie sprechen, aus welcher heraus sich sowohl das Materielle wie Ideelle entfaltet. Das Gedicht – jedes Gedicht, bewegt sich natürlich ausschließlich im Bereich des Ideellen, es sei denn, die Materie des Papiers und der Druckerschwärze spielt eine Rolle. Aber selbst, wenn wir das Buch in der Hand halten, es betasten oder seinen Geruch genießen, erfahren wir nur die ideelle Seite der Materie, auf jeden Fall die Dimension der Symbolisierung.

Abbildung 1: Materie (M) / Idealität mit den Registern des Realen (R), Imaginären (I) und Symbolischen (S) sowie der phänomenalen Atmosphäre (PA).

Aber kehren wir zu Hölderlin und den Lücken, zu den Löchern in den seltsamen Abbruch-Zeilen seiner Gedichte zurück.

 

Der Abgrund

Das Wort tötet das Ding. Was ist damit gemeint? Paulus sagt: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig (in 2. Korinther 3, 6). Man könnte diese Aussage so verstehen: Das Wort, also der jeweilige Signifikant, mordet das Ding, d.h. die Lebendigkeit des Dinges. Hegel notiert zu einer seiner Vorlesungen: „Der erste Akt, wodurch Adam seine Herrschaft über die Tiere konstituiert hat, ist, daß er ihnen Namen gab, d. h. sie als Seiende vernichtete und sie zu für sich Ideellen machte“ (Hegel 1986, S. 201). Die Macht des Signifikanten ist eine ‚letale‘ Macht, sie ist ein, wie Lacan sagt, „Letalfaktor“ (Lacan 2015, S. 224). Der Signifikant mordet das Ding: Er streicht es durch. Man könnte sagen: Die Kunst ist wie eine Katze, sie spielt mit den Dingen, d.h. mit den Mäusen, aber das Spiel kann dennoch tödlich sein. Vielleicht verhält sich die Kunst wie der Freigeist in Lacans Kant mit Sade, der bekannterweise Angst davor hat, dass sein Opfer in Folge seiner Quälereien sterben könnte. Hölderlin, der Dichter spielt gleichfalls mit dem Tod: Er singt das Lied des Todes: Das Wort des Nussbaumes oder das Wort der Trauben und des gebratenen Fleisches – alle diese Wörter ermorden das Ding: Das Reale, das lebendig ist, das Objekt, das Mütterliche die reale Mutter, die in den Wörtern verschwindet. Das Reale ist der Abgrund, der in die Wörter schlüpft, wie unter die vier Röcke der Anna Bronski, unter welcher auch Joseph, der Brandstifter, Oscar Matzeraths Großvater, eine ebenso kurzweilige wie segensreiche Zuflucht findet (so beginnt Die Blechtrommel). Denn was ist die Schrift anderes als eine Geste, die aus dem Abgrund führt, d.h. die im gleichen Zuge an den Abgrund rührt?

L’abime heißt der Abgrund auf Französisch, „mise en l’abime“ – in den Abgrund schicken: das ist die Geste, welche sich in der Abbruchzeile performiert. Das ist es: das Weiße. Die Leere. Diese Leere ist das Reale. Freud (1900, S. 110 ff.) träumte, dass er im Rachen seiner Analysandin, Emma Eckstein, die er in der Traumdeutung Irma nennt, eine Verschorfung entdeckt, als Symptom einer diphtherischen oder syphilitischen Infektion. In diesem Schorf lauert das Reale – das Reale des Todes, das Reale der tödlichen Sexualität. Der Schorf ist das Reale. Die Verschorfung des Gedichts ist ein Wink des Realen: es bewirkt die Verwerfung der Register des Wissens.1 Das Papier ist der materielle Schorf, den wir anschauen, aber auch betasten, daran riechen können. Die ideelle Seite dieser Materie ist Leere: die Abwesenheit der Signifikanten (sofern die Farbe nicht als ein letzter Außenposten des Imaginären betrachtet wird). Ansonsten aber ist die Leere das Objekt a, das nicht repräsentiert ist, in keinem Wort, in keinem Bild. Die Stimme oder der Blick des Andern, vielleicht der Stimme oder der Blick der Mutter, zu welcher Hölderlin, wie es heißt, ein äußerst traumatisches Verhältnis hatte.

Die Sprache pflegt demnach ein dreifaches Verhältnis zum Realen: 1.) die Benennung tötet das Ding, d.h. sie hebt das Reale auf; 2.) die Sprache des Dichters, d.h. die Kunst spielt mit dem Realen, Adam sagt: Wolf oder Schaf, und das Wort ist der Wolf oder das Schaf, hier ist die Sprache das Haus des Realen, sie benennt den Wolf, das Schaf, das ist fast Mord, aber sie lässt ihre Opfer am Leben: der Dichter spielt Katz und Maus; und 3.) die Sprache bricht ab, sie re-signiert, sie gibt das Wort, den Signifikanten, das Zeichen, das Signum zurück, und sie gibt ihre Herrschaft auf: der Abgrund, den sie eröffnet, ist das Reale. In der Tiefe, tief im Abgrund ist das Objekt a. Das weiße Papier ist der Schorf im Hals der Emma Eckstein. Wenn wir auf das Weiße schauen oder (wie Freud) auf den Schorf, sprachlos, sind wir im Phänomenalen. Wohl geht es um den Tod, den Verlust und um das Unmögliche jedes Verhältnisses, d.h. um den Tod der Susette und um das Trauma der Kindheit, das sich im Abgrund des Realen verbirgt. Vielleicht geht es aber auch, in letzter Konsequenz, um die Vereinigung mit dem Göttlichen, in einem Kontrast, so scheint es, zu Hegels absolutem Geist selbstreferentiellen Dimension des Symbolischen (im Sinne des Begrifflichen, d.h. des Begriffs) entwickelt, der sich in der. Der „einzige Zug“ (Freud) des Abbruchs, der Leere den das Gedicht auszeichnet, würde dann aus einer Gleichsetzung des Gedichts mit dem Innenleben Hölderlins entstehen, hier wäre die identifikatorische Verbindung, die Erfahrungsbrücke zwischen dem Gedicht und dem Verfasser – so wie sich Dora, in Freuds (1905, S. 206 f.) Kasuistik, mit dem Husten ihres Vaters identifizierte.

Ich erinnere mich, dass es in meiner Kindheit einen Garten gab, der an einem Wiesenhang lag. Aus der Kinder-Perspektive war der Garten sehr groß, und der Hang war ein halber, sich in den Sommerhimmel erstreckender Hügel. Oben stand ein Gartenhaus, an der Seite war ein Wasserbecken, das in Stein gefasst war. Man musste jeden Winter – damals gab es tatsächlich noch Schnee, Eis und seltsam rote Puddelmützen, man musste also das Wintereis des Teiches oder des Beckens (also den Schorf, das weiße Papier) aufspitzen. Da war ein Loch, und in der Tiefe des Lochs schwammen Goldfische.

 

Post Skriptum

Safranski (2019, S. 230) zeigt, wie aus der Lücke, im Loch, ein Goldfisch wird, oder, um dem obigen Wortspiel zu folgen, wie sich aus dem Loch (le trou) eine Forelle (la truite) ergibt. Hölderlin schrieb den Hymnus Wie wenn am Feiertage (MA I, S. 262) Auch in diesem Hymnus findet sich ein Abbruch, eine Lücke, ein Loch. Der Text geht so:

Und tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren
Mitleidend, bleibt in den hochherstürzenden Stürmen
Des Gottes, wenn er nahet, das Herz doch fest.
Doch weh mir! wenn von

(Abbruch)

Weh mir!
Und sag ich gleich...

Aber aus der Lücke dieser Hymne erwächst ein weiteres, ein anderes Gedicht. Um das „Weh mir“ herum notiert Hölderlin Verse, welche sich zur folgenden Strophe fügen:

Wo nehm‘ ich, wenn es Winter ist,
Die Blumen, und in der Mitte: und trunken von
Küssen tunkt ihr
das Haupt in heilignüchterne kühle
Gewässer.

Im Loch des Realen entsteht etwas Neues, wie eine Forelle, wie ein Goldfisch. Im Grunde handelt es sich um eine Art Restitution:

„Der psychotische Restitutionsversuch geht danach vom Wort selbst aus, der Psychotiker kann über das Wort wieder beginnen, auf das Objekt zu setzen. Auch dadurch, dass er Worte erfindet? Vielleicht noch besser: dass er Worte aufkommen lässt, von denen er sich treffen lassen kann? Um die verlorenen Objekte wiederzugewinnen, auch wieder zu lieben? Um über die Worte zur Liebe zu finden, einer Liebe, die auf Objekte setzt? Hierzu bedarf es wohl aber eines Hörens, der Möglichkeit einer Adressierung an den Anderen, sodass neuer Spielraum für die Worte entstehen kann.“ (Meyer zum Wischen 2007, S. 135)

So werden wir Zeugen, wie das Gedicht Hälfte des Lebens geboren wird, nämlich aus einer realen Lücke heraus. Hier also, zum Schluss, dieses vollendete Werk:

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See, Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

 

(MA, S. 445)

 


1 Freud (1894, S. 72) gebraucht bereits in seiner frühesten Arbeit Die Abwehr-Neuropsychosen den Ausdruck der Verwerfung, um eine „weit energischere und erfolgreichere Art der Abwehr“ zu kennzeichnen, die er den Psychosen zuordnet. Sie besteht darin, dass das Ich sich so benimmt, „als ob die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt nie an das Ich herangetreten wäre.“

 

Literaturverzeichnis

Evans, Dylan (2002): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant.

Freud, Sigmund (1894): Die Abwehr-Neuropsychosen. In: GW 1, S. 59-74.

Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. In: GW 2 und 3.

Freud, Sigmund (1905): Bruchstück einer Hysterie-Analyse. In: GW 5, S. 172-286.

Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse. In: GW 13, S. 73-161.

Freud, Sigmund (1923): Das Ich und das Es. In: GW 13, S. 235-289.

Hegel, Georg W. F. (2016): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Band 3. In: Werke 10. 10. Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hölderlin, Friedrich (1992-1994): Sämtliche Werke und Briefe. München: Hanser [im Text MA I-III].

Lacan, Jacques (2012): R.S.I. Das Seminar, Buch XXII. Bregenz: Lacan-Archiv.

Laplanche, Jean (1975): Hölderlin und die Suche nach dem Vater. Stuttgart-Bad Cannstadt: Fromann-Holzboog.

Moser, Ulrich (2002): „Traum, Poesie und kognitive Grammatik“. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse 56, S. 20-75.

Safranski, Rüdiger (2019): Hölderlin. München: Hanser.

Solms, Marc (2021): The Hidden Spring. New York: W.W. Norton & Company.

 

Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa/IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.