„Wir erleben das Coming-Out der Arschlochgesellschaft“
Tadzio Müller im Gespräch zu Scham, Klimakollaps und Trauer
Interviewee: Tadzio Müller
Interviewer:in: Nico Graack
Y – Z Atop Denk 2025, 5(2), 2.
Abstract: Der öffentliche Diskurs sei in den letzten Jahren „verroht“, ist oft zu hören. Bisher Unsagbares wurde sagbar: Die Neue Rechte und der Trumpismus schockieren mittlerweile kaum noch mit immer neuen Grenzüberschreitungen und Obszönitäten. Der Aktivist und Politikwissenschaftler Tadzio Müller versteht diese Entwicklung als eine kollektive „Coming-Out-Erfahrung“, die durch Schambefreiung eine ungeheure libidinöse Macht entfaltet. Im Gespräch mit Nico Graack im Februar 2025 erläutert er diese These und bringt sie in Zusammenhang mit dem Klimakollaps, Migrationspolitik und der Erfahrung des homosexuellen Coming-Outs.
Keywords: Scham, Schuld, Klimakollaps, Coming-Out, Arschlochgesellschaft, Rechtsruck, Neue Rechte
Copyright: Tadzio Müller, Nico Graack | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.10.2025
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Y – Z Atop Denk 2025, 5(10), 2
Y: Lieber Tadzio, neben deiner langjährigen politischen Arbeit in der Klima- und Queerbewegung betreibst Du seit einigen Jahren den Blog Friedliche Sabotage, wo Du dich politischen Fragen und Strategiefragen der Klimabewegung widmest. Einer der am meisten beachteten Artikel war vielleicht „Das Coming-Out der Arschlochgesellschaft“ (2023), dessen Thesen Du seither beständig weiterentwickelst. Wer hat dort ein Coming-Out und was hat das mit Arschlöchern zu tun?
Tadzio Müller: Wenn wir uns gerade den politischen Diskurs anschauen, erleben wir eine unglaubliche Verrohung. Im inhaltlichen Sinne gibt es einfach keine Fakten mehr. Ich meine, Söder sagt, die Brandmauer ist härter als jemals zuvor – Was auch immer da wieder für eine komische männliche Projektion am Laufen ist. Wir erleben, dass sich sogar Grüne irgendwie einem Diskurs hingeben, in dem sie sagen: „Ja, wir werden auf jeden Fall auch abschieben!“… Scholz genauso.
Wenn man sich anschaut, was die US-Administration gerade macht, sehen wir das Phänomen des „Vice Signalling“ : Es gibt keine Entwicklungshilfe mehr, Transleute sind jetzt nicht mehr im Militär, Flugzeugunglücke passieren, weil irgendwie Schwuchteln und Lesben – Sorry, ich bin schwul, ich darf das sagen – weil Schwule und Lesben im Air Traffic Control Tower saßen. Was ist das alles? All diese Sätze haben eigentlich keine besondere politische Rationalität, sondern was sie eigentlich darstellen, sind eine Art von Trotzreaktion von Leuten, die immer schon rassistische, patriarchale, sexistische, queerfeindliche und so weiter Positionen und Werte hatten, die ganz genuin der Meinung sind, „ich und die meinen sind mehr wert als die anderen.“ Diese Leute hatten das Gefühl, dass sie 50 Jahre lang, wenn auch nicht die Klappe halten mussten, dann sich doch zumindest ein bisschen zurücknehmen mussten, weil man einfach nicht in polite company das N-Wort benutzen oder auf der Straße meinem Ehemann und mir „Ihr Dreckschwuchteln!“ hinterher rufen darf.
Dieses Gefühl von „ich darf nicht der sein, der ich bin“, das ist interessant. Und es ist eines, dass ich als queerer Mensch sehr gut verstanden habe und auch die Dynamik, die diese Menschen gerade erleben, ist irrational in dem Sinne, dass sie eine Trotzreaktion ist – aber so ist ja auch ein Coming Out. Warum soll ich laut sagen: „Hey, ich bin schwul und stolz drauf!“? Das ist ja auch so ein bisschen irrational. Und die sagen im Grunde: „Hey, ich bin Rassist und stolz drauf!“, „Hey, ich bin Sexist und stolz drauf!“, „You can grab them by the pussy“, „Ich bin Musk und zeige einen Hitlergruß“, „Ich bin ein stolzer Faschist“. Das wollen die. Und das erleben die in den letzten Jahren, dass Du plötzlich auf der Straße rumlaufen kannst und sagen kannst: „Ja, ich bin stolz“. Du hast ein MAGA-Hat, da steht eigentlich drauf:
„Ich bin stolz drauf, ein Faschist zu sein und der Meinung zu sein, dass die USA zurück in die 1850er gehen sollten“. Das ist das Coming-out der Arschloch-Gesellschaft: dass plötzlich all diese Leute, die in 50 Jahren angeblicher linksgrüner Kulturhegemonie das Gefühl hatten, man darf nicht alle seine ekelhaften Ressentiments immer offen aussprechen und nicht alle Privilegien, die man hat, vielleicht auch ewig stabil sind – dass diese Leute jetzt das Gefühl haben: „Endlich können wir alles sagen, was wir wollen – All die Privilegien gehören legitimerweise uns!“. Daraus entsteht ein Gefühl von Selbstverständlichkeit und Befreiung, das wirklich machtvoll ist. Und das ist dieser krasse Gegenwind, den wir gerade alle erleben.
Y: Diese Erklärung für diesen Ausbruch, den wir gerade erleben, setzt ja voraus, dass die Leute schon Arschlöcher sind, sich eingeengt fühlen und jetzt endlich freibrechen können. Meinst Du, dass das wirklich diese Massendynamik erklären kann – dass alle Leute einfach schon Arschlöcher waren und jetzt endlich freibrechen?
Tadzio Müller: Nicht alle Leute waren immer schon Arschlöcher, das war ein bisschen vorschnell. Ich fange mal so an. Ich habe mich als junger Linksradikaler immer gefragt, warum die alten Linksradikalen immer gesagt haben: „Das ist die Nazirepublik, die Nazis sind nie weggegangen, es hat sich nie verändert“. Ich war immer so: „Hä, wovon reden die denn? Wir leben doch in einer halbwegs aufgeklärten, halbwegs gleichgestellten, halbwegs ökologischen Gesellschaft. Ist jetzt nicht super, kann man viel kritisieren, aber ist doch gar nicht mehr so scheiße wie früher“. Und im Grunde haben alte Linke schlicht immer gesagt: „Nein, die Nazis sind nie weg gewesen“. Klar, das war bis 68 auch so, aber dann hatte man sozusagen den symbolischen Reinwaschungsprozess der 68er.
Ich beziehe mich jetzt erst mal vor allem auf Deutschland. Deutschland hat natürlich mit der Shoah und der Ostfront mit die größten Menschheitsverbrechen aller Zeiten begangen. Es brauchte dann danach einen Selbstläuterungsdiskurs, einen Reinwaschungsdiskurs. Der war natürlich „Entnazifizierung“ – die es nicht gab. Und der war Habermas’ Verfassungspatriotismus. Wir sind jetzt das geläuterte Land. Das steht wirklich in manchen Habermas Texten und anderen. In der Zeit oder in der FAZ steht basically drin: „Wir sind jetzt eine moralische Autorität, gerade weil wir früher so schrecklich waren“.
Das ist Teil dessen, was James Scott, der Ethnograph, das official transcript der deutschen Gesellschaft nennt: Wir sind eine geläuterte Gesellschaft. Wir sind nicht mehr die mit Erster, Zweiter Weltkrieg, Ostfront, Shoah, sondern wir sind eben die Öko-Champions, wir sind die mit dem Gleichstellungsgesetz, wir sind die mit Homo-Ehe und so weiter. Aber all das ist auf der Ebene des official transcript, sozusagen der offiziellen Selbsterzählung einer Gesellschaft.
Das stimmte aber einfach nie. Unter dieser Schicht des official transcript gibt es das hidden transcript – die materielle Praxis der Gesellschaft. Das ist eine Idee, die popkulturell immer aufgegriffen wurde. Schauen wir ins viktorianische England: Warum hatten die all diese krassen Horror-Autoren, Lovecraft und so weiter? Oder die USA – David Lynch verfolgt eine ähnliche Idee, dass es oben eine ganz dünne Schicht Zivilisationen gibt und darunter eigentlich so ein brodelndes... ein ES mit Stephen King jetzt wieder gesprochen und auf diese Figur beziehe ich mich jetzt. Es sind, by the way, auch deswegen glaube ich vor allem schwarze amerikanische Feministinnen, die schon ganz früh über gesellschaftlichen und normativen Kollaps geschrieben haben, zum Beispiel Octavia Butler, weil ich glaube, wenn Du als schwarze Feministin in den USA unterwegs warst, hast Du immer verstanden, dass das nur so eine ganz dünne Schicht obendrauf gelegter Civility, sozusagen Bürgerlichkeit ist, über den immer noch total brutalen, widerwärtigen, patriarchalen, sexistischen White Supremacy-Strukturen in den USA.
So das als Hintergrund. Jetzt sehen wir: In den Wahlkreisen, wo früher die NSDAP gewählt wurde, wird heute die AfD gewählt. Die historischen Kontinuitäten sind völlig da. Das spielt sich auf der Ebene des hidden transcript ab.
Und jetzt kommt aber noch ein anderer Punkt. Jetzt kommt die ethische Überforderung. Dass es eine Differenz zwischen dem Official und dem Hidden Transcript einer Gesellschaft gibt, das ist normal. Aber je größer diese Distanz wird, desto schwieriger wird es. Und jetzt haben wir eine Zeit, wo im Grunde durch die ökologischen und globalen politischen Krisen Privilegien immer mehr unter Druck geraten. Das Privileg, mit relativ wenig Leuten in Europa zu wohnen, wird dadurch unter Druck geraten, dass mehr Leute hierher kommen wollen. Und das bedeutet, dass die Realität immer mehr Druck auf die Gesellschaften macht, sich tatsächlich so zu verhalten, wie sie es versprochen haben. Und das führt eben zu einer... wir reden von dieser „Transformationsüberforderung“ – die ist tatsächlich eine ethische Überforderung. Es ist gar nicht so die Menge der Krisen, die uns überfordert, sondern dass wir uns in all diesen Krisen jetzt gut verhalten müssen. Wir müssen die Ukraine unterstützen, wir müssen Migrant:innen nach Europa lassen, wir müssen Transmenschen akzeptieren. Das ist alles eine ethische Verpflichtung, die sich aus dem Humanismus ergibt.
Und jetzt komme ich zur Arschlochgesellschaft. Der Humanismus, der war ja immer nur die offizielle Erzählung Europas. Europa war nie ein humanistischer Kontinent. Wir haben ja immer unseren Müll anderen auf den Kopf geschüttet. Aber im Grunde ist es so, je mehr Du deinen Müll anderen auf den Kopf schüttest, desto schwieriger wird es, eine humanistische Selbsterzählung über dich selbst zu haben. Und die Arschlochisierung ist einfach das trotzige Abwerfen des residualen Humanismus, von dem wir erzählt haben, dass er uns jetzt ausmacht, nachdem wir die letzten paar hundert Jahre die Welt zerstört haben. Und jetzt sagen wir: „Ne, wisst ihr was, wir sind immer noch genau die. Europa ist in den letzten 60 Jahren nicht anders geworden nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sind immer noch die, die 1890 den Rest der Welt aufgeteilt haben und alle anderen als Untermenschen bezeichnet haben. That's still us“. So verhalten wir uns real. Und die Arschlochisierungsthese besagt im Grunde, dass es viel angenehmer ist, einfach zu sagen: „Ja, das sind wir, lass sie doch im Mittelmeer krepieren“, als sie nur tatsächlich im Mittelmeer krepieren zu lassen, was ja auch die Grünen und die Sozialdemokraten und alle anderen tun und dann irgendeine Form von Bauchschmerzen-Erzählung dazu ausbreiten. Das hat Trump gezeigt. Das zeigt auch Weidel. Diese Erfahrung der Schambefreiung. Es ist so... nein, wir sind nicht aufgeklärt. Wir sind national-egoistische Arschlöcher. Schau dir doch mal den Slogan von Olaf Scholz an. Mehr für dich, besser für Deutschland. Also besser könnte ich National-Egoismus ja nicht zusammenfassen.
Y: Ich würde gerne noch mal tiefer graben, was die Rolle des Klimadiskurses angeht. Dein Befund ist – das sage ich jetzt mal als Lacanianer: Es gibt diesen großen Anderen, der uns über die Schulter guckt, wenn wir zum Beispiel irgendwo das N-Wort sagen wollen. Das waren jetzt die Fälle, auf die Du Dich bezogen hast und bei denen wir uns in irgendeiner Form schämen oder Schuld empfinden – wie auch immer man da jetzt die Differenz macht. Aber dieser große Andere guckt uns ja auch über die Schulter, wenn wir ins Supermarktregal greifen, oder wenn wir die Ölheizung warten, oder wenn wir nach Malle fliegen, um uns mit unseren Kumpels zu besaufen. Also welche Rolle spielt da der ökologische Diskurs?
Tadzio Müller: Ich möchte zuerst eine Parenthese machen zu Schuld und Scham. Der Unterschied zwischen Schuld und Scham ist folgender. Schuld appliziert auf eine Handlung und sagt: „Diese Handlung war falsch“. Scham appliziert auf das Subjekt und sagt: „Du bist falsch“. Deswegen ist Scham auch so viel korrosiver, so viel zerstörerisch. Aber Schuld ist auch schon keine geile Idee. Beides sind im Endeffekt extrem effektive soziale Kontrolltechnologien, weil sie die Kosten der Kontrolle in das zu kontrollierende Subjekt hinein verlagern. Das Subjekt kontrolliert sich durch diese Affekte selbst.
Das war der Unterschied zwischen Schuld und Scham. So, die Frage des Ökodiskurses. Wir bringen die Welt gerade an einer ganzen Reihe von Krisenfronten an ihre Grenzen. Das sind nicht nur die ökologischen planetaren Grenzen. Es gibt auch andere Dynamiken. Ich meine, die Entstehung dieser absurden Superreichen, die momentane Struktur des internationalen Systems, die ja extrem konflikthaft wird. Also wir stoßen an allerlei reale Grenzen dafür, dass die Welt irgendwie immer besser, schöner und materiell angenehmer wird. Und wir wissen auch, dass wir die Zukunft der Menschheit gerade verkacken und zwar für die, die am ärmsten sind, zuerst. Das heißt aber auch, die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder und so weiter. Ich habe zwar keine, aber ich weiß auch, dass man das durchaus mitdenkt.
Der Ökodiskurs ist in dem Sinne zentral für die ethische Überforderung, weil in ihm dieses „Wir-haben-es-total-verkackt“ am klarsten wird. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass, wenn jetzt irgendwie China und die USA eine Balance finden, das internationale System wieder etwas friedlicher wird. Das kann man sich durchaus realistischerweise vorstellen. Man kann sich auch vorstellen, dass Elon Musk abgeschafft werden könnte – auch jenseits von Luigi Mangione, durch irgendeine Form von Besteuerung. Was man sich nicht vorstellen kann, ist, dass der Öko-Kollaps noch aufzuhalten ist. Und das bedeutet, dass in der Öko-Frage am meisten dieses „Shit, wir haben die Welt an die Wand gefahren“ deutlich wird.
Und meine These ist ja: Diese ganze Irrationalität in den politischen Debatten, die entsteht vor allem dann, wenn politische Probleme nicht mehr lösbar sind. Schau mal auf das Attentat von Aschaffenburg im Januar, wo ein Afghane ein marrokanisches Kind und einen Deutschen getötet, sowie ein syrisches Kind und zwei weitere schwer verletzte. Nach Aschaffenburg waren die einzigen politischen Sätze: „Bayern war schuld“, „Der Bund war schuld“, „Faeser war schuld“, nein, „Der bayerische Innenminister war schuld“. Wer auch immer war schuld. Wenn ein politisches Problem schon an die Wand gefahren ist, dann bleibt nur noch der Schulddiskurs. Und deswegen ist diese Schuld- und Scham-Dynamik am stärksten in der Öko- und der Klimafrage sichtbar und fühlbar, weil da das Problem halt am unlösbarsten ist.
Du musst dir jetzt wirklich vorstellen, dass Leute mit Kindern, die jetzt sagen wir mal nicht besonders klima-affin sind, die werden ja trotzdem auf einer Ebene wahrnehmen, dass das für ihre Kinder in der Zukunft schwierig wird. Sie können das aber gar nicht anerkennen, weil dann müssten sie ja allen möglichen anderen linken Quatsch anerkennen. Es bedeutet aber auch, dass sie in ihren Kindern ihr eigenes Scheitern sehen.
Erlaube mir hier einen Schlenker über die schwule Erfahrung. Es hat mal ein sehr kluger Psychologe geschrieben, dass ein Grund, warum so viele schwule Männer oder Männer, die Sex mit Männern haben, einfach sozusagen... „gebrochene“ Menschen sind… Ok, das ist viel zu hart formuliert. Aber der Grund, warum wir viel mehr mit Sucht und auch mit Mental Health-Problemen zu kämpfen haben, ist der, dass die zentrale Beziehung für einen jungen Mann die zum Vater ist. Jetzt bin ich mal ganz psychoanalytisch. So, der Vater hat aber im modernisierten Patriarchat in der Aufzucht des Jungen nur noch eine Funktion – außer das Geld herbeizuschaufeln – und das ist, dem Jungen beizubringen, was es heißt, ein Mann zu sein. Da Schwänze lutschen wollen nicht in die normale Vorstellung von Männlichkeit reinpasst, sieht der Vater im schwulen Sohn sofort und immer sein totales Scheitern. Deswegen haben wir gebrochene Beziehungen zu der Person, die unsere erste Bezugsperson sein sollte und daher auch diese häufig bekannten, starken Beziehungen schwuler Männer zu ihren Müttern, weil unsere Väter uns allein lassen. Diese Dynamik: Der Vater sieht im Sohn das eigene Scheitern, die kannst Du in der Klimafrage auf alle Familien übertragen. Wir sehen in den Migrant:innen unser Scheitern. Wir sehen in den Kindern unser Scheitern. Wir sehen in den Waldbränden unser Scheitern. Und da wir konstant mit unserem Scheitern konfrontiert werden und nicht mehr eben mit Lösungsmöglichkeiten, bleibt nur Schuld und Schaden. Deswegen ist es im Ökodiskurs am meisten ausgebildet und wird durch die zunehmende Unmöglichkeit, nicht die Klimakatastrophe wahrzunehmen, auch immer weiter eskalieren.
Y: Das setzt voraus, dass die Menschen den Waldbrand auch tatsächlich als ihr Scheitern begreifen. Willst Du denn sagen, dass das so ist? Oder würdest Du sagen, dass das eine unbewusste Dynamik ist? Weil ich glaube, die Menschen, die jetzt den Stolzmonat feiern oder was auch immer – bei denen ist klar, dass sie den Waldbrand nicht ihr Scheitern nennen würden. Aber auch die Menschen, die auf dem Weg dahin sind, den nächsten Stolzmonat zu feiern, die würden sicherlich, wenn man sie fragt, nicht sagen: „Ja ja, der Waldbrand, das ist halt was, was wir verkackt haben“.
Tadzio Müller: Okay, I'm sorry, wer Psychologie studiert hat oder Beziehungen mit Männern hat, weiß, dass einfach Leute zu fragen: „Hey, was hältst Du denn davon?“, keine Antwort hervorbringt, die irgendeine Form von Realität hat. Also, wenn ich einen erwachsenen Mann frage: „Hast Du jemals überlegt, mit einem Teenager Sex zu haben?“, wird er einfach sagen: „Nein, natürlich nicht“. Aber in der Realität haben sich die meisten von uns das zu einem gewissen Zeitpunkt vorgestellt – nicht, weil wir Pädophile sind, aber weil es da wirklich hotte 17-Jährige gibt. Aber ich würde es ja nicht sagen, weil das zu sagen würde vom großen Anderen schlecht wahrgenommen werden. Deswegen sind ja in der Verdrängungsgesellschaft auch Umfragen immer schwieriger.
Aber zweierlei, diese Scham, das Scheitern, dass man wahrnimmt, das Gefühl des Scheiterns, das irgendwo im System auftaucht, wenn man so einen Waldbrand wahrnimmt, ist natürlich nicht bewusst. That's the whole point. Es ist verdrängt. Aber es ist meiner Meinung nach da und das kann man an den irrationalen rechten Reaktionen darauf ablesen. Das ist wie Dunkle Materie: You can't see it, das ist nicht da. Aber die Effekte sind da. Du kannst die abgefuckten Reaktionen sehen, die ein verdrängendes Hirn produziert. Wenn Du dir mal die republikanischen Diskurse oder überhaupt rechte Diskurse in Klimakatastrophen anschaust... da ist so eine wilde, gequirlte Grütze dabei, aggressive Schuldzuschreibungen. Bei den Waldbränden in Kalifornien, was wurde da gesagt? Der Gavin Newsom ist schuld, der hat das Wasser den Fischen gegeben, deswegen ist das Wasser jetzt nicht in den Hydranten. Was, der Gouverneur Californians hat das Wasser den Fischen gegeben, deswegen… ?? Dude, that makes no sense at all. Jetzt eben diese Flugkatastrophe, wo Trump gesagt hat, das liegt daran, dass irgendwie Schwule und Lesben im Control Tower saßen. Diese Art von aggressivem Schuldprojektionsdiskurs, woher kommt die denn? Die kommt von einem Subjekt, dass das, was es da sieht, nicht sehen will, weil es auf einer unterbewussten Ebene eben eine Resonanz mit dem hat, was man verdrängen will, nämlich: „DAMN, we fucked that shit up“.
Also Trump wird schon verstanden haben, dass fossile Brennstoffe und die Klimakatastrophe zusammenhängen. Ich meine, der Mann ist ein Idiot, aber er ist nicht ganz dumm, der versteht schon ein paar Sachen. Der wird auch verstanden haben, dass es, wenn es heißer wird, mehr brennt. Die Dinge sind halt trockener und es brennt leichter. Aber das darf er ja nicht anerkennen. Also jedes Mal, wenn er dann diese Flammen sieht, muss er das Wissen ob seines eigenen Scheiterns verdrängen. Das kenne ich aus meinen Beziehungen mit Männern: Wenn man selbst was verkackt hat, dann ist das die Reaktion, in den Gegenangriff zu gehen. Und das ist genau das, was man bei jeder Klimakatastrophe von den Rechten sieht. Also kann ich davon ausgehen, dass sogar die krassesten Klimawandelleugner:innen auf einer unterbewussten Ebene verstehen, was da passiert. Daher kommt ja ihre aggressive, verdummte Leugnung. Ja, also meine Rechtfertigung ist der klassische psychoanalytische Weg: an den Symptomen ablesen und davon auf Unbewusstes schließen.
Y: Wir waren jetzt sehr viel bei der Geschichte: Wie sind wir zu dem Punkt gekommen, dass uns jetzt der große Andere auf diese Art und Weise über die Schulter schaut? Und dazu möchte ich noch einen letzten Punkt machen, bevor ich dann über die Scham als solche sprechen möchte. Was hältst Du von der in der ökologischen Bewegung verbreiteten These, dass diese Individualisierung des ökologischen Diskurses und die Abwetzung der Verantwortung auf das Individuum auch eine bewusste Strategie der fossilen Unternehmen ist. BP hat den ökologischen Fußabdruck erfunden und so fort. Bis zu welchem Grad würdest Du sagen, dass diese Gestalt des großen Anderen, die uns jetzt gerade begegnet und die diese Scham erzeugt, durchaus auch bewusst konstruierter Gegenangriff der fossilen Seite ist?
Tadzio Müller: Ich habe einen Großteil meines politischen Lebens damit verbracht, gegen fossile Konzerne zu kämpfen und I don't want to let them off the hook. Und ich möchte auch nicht die Rolle von Netzwerken leugnen. Da gibt es ja auch Bücher zu... Merchants of Doubt (Händler des Zweifels), also Netzwerke von Klimaleugner:innen, fossilen Lobbys, neoliberalen Thinktanks. Diese Netzwerke kennen wir, sie sind wohl dokumentiert, die Effektivität ihrer Arbeit auch. Das will ich also gar nicht verneinen. Und dass die Individualisierung des Klimadiskurses auch ein strategischer Akt der Fossilindustrie war, das ist historisch alles extrem gut belegt. Also das ist wichtig. Das ist keine Gegenrede.
Ich möchte aber in der Debatte gerne auch unsere Aufmerksamkeit darauf richten, was die Menschen an der Basis eigentlich wollen. Denn es gibt die Tendenz bei Linken, den Menschen eine Art falsches Bewusstsein zu unterstellen. Also die Leute sind für den fossilen Kapitalismus, weil die fossilen Lobbys es ihnen gesagt haben. Die Leute machen keinen Klimaschutz, weil die fossilen Lobbys irgendeinen blöden Scham-Individualisierungsdiskurs gebaut haben. Ich komme aus einer theoretischen und politischen Tradition – dem post-operaistischen Marxismus für die Leute, die sich mit solchem Quatsch auskennen – in der wir erst mal nicht fragen: „Was kommt denn von oben?“, sondern wir nehmen auch die Subjekte an der gesellschaftlichen Basis und deren Begierden und Wünsche und Ängste ernst. Jetzt verzeih mir, wenn ich kurz ein Marktmodell verwende. Klar, sozusagen auf dem Diskurs- und Ideologiemarkt gibt es ein breites Angebot von fossilen Lobby-Lügen und von neoliberalen Think-Tank-Erzählungen. Aber die Nachfrage, die Käufer:innen im Ideologie- und Diskursmarkt, die Konsument:innen... man muss ja erklären, warum sie diesen Diskurs wählen. Warum ist der so attraktiv? Warum ist ein individualisierender Scham-Diskurs so attraktiv?
Interessanterweise ist er der, der Passivität am allerleichtesten macht. Der individualisierende Scham-Diskurs, der gibt dir gar keine Möglichkeit, das Problem zu lösen. Der gibt dir nur einen unmöglichen Standard, zu dem Du dich verhalten kannst und dich dann schlecht fühlen kannst, weil Du ihn nicht erreichen kannst – which has nothing to do with changing the world. Das Einzige, was hier passiert, ist, dass sich deine emotionale Wahrnehmung verändert.
Und ich habe schon oft festgestellt, dass in Konflikten, wo Leute... Sorry, ich denke immer an meine Ex-Freunde, also nicht an alle, an manche von ihnen... wo meine Ex-Freunde viel Scheiße gebaut haben, aber auch gar nicht mit der Scheiße aufhören konnten, weil sie selbst traumatisiert waren. Hier ist es dasselbe: Deutschland kann ja nicht einfach das Klima schützen wegen der Autoindustrie und so weiter. Wenn sie wissen, dass sie einen Fehler gemacht haben, dann gibt es drei Modi darauf zu antworten: Verantwortung, Schuld oder Scham. Also Du kannst sagen: „Ich übernehme das verantwortlich und rational und schau mir an, was ich machen kann“. Aber Du musst dann ja wirklich was machen. Das Leichteste, um nichts zu machen ist – und das kennt jede Person, die Männer gedatet hat: Ja, ich weiß, ich habe es verkackt, ich bin ein totaler Nichtsnutz, ich bin einfach schrecklich und schlecht und Du solltest mich verlassen und ich bin einfach, nein... oh mein Gott, so schlecht.
Das mag jetzt etwas merkwürdig anmuten. Ich nutze diese Beziehungskonflikte nicht bloß als Analogien, sondern als Analyse, weil ich sage, dass im Grunde das Gespräch zwischen der Gesellschaft und der Klimabewegung eine Art Kommunikationsbeziehung ist. Wir erinnern die Gesellschaft: „Du hast gesagt, dass Du Klimaschutz machen willst“, und die sagt dann immer: „Ja, ich will, aber ich kriege es nicht hin“. Und dann ist Scham interessanterweise das Einfachste... dann stellst Du dich einfach hin und sagst: „Ja, ich habe es verkackt, ich kann das Problem nicht lösen, ist halt so“. Und noch mal, das kenne ich wirklich aus ganz vielen Konflikten mit Chefs, mit Ex-Partnern, das kennt man aus Beziehungen: Wenn jemand ein Problem nicht lösen kann und immer wieder darauf hingewiesen wird, dann ist die häufigste Reaktion, dass sie nicht das Problem irgendwann wirklich lösen, sondern sagen: „Ja, es ist scheiße gelaufen, ist halt so“.
Ich glaube also, dass diese Scham und die Individualisierung, die ist nicht primär das Resultat strategischer Intervention von oben, sondern ergibt sich tatsächlich aus der Tatsache, dass wir eigentlich alle wissen, dass wir ganz oben auf einer Pyramide – also als Menschen, die in Deutschland leben – oben auf einer Pyramide von Ausbeutung, Zerstörung und Mord leben und das auch nicht ändern wollen, weil wir davon relativ gut leben. Und diese materielle und psychologische Aufstellung ist meiner Meinung nach der Grund, warum es diese ganze Scham und Schuld gibt. Dass das dann natürlich massiv strategisch verstärkt wird durch die fossilen Lobbys, weil es eben zur Inaktion antreibt, ist völlig klar. Aber im Kern kommt es nicht von oben, sondern von unserer unterbewussten Wahrnehmung, dass die Art und Weise, wie wir als reiche Nordeuropäerinnen in der Welt sind, eigentlich ein moralisches Unding ist. Dass wir so, wie wir sind, eigentlich nicht existieren dürften. Daran kann keine individuelle Person was ändern, aber dafür kann sich jede individuelle Person zu Tode schämen.
Y: Jetzt hast Du vor allem die Scham benutzt als einen einfachen Ausweg für die Subjekte, die angesprochen werden von den Herausforderungen der Zeit. Es gibt ja auch die andere These zur Scham, die zum Beispiel bei Robert Faller in seinem Buch Zwei Enthüllungen über die Scham (2022) auftaucht: Wenn wir jetzt gerade an Flugscham und solche Geschichten denken. Dort wird die Scham gewissermaßen als eine Form von Luxusprodukt behandelt, wie eine teure Armbanduhr, die ich zur Schau stelle damit etwas signalisiere. In diesem Fall: Seht her, ich bin einer von den Guten, ich schäme mich.
Tadzio Müller: Ein Taktischer Diskurs also, damit ich Virtue Signaling machen kann, damit ich mich dann besser fühlen kann. Das mag bei einigen so sein, aber das ist ja keine wirkliche Scham. Das ist dann so ein spielerisches Anerkennen davon, dass man ja was schrecklich gemacht hat. Aber das ist dann verbunden mit einem: „Aber ich mache es jetzt ja schon besser“. Das würde ich sagen, ist gar keine Scham.
Ich würde das tatsächlich nochmal anders angehen. Was in der Flugscham-Offensive impliziert wurde, war, dass man Scham auch als progressives Transformations-Werkzeug nutzen kann. Das war eigentlich das, was in diesem Diskurs steckte. Ja, es gab auch das Virtue Signaling: „Ich fliege jetzt nicht mehr“. Aber der diskursstrategische Punkt an der Flugscham-Kampagne war: shaming people into good behavior. Darum ging es ja eigentlich. Und das ist das, was ich so absurd finde, weil Scham eine grundsätzlich regressive Emotion ist. Ein sich schämendes Subjekt, das ist infantil, irrational und kann eigentlich kaum noch vernünftig angesprochen werden. Außer durch eine sozusagen parentale, sprich faschistoide Führungsfigur, die eine Form von Absolution erteilt.
Das Virtue Signaling ist insofern relevant, als es jetzt zu einer Epidemie von Vice Signaling führt. Die Arschlochisierung, die ich vorhin angesprochen habe, die ist das Gegenteil von Virtue Signaling. Also Virtue Signaling ist: „Ich fliege, aber ich schäme mich ein bisschen dafür“ – man fliegt ja trotzdem. Vice Signaling ist: „Ich fliege und finde es geil!“. Scheiß drauf. Dieselfahrer-Pride. Vielflieger-Pride. Männer, die ihre Frauen schlagen-Pride.
Y: Bevor wir dazu kommen, was man denn jetzt tun kann und was es für kollektive Befreiungsmöglichkeiten aus dieser Scham gibt, noch eine Frage mehr zur Scham als solcher, aus deiner persönlichen Erfahrung. Du hast in deinen Texten das bekannte Bild des Schrankes benutzt – in the closet. Vielleicht kannst Du an dem Bild mal versuchen zu beschreiben, was Scham mit einem Subjekt macht. Also wie fühlt es sich an im Schrank? Wer sperrt einen da rein und wie kommt man raus?
Tadzio Müller: Danke, das ist eine wunderschöne Frage, die mir so noch nie gestellt wurde. Also das Ganze beginnt damit, dass es etwas in dir gibt, dass, wenn Du es offen auslebst, in irgendeiner Form negativ sozial sanktioniert wird. Und ich meine jetzt noch gar nicht rechtlich sanktioniert, sondern, dass Leute irgendwie sagen: „Was ist das denn? Was willst Du denn da? Wie bist Du denn da?“. Ablehnung also. Jeder Mensch kennt Ablehnung. In diesem Fall ist es eine Ablehnung, die nicht nur sagt: „Das ist weird“, sondern: „Wie bist Du denn drauf?“. Also die dich fundamental in Frage stellt. Das bedeutet, dass Du Teile von dir dann versteckst. Nehmen wir an, Du arbeitest in der Bank und Du versteckst, dass Du Linksradikaler bist. Oder Du bist eben in einem Fußballteam, wo so richtige Hetero-Jungs sind und Du bist schwul und Du willst nicht, dass die Angst haben, dass wenn Du mit ihnen duschst, Du ihnen auf den Schwanz starrst. Also verheimlichst Du vor deinem Fußballverein, dass Du schwul bist. Je näher und größer diese Kontexte sind, in denen Du verheimlichst, wer du bist, desto schlimmer wird es. Es kann sein, dass Du es in deiner Familie nicht erzählst – ich bleibe erst mal beim Schwulsein. Es kann sein, dass Du es deiner Familie nicht sagst. Oder – was leider ganz oft so ist – Du bist mit einer Frau verheiratet und sagst es ihr nicht. Also ich war acht Jahre mit einer Frau zusammen und am Ende unserer Beziehung war ich wirklich ziemlich schwul. Und das habe ich ihr auch nicht gesagt.
Also in the closet bedeutet, dass ein Teil von dir weggesperrt ist und dass Du den wegsperren musst, weil, wenn Du ihn zeigst, andere Menschen, die Du liebst und respektierst, dir zeigen, dass Du schlecht bist. Das bedeutet, dass Du ein gespaltenes Verhältnis zu dir entwickelst, dass ein Teil von dir halt schlecht ist – der ist gefährlich. Wenn Du ihn rauslässt, wirst Du sanktioniert, vielleicht sogar eingesperrt, wenn schwuler Sex illegal ist. Was dann auch wiederum dazu führt, dass sich das sozusagen Bahn brechen kann. Also wer Brokeback Mountain gesehen hat: Das ist eine ganz tragische Geschichte. Zwei schwule Cowboys und einer von denen ist auch verheiratet, aber der ist ja trotzdem schwul. Also geht er irgendwo zu irgendwelchen Callboys auf der Straße und lässt sich da durchvögeln und irgendwann raubt er einer von denen ihn aus und ersticht ihn… das ist jetzt ein etwas dramatisches Beispiel. Der Punkt ist: Das ist Scham, wenn Du lernst, dich für das, was Du bist und wie Du bist, schlecht zu fühlen. Dass das, was Du bist und wie Du bist, einfach fundamental falsch ist. Das ist Scham. Und das schafft eine innerlich gespaltene Persönlichkeit. Und das, was Du weggesperrt hast, das wird als The Closet bezeichnet.
Und jetzt diese Coming-out-Metapher. Zum Beispiel bei mir Anfang der Nuller im globalen Aktivismus, da gab es kaum Schwule. Und plötzlich sah ich ein offenes, schwules Paar. Man hat da zwei coole, jüngere Aktivisten, die waren einfach ein heißes, schwules Paar, die mega viel gerockt haben und nach einem coolen Vortrag erst mal einander wild abgeknutscht haben. Und ich war so… holy shit! Du spürst so eine Resonanz, die aber auch gleichzeitig neidvoll ist. „Wow, das ist so toll, aber ich wäre gerne auch so!“. Und dann musst Du dir vorstellen, dass Du das auch machst. Plötzlich sagst Du auch: „Ich bin so“. Du knutschst auch mit deinem Typen auf einer Bühne rum. Und plötzlich applaudieren dann alle. Weil ganz viele von denen entweder auch queer sind oder queerfreundlich.
Also das passiert jetzt. Wofür Du dich geschämt hast – N-Wort sagen oder homophob sein, all diese rechten Sachen. Plötzlich sagst Du die, Du machst die, Du bist, Du lebst das, was so lange im Schrank war. Und plötzlich findest Du dafür Zustimmung und nicht Ablehnung. Das hatte ich zuletzt 2016: Ich habe mehrere Jahre lang meinen HIV-Status versteckt, ich bin HIV-positiv. Am Welt-AIDS-Tag 2016 habe ich mich auf Facebook geoutet... für etwas, wofür ich mich zuvor so geschämt hatte, dass ich es meinen besten Freund:innen nicht erzählt hatte. Und in dem Moment des Outings habe ich buchstäblich von den Philippinen bis Kanada, von Argentinien bis Russland positives Feedback bekommen – von Leuten, die mir gesagt haben, wie stark das ist, wie cool und wie sehr sie das bewundern. Ich habe den ganzen Tag vor Glück und Befreiung geheult. Ich saß einfach zu Hause vor dem Computer. Das ist einer der stärksten Momente meines ganzen Lebens gewesen. Und das ist die Erfahrung von Schambefreiung, die jetzt im Kern des rechten Projekt liegt. Das gibt dem diesen krassen Drive.
Ich glaube da ist tatsächlich der Verweis auf diese etwas popkulturalisierten Stadien der Trauer sehr nützlich. Ich habe vorhin gesagt, dass im Öko-Diskurs die Scham vor allem entsteht, weil wir die Welt kaputt gemacht haben und nichts getan haben, um das zu verhindern. Und weil wir das ja schon seit Jahrzehnten wissen, ist es eben nicht nur schuldhaft – we fucked that up – sondern schamhaft… wenn man eine Deadline nicht einhält – das kenne ich aus meiner Autorenarbeit – je länger man sie nicht einhält, desto schlechter fühlt man sich, desto mehr will man sich damit nicht mehr befassen. Und die Deadline haben wir jetzt schon seit 50 Jahren verpasst. Und das heißt: Es gibt keine Lösung der Schamproblematik im Rahmen eines Diskurses, der immer noch sagt: „Lass uns das Klima schützen!“. Also so blöd das klingt, aber es gibt keinen Klimaschutzdiskurs mehr, der nicht Scham auslöst. Deswegen sage ich auch, dass Klimaschutz-Aktivismus einfach vorbei ist, der geht schlicht nicht mehr.
Der einzige Weg, jetzt mit der Scham umzugehen, ist, sich damit emotional auseinanderzusetzen, was diese Scham auslöst: Also das Ende der Welt. Das an die Wand gefahren haben der Welt. Da braucht man einen emotionalen Prozess der Akzeptanz. Welche Stadien der jetzt genau durchläuft – Leugnung, Bargaining, bla bla bla – ist gar nicht mein Punkt. Aber der progressive Umgang damit wäre eine Art gesellschaftlicher Trauerprozess auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen. Ein direktes: „Hey, wir müssen uns mal mit dieser Realität auseinandersetzen, die wir gerade nicht anschauen, weil sie bei uns so viel Scham auslöst“. Dann stelle ich mir quasi eine Großgruppentherapie vor, wo der eine sagt: „Hey, ich wusste schon... ich weiß es ja seit 40 Jahren… ich habe trotzdem angefangen bei RWE und Vattenfall und schieß mich tot zu arbeiten. Das war mein Job, aber ich fühle mich total scheiße damit. Und ich weiß, dass ich jetzt dazu beigetragen habe, dass die Welt kaputt geht. Ich bin daran nicht schuld, aber ich weiß, dass ich da irgendwie mitgemacht habe. Und das fühlt sich kacke an“.
Dafür müsste man sichere Räume schaffen, in denen so etwas artikuliert werden kann. Ich glaube, dass die auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene gerade nicht herstellbar sind – nicht in dieser krassen rechten Welle. Vielleicht gibt es die in zehn Jahren. Aber auf einer kleineren Ebene kann ich mir das vorstellen: Es gibt es jetzt diese Post-Klimabewegung, die sich als „Kollapsbewegung“ erzählt. Die sagt: „Genau das wollen wir mit euch machen. Wir wollen anerkennen und akzeptieren, dass wir das an die Wand gefahren haben, dass es da keinen Weg beim Klimaschutz nach vorne gibt. Und dann wollen wir die Situation, wie sie ist, gemeinsam verstehen und da drin handlungsfähig werden und trotzdem noch versuchen, ein bisschen was von diesem humanistischen Quatsch, den wir dann doch gerne immer noch glauben, umzusetzen“. Das ist der Weg zur Schambefreiung, der geht nur durch die Akzeptanz. Und da kann man auch nicht gleich zur Lösung springen von wegen „Oh, jetzt mache Katastrophenhelfer“. Da muss man sich erst mal mit dem, was man verdrängt, auseinandersetzen, so schwer es ist.
Y: Einen Brocken will ich dir noch hinschmeißen. Einfach nur eine Beobachtung... Was mir persönlich als altem Hippie-Revoluzzer auch auf den Sack geht, ist, dass in dieser aktuellen Schamlosigkeits- oder man könnte ja auch sagen Unverschämtheits-Offensive der neuen Rechten…
Tadzio Müller: Daher kommt der Begriff Unverschämtheit!
Y: Genau, und es ist wirklich eine Offensive der Unverschämtheit, was Du eingangs als „Verrohung“ bezeichnet hast. Was mich daran persönlich wurmt, ist, dass das ja gerade seit den 68ern eigentlich die Figur des Linken oder des Revoluzzer ist: bewusst und inszeniert unverschämt zu sein. Und deswegen können sich jetzt Leute wie Poschardt als die großen Revoluzzer fühlen, weil sie jetzt diejenigen sind, die unverschämt sind. Die Frage ist, gibt es noch eine Möglichkeit, die Unverschämtheit positiv zurückzugewinnen?
Tadzio Müller: Weil das eine so schwierige Frage ist, muss ich da jetzt erst mal ganz direkt von meiner Erfahrung ausgehen, da habe ich noch keine breiteren Gedanken dazu… Also ich versuche schon seit geraumer Zeit einen Diskurs an den Start zu bringen, der Sachen klar benennt. Ich sage: „Wir sind eine Arschlochgesellschaft!“, nicht irgendwie: „Wir haben Bauchschmerzen, mal abzuschieben“, sondern „Arschlochgesellschaft“. Ich glaube, dieses Unverschämte liegt auch teilweise im Benennen. Also zum Beispiel, wenn der Poschardt sagt: „Die Mitte hat doch gar keine Ahnung, die lügt sich nur in die Tasche, die wollen doch genauso abschieben wie die AfD, nur eben ohne die AfD“, dann hat er ja damit recht! Ein wichtiger Schritt vorwärts für linksgrüne Kontexte wäre tatsächlich, Dinge auch mal wieder klar zu benennen.
Also eine Sache merke bei der Lesereise, die ich mit meinem Buch gerade mache, wo es ja auch um Kollaps und Akzeptanz und so weiter geht: Auch da drin gibt es schon eine Schambefreiungsdynamik. Endlich kann man mal offen über den Kollaps reden. Endlich muss ich nicht diesen ganzen „Ja, das kriegen wir mit dreieinhalb Windrädern irgendwie noch wieder eingefangen“-Bullshit schlucken. Ja, diesen Bullshit, auch endlich „Bullshit“ zu nennen. Wir können auch, indem wir einfach mal anfangen, die Realität so zu benennen, wie sie ist, einen Teil dieses Schambefreiungseffekts wieder für uns reklamieren.
Eine zweite Sache – und das wird jetzt sehr kompliziert. Ich glaube, dass ein Teil der Schambefreiung auch entlang der Gewaltfrage auftaucht: Wir wissen, also Du und ich wissen, dass unsere Leben hier im globalen Norden auf erheblich viel Gewalt aufbauen. Die machen nun nicht wir, die machen andere in unserem Namen für andere. Das heißt: Gewalt ist ein täglicher Teil unseres Lebens, aber er fällt aus unserem Blickfeld raus. Und wir durchbrechen auch eine Schambarriere, wenn ich sage: „Es ist richtig, einem Nazi aufs Maul zu hauen. Wenn Elon Musk vor dir steht und den Hitlergruß zeigt, tritt ihm gerne mit Anlauf in die Klöten. Dann muss er nämlich auf jeden Fall seine rechte Hand runternehmen“. Das muss man sich dann bildlich vorstellen.
Im Grunde haben wir uns als linke und ökologische Kontexte hardcore angepasst, in der Praxis und im Sprechen – weil wir immer dachten, wir können die Mitte gewinnen. Und ich glaube einfach mal, wir werden ein bisschen rotziger werden, ein bisschen militanter werden, zumindest im Diskurs, aber teilweise auch im Auftreten. Und trotzdem müssen wir wissen, dass dieser Schambefreiungs-Affekt momentan immer eher die Rechten antreiben wird. Die bürgerliche Gesellschaft hat ihre eigene Arschlochigkeit bisher vor allem über Scham kontrolliert. Genauso hat es hier funktioniert. Und das bricht gerade auf – That's not really up to us. Die Frage ist eigentlich eher, wie wir andere Formen von Befreiungsaffekten für uns generieren können. Aber da sind wir gerade noch am Anfang. Und in Richtung Handlungsfähigkeit in der Katastrophe... darüber reden wir vielleicht ein andermal.
Y: Darüber reden wir ein andermal, ja. Es hat mir großen Spaß gemacht, ich danke dir!
Interviewee: Tadzio Müller, Dr. phil., ist Politikwissenschaftler und ehemaliger Referent für Klimagerechtigkeit und internationale Politik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Globale Politische Ökonomie in Heidelberg, Boston und an der University of Sussex, wo er 2007 in Internationalen Beziehungen promovierte. Er engagiert sich seit langem in der Klima- und Alter-Globalisierungsbewegung, gründete die Gruppe „Ende Gelände“ gegen die Förderung und Nutzung von Braunkohle in Deutschland mit und war einer der ersten Organisatoren von Klimacamps in Deutschland. Daneben setzt er sich für die Belange queerer Menschen und HIV-Positiver ein. Von ihm erschien zuletzt Zwischen friedlicher Sabotage und Kollaps. Wie ich lernte, die Zukunft wieder zu lieben (2024).
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Interviewer:in: Nico Graack hat Philosophie und Informatik in Kiel und Prag studiert. Derzeit bereitet er seine Promotion zu Lacans Logik und ihrer Interpretation in der Ljubljana Schule vor. Daneben arbeitet er als freier Autor und Journalist, Beiträge von ihm erschienen u.a. in Jacobin, analyse&kritik, Philosophie Magazin und Deutschlandradio. Er engagiert sich in verschiedenen Teilen der Klimabewegung. Sein erstes Buch (IPPK-Verlag) erschien 2023.
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