Ulrike Bondzio-Müller
Y – Z Atop Denk 2024, 4(5), 2.
Originalarbeit
Abstract: Ausgehend sowohl von Texten Freuds und Lacans, wie auch inspiriert durch die psychoanalytische Praxis, geht die Autorin der Frage nach, welche Bedeutung der Buchstabe und das Hören von Buchstäblichkeit ein kreatives Moment psychoanalytischer Deutung werden kann.*
Keywords: de Saussure, Freud, Lacan, Lalangue, Traumdeutung à la lettre
Copyright: Ulrike Bondzio-Müller | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.05.2024
Artikel als Download: Buchstabe und Buchstäblichkeit
Im Zusammenhang des Themas vom Buchstaben und der Buchstäblichkeit als mögliche Momente psychoanalytischer Deutung assoziieren sich Ihnen (wie mir) vermutlich sowohl bei Lacan als auch bei Freud verschiedene Textstellen, in denen vom Kreuzworträtseln im Besonderen und vom Rätseln im Allgemeinen die Rede ist.
So etwa in jenem Motto, das sich inmitten des Aufsatzes von Jacques Lacan mit dem Titel Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse von 1953 über jenem II. Abschnitt findet, in dem es um Symbol und Sprache als Struktur und Grenze des psychoanalytischen Feldes geht? Dieses Motto, zugleich eine Aufforderung und nahezu ein didaktisches Konzept – lautet: „Lösen Sie Kreuzworträtsel!“ Dahinter in Klammern: „Ratschläge an einen jungen Psychoanalytiker“ (Lacan 2016a, S. 313). Es ist – soweit mir bekannt – nicht geklärt, ob Lacan selbst einst der junge Psychoanalytiker war, an den der Ratschlag erging – oder, ob er jener Ratgeber gegenüber dem, als jung bezeichneten Psychoanalytiker gewesen ist.
Wie auch immer. Ein Kreuzworträtsel ist dadurch definiert, dass Buchstaben in senkrechter wie horizontaler Richtung als Lösung auf eine Rätselfrage in den Rahmen eines Feldes einzutragen sind. Dabei entsteht durch die sich kreuzenden Buchstaben ein – bei vollständiger Lösung – geschlossenes Wortgeflecht.
Bei Freud findet sich in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten eine Fußnote (Freud, 1904b, S. 31 f.), in der er eine Verbindung des Rätsels zum Witz herstellt, für die er sich auf die, von Franz Brentano erfundenen, DAL-DAL-Rätsel bezieht. Dort wird die Silbenanzahl in Worten mit mindestens doppelter Bedeutung, durch die drei Buchstaben DAL ersetzt. Freud gibt dafür ein Beispiel im Wiener-Idiom, in dem Brentano selbst zum Gegenstand des Rätselns wird: „Ein Kollege des Philosophen übte eine geistreiche Rache, als er von der Verlobung des in reiferen Jahren stehenden Mannes hörte, indem er fragte: Daldaldal daldaldal? (Brentano brennt-a-no?)“.
Wovon ich nicht sprechen werde
Zum einen: Ich werde nicht ausdrücklich sprechen von Lacans Verwendung jener Buchstaben, die er hernimmt, um seine theoretischen Überlegungen und Konzepte zu entwickeln, zu illustrieren, zu plausibilisieren. Er verwendet dafür bekanntlich einige, so z. B.: groß und klein ‚S‘, groß und klein ‚A‘, groß und klein ‚Phi‘, Alpha, Omega usw.
Es wird mir also nicht darum gehen darzustellen und zu erläutern wo, wie und warum Lacan diese Nomenklatur von Buchstaben für seine Ausführungen in den Écrits und in seinen Seminaren verwendete. Mir geht es im Rahmen des Themas Deutung, mit dem Oberthema ‚Kunst der Technik‘ darum, inwiefern es in der psychoanalytischen Praxis, in der psychoanalytischen Arbeit mit dem Buchstaben und der Buchstäblichkeit zu tun gibt, zu tun geben kann.
Zum anderen: Auch wenn wir bei Freud und in Lacans Seminaren sowie seinen Texten der Écrits mit der Bedeutung des Buchstabens/der Buchstaben im Zusammenhang der Mystik in Berührung kommen, lasse ich diesen Aspekt aus. Nicht weil er unspannend wäre, sondern weil sich damit ein weiteres, anderes Feld öffnete, das zu bearbeiten hier ein anderes Thema und damit einen ganz anderen Beitrag innerhalb der Technikreihe bedeuten würde. Ich meine das weite Feld der Buchstabenmystik der Kabbala und der Bedeutung des Buchstabens im Talmud.
Obsession? Übertreibung?
Einen weiteren Gedanken in Form eines kleinen Erfahrungsberichts möchte ich voranstellen: Während ich mit der Erarbeitung dieses Vortrags beschäftigt war und zuweilen, wenn ich Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher psychoanalytischer Schulen und Denkrichtungen erzählte, dass ich mich grad (mal wieder) intensiver mit dem Buchstaben in der Psychoanalyse befasse, erntete ich die unterschiedlichsten Reaktionen. Diese reichten von völligem Unverständnis bis hin zu der Vermutung (wenn nicht Unterstellung), ich sei nun wohl doch einer technischen Obsession verfallen, deren Gegenstand ja kleinteiliger kaum sein könne.
Wie viele andere Aspekte und Themen, die in dieser Reihe zur Deutung schon beleuchtet wurden und noch werden, sind der Buchstabe und die Buchstäblichkeit nur zwei weitere, unter eben anderen.
Aber ja, mich sprangen, das sei zugestanden, unter der Beschäftigung mit diesem Vortrag die Buchstaben im Sprechen der Analysant:innen mehr an, fielen mir mehr auf, indem sie gewissermaßen aus dem Gesprochenen herausfielen.
Mit einer Obsession und mit nur einer Obsession allein schon mal gar nicht, ist keine Psychoanalyse zu betreiben. Andererseits: Obsessionen bergen zumeist Momente von Übertreibungen in sich. Und diese wiederum sind, was Adorno als das einzig Wahre an der Psychoanalyse zu identifizieren meinte. (vgl. Adorno 1989, S. 56).
Innerhalb von Seminar III – Die Psychosen, datiert auf den 16. Mai 1956, findet sich anlässlich des hundertsten Geburtstags Freuds ein Vortrag Lacans mit dem Titel Freud im Jahrhundert. Dort bekennt sich Lacan auf besondere Art und Weise, nämlich eine die am Buchstaben hängt, zu Freud. In diesem Bekenntnis mag, wer will, Obsession und Übertreibung gleichermaßen erkennen:
„Freuds Originalität, die unser Gefühl verwirrt, aber allein erlaubt, die Wirkung seines Werkes zu verstehen, besteht im Rückgriff auf den Buchstaben. Das ist das Salz der Freudschen Entdeckung und der analytischen Praxis. Wenn davon nicht grundlegend etwas bleiben würde, würde von der Psychoanalyse schon lange nichts mehr bleiben. Alles rührt von da her.“ (Lacan 1997, S. 284).
Mit meinen folgenden Gedanken möchte ich versuchen, das Hören der Buchstaben im Sprechen der Analysant:innen näherzubringen und damit den Weg zu einer Buchstäblichkeit zu beschreiben, die für die psychoanalytische Arbeit nicht das non plus ultra ist, aber eine Bereicherung unter anderen sein kann. Und eine letzte Vorbemerkung: Es schadet nicht, wenn Sie meinen Ausführungen mit einem anderen Wort für Buchstabe und dessen Etymologie im Hinterkopf folgen. Gemeint ist das Wort LETTER:
Letter leitet sich ab von französisch lettre, dies wiederum hängt am lateinischen littera für Buchstabe. Dass es bei Lacan im Zusammenhang von lettre nicht nur um den Buchstaben, sondern auch um einen Brief geht, darauf wurde an anderer Stelle schon hingewiesen: „Das französische lettre kann, ähnlich dem englischen letter, sowohl Brief als auch Buchstabe, Sendung, Schreiben, Drucktype, Zeichen, Zuschrift oder weiteres bedeuten“ (Lacoue-Labarthe/Nancy 2018, A. d. Ü. S. 17). Mehr noch: in lettre kann etwas anders gesprochen l’être – das Sein hörbar werden, oder anders betont lettré – gebildet/belesen sein. Von dieser Facette wird am Schluss meiner Ausführungen noch einmal die Rede sein.
So steht Buchstabe, der Buchstabe bei Lacan für die Materialität des Diskurses, ist selbst nicht sinnvoll, trägt aber Sinn und steht damit für eine grundlegende Haltung Lacans hinsichtlich des psychoanalytischen Diskurses, die davon ausgeht, nicht alles verstehen zu wollen oder zu können.
Mit diesen Hinweisen befinden wir uns nun schon ein Stück weit im Buchen-stab-wald1, den ein wenig zu durchdringen ich mich jetzt auf den Weg machen werde.
Lacan mit de Saussure
Lacan wendet sich etwa 1950 dem Werk des Linguisten Ferdinand de Saussures zu, über dessen Cours de linguistique générale (deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft) er 1956 sagen wird, dass diese, durch seine Schüler initiierte, grundlegende Veröffentlichung drei Vorlesungen vereint, „[…] um eine dieses Namen würdige Lehre weiterzugeben, das heißt, die man nur über ihre eigene Bewegung zum Stillstand bringen kann“ (Lacan 2016a, S. 587).
De Saussure positionierte onto- wie phylogenetisch die gesprochene über die geschriebene Sprache, da die gesprochene Sprache (das Sprechen) zeitlich vor der geschriebenen zu situieren sei.
„Die Sprache ist erforderlich, damit das Sprechen verständlich sei und seinen Zweck erfülle. Das Sprechen aber ist erforderlich, damit die Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gegebene Faktum“ (de Saussure 2002, S. 23), schreibt de Saussure.
Daraus ergibt sich für ihn im Weiteren eine dreifache Differenzierung des deutschen Begriffs ‚Sprache‘ – wie in Sprach-Wissenschaft, die Lacan in der ihm eigenen freien Verwendung übernommen hat:
- Langage als die menschliche Sprache, das biologisch/physiologische Vermögen des Menschen zu sprechen; – also unsere Artikulationsfähigkeit.
- Langue verweist auf ein Sprachsystem im Sinne einer bestimmten Einzelsprache wie Französisch oder Deutsch, als ein abstraktes System von Regeln, aber auch auf innersprachliche Systeme (Lautsprache -Gebärdensprache); Langue meint Sprachkompetenz, Sprachbesitz – das Vermögen eine bestimmte Sprache verwenden, sprechen und verstehen zu können.
- Parole ist das Sprechen, also der konkrete Akt des Sprachbenutzers, der spezielle Sprachgebrauch; kurz der Sprechakt (vgl. de Saussure 2022, S. 9 ff.).
Der langue ist bei Lacan vor allem in lalangue (in einem Wort, zusammengeschrieben) als jenem Bereich von Sprache zu begegnen, der durch Lautbeziehungen, Lautähnlichkeiten und Vieldeutigkeiten bestimmt ist. Für das Thema des Buchstabens und der Buchstäblichkeit ist lalangue zentral, weil sich in ihr das Netz der Buchstaben aufspannt, wie Lacan sagt.
In einem der, von Jacques-Alain Miller unter dem Titel Ich spreche zu den Wänden versammelten, drei Texte Lacans, von ihm selbst wohl als Gespräche bezeichnet, scheint er in Wissen, Unwissenheit, Wahrheit und Genießen den Begriff der lalangue am 4. November 1971 in Abgrenzung zur langage erstmals zu verwenden. Dort heißt es: „Ich hatte ihn [er meint seinen eigenen Diskurs] begonnen, indem ich sagte, dass das Unbewusste strukturiert wäre wie eine Sprache [un langage]. […] Ich habe nicht gesagt, dass das Unbewusste strukturiert ist wie lalangue, […]. Nun lalangue hat nichts mit dem Diktionär zu tun, welchem auch immer“ (Lacan 2013, S. 18 f.). Zur psychoanalytischen Deutung – im Zusammenhang von lalangue – sagt er dort: „Es gibt keine Deutung, die nicht das Band zwischen dem, was sich in dem, was Sie vernehmen, an Sprechen manifestiert, und dem Genießen betrifft. Es mag sein, dass Sie das unschuldig tun, ohne dass Sie es je bemerkt haben, dass es keine Deutung gibt, die je etwas anderes sagen wollte, doch letzten Endes ist eine analytische Deutung stets genau das. Ob der Gewinn sekundär ist oder primär, der Gewinn ist Genießen“ (Lacan 2013, S. 25).
Vielleicht hören Sie in diesem Neologismus lalangue onoma-poetisch ein ‚la-la‘, durchaus assoziierbar mit einem mütterlichen/väterlichen Singsang, der Vater-/Muttersprache in ihrer Mehrdeutigkeit, gehört vom Platz des Kindes aus. Lalangue steht für ein Sprechen ohne bestimmten oder erkennbaren Sinn, das – wie eben zu hören war – an das Genießen gebunden ist. Lacan fand lalangue insbesondere in Finnegans Wake von James Joyce, mit dem er sich in Joyce le Symptôme befasst, wovon sich eine der zwei vorhandenen Versionen dieser Auseinandersetzung in den Autres écrits findet.
Wichtig im Kontext hier ist, ohne auf Lacans Lese von Joyce näher eingehen zu können, dass er über Joyce sagt, dass er davon träumte durch den Vorrat, das Reservat, die Reserve der Buchstaben, ganz hindurchzugehen (vgl. Lacan 2001, S. 568). Ähnlich Joyce verwendet Lacan in diesem Aufsatz2 eine Orthographie, die sich an der Phonetik der Worte orientiert. Das bedeutet für das Lesen dieses Textes (mehr noch als für alle Texte Lacans ohnehin, wie ich finde), dass sich ein Sinn oder genauer die Vielsinnigkeit der Sätze im Hören, im laut Lesen des Textes aus der Schrift, dem, was sich in der Schrift als Un- oder Nicht-Sinn darstellt, erhebt. Um sich einem assoziativen Verständnis des Textes Joyce und damit dem von Lacan anzunähern, bedarf es des Hörens der Äquivoke und Assonanzen.
An dieser Stelle möchte ich einen Zwischengedanken einfügen, ohne den – so scheint mir – vielleicht nicht gut sichtbar wird, was die Technik des Deutens mit dem und den Buchstaben zu tun haben kann. Für de Saussure war eben zu hören, dass er die gesprochene Sprache vor/über die geschriebene stellt. Nun ist aber der Buchstabe zunächst einmal etwas, was eher der Schrift als dem Sprechen beigeordnet wird. Wir sprechen ganze Wörter, die sich durch Lücken/Pausen dazwischen, zu Sätzen und damit zu einer Rede, einer parole formieren.
Wir buchstabieren diese Wörter und Sätze in der Regel nicht. Wie also ist die Frage, erlangt der Buchstabe seine Bedeutung für das Sprechen und Hören in der Psychoanalyse, in Psychoanalysen?
Eingangs sagte ich, dass mir unter der Beschäftigung mit dem Thema hier die Buchstaben im Sprechen der Analysant:innen nicht nur besonders auf-, sondern sie sozusagen aus dem jeweiligen Sprechen heraus-fielen.
In Seminar XXV – Le moment de conclure aus den Jahren 1977/78 beschreibt Lacan, was diesem Herausfallen vorausgehen kann. Denn – damit Etwas aus etwas Anderem herausfallen kann, muss es zuvor z. B. herausgeschnitten werden. Bei Lacan liest sich das dort so:
„Der Analytiker schneidet. Was er sagt, ist ein Schnitt, das heißt, er nimmt an der Schrift teil, mit der Ausnahme, dass er die Rechtschreibung missdeutet. Er schreibt anders, so dass es durch die Gnade der Rechtschreibung, durch eine andere Art zu schreiben, anders klingt als das, was gesagt wird, als das, was mit der Absicht zu sagen gesagt wird, d. h. bewusst, sofern das Bewusstsein weit reicht. Deshalb sage ich, dass weder in dem, was der Analysand sagt, noch in dem, was der Analytiker sagt, etwas anderes als Schreiben enthalten ist. Es reicht nicht weit, dieses Bewusstsein, man weiß nicht, was man sagt, wenn man spricht. Aus diesem Grund sagt der Analysand mehr, als er sagen will.“3 (Lacan 1977, o. S. [Übers. d. Verf.]).
Dieses Zitat bietet an, auf Freuds Notiz über den Wunderblock näher einzugehen. Ich erinnere hier aber nur daran, dass diese Gedächtnishilfe Wunderblock mit Aufzeichnungen, Einschreibungen – also mit Schrift zu tun hat und durch sie funktioniert.
In den eben zitierten Sätzen Lacans aus Seminar XXV steckt eine mögliche Antwort auf die Frage, wie es kommt, dass der einzelne Buchstabe oder auch Buchstabenkombinationen und -variationen in den Fokus des psychoanalytischen Hörens rücken können? Das geschieht oder gelingt, wenn das Sprechen – sowohl jenes der Analysant:innen wie auch das der Analytiker:in als Schreiben, als Geschriebenes, als Schrift verstanden werden. Im Psychoanalysieren geht es damit weniger um das Hören von Gesagtem als vielmehr um die Lektüren des Hörens, des Gehörten. Dadurch tritt in Kraft was Lacan die Missdeutung der Rechtschreibung nennt. Die richtige Schreibung, die Recht-Schreibung verliert an Bedeutung und ein anderes Schreiben und Lesen beginnt, ein anderes Lesen des Gehörten. Was gehört wird schreibt und liest sich anders als jenes, was Absicht war gesagt zu werden. Denn, so Lacan in Seminar XX – Encore: „[…] Im analytischen Diskurs geht es um das was sich liest, um das, was sich liest jenseits dessen, was Sie das Subjekt angeregt haben zu sagen, was nicht so sehr ist, […] alles zu sagen als unwichtig was zu sagen, ohne zu zögern, Blödheiten zu sagen“ (Lacan 2015a, S. 31 ff.).
Rätselhafte Signifikanten
Bevor ich mich Freud zuwende möchte ich Ihnen für diese Lektüre des Hörens, die sich auf die Buchstaben im Sprechen richtet und nicht auf das Imaginäre/das Imago/das Bild, ein kleines Beispiel für jene von Lacan als andere Rechtschreibung bezeichnete geben:
Ziemlich zu Beginn meiner psychoanalytischen Praxis, berichtete ein Analysant, von Beruf Mathematiker, von einem Traum, in dem es um einen recht großen und beeindruckenden Rosmarinbusch ging. Da er überhaupt keinen näheren Bezug zu Pflanzen hatte, er weder welche besaß noch sich besonders für sie interessierte, rätselte er (und ich mit ihm) eine ganze Weile was dieser Rosmarinbusch aus dem Traum bedeuten könne. Ziemlich sicher hatte er den Traumbericht mit den Worten eröffnet: „Ich hab mal wieder solchen Blödsinn geträumt…“. Während ich ihm zuhörte, sah ich die Buchstaben des Wortes, des Signifikanten Rosmarin vor meinem inneren Auge und fügte schließlich ein ‚e‘ ein und ließ das ‚n‘ am Ende weg: RosEmari(e). Ohne den Namen auszusprechen oder Erklärungen abzugeben, wie ich auf den Namen Rosemarie gekommen war, fragte ich den Analysanten nach dem Vornamen seiner Mutter. Die Antwort erahnen Sie vermutlich, scheint sie hier – so davon erzählt – doch auf der Hand zu liegen.
Ob Zufall (fraglich ob es den gibt) oder ein, in und aus der Übertragung heraus entstandener Einfall meinerseits, weiß ich auch heute nicht zu sagen. Gewiss ist aber, dass mir die Frage nach dem Vornamen der Mutter des Analysanten ohne eine Lektüre dieses gehörten, rätselhaften Signifikanten Rosmarinbusch nicht eingefallen wäre. Dafür brauchte es die Lektüre des Gehörten als Geschriebenes, das durch Hinzufügung und Weglassen von Buchstaben zu etwas Anderem wurde und mich nach dem Vornamen der Mutter fragen ließ. Ich erinnere, dass seine Mutter nicht nur Rosemarie hieß, sondern am folgenden Wochenende ein Besuch bei ihr anstand. Was da im Vorhinein und während des Besuchs im Rosemarie-Busch war, erinnere ich allerdings nicht mehr. Sehr wohl aber auch, dass es damals mich, sowie den Analysanten überraschte, dem Rätsel um den, zunächst als blödsinnig erlebten, Signifikanten Rosmarinbusch eine Lösung geben zu können, ihn in etwas Anderes (klanglich aber sehr Ähnliches) zu verändern, so dass meine Frage, meine fragende Deutung nicht unmittelbar verstanden wurde, aber wie Lacan sagt – Wellen schlagen konnte (Lacan 1976, S. 32)4.
Ich möchte diese kleine Anekdote aus den Anfängen meiner psychoanalytischen Arbeit nicht mit zu viel Bedeutung aufladen, aber mir scheint diese Traum-Deutung, am und mit dem Buchstaben nun – manches Jahr später – mein erster psychoanalytischer Kieselwurf in den Buchstabenteich gewesen zu sein, dessen Wellenbewegung bis heute – mal höher, mal niedriger – in meiner Ausübung einer psychoanalytischen Praxis andauert.
Bruce Fink berichtet im Rahmen seiner Überlegungen zum Buchstaben bei Lacan und einer Lesart, – einer Traum-Deutung à la lettre, von einem seiner Analysanten, der „von einem Zug träumte, der in zwei unterschiedliche Richtungen abfuhr, nachdem er eine Reihe von Sitzungen davon gesprochen hatte, dass er sich wie ein Betrüger fühlte, unzuverlässig und unglaubwürdig. Ihm fielen keine Assoziationen zu dem Zug oder den entgegengesetzten Richtungen ein, […], aber als ich [also Bruce Fink/Verf.] das Wort ‚liar‘/‚Lügner‘ aussprach, das Palindrom des Wortes ‚rail‘/‚Zug‘, brach er in Lachen aus“. Getreu des Lacan'schen Mantras „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ fährt Bruce Fink fort:
„[…] indem das Unbewusste versucht Gedanken in Bilder zu übersetzen, spielt es solange mit Worten, bis es Homonyme, Anagramme oder andere Wort- [oder auch Buchstaben-, U.B.-M.] kombinationen für den Gedanken findet, die eine andere einfache visuelle Darstellung dafür ermöglichen“ (Fink 2016, S. 154 f.).
Freud spricht sich in der Traumdeutung im Kapitel zur Traumarbeit, insbesondere der der Verdichtung deutlich dafür aus, sich bei der Deutung nicht (nur) vom Bilder- oder gar Symbolwert des Trauminhalts leiten zu lassen, denn: „Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte“ (Freud 1900, S. 284). Nicht zuletzt ausgehend von diesem Satz ist es möglich Darstellungen im Traum in ihrer Versprachlichung und Signifikantenstruktur als Rätsel, als Rebus zu betrachten, zu lösen, zu deuten.
Hinzufügen, wegnehmen, übersetzen
Buchstaben eignen sich in besonderer Weise dazu hinzugefügt, entfernt oder ausgetauscht zu werden. In diesem und gerade in diesem Zusammenhang möchte ich an Freuds kurzen Text Über Psychotherapie von 1905 erinnern. Dort beschreibt er den Unterschied zwischen suggestiver und analytischer Technik. Ersterer rechnet er den Vorläufer der Psychoanalyse – die Hypnose zu, die er – wie er schreibt – 1905 schon seit 8 Jahren nicht mehr anwendete. Die Unterschiedlichkeit beider Verfahren, dem suggestiven und dem analytischen, verdeutlicht er mit Leonardo da Vinci und dessen Unterteilung der Kunst in Malerei und Bildhauerei. In der Erschaffung eines Bildes fügt der Maler etwas hinzu, z. B. Farbe auf der Leinwand. Zur Erschaffung einer Skulptur nimmt der Bildhauer vom jeweiligen Material aus dem die Skulptur entstehen soll, etwas weg. Bei Freud liest sich das so:
„Die Malerei, sagt Leonardo, arbeitet per via di porre; sie setzt nämlich Farbenhäufchen hin, wo sie früher nicht waren, auf die nichtfarbige Leinwand; die Skulptur dagegen geht per via di levare vor, sie nimmt nämlich vom Stein so viel weg, als die Oberfläche der in ihm enthaltenen Statue noch bedeckt.“ (Freud 1905, S. 17).
In Anlehnung an Josef Ludin und seine Ausführungen in Das Ringen um eine Technik der Psychoanalyse scheint mir, dass es eine Deutung – allzumal eine mit oder am Buchstaben – mit beiden Wegen, dem des Hinzufügens (di porre) als auch mit dem des Wegnehmens (di levare) zu tun hat. Beide Bewegungen tauchen in meiner akustischen Lektüre des Rosmarinbusches am Buchstaben als ein „technisches Gemisch“ (Ludin 2023, S. 39) auf. Ludin spricht sich dafür aus, dass die Deutung hinzufüge und wegnehme, ohne suggestiv zu sein. „Es ist die Kreativität des Analytikers die zählt,“ sagt er, „seine Fähigkeit, im weitesten Sinne des Wortes, zu spielen, wie Winnicott sagen könnte. Allerdings meint hier spielen: mit Gedanken, Assoziationen und Phantasien [mit Buchstaben] zu spielen. Die Dinge [die Signifikanten] umzudrehen, auf den Kopf zu stellen, die Perspektive zu ändern, sie zu verschärfen, sie abzumildern, ihre Intensität zu verändern, etwas hinzufügen, etwas wegnehmen, das sind Manöver, um die Fesseln der Abwehr zu lockern“ (Ludin 2023, S. 40 [Herv. d. Verf.]).
Nachdem Jacques Lacan die Psychoanalyse in Theorie und Praxis um und mit einem, ihm eigenen, linguistic turn bereichert hat, mag es nun doch scheinen als sei erst durch ihn im Rahmen dessen der Buchstabe mehr in den Focus des psychoanalytischen Denkens und Handelns gerückt. Mit Blick in manch einen von Freuds Texten und nicht zuletzt durch Lacans Re-Lektüren dieser Texte wird klar, dass dort die Instanz des Buchstabens schon angelegt ist, wie Lacan im zitierten Vortrag von 1956 hervorhebt. Damit meine ich nicht nur jene prominenten Stellen in der Traumdeutung (1900), in denen Freud den Traum als Rebus bezeichnet, sondern auch Beispiele aus Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904). Auf ein paar dieser Beispiele dort möchte ich kurz eingehen.
Im XII. Abschnitt mit der Überschrift „Determinismus, Zufalls- und Aberglauben, Gesichtspunkte“ dreht sich alles um den Nachweis, dass der Einfall einer beliebigen Zahl oder der eines Namens in keinem Fall ein Zufall ist, sondern durch „Determinierungen im Seelenleben“ (Freud 1904, S. 268) zustande komme. Lacan führt diesen Gedanken der Determinierung, bzw. Über-Determinierung in Hinsicht auf das Symptom verschiedentlich weiter aus. Etwa so: „Denn wenn Freud, um ein Symptom in der psychoanalytischen Psychopathologie zuzulassen, […], das Minimum an Überdeterminierung verlangt, […], wenn er uns gelehrt hat, im Text [sic!] der freien Assoziationen der ansteigenden Verzweigung dieser symbolischen Abstammungslinie zu folgen, um darin an den Punkten, an denen sich die Sprachgestalten überschneiden, die Knoten ihrer Struktur ausmachen –, ist bereits völlig klar, dass das Symptom sich in Gänze in einer Sprachanalyse auflösen lässt, weil es selbst strukturiert ist wie eine Sprache, weil es Sprache ist, deren Sprechen befreit werden muss“ (Lacan 2016a, S. 316 [Herv. d. Verf.]).
Nebenbei bemerkt: Es findet sich in diesem Zitat so etwas wie die Beschreibung des Kreuzworträtsels als eines Textes, in dem sich – wie Lacan sagt – Sprachgestalten, nämlich Buchstaben zu Worten formiert, in Knoten überschneiden/überkreuzen.
Doch zurück zu Freud und dem XII. Abschnitt der Psychopathologie des Alltagslebens. Dort findet sich nicht nur eine Antwort auf die Frage warum ihm zur Anonymisierung seiner Patientin aus dem „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ (wie heute bekannt ist, hieß sie Ida Bauer), der Name Dora einfiel. Darüber hinaus berichtet er uns, dass er Jahre nach Veröffentlichung des „Bruchstücks“ (also weit nach 1905) diesen Fall in einer seiner Vorlesungen besprach. Dort war auch die überschaubare Anzahl von zwei Frauen, zwei Zuhörerinnen anwesend, von denen eine der beiden mit Vornamen Dora hieß. Er spricht die junge Kollegin an, entschuldigt sich bei ihr, dass er nicht daran gedacht habe, dass sie denselben Vornamen wie die Patientin in seiner Vignette trage und bietet ihr an, den Namen Dora für den Rest der Vorlesung zu ändern. D. h. – ihm musste auf die Schnelle ein anderer Name, ein Ersatz einfallen – der, wie er bemerkt, aber nun nicht der der zweiten Hörerin sein durfte, um wie er sagt, „den psychoanalytisch bereits geschulten Kollegen [kein] schlechtes Beispiel zu geben“ (Freud 1904, S. 270). So wurde aus Dora, für den Rest der beschriebenen Vorlesung, Erna.
Freud wäre nicht Freud, hätte er im Nachgang keine Überlegungen, oder genauer, Assoziationen angestellt, welche Determinierung zu genau dieser Umbenennung beigetragen hatte. Die Antwort erheitert ihn, denn „die gefürchtete Möglichkeit [den Vornamen der anderen Zuhörerin im Raum ‚zu wählen’] hatte sich bei der Wahl des Ersatznamens dennoch, wenigstens teilweise, durchgesetzt. Die andere Dame“, offenbart Freud, „hieß mit ihrem Familiennamen Lucerna, wovon Erna ein Stück ist“ (Freud 1904, S. 270).
Auch an dem, wenige Seiten später berichteten und ursprünglich von Alfred Adler publizierten „Fall“, in dem das Wort Kaliber in Ka und liber „zerrissen“ (Freud 1904, S. 273) wird, lässt Freud uns teilhaben. Dort öffnet sich ausgehend von Ka-liber die Assoziationskette hin zu Ali und Kali.
Schließlich zitiert Freud auch noch C. G. Jung mit dem, wie ich finde, hübschen Beispiel des Neologismus Taganrock, der sich auf der Suche nach den „affektbetonten Ereignissen und verdrängten Wünschen der Jüngstvergangenheit“ (Freud 1904, S. 281), wie Jung schreibt, als Morgenrock entpuppt, den seine Patientin sich von ihrem Ehemann wünscht, der aber wenig Interesse an der Erfüllung dieses Wunsches hatte. Zudem hatte die Dame „ungefähr zu gleicher Zeit eine Persönlichkeit aus Taganrog [einer Hafenstadt an der Südküste Russlands – am Ende mit G geschrieben] kennengelernt“.
Auf die vermutlich bekannteste Lösung eines – nahezu – Kreuzworträtsels aus Zur Psychopathologie des Alltagslebens, nämlich die auch graphische Darstellung Freuds, wie es zu seinem Vergessen des Namens Signorelli kam, möchte ich hier zugunsten eines anderen verzichten. Sie führt wieder etwas näher an das Hören der Worte, der Signifikanten und zeigt wie durch ein sich Ver-Hören und eine damit verbundene Übersetzung von einer Sprache in eine andere, unter etwas anderer Betonung, aus fünf Buchstaben eine Frage wird.
Am 29. Dezember 1897 berichtet Freud seinem Freund Fließ, dem „teuren Wilhelm“, über eine ihm „zugestossene Deutung“ (Freud 1986, S. 316), durch die sich bei einem Herrn E. (den beide, Freud und Fließ, offenbar kennen), ein vor Jahren wegen eines schwarzen Käfers stattgefundener Angstanfall in neuem Licht erschien. Ausgelöst wurde der Angstanfall durch einen – offenbar – schwarzen Marienkäfer mit roten Punkten (ich kenne sie unter der Bezeichnung Schornsteinfeger, im Gegensatz zur inversen Variante). Zwischen zwei Sitzungen bei Freud und determiniert durch eine zuvor thematisierte Unschlüssigkeit, fällt Herrn E. die Deutung des, in der vorigen Sitzung wieder angesprochenen, angstauslösenden Käfers ein. „Nämlich: Que faire? = Unschlüssigkeit“ (Freud 1986, S. 316). Freud kommentiert seinem Freund Fließ gegenüber diese Deutung als „Meschugge!“. Mit dem Wissen um die französische Kinderfrau von Herrn E., vor allem aber mit dem späteren Freud (s.o.) und gar mit Lacan mutet das Hören von Käfer als Que faire? jedoch so gar nicht meschugge an. Im Gegenteil – ich möchte davon ausgehen, dass Freud Ende 1897 (zwei Jahre vor der Traumdeutung, sieben Jahre vor Psychopathologie des Alltagslebens und auch acht Jahre vor Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten) noch nicht klar war, klar sein konnte, welches psychoanalytische Geschenk ihm Herr E. da mitgebracht und angeboten hatte.
Den Buchstaben buchstäblich
Wie Sarah Kofman in Die lachenden Dritten. Freud und der Witz mehrmals betont, verträgt ein Witz aus strukturellen Gründen weder Kommentar noch Übersetzung. Denn, damit das Lachen über einen Witz ein gemischtes Lachen sein kann, muss es – soll es nicht vergehen – ein solch gemischtes bleiben. Dafür „braucht es alles andere als eine Übersetzung, die [die] organische Einheit [des Witzes] auf Einzelelemente reduziert – was den Zuhörer über seinen Sinn und über seine Technik in Kenntnis setzen würde“ (Kofman 1990, S. 53).
Wenn von Buchstäblichkeit die Rede ist, meint dies laut Duden eine Vorlage, einen Text, etwas Gehörtes – wortwörtlich, wortgetreu, dem Wortlaut folgend zu verstehen. Im Französischen heißt das: prendre quelque chose à la lettre/ etwas beim/am Buchstaben nehmen. In gewisser Weise birgt das von Freud dargestellte und ehemals von C. G.Jung berichtete Beispiel des Taganrocks etwas von dieser Buchstäblichkeit, dieser Wortwörtlichkeit in sich: Taganrock/Tag-an-Rock; also ein Kleidungsstück, dass zu Beginn des Tages, am Morgen (und nicht am Abend) – eben als Morgenrock – angezogen wird.
Um sich der Buchstäblichkeit weiter anzunähern, greife ich zu einer anderen Schrift Freuds, die eben schon Erwähnung fand: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Unter vielen von Freud dort gesammelten Witzen, die ihm dazu dienen, Techniken, Tendenzen, Motive und eben auch die Beziehung des Witzes zum Unbewussten darzustellen, findet sich (mindestens) einer, dessen Pointe ohne das buchstäbliche Hören des Wortes ‚nehmen‘ ins Leere liefe: „Zwei Juden treffen in der Nähe des Badehauses zusammen. ‚Hast du genommen ein Bad?‘ fragt der eine. ‚Wieso?‘ fragt der andere dagegen, ‚fehlt eins?‘“ (Freud 1904b, S. 50).
Sarah Kofman folgend lasse ich das so stehen. Weder kommentiere, noch übersetze ich den Witz. Der versteht sich ja auch von selbst. Und vielleicht ist es dieses ‚das versteht sich von selbst‘ was Buchstäblichkeit, ein à la lettre ausmacht. Im Sinne von: dem ist nach und durch ein Verblüfftsein nichts hinzuzufügen. Da kommt etwas durch eine gewisse Engführung an ein Ende. An einen und zum Punkt. Im Witz bildet dieser Punkt die Pointe.
Pointe, frz. für Spitze, von lat. puncta – Stich, lässt mich an Lacans Ausführungen zum point de capiton, den Stepppunkt denken. Dazu heißt es im Psychosenseminar: „[Hier, an der Stelle des Stepppunktes] ist der Punkt, wo das Signifikat und der Signifikant zur Verknüpfung kommen, zwischen der immer schwebenden Masse der Bedeutungen, die tatsächlich zwischen den beiden Figuren zirkulieren, und dem Text“ (Lacan 1997, S. 316).
Buchstäblichkeit steht als Moment von psychoanalytischer Deutung für eine Form der Verknüpfung, Vernähung, Aneinanderheftung von Signifikant und Signifikat, die in ihrer Ein-Eindeutigkeit vieldeutig und zuweilen Verwirrung stiftend daher kommt. Der point de capiton, wörtlich der Polsterpunkt, etwas assoziativer auch der Polsterknopf, verbindet aber nicht nur Texturen miteinander, er wirft auch Falten. Um die Aneinanderheftung von Signifikant und Signifikat herum „strahlt, gestaltet sich alles, in der Art jener an der Oberfläche eines Gewebes durch den Stepppunkt gebildeten kleinen Kraftlinien. Das ist der Konvergenzpunkt, der erlaubt, rückwirkend und vorauswirkend alles zu situieren, was sich in diesem Diskurs abspielt“ (Lacan 1997, S. 316 f.), sagt Lacan.
Buchstäblichkeit bringt auf eine besondere Weise dieses Strahlen oder auch Aus-Strahlen, diese umfassenden, nach vorn und hinten gerichteten Kraftlinien für einen kurzen Moment zum Stillstand. Vielleicht gilt das überhaupt für jede Deutung, die sitzt und die ermöglicht, neue, andere assoziative Wege einzuschlagen. Oder eben, wie es bei Lacan heißt und schon erwähnt wurde: „Die analytische Deutung ist nicht dazu da verstanden zu werden, sie soll Wellen schlagen“ (Lacan 1976, S. 32). Diese Wellen scheinen mir den Falten im Kissen – verursacht durch den Polsterknopf – nicht unähnlich.
Meine Betrachtung der Buchstäblichkeit als eine, in der Signifikant und Signifikat für einen Moment miteinander vernäht, verknüpft und damit aneinander fixiert sind, mag überraschen. Geht es bei Lacan doch ansonsten darum, dass es in der Beziehung dieser beiden linguistischen Elemente nichts Festes, nichts Eindeutiges gibt, sondern sie unentwegt – eines über dem Anderen – gleiten. Meine These, mich selbst im Denken und Schreiben etwas übertölpelnd und gern diskutabel, ist demnach: Das Sprechen der Analysant:innen in der Deutung beim Buchstaben, buchstäblich/à la lettre zu nehmen, bringt das Gleiten der Signifikanten über den Signifikaten für einen Moment zum Stillstand, indem Bedeutung(en) ausgebremst wird/werden. Und was kommt dabei raus? Eleganter formuliert: Welche Effekte zeitigt das? Gerade durch die, möglicherweise paradox und unsinnig anmutende, Verkürzung von Bedeutungen auf eine, nur eine, allein eine Bedeutung, gerät das Hören und Denken in eine Art Sackgasse. In dieser treten durch das Zusammenschnurren und -schnüren auf die Ein-Deutigkeit eines Satzes oder eines Wortes, den Sprache an sich kennzeichnenden Fluss und deren Vieldeutigkeiten hervor. Der Sprach- und Vieldeutigkeitsfluss wird für einen Moment angehalten, staut sich an dieser einen Stelle der Eindeutigkeit auf, um dann, nach diesem kurzen Er-stau(n)t-sein, weiter zu fließen und sich seinen Weg der mehrfachen, vielfältigen Bedeutungen erneut zu bahnen.
Buchstäblich Nichts
An verschiedenen Stellen seiner Schriften und Seminare finden sich Gedanken Lacans zum Wesen der Anorexie. An diesen Stellen wurde mir und wird mir bei jedem erneuten Lesen (fast überwältigend) in Erinnerung gerufen, was Buchstäblichkeit für die Psychoanalyse, ihre Praxis und Technik bedeuten kann und welche neuen Wege der Lektüren des Hörens und Denkens sich möglicherweise eröffnen, kommt sie zur Anwendung.
In „Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht“ heißt es: „Es ist das Kind, das man mit dem Übermaß an Liebe nährt, welches die Nahrung verweigert und mit seiner Verweigerung wie mit einem Begehren spielt (mentale Anorexie). […] Verlangt nicht letztes Endes das Kind, indem es sich weigert, dem Anspruch der Mutter zu genügen, dass die Mutter ein Begehren habe außerhalb von ihm, weil das der Weg ist, der ihm zum Begehren hin fehlt?“ (Lacan 2015b, S. 124).
Dem, mit einem Übermaß an Liebe genährten Kind, fehlt es an N/n-ichts. Und genau das ist das Problem, denn dieses fehlende Nichts, versucht es sich – nach Lacan'scher Lesart – einzuverleiben: Es isst N/n-ichts, ist N/n-ichts, ist nicht. Es bringt sich durch den Verzehr des Nichts gleichzeitig zum Verschwinden, um sich der allumfassenden, übermäßigen Liebe zu entziehen.
In Seminar IV zu den Objektbeziehungen ist zu lesen: „Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass die [mentale] Anorexie nicht ein nicht essen, sondern ein nichts essen ist. Ich bestehe darauf – es heißt nichts essen. Nichts ist genau etwas, das auf der symbolischen Ebene existiert. Dies ist nicht ein nicht essen*, sondern ein nichts essen*“ (Lacan 2007, S. 218).
Anstatt zu sagen – „die Anorexie isst nicht“ sagt Lacan uns also, dass „sie Nichts isst“. Nichts – im Sinne eines Etwas, eines Objekts, das durch das Begehren nicht nur begründet, sondern aufrechterhalten wird. Mit dem und durch das einzuverleibende Objekt des Nichts versucht die Anorexie ein wenig Platz für ihr eigenes Begehren einzurichten und aufrechtzuerhalten, um darin zu existieren und sich schlimmstenfalls darin gleichzeitig zum Verschwinden zu bringen (vgl. Fink 2016, S. 100).
Ohne diese buchstäbliche und, wie ich finde, ebenso erhellende wie bereichernde Lesart des Nichts als Etwas, als Objekt, kann ich mir eine vergleichbare oder auch nur ähnliche Lesart und Deutung anorektischer Symptom- und Begehrensstrukturen kaum vorstellen.
In schon zitiertem Aufsatz zur „Lenkung der Kur“ weitet Lacan den Gedanken der Buchstäblichkeit des Begehrens aus. Analytiker:innen werden dort zu Vogelfänger:innen deren psychoanalytisches Begehren es ist, das Begehren der Analysant:innen zu erwischen, was nur, wie Lacan sagt, buchstäblich (wie am Objekt des Nichts gezeigt) möglich sei. Die Netze des Buchstabens, die wie eingangs erwähnt ihren Ort in lalangue haben, seien es, die den Platz des Begehrens als ‚himmlischen Vogel‘ determinieren und überdeterminieren. Lacan folgert und fordert: Analytiker:innen sollten in ihrer Funktion als Vogelfänger:innen Gebildete (lettrés) sein. Des Lesens, der Lektüre der Buchstaben kundig, um das versteckte, verrätselte, chiffrierte Begehren ihrer Analysant:innen zu erhaschen und sie an dieser Lektüre teilhaben zu lassen (Lacan 2015b, S. 140).
Schluß
Schließen möchte ich augenzwinkernd unter anderem mit einer Ergänzung zum, im Zusammenhang des point de capiton eben zur Veranschaulichung gezeigten, Kissen – erhältlich bei IKEA. Kransborre – der IKEA-eigene Name des abgebildeten Kissens bezeichnet laut Schwedischlexika die (Heil-)Pflanze Andorn.
Zusammengesetzt aus Krans und Borre, wird der Name dem Klang nach und buchstäblich/à la lettre übersetzt zu Kranzbohrer. Und da es, wie ich finde, passt, hier auch die Artikelbeschreibung des Möbelhauses: „Das KRANSBORRE Kissen bricht die Monotonie des Geradlinigen auf. Das runde Samtkissen mit dem bezogenen Knopf in der Mitte lässt sich gut kombinieren und macht aus Sofas und Sesseln königliche Sitzgelegenheiten“ (IKEA 2023). Ob es sich besonders königlich anfühlt, auf einem recht großen Knopf zu sitzen, wage ich zu bezweifeln. Stelle mir aber immer vor, es gibt bei IKEA eine Extraabteilung, in der sich Mitarbeiter:innen, begabt in freier Assoziation, bei Betrachtung des jeweiligen Warenartikels Namen einfallen lassen. Meine Deutung für Kransborre: Der runde Knopf, in der Lage ein kranzrundes, gebohrtes Loch zu verdecken, zu kaschieren, mag seinen Anteil an der Namensgebung gehabt haben.
Leserinnen und Leser der Süddeutschen Zeitung kennen die Rubrik des gemischten Doppels im, Freitag der Zeitung beiliegenden, Magazin. Wer gern Memory spielt und Freude an Verwirrung hat, dem sei das aus dieser Rubrik entstandene Memory der etwas anderen Art empfohlen.
Und schließlich: Es braucht nicht unbedingt den Raum der psychoanalytischen Praxis, ein Kreuzworträtsel oder ein Memoryspiel, um es mit rätselhaft verdrehten Buchstaben zu tun zu bekommen. Manchmal genügt dafür auch der Besuch eines Baumarktes, wo dann über die Fußmatte EWOCLEM zu stolpern ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
* Vortrag am 18.01.2024 im Rahmen der Reihe Die Kunst der Technik in der Psychoanalyse am IPPK.
1 Nicht ganz gesicherte Etymologie von Buchstabe, nach der die Germanen ihre Runen aus dem sehr harten Holz der Buche geschnitzt haben sollen.
2 Joyce le Symptôme gibt es in zwei Versionen: 1. Als Vortragsmitschrift vom 16. Juni 1975 zur Eröffnung des 5. Internationalen James Joyce Symposiums in Paris. 2. Als Version in den Autres écrits, erstellt zwischen 1976 und 1979, die sich von der 1. Version komplett unterscheidet. Auf diese beziehe ich mich hier und zitiere sie. Vgl. dazu Rolf Nemitz' Anmerkungen, zu den beiden, von ihm erstellten Übersetzungen. https://lacan-entziffern.de/symptom/jacques-lacan-joyce-das-symptom-ii/ [21.05.2024].
3 Es handelt sich um ein bisher unveröffentlichtes Seminar (vgl. Link im Literaturverzeichnis).
4 „Die analytische Deutung ist nicht dazu da, verstanden zu werden, sondern um Wellen zu schlagen“ (vgl. https://lacan-entziffern.de/lacaniana/jacques-lacan-gespraech-mit-studierenden-der-yale-university-uebersetzt-von-marcus-coelen/).
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W. (1989): Minima Moralia. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Fink, Bruce (2016): Lacan buchstäblich. Die Écrits entziffern. Übers. v. Ulrike Bondzio-Müller. Wien/Berlin: Turia und Kant.
Freud, Sigmund (1986): Briefe an Fließ. 1887-1904. Frankfurt/M: Fischer.
Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. In: GW. Bd. II/ III. Frankfurt/M: Fischer
Freud, Sigmund (1904a): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. In: GW. Bd. IV. Frankfurt/M: Fischer.
Freud, Sigmund (1904b): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: GW. Bd. VI. Frankfurt/M: Fischer.
Freud, Sigmund (1905): Über Psychotherapie. In: GW. Bd. V. Frankfurt/M: Fischer, S. 13-26.
IKEA (2023): Warenkatalog. https://www.ikea.com/de/de/p/kransborre-kissen-hellrosa-70486654/ [28.05.2024].
Kofman, Sarah (1990): Die lachenden Dritten. Freud und der Witz. Übers. v. Monika Buchgeister u. Hans-Walter Schmidt. München/Wien: Verlag internationale Psychoanalyse.
Lacan, Jacques (1976): „Le Symptôme. Conférences Nord-Américaines“. In: Scilicet 6/7. Paris: Édition du Seuil, S. 32-52.
Lacan, Jacques (1977): Le moment de conclure. Le séminaire XXV. https://nosubject.com/Seminar_XXV [21.05.2024]
Lacan, Jacques (1997): Die Psychosen. Das Seminar III. Übers. v. Michael Turnheim. Weinheim/Berlin: Quadriga.
Lacan Jacques (2001): „Joyce le Symptôme“. In: Autres écrits. Paris: Éditions du Seuil.
Lacan, Jacques (2007): Die Objektbeziehung. Das Seminar IV. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia und Kant.
Lacan, Jacques (2013): Ich spreche zu den Wänden. Gespräche aus der Kapelle von Sainte-Anne. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Lacan, Jacques (2015a): Encore. Das Seminar XX. Übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas u. Hans-Joachim Metzger. Wien/Berlin: Turia und Kant.
Lacan, Jacques (2015b): „Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht. Bericht vom Kolloquium von Royaumont 10.-13.7.1958“. In: Schriften II. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 72-145.
Lacan, Jacques (2016a): „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“. Bericht auf dem Kongress von Rom, abgehalten am Istituto di psicologica della Universitá di Roma am 26. und 27. September 1953. In: Schriften I. Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 278-381.
Lacan, Jacques (2016b): „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft nach Freud“. In: Schriften I. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien/Berlin: Turia und Kant, S. 582-626.
Lacoue-Labarthe, Philippe, Nancy, Jean-Luc (2018): Vom Buchstaben. Zu Lacans Aufhebung der Philosophie. Übers. v. Ulrike Bondzio-Müller, Esther v.d. Osten. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Ludin, Josef H. (2023): Das Ringen um die eine Technik der Psychoanalyse. Theorien und Kontroversen. Frankfurt/M: Brandes & Apsel.
de Saussure, Ferdinand (2001): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin, New York: de Gruyter.
Autor:in: Ulrike Bondzio-Müller, Dipl.-Psych., ist seit 1994 in eigener psychoanalytischer Praxis in München tätig.
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