Lévinas mit Lacan
Nico Graack
Y – Z Atop Denk 2022, 2(2), 1.
Abstract: Das zentrale Problem der lévinasschen Philosophie ist der Status des Anderen und seine Beziehung zum Selben. Dabei wurde ihm von Seiten lacanianischer Philosophie, namentlich Žižek, vorgeworfen, den Anderen zu „fetischisieren“. Worin genau diese Fetischisierung besteht, lässt sich durch einen Blick auf das lévinassche Verhältnis zum Witz besser verstehen. Lévinas hegt eine gewisse Aversion gegen den Witz und fordert stattdessen den „strengen Ernst der Güte“. Im Witz zeichnet sich aber eine soziale Beziehung ab, die die Grundlage der ethischen Relation mit dem Anderen bildet, ohne ihn zu fetischisieren. Das heißt: Eine Beziehung, in der der Andere selbst immer schon in zwei Instanzen gespalten ist – In das, was Lacan den imaginären und den symbolischen Anderen nennt. Erst die Anerkennung dieser zwei Instanzen verhindert, dass der Andere zu einem quasigöttlichen Meister oder einem bloßen Objekt meiner Verfügung wird. Der strenge Ernst der Güte braucht den Witz des Anderen.
Keywords: Witz, Ethik, Lévinas, Lacan, Fetisch
Veröffentlicht: 25.02.2022
Artikel als Download: Der Witz des Anderen
Die Ordnung der Verantwortung, in der der Ernst des unausweichlichen Seins alles Lachen erstarren läßt, ist zugleich die Ordnung, in der unausweichlich die Freiheit aufgerufen wird […] Das Unausweichliche hat nicht mehr die Unmenschlichkeit des Fatalen, sondern den strengen Ernst der Güte.
Emmanuel Lévinas (2014, S. 288)
Der „strenge Ernst der Güte“ ist die Haltung, die Lévinas in der Beziehung zum Anderen fordert. Erst diese Haltung konstituiert eine Relation, in der die beiden Relata unabhängig bleiben – Erst sie macht Raum für die Epiphanie des Antlitzes, des radikal Anderen. Den Anderen in seiner Absolutheit als Fundament der Vernunft zu denken ist Lévinas‘ Projekt in Totalität und Unendlichkeit, das diesem Anspruch nach auf einer Ebene liegt, in der die Prädikate „transzendentalphilosophisch“ und „ethisch“ ununterscheidbar werden. Es mag sich aber die naive Frage aufdrängen, warum in diesem Projekt der Andere, der mich zur Verantwortung aufruft, das Lachen erstarren lassen muss. Warum dürfen der Selbe und der Andere keine Witze machen?
Durch den Begriff des „strengen Ernstes“ und seine Unterseite, der Bereich, „dem der Ernst vollständig abgeht“ (Lévinas 2014, S. 385), schillert im Gedankengang von Totalität und Unendlichkeit1 ein Unausgesprochenes – der Andere ohne Antlitz. Die Seinsweise dieses Anderen ohne Antlitz – bei Lévinas ist das „die Frau“ – wird bestimmt als „zweideutiger Witz“ (Lévinas 2014, S. 385) und die Funktion dieser Instanz besteht letztlich darin, die Relation zwischen Selbem und Anderem allererst zu ermöglichen. Zugleich bleibt diese konstitutive Rolle aber reichlich unterbelichtet, um zugleich hinter der Absolutheit des „wirklich“ Anderen zurückzutreten. Diese Leerstelle ist es, die dann in Abschnitt III unvermittelt „der Dritte“ (Lévinas 2014, S. 308) auszufüllen versucht. Bezüglich seiner konstitutiven Rolle macht Lévinas allerdings keine weiteren Ausführungen, die an die Analysen zur weiblichen Anderen anschließen würden, und so muss er sich darauf beschränken, die Instanz des Dritten hinzuzuaddieren. In seinem Ausschluss des Witzes wird dies deutlich: Lévinas selbst bringt den konstitutiven Dritten (bei ihm: „die Frau“) in Zusammenhang mit dem Witz und in der lacanianischen Analyse des Witzes sehen wir, wie in der sozialen Relation, die sich im Witz konstituiert, ein Dritter notwendig ist: Als Publikum und Sprachcode. Lévinas‘ Zurückweichen vor dem Witz ist zugleich ein Zurückweichen vor der Aufgabe des Gedankens einer vermeintlich unmittelbaren Beziehung des „Von-Angesicht-zu-Angesicht“ zugunsten einer triadischen Beziehung. Um es kurz zu sagen: Bei Lévinas fallen der Zweite und der Dritte letztlich zusammen. Die Aversion gegen den Witz zeugt davon.
Der „Witz“ ist ohne Zweifel ein randständiges Element in Totalität und Unendlichkeit. Vielleicht ließe sich sogar sagen, dem Gedankengang fehlte nichts, wenn die Passagen über das „erstarrte Lachen“ und den „strengen Ernst“ oder über den Bereich, „dem der Ernst vollständig abgeht“, über den Bereich des „zweideutigen Witz“, um ihre Bezüge auf den Witz gekürzt würden. Und doch spielt dieses nichts eine Rolle, da der Witz nun einmal im lévinasschen Diskurs auftaucht, sei dieses Auftauchen auch kontingent. Analog der freudschen Traumdeutung ist es gerade jenes randständige, kontingente Element, in dem sich der springende Punkt dieses Diskurses äußert: Der Andere ohne Antlitz.
Diese These lässt sich plausibilisieren, wenn wir Lévinas mit Lacan lesen, ganz in dem Sinne, in dem Reinhard (Reinhard 1995) die logische Struktur dieses lacanschen avec bestimmt: „Lévinas mit Lacan“, das ist kein „Lévinas und Lacan“, kein Vergleich, in dem Gemeinsamkeiten und Differenzen gegenübergestellt werden, was gleichwohl interessante Resultate zutage fördern kann (Vgl. u.a. Ruti 2015). Vielmehr handelt es sich darum, die Leerstellen des einen Diskurses als die Wahrheit des anderen Diskurses zu verstehen. Das heißt insbesondere, bei dieser Lektüre Lévinas' keinen äußeren Maßstab anzusetzen, ihr nicht einfach die Lektüre Lacans entgegenzuhalten, sondern ihre eigenen Widersprüche mithilfe Lacans und insbesondere seiner Konzeption des Witzes zu entwickeln.2 Dementsprechend wird Lacan in dieser Arbeit wenig und erst im letzten Schritt zu Wort kommen.
Der zentrale, unartikulierte Widerspruch, um den der lévinassche Diskurs kreist, ist gerade, dass es für die „unmittelbare“ Relation des Selben mit dem Anderen der „Vermittlung“ durch den Dritten bedarf: Das „Von-Angesicht-zu-Angesicht“ Zweier ist gerade nur durch die Anwesenheit eines Dritten möglich.3 Da Lévinas mit diesem Widerspruch nicht zurande kommt, sondern die wichtige Unterscheidung der zwei Dimensionen des Anderen als Zweiten und Dritten zusammenwirft, mündet sein Denken des Anderen in eine „Fetischisierung“ des Anderen zu einer Instanz, die unbedingte Unterwerfung fordert. Im Witz zeichnet sich aber eine soziale Beziehung ab, die die Grundlage der ethischen Relation mit dem Anderen bildet, ohne ihn zu fetischisieren. Der strenge Ernst der Güte braucht den Witz des Anderen.
1. Der strenge Ernst der Güte
Wir wollen uns nun zunächst einen ersten schematischen Weg durch die lévinasschen Begriffe bahnen, um das Eingangszitat zu erläutern und damit in einem ersten Schritt den Zusammenhang von „Verantwortung“, „Freiheit“ und „Güte“ zu klären und in einem zweiten Schritt den Zusammenhang von „Genuss“ und „Güte“. Der zweite Schritt wird uns erlauben, eine erste These zum „strengen Ernst“ der Güte aufzustellen: Der Witz ist aufgrund seiner Beziehung zum Genuss aus der Relation zum Anderen herauszuhalten.
1.1. Verantwortung, Freiheit und Güte
Totalität und Unendlichkeit stellt den Versuch dar, den Anderen als Absoluten zu denken. Die Seinsweise dieses radikal Anderen ist die der namensgebenden Unendlichkeit, wie sie Lévinas bei Descartes findet: Der ganze Inhalt des Begriffes des Unendlichen besteht darin, jeden Inhalt, den wir ihm geben können, zu überschreiten. Insofern besteht das Unendliche aus sich selbst heraus, kann nicht auf transzendentale Konstitutionsleistungen eines Subjektes zurückgeführt werden: „alle anderen Ideen als die Idee des Unendlichen hätten wir zur Not aus uns selbst erklären können.“ (Lévinas 2014, S. 60). Strukturell streng analog wird der Begriff des Antlitzes eingeführt: „Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz.“ (Lévinas 2014, S. 63).
Den Anderen auf diese Weise zu denken, bedeutet auch den Versuch, die Beziehung Selber-Anderer nicht als eine Totalität zu denken, nicht als eine Ganzheit, in der die unterschiedenen Elemente eine Einheit qua eines Gemeinsamen gewinnen. So ist die paradoxe Denkfigur, die dieses Werk beständig durchzieht, die Relation, in der die Relata kein gemeinsames Maß haben – die Un-Relation der „Idee des Unendlichen“. Der Selbe und der Andere sind also nicht Exemplare desselben Begriffes – Mensch, Ich, Subjekt – sondern absolut Fremde, der Andere ist absolut transzendent.
Zur Charakterisierung dieser Relation dienen zwei Werke als primäre Bezugspunkte: Husserl und Heidegger. Beide Konzeptionen des menschlichen Seins werden aus demselben Grund abgelehnt: Sie erlauben gerade keine absolute Transzendenz. Für Husserl ist die primäre Relation die Intentionalität, das „Bewusstsein von …“, also der Bezug eines Subjekts auf ein Erkenntnisobjekt. Das Erkenntnisobjekt ist aber nicht in einem radikalen Sinne anders, es setzt Konstitutionsleistungen voraus, an denen das Denken „ansetzen“ kann. Die Begriffe a priori bilden ein gemeinsames Maß des Subjektes und des Objektes. Was ich erkannt habe oder prinzipiell erkennen kann, ist mir nicht radikal fremd. Deshalb spricht Lévinas vom „Selben“ und nicht vom „Subjekt“ oder „Ich“: „Wir nennen es das Selbe genau darum, weil das Ich in der Vorstellung seinen Gegensatz zu seinem Gegenstand verliert.“ (Lévinas 2014, S. 177) Für Heidegger hingegen ist die primäre Relation die Sorge, der praktische Umgang mit der Welt. Hier greift ein analoger Gedanke: Auch das Hantieren mit den Dingen und Menschen setzt ein gemeinsames Maß voraus – die Bedürfnisse und Intentionen. Was ich nur von seiner Nützlichkeit für mich her betrachte, hat schon jede fundamentale Fremdheit verloren.
In Beziehung treten Selber und Anderer also weder in der Vorstellung, noch im praktischen Lebensvollzug, sondern einzig in der Sprache: „Die Beziehung des Selben zum Anderen – oder die metaphysische Beziehung – vollzieht sich ursprünglich als Rede“ (Lévinas 2014, S. 44f.). Der Andere ist streng genommen nicht der andere Mensch, sondern es ist schlicht der, der zu mir spricht.4 In der Rede findet Lévinas also eine Relation, die der „Idee des Unendlichen“ entspricht. Sie stellt eine Beziehung her zu dem, was uns absolut fremd ist, ohne dabei die Fremdheit zu zerstören: „Die Sprache wird da gesprochen, wo die Gemeinsamkeit der aufeinander bezogenen Termini fehlt, wo die gemeinsame Ebene fehlt, wo sie erst konstituiert werden muß.“ (Lévinas 2014, S. 100).
Nicht jede Rede stellt eine direkte Beziehung mit dem absolut Anderen dar, sondern sie wendet sich zumeist an den Anderen, insofern er – vermeintlich – bereits verstanden ist: „Sie spricht den Anderen nicht von Angesicht zu Angesicht an, sondern von der Seite“ (Lévinas 2014, S. 95). Diese Form der Rede nennt Lévinas Rhetorik. In ihr ist die Fremdheit, die den Anderen absolut macht, zerstört; sie ist Rede mit „Unseresgleichen“, den wir manipulieren, belehren und deuten können. Demgegenüber ist die „wirkliche Rede von Angesicht zu Angesicht“ (ebd.) gerade eine, in der wir belehrt werden. An dieser Stelle wird die ganze Radikalität des lévinasschen Diskurses deutlich: Wenn der Andere absolut und von jeder subjektiven Einstellung zu ihm unabhängig sein soll, so ist er Meister und die Rede ist primär Unterweisung: „Die Gesprächspartner stehen nicht auf einer Stufe“ (Lévinas 2014, S. 97). Die Relation Selber-Anderer ist radikal asymmetrisch.
Diese Unterweisung bedeutet nach Lévinas gerade nicht eine Beschränkung der Freiheit des Selben, sondern ihre ursprüngliche Konstitution. Insofern ich von einem Anderen angesprochen werde, also mit der Dimension des Unendlichen in Kontakt komme, kann ich über mich selbst und meine spontanen Regungen Scham empfinden, sie als ungerechtfertigt erleben: „Um seine eigene Unvollkommenheit zu erkennen, muß man, wie Descartes sagen würde, die Idee des Unendlichen haben, die Idee des Vollkommenen. […] Der Empfang des Anderen, der Anfang des sittlichen Bewußtsteins ist es, der meine Freiheit in Frage stellt. Diese Weise, sich an der Vollkommenheit des Unendlichen zu messen, ist also keine theoretische Betrachtung. Sie vollzieht sich als Scham“ (Lévinas 2014, S. 115). Im Angesprochen werden durch den Anderen öffnet sich also eine Dimension radikaler Scham, in der meine Freiheit, letztlich meine Existenz selbst fragwürdig wird – Žižek spricht in diesem Zusammenhang von einer „Infragestellung der eigenen Existenzberechtigung“ (Žižek 2005, S. 155). Diese Dimension der Scham ist zugleich die Dimension der eigentlichen Freiheit, da ich in der Scham meine Freiheit vor dem Anderen zu rechtfertigen suche und darin überhaupt erst sehe, dass ich eine Wahl habe. In diesem Sinne ist die Freiheit des Selben durch den Anderen eingesetzt: „Indem der Andere die Freiheit zur Verantwortung ruft, setzt er sie ein und rechtfertigt sie.“ (Lévinas 2014, S. 282). Eine Einsetzung, „durch welche die Freiheit von der Willkür befreit wird.“ (Lévinas 2014, S. 117). Die Unterweisung in der Rede ist also ein Aufruf zur Verantwortung.
Und dieser Aufruf lässt kein Ausweichen zu. Der Andere, der mich anspricht, nötigt mich zur Antwort. Ein Gemeinplatz der Reflexion über Sprache: Ich kann zwar schweigen, aber auch das ist eine Antwort: „Sich nicht entziehen können – das ist das Ich.“ (Lévinas 2014, S. 361).
Diesem unendlichen Aufruf wird in der Güte entsprochen. Sie ist die Haltung, die der asymmetrischen Beziehung zum Anderen entspricht: „Die Güte besteht darin, sich im Sein so zu setzen, daß der Andere mehr zählt als ich selbst.“ (Lévinas 2014, S. 364). Das ist die Pointe der lévinasschen Ethik: Ist der Andere absolut anders, so ist die Beziehung zu ihm asymmetrisch und meine Verantwortung ihm gegenüber radikal. Ruti spricht in diesem Kontext von einer „Ethik des Respektierens der absoluten Andersheit des Anderen“ (Ruti 2015, S. 26). Gerade dieser Respekt ist es, den Lévinas Güte nennt und der fordert, mich vor dem Anderen zurückzunehmen, mein Leben auf ihn auszurichten und mich von ihm unterweisen zu lassen.
Nun sind die ersten Elemente des Eingangszitates versammelt. Wir verstehen, inwiefern die „Ordnung der Verantwortung“ zugleich die „Ordnung, in der unausweichlich die Freiheit aufgerufen wird“, ist: In der Rede mit dem Anderen werden wir zur Rechtfertigung aufgerufen und damit zur Freiheit, die „von der Willkür befreit ist“. Auch der eingangs ausgesparte Zusatz ist vor diesem Hintergrund klarer: „auf diese Weise läßt das unnachlaßliche Gewicht des Seins meine Freiheit entstehen.“ (Lévinas 2014, S. 288). Das „Unausweichliche“ beziehungsweise das „unnachlaßliche Gewicht des Seins“ ist der Aufruf, insofern ich mich ihm nicht entziehen kann oder genauer: insofern sogar das sich entziehen eine Antwort ist. Damit soll es „nicht mehr die Unmenschlichkeit des Fatalen“ haben. Was ist damit gemeint?
Diesen Gedanken können wir nur aufschlüsseln, wenn wir ihn wiederum im Gegensatz zu Heidegger lesen. Bei Heidegger entsteht die Freiheit ebenso aus einem „Aufruf“, allerdings keinem Aufruf des Anderen, sondern des Gewissens: „der Ruf [kommt] zweifelsohne nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.“ (Heidegger 2006, S. 275). Der Ruf des Gewissens bei Heidegger ist die Instanz, die mich vor meine eigenen Möglichkeiten bringt – In der Konfrontation mit dem Gewissen sehe ich, dass ich eine Wahl habe und verantwortlich bin. Insofern eröffnet das Gewissen die Möglichkeit der Entschlossenheit, des selbstbestimmten Ergreifens einer und nicht irgendeiner Möglichkeit. Heidegger nennt das, was sich in der „eigentlichen Entschlossenheit“ abspielt, darum auch „Schicksal“ (Heidegger 2006, S. 384): Die freie Wahl ist gerade keine willkürliche, beliebige, sondern eine, mit der ich mir gegebene Möglichkeiten zum notwendigen Schicksal mache.
Wenn Lévinas nun also von der „Unmenschlichkeit des Fatalen“ spricht, so setzt er seine Rekonstruktion des Komplexes Freiheit-Verantwortung in Gegensatz zu Heideggers: Bei Heidegger ist das Dasein einzig verantwortlich vor sich selbst, vor seinen Möglichkeiten. In diesem Sinne ist das selbstgewählte Schicksal der Entschlossenheit „unmenschlich“ – Es hat keine Beziehung mit dem Anderen. Lévinas setzt dem Schicksal der Entschlossenheit, zu der der Ruf des Gewissens führt, die Güte entgegen, zu der der Aufruf des Anderen führt.
1.2. Genuss und Güte
Inwiefern ist nun aber die Güte von einem „strengen Ernst“? Um das zu verstehen, müssen wir uns die näheren Bestimmungen anschauen, die Lévinas vom Selben gibt.
Soll es die Un-Relation der „Idee des Unendlichen“ geben, muss nicht nur der Andere absolut sein, sondern ebenso der Selbe. Lévinas spricht auch von der absoluten „Trennung“: „Die Idee des Unendlichen verlangt diese Trennung.“ (Lévinas 2014, S. 145). Diese Bedingung sieht Lévinas darin erfüllt, dass die Seinsweise des Selben der Genuss ist.
Der Genuss wird als die reflexive Beziehung des „Leben von …“ bestimmt, deren Paradigma die Relation zur Nahrung ist. In einem ersten Sinne ist Genuss das Leben von einem Inhalt, zum Beispiel im Akt der Nahrungsaufnahme: „Man lebt von seiner Arbeit, die unseren Bestand gewährleistet“ (Lévinas 2014, S. 154). In einem zweiten, reflexiven Sinne ist Genuss das Leben von diesem Akt selbst: „aber man lebt auch von seiner Arbeit, weil sie das Leben erfüllt (erfreut oder traurig macht).“ (ebd.).5 Diese Selbstbezüglichkeit des Lebensvollzuges ist der Sinn des Genusses: „Genau diese Weise des Aktes, sich von seiner Aktivität selbst zu ernähren, ist der Genuss.“ (ebd.). Und in dieser Selbstbezüglichkeit öffnet sich die Dimension der Unabhängigkeit, der Absolutheit, die den Genuss charakterisiert. Wenn die Nahrung nicht nur Mittel zur Selbsterhaltung ist, sondern ebenso der Zweck der genießenden Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses ist, dann bildet der Genuss eine Sphäre reiner „Innerlichkeit“, die zwar auf ein Anderes – den Inhalt des Lebens von … – bezogen ist, es aber zugleich zum eigenen Zweck macht, zu seinem Inhalt. In diesem Sinne spricht Lévinas auch vom Genuss als dem „eigentlichen Egoismus des Lebens“ (Lévinas 2014, S. 155). Der Genuss ist eine beständige Assimilation, eine Umwandlung des Anderen in das Selbe: „Diese Umwandlung liegt im Wesen des Genusses.“ (Lévinas 2014, S. 153). Er ist das principium individuationis, das den Selben zum Selben macht.
Deshalb ist die Innerlichkeit des Genusses zwar Bedingung für die Un-Relation Selber-Anderer – insofern diese Relation zwei unabhängige Relata fordert – aber ebenso ist sie der Grund der stets möglichen Zerstörung dieser Relation. Gerade weil ich vom Anderen radikal getrennt bin, kann ich „ihm den Rücken zuwenden“ und mich ganz dem egoistischen Genuss widmen: „Die Trennung wäre nicht radikal, wenn nicht – und zwar als Ereignis an sich – die Möglichkeit bestünde, sich ohne inneren Widerspruch bei sich einzuschließen“ (Lévinas 2014, S. 251).
Im „Einschluss bei sich“ wird also die Un-Relation Selber-Anderer totalisiert, insofern der Andere nur noch als Element des eigenen Lebensvollzuges, des Genusses auftauchen kann und dann in einem ganz analogen Sinne ein gemeinsames Maß mit dem Selben hat, wie das Zeug bei Heidegger ein Moment der Sorge ist. Deshalb darf die Güte – als die Haltung, zu der die Beziehung der Rede führt – keine Beziehung des Genusses sein. Sich „so zu setzen, daß der Andere mehr zählt als ich selbst“ bedeutet insbesondere, die eigene Lust oder Unlust aus der Beziehung zum Anderen herauszukürzen.
Vor diesem Hintergrund können wir nun eine erste These dazu formulieren, warum die Güte von einem „strengen Ernst“ sein soll: Insofern jeder Witz einen Bezug zum Genuss hat, muss die Dimension des Witzigen aus der Beziehung zum Anderen ausgeschlossen werden – Wer Witze mit dem Anderen macht, assimiliert ihn, statt der unendlichen Verantwortung seines Aufrufs gerecht zu werden. Dazu passt, dass das Unterkapitel, in dem der „strenge Ernst der Güte“ auftaucht, mit dem Satz „Das Antlitz entzieht sich dem Besitz, meinen Vermögen.“ eingeleitet wird, wobei kurz darauf spezifiziert wird: „Das Antlitz spricht mit mir und fordert mich dadurch zu einer Beziehung auf, die kein gemeinsames Maß hat mit einem Vermögen, das ausgeübt wird, sei dieses Vermögen nun Genuß oder Erkenntnis.“ (Lévinas 2014, S. 283) [Hervorhebung: Verf.].
2. Die weibliche Andere und der Witz
Auf der einen Seite sagt uns Lévinas also, dass der Genuss als Individuationsprinzip notwendig für die Un-Relation Selber-Anderer ist, und auf der anderen Seite muss der Genuss aus dieser Un-Relation ausgeschlossen werden, um sie nicht zu totalisieren: „In dem getrennten Seienden muß also die Türe nach Außen gleichzeitig offen und geschlossen sein.“ (Lévinas 2014, S. 213). Diese Ambivalenz des Genusses gilt es zunächst genauer zu verstehen. Dafür werden wir der – logisch, nicht chronologisch zu verstehenden – Entwicklung vom Genuss bis zur Epiphanie des Antlitzes aus Abschnitt II von Totalität und Unendlichkeit folgen, insoweit sie unser Problem des Witzes betrifft. Dabei werden wir auf die weibliche Andere als Bedingung der Trennung und damit der Un-Relation Selber-Anderer stoßen, deren Seinsweise als die des „zweideutigen Witzes“ bestimmt wird. Zugleich werden wir eine zweite These formulieren können: Die Ebene des Witzes ist für Lévinas aus der Un-Relation Selber-Anderer auszuschließen, weil in ihr kein eindeutiger Sinngehalt formuliert werden kann – sie ist zweideutig und deshalb bar jeder Verantwortung.
Inwiefern der Genuss „geschlossen“ ist, haben wir in I mit der Umwandlung des Anderen in das Selbe, der selbstbezüglichen Struktur des Genusses beschrieben. Die erste Form der Öffnung des Genusses beschreibt Lévinas als „Unsicherheit“, die konkret als „Sorge um das Morgen erlebt“ (Lévinas 2014, S. 215) wird. Die Inhalte meines Lebens von … können mir prinzipiell fehlen, die Nahrung kann sich erschöpfen und auf der Ebene des schlichten Genusses liegt das nicht in meiner Hand: „Das Glück des Genusses gedeiht auf dem ‚Übel‘ des Bedürfnisses und hängt damit von einem ‚anderen‘ ab – es ist glückliches Zusammentreffen, Chance.“ (Lévinas 2014, S. 205)
Wir sehen hier, inwiefern die Beschreibung des Genusses bis zum Abschnitt II. C. vorläufig ist, noch „kein Bild vom konkreten Menschen“ (Lévinas 2014, S. 198) gibt: Trotz aller Selbstbezüglichkeit und Unabhängigkeit des Genusses, bleibt der Genuss doch auch von seinen Inhalten abhängig und das soweit, dass sein Zusammentreffen mit dem Inhalt pure „Chance“ ist. Der Genuss ist erst eine „Proto-Trennung“, die einer weiteren Sammlung des Selben, eines „Rückzugs aus […] dem unmittelbaren, aber schon ob des Danach beunruhigten Genusse[s]“ (Lévinas 2014, S. 219) bedarf. Da der Selbe einzig durch den Genuss bestimmt ist, setzt dieser Rückzug die Idee des Unendlichen voraus, den Anderen, der unendlich über der Dimension des Genusses steht und bei dem ich Zuflucht finden kann, um von dort aus der Unsicherheit des Genusses in der Arbeit und dem Besitz zu begegnen6: „eine Zufluchtsstätte, die von einer Gastlichkeit, einer Erwartung, einem menschlichen Empfang aufgetan wird.“ (Lévinas 2014, S. 223).
Der Andere, der die Zuflucht der Bleibe ermöglicht, ist damit aber nicht im selben Sinne Anderer wie der Andere der Epiphanie des Antlitzes – Sonst könnte Lévinas nur von Fremdheit und Transzendenz, nicht von der „Intimität der Bleibe“ (ebd.) sprechen. Oder genauer: Dieser Andere schließt zwar „alle Möglichkeiten einer transzendenten Beziehung mit dem Anderen ein“ (ebd.), hält sich aber zurück, drückt sich nicht als Antlitz aus, spricht nicht und öffnet damit einen Raum, der zwar unendlich anders ist – der über dem Genuss steht – aber gewissermaßen leer ist, einzig dem Selben zur Sammlung dient und damit die Trennung begründet. Dieser Andere, der sich zurückhält, ist die Andere: „Die Frau ist die Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit des Hauses und des Wohnens.“ (Lévinas 2014, S. 222).7 Lévinas sagt hier also, vielleicht ohne es zu meinen: Die Bedingung der Un-Relation Selber-Anderer ist ein Anderer, der sich nicht darstellt – Ein Anderer ohne Antlitz.
Neben dieser Bedeutung der weiblichen Anderen als „Proto-Anderer“, als Bedingung für die Un-Relation Selber-Anderer, taucht sie in Abschnitt IV als „Geliebte“ (Lévinas 2014, S. 372) auf. Ganz wie der „Proto-Andere“ entzieht sie sich dem Bereich der Rede und des Ausdrucks. Ihre Seinsweise wird als „erotische Nacktheit“ bestimmt, die in einer „Abwesenheit eines jeglichen Ernstes, einer jeden Möglichkeit der Rede“, im „Gelächter des ‚zweideutigen Witzes‘“ (Lévinas 2014, S. 385) besteht. Und ganz wie der „Proto-Andere“ soll sie Bedingung der Rede sein, also der Un-Relation Selber-Anderer: „Aber die Transzendenz der Rede ist gebunden an die Liebe.“ (Lévinas 2014, S. 370). Wir können also Sandford8 folgen und die weibliche Andere in ihren beiden Gestalten als „Proto-Andere“ und „Geliebte“ in der Tat als zwei Variationen derselben Instanz betrachten. Diese Instanz nennen wir „Anderer ohne Antlitz“, da Lévinas sie als einen Anderen einführt, der sich nicht darstellt beziehungsweise aus-drückt. Damit ist ein Unterschied in der Terminologie Lévinas‘ ernst genommen: Der zwischen „Idee des Unendlichen“ und „Antlitz“. Die weibliche Andere ist Andere – ein Seiendes, das die Idee von sich unendlich übersteigt – aber stellt sich nicht dar – sie ist „ohne Antlitz“.
Wir bleiben im begrifflichen Horizont der gerade zitierten Passagen Lévinas‘ wenn wir sagen: Die Seinsweise dieses Anderen ohne Antlitz ist der „zweideutige Witz“. Was ist damit gemeint?
Lévinas führt diese Zweideutigkeit zunächst als eine Zweideutigkeit im Bezug auf den Genuss ein, sie beschreibt die ambivalente Seinsweise der Geliebten als „die Möglichkeit für den Anderen, als Gegenstand eines Bedürfnisses zu erscheinen und dennoch zugleich seine Andersheit zu bewahren, oder anders gesagt, die Möglichkeit, den Anderen zu genießen“, die „die Eigenart des Erotischen aus[macht], das in diesem Sinne das Zweideutige schlechthin ist.“ (Lévinas 2014, S. 372). Die Geliebte ist also zugleich innerhalb des Genusses, da sie als Objekt des Genusses auftreten kann, und außerhalb desselben, da sie nicht in dieser Rolle als Objekt des Genusses aufgeht, sondern letztlich unzugänglich bleibt und die Idee von sich stets zu überschreiten vermag.
Eine analoge Zweideutigkeit finden wir auch für den „Proto-Anderen“, die gastfreundliche Frau. Damit die Proto-Andere den Selben überhaupt empfangen kann, muss sie eine „Berührungsstelle“ mit seinem egoistischen Genuss haben, da der Selbe einzig als Egoismus bestimmt ist. „Den Anderen zu genießen“ ist stets eine Möglichkeit, die in der Liebe explizit wird, aber ebenso latent in der gastfreundlichen Frau waltet. Dort ist der Genuss des Anderen zur „Milde“ (Lévinas 2014, S. 221) sublimiert, die eine „köstliche Ohnmacht im Sein“ (Lévinas 2014, S. 223) ist und also einen Bezug zum Genuss hat, da sie das Leben „erfreut“.
Diese Zweideutigkeit im Bezug auf den Genuss wird weiter als „Witz“ bestimmt. Darin drückt sich eine Zweideutigkeit im Bezug auf die Rede aus, „die Möglichkeit, […] gleichzeitig diesseits und jenseits der Rede zu sein“ (Lévinas 2014, S. 372). Denn „in der Heimlichkeit der Liebe verliert sie [die Sprache, Anm. Verf.] ihre Freimütigkeit und ihren Sinn und wandelt sich in Gelächter oder Gurren.“ (Lévinas, 2014, S. 307). Analoges wird von der Proto-Anderen gesagt, deren Andersheit „auf einer anderen Ebene als die Sprache“ liegt, eine „Sprache ohne Unterweisung“ (Lévinas 2014, S. 222) sein soll. Um das zu verstehen, müssen wir uns genauer anschauen, wie die Rede beziehungsweise Sprache von Lévinas konzipiert wird.
Wir sahen bereits, dass die Rede für Lévinas als Unterweisung bestimmt wird: Der Andere spricht das Wort des Meisters oder, wie man außerhalb des lévinasschen Diskurses vielleicht sagen könnte, hat die absolute Deutungshoheit über seine Worte und stiftet damit die erste Bedeutung. Der Ausdruck, wie Lévinas die fundamentale Operation der Sprache bezeichnet, ist also gerade nicht die Verwendung eingeschliffener Bedeutungen, Signifikate, sondern die Sinnstiftung, die stets mögliche Neubestimmung dessen, was gesagt wurde, durch den Sprecher, den Anderen. In diesem Sinne ist die Rede die Gegenwart eines Seienden, das „seinem Wort zur Hilfe kommen kann“ (Lévinas 2014, S. 87). In gleichem Sinne wie „das Andere“ bei Lévinas fundamental „der Andere“ ist, ist der Signifikant, das Bezeichnende, hier bestimmt als der Bezeichnende, der seine Worte stets erläutern kann: „das Wort schließt auf, indem es den Signifikanten dieser Manifestation des Signifikats assistieren lässt.“ (Lévinas 2014, S. 265). Mit einem Signifikanten in diesem Sinne, einem Sich-Ausdrückenden, konfrontiert, wird die Freiheit des Selben in Frage gestellt und muss sich rechtfertigen.
Das gerade ist also auf Ebene des Witzes anders. Auf ihr findet keine Unterweisung, kein Ausdruck statt und so ist sie außerhalb der Ebene der ethischen Verantwortung. Im Witz wird gerade keine „Zweideutigkeit entwirrt“, keiner „Manifestation des Signifikats assistiert“ – Im Gegenteil: Wer den Witz erläutert, zerstört ihn gerade dadurch als Witz. Der Witz „mokiert […] sich heimlich über seinen eigenen Ausdruck, ohne zu einem bestimmten Sinn zu führen.“ (Lévinas 2014, S. 386).9 Er besteht gerade darin, den Sinn in der Schwebe zu lassen und sich ‚auf nichts festnageln zu lassen‘. Wir können also eine zweite These zum „strengen Ernst“ formulieren: Der Witz ist aus der Un-Relation Selber-Anderer fernzuhalten, da er im Gegensatz zur eigentlichen Sprache keinen eindeutigen Sinn präsentiert und sich so der Verantwortlichkeit, die aus dem Anruf des Anderen folgt, zu entziehen sucht. Wer Witze mit dem Anderen macht, fällt zurück auf die Ebene der „stillen Sprache“ (Lévinas 2014, S. 222), auf die Ebene des weiblichen Anderen, statt die Verantwortung, die im Wesen der Begegnung mit dem Anderen liegt, auf sich zu nehmen.
3. Die sprachliche Struktur des Witzes und der Dritte
Lévinas behauptet also zweierlei: Auf der einen Seite soll die Beziehung zum Anderen von einem „strengen Ernst“ sein, also jeden Witz ausschließen. Wir konnten uns das aus dem Bezug des Witzes zum Genuss und seiner negativen Relation zur Sprache, seiner verantwortungslosen „Sprachlosigkeit“, verständlich machen. Auf der anderen Seite aber soll die weibliche Andere, deren Seinsweise der „zweideutige Witz“ ist, die Grundlage der Beziehung zum Anderen sein. Wir sahen, dass in dieser Figur der weiblichen Anderen eine Instanz angesprochen wird, die Lévinas nicht explizit ausspricht: Der Andere ohne Antlitz. Da Lévinas selbst diese Verbindung zieht, wollen wir diese Instanz nun in der sprachlichen Struktur des Witzes nachweisen, um unsere dritte These zu plausibilisieren, dass Lévinas den Witz vor allem deshalb aus der Beziehung zum Anderen ausschließt, weil er den Anderen ohne Antlitz und seine konstitutive Funktion in der Un-Relation Selber-Anderer nicht richtig in den Blick bekommt. Stattdessen reduziert Lévinas den Anderen letztlich auf den Anderen mit Antlitz, oder, um mit Žižek zu sprechen, Lévinas „fetischisiert“ (Žižek 2005, S. 146) den Anderen.
In den Witz gibt es keinen anderen Eingang als durch das Konkrete, „allein das besondere Beispiel gestattet es uns, die bedeutsamsten Eigenschaften zu erfassen.“ (Lacan 2006, S. 75). Dafür soll ein Witz dienen, den ich kürzlich in einem Park aufgeschnappt habe. Zwei Jungs, etwa zehn Jahre alt, radelten an mir vorbei und ich konnte ein kurzes Gespräch hören. „Ich kann auch mit dem Rad von meiner Mutter fahren.“, sagte der eine, wir nennen ihn „A“. „Ich auch mit dem von meiner Mutter, aber mit mein‘ Vaters nich‘. Das hat drei Millionen Stangen. Digger, das is‘ für mich ‘ne Leiter.“, antwortete der andere, wir nennen ihn „B“. Der erste lachte. In diesem Lachen liegt also eine Anerkennung der Ersetzung von „Rad“ durch „Leiter“ als Witz, die ihre bildliche Kraft aus der zusätzlichen Stange beim Herrenrad gegenüber dem Damenrad gewinnt. Ich konnte noch das Gesicht von B sehen, was eine tiefe Befriedigung ob des gelungenen Witzes zeigte.
Der Satz von A ist sicherlich etwas von der Art des Small Talks, er dient in erster Linie nicht dem Informationsaustausch. Er artikuliert einen Anspruch, einen Anruf, um mit Lévinas zu sprechen: Den Anspruch auf Anerkennung. Die Funktion dieses Satzes ist nicht viel mehr als die des Losungswortes, wie sie Lacan im Rom-Vortrag rekonstruiert (Lacan 2013, S. 28f.): Er konstituiert eine Gemeinschaft, sofern der Ball zurückgespielt wird.
Ihn geradewegs zurückzuspielen würde hier bedeuten, es beim ersten Satz der drei Sätze von B zu belassen. Der Small Talk wäre dann einer von der Art, die man zuweilen in Zügen mit Fremden führt. Stattdessen findet ein Ebenenwechsel statt, der sich in den übertriebenen „drei Millionen“ ankündigt und in die Substitution von „Rad“ durch „Leiter“ mündet. Statt unmittelbar auf den Anspruch des Anderen zu antworten, zieht B Genuss aus einer gewissen Sinnschwebe, in der die Bedeutungen der Worte „Rad“ und „Leiter“ schillern. Hier finden wir die beiden Ambiguitäten der Relation, deren Seinsweise Lévinas als „zweideutiger Witz“ bestimmt – In Bezug auf den Genuss und die Sprache. Die Sprache ist ambig, weil der Sinn der Worte nicht entwirrt wird, es wird keiner Rede beigestanden. Der Genuss, der sich daraus speist, ist ambig, weil er auf den Anderen angewiesen bleibt, auf seine Sanktion des Witzes. Ohne eine solche wäre es unmöglich den Lapsus vom Witz zu unterscheiden.10 Damit eine Substitution wie die von „Rad“ durch „Leiter“ ein Witz sein kann, muss es nicht nur die Intention sein, einen Witz zu machen, sondern jemand muss es als Witz anerkennen. Umgekehrt kann zuweilen auch ein schlichter Lapsus im Anderen als Witz erscheinen.11
Bezogen auf die sprachliche Ambiguität muss man sich fragen: Hätte B nicht auf Nachfragen seiner Rede durchaus beistehen können? Sicherlich. Er hätte in weiteren Sätzen „Rad“, „Leiter“ und „Stangen“ miteinander verweben können, um Angebote zu machen, wie Sinn aus dieser Substitution zu machen sei – etwa „Na, weil das Rad von meinem Vater ‘ne extra Stange hat, die mir viel zu hoch ist, ist das wie ‘ne Leiter, auf der ich hochklettern muss.“. Der Witz als solcher wäre bekanntlich zerstört. Wahrscheinlicher aber ist, dass er – um den Witz nicht zu zerstören und in der privilegierten Position zu bleiben, die für den pubertierenden Habitus des „Klassen-Clowns“ typisch ist und in einem solchen Rumwitzeln mit Freund*innen gesucht wird – sich über A lustig gemacht hätte, wenn er nach dem Sinn seiner Worte gefragt hätte. Schon diese Möglichkeit zeigt, dass der Andere, der den Witz als solchen sanktioniert, eine Position ist, die ein konkreter Anderer vielleicht einnehmen kann, die aber nicht mit ihm zusammenfällt – Dieser Andere ist ein Anderer ohne Antlitz, die Sprachgemeinschaft, die den Witz virtuell versteht, auch, wenn niemand dies konkret tut. Deshalb ist es auch nicht prinzipiell unmöglich, alleine Witze zu machen, sofern man nur überhaupt in eine Sprache eingetreten ist, also in sie vom Anderen unterwiesen wurde.
Man könnte dies auch so ausdrücken: Der Witz hat notwendig sein Publikum, das nicht schlechterdings mit dem Gegenüber zusammenfällt. Dieser Bezug auf ein Publikum ist es, den Lacan in der Analyse der Hirsch-Hyacinth-Episode aus Heines Reisebilder die „an den universellen Zeugen […] gerichtete Anrufung“ (Lacan 2006, S. 30) nennt und konkret im Signifikanten „Gott“ verortet, wenn Hirsch-Hyacinth über Rothschild sagt: „Und so wahr wie mir Gott alles Guts geben soll, Herr Doktor, ich saß neben Salomon Rothschild, und er behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär.“ (Heine 1986, S. 112). Die gewitzte Substitution der Silben von „familliär“ und „Millionär“ zu „famillionär“ muss anerkannt werden und das geschieht von der Position der virtuellen Sprachgemeinschaft aus. An sie gerichtet wird sich in unserem Beispiel nun nicht mit „Gott“, der Signifikant für das Publikum, den universellen Zeugen dieses Zehnjährigen ist das „Digger“.
Diese Position des Anderen ohne Antlitz ist analog zu der, die Lévinas in Abschnitt III als den „Dritten“ in die Un-Relation Selber-Anderer einführt. Das, was die Dimension des Dritten eröffnet, ist die Tatsache, dass die Worte auch für andere, die zu der vermeintlich „geschlossenen“ Zweier-Beziehung hinzutreten, verständlich sind. Gerade darin eröffnet sich das Feld der eigentlich menschlichen, symbolischen Ordnung, die mehr ist als Assoziation von Lauten und Handlungen, mehr als Dispositionen gegenüber einer Sache:
„Das Existieren dieses Seienden [des Anderen, Anm. Verf.] […] vollzieht sich als unaufschiebbare Dringlichkeit, mit der es eine Antwort verlangt. Diese Antwort unterscheidet sich von der ‚Reaktion‘, die das Gegebene hervorruft, weil sie nicht, wie bei den Dispositionen, die ich gegenüber einer Sache treffe, ‚unter uns‘ bleiben kann. Alles, was hier ‚unter uns‘ geschieht, geht jedermann an, das Antlitz, das mich ansieht und angeht, steht im vollen Licht der Öffentlichkeit, ob ich mich gleich aus der Öffentlichkeit entferne, um mit dem Gesprächspartner die verschwiegene Gemeinsamkeit einer privaten Beziehung und die Heimlichkeit zu suchen.“ (Lévinas 2014, S. 307).
Man könnte also sagen: Der Dritte ist die Dimension des Anderen, an die ich mich notwendig auch wende, sobald ich spreche. Er ist die Dimension dessen, was verstanden wird, mein „Publikum“, oder wie Lacan auch sagt: Der „Code“, das „Bündel an Verwendungen“ (Lacan 2006, S. 18) der Sprache, die sich im Anderen verdichten – Der Andere weiß um die üblichen Verwendungen der Worte, er spricht meine Sprache.
Diese Instanz ist es auch, von der Lévinas spricht, wenn er sagt, dass „die formale Struktur der Sprache die ethische Unverletzlichkeit des Anderen an[kündigt].“ (Lévinas 2014, S. 279). Denn jedes Sprechen impliziert jemanden, an den es sich richtet und sei dieser jemand auch virtuell im inneren Monolog – Oder, um mit Lacan zu sprechen: „jedes Sprechen ruft [nach] Antwort“ (Lacan 2016, S. 291). Und die Position dieses Anderen ist uneinholbar transzendent: Selbst, wenn ich über ihn spreche, von ihm sage er sei dies oder jenes, impliziert die Aussage selbst wieder jemanden, an den sie sich richtet: „Die Erkenntnis, die den Anderen absorbiert, findet ihrerseits statt in der Rede, die ich an den Anderen richte.“ (Lévinas 2014, S. 279). Bezogen auf unser Beispiel muss man sagen: Der absolute Andere im Sinne Lévinas‘ ist hier nicht A, sondern die in meinem Text implizierte Leser*in, an die ich mich notwendig wenden muss, sofern ich mich nur überhaupt sprachlich äußere.
Wir haben also in unserem Beispiel zwei verschiedene Dimensionen des Anderen: Einmal A, den Anderen, insofern er ein konkretes Gegenüber darstellt – den Anderen mit Antlitz; und einmal das Publikum, den Anderen, insofern er der symbolische Raum „aller“ Anderen ist – den Anderen ohne Antlitz. Etwas unvorsichtig könnte man hier Lacans Unterscheidung zwischen dem kleinen/imaginären anderen und dem großen/symbolischen Anderen lesen: A als konkretes Gegenüber ist der kleine Andere; das Publikum ist der große Andere. Wir finden hier unsere Unterscheidung „mit/ohne Antlitz“ wieder, die wir aus Lévinas verschiedenen Gestalten des Anderen herausgearbeitet haben: Der imaginäre Andere ist derjenige, der sich mir darstellt, in dessen Bild ich mich spiegeln kann und mit dem ich daher „auf einer Ebene“ stehe – nach dem frühen Lacan gibt Hegels Herr-Knecht-Dialektik das elementare Schema dieser Beziehung zu meinem Gegenüber (Lacan 1978, S. 218). Der symbolische Andere hingegen stellt sich uns nicht dar, er ist der notwendige Horizont der Sprache, eine gewissermaßen formale Struktur mit der jede Identifikation unmöglich ist, die uneinholbar transzendent ist.
Diese Unterscheidung kollabiert aber bei Lévinas: Seine Relation des „Von-Angesicht-zu-Angesicht“ versucht gerade, das Gegenüber, das sich mir mit seinem Antlitz darstellt, als uneinholbar transzendent zu denken. Einerseits ist der Andere der absolut Andere, der uneinholbar am Horizont meines Sprechens auftaucht, also gerade nicht A im Beispiel, sondern meine Leser*in – Andererseits ist er der konkrete Andere, der sich mit seinem Antlitz präsentiert, also A im Beispiel. Die beiden Gestalten des Anderen, die wir in Lévinas‘ Diskurs herausgearbeitet haben, werden von ihm nicht klar unterschieden. Die Absolutheit, die Asymmetrie in der Beziehung zum symbolischen Anderen soll mit der Präsenz des konkreten, imaginären Anderen zusammenfallen.12 – Das ist die „Fetischisierung“ des Anderen bei Lévinas, von der Žižek spricht, in ihrer kürzesten Form. Lacan stellt in diesem Sinne die Wahrheit der lévinasschen Spannungen zwischen dem Anderen, der Frau und dem Dritten dar – Will man diese Dimensionen des Anderen wirklich denken, fallen die Absolutheit und die konkrete Darstellbarkeit auseinander: Der transzendente Andere hat gerade kein Antlitz. Im lévinasschen Diskurs ist dies der Unterschied zwischen „Idee des Unendlichen“ und „Antlitz“, die auch Lévinas eigener Begrifflichkeit nach nicht notwendig zusammenhängen, was Lévinas immer wieder zu vergessen scheint.
Der Versuch, sie dennoch zusammenzudenken, produziert die explizierten Spannungen im lévinasschen Diskurs, die die Figur des „Dritten“ zu lösen versucht. Lévinas sieht sich genötigt zu sagen, dass der Dritte in Form des „prophetischen Wortes“, also der Dimension des Sprechens, die sich an „alle“ richtet, ein „irreduzibles Moment der Rede“ (Lévinas 2014, S. 309) und damit der Un-Relation Selber-Anderer ist. Aber es bleibt unverständlich, inwiefern der Dritte notwendig, konstitutiv für diese Un-Relation ist, obwohl Lévinas in Gestalt der Frau selbst diese Position eines konstitutiven Dritten, eines Anderen ohne Antlitz, vorgeformt hat – Bezüglich der konstitutiven Funktion dieses Dritten für die Un-Relation Selber-Anderer greift Lévinas in keiner Weise auf die Analysen zur weiblichen Anderen zurück; es gibt kein Wort zur Beziehung dieses Dritten zum Genuss. Wir erinnern uns: die Frau als in- und außerhalb des Genusses stehend, als eine Andere, die sich nicht ausdrückt, öffnet dem Selben den Raum jenseits des unmittelbaren Genusses; den Raum, in dem er offen ist für die Begegnung mit dem Anderen. Bezüglich des Dritten fehlt jede analoge Plausibilisierung seiner konstitutiven Funktion. Letztlich kann er im lévinasschen Diskurs nichts zum Begriff des Anderen beitragen, sondern wird „nachträglich“ zu ebendiesem addiert – Im Gestus eines: ‚Neben dem Selben und dem Anderen gibt es übrigens auch noch den Dritten.‘
Die Position eines konstitutiven Dritten wird im Witz als dem paradigmatischen Fall eines sprachlichen In-Beziehung-Treten zum Anderen unübersehbar – es ist gerade der springende Punkt des Witzes, dass er vom Anderen anerkannt werden muss, sonst bleibt er bloßer Lapsus; und dieser Andere ist ein virtueller Anderer, die Sprachgemeinschaft: Der Witz funktioniert nicht ohne (zumindest virtuelles) Publikum. So wird eine tiefere Dimension des lévinasschen Widerstandes gegen den Witz sichtbar, unsere dritte These dazu, warum Lévinas den Witz aus der Un-Relation Selber-Anderer ausschließt: Der Witz gefährdet gerade die fetischisierte Version des Anderen als absoluten, konkreten Anderen, auf die Lévinas‘ Projekt hinzielt.
4. Der Witz des Anderen
Was für eine soziale Beziehung konstituiert sich also im Witz? Es ist gerade eine solche, in der der Erste und der Zweite sich darüber begegnen, dass sie (a) auf den Dritten angewiesen sind – sie bedürfen hier wie überall den Dritten in seiner Gestalt als Sprachmaterial, als symbolischen Anderen, er ist „irreduzibel“ – und (b) zugleich die Macht dieses Dritten unterlaufen, indem sie „unauthentisch“ sprechen und neuen Sinn konstituieren: „Der Witz dient immer auch dazu, Macht zu konterkarieren, zu umgehen, zu durchkreuzen, und ist in diesem – auch Freud‘schen – Sinne unverzichtbar.“ (Bondzio-Müller 2011, S. 3). Das Fahrrad als „Leiter“ öffnet eine neue Dimension von Sinn. Lacan drückt diesen Punkt bezogen folgendermaßen aus: „die leichte Überschreitung des Codes durch sich selbst [wird] als neuer Wert aufgefasst, der es erlaubt, augenblicklich den Sinn zu erzeugen, dessen man bedarf'.“ (Lacan 2006, S. 72).
Wenn nun Lévinas den Unterschied zwischen dem Zweiten und dem Dritten verwischt, muss diese Subversion des Witzes als Gewaltakt gegen den nach dieser Reduktion einzig verbleibenden absoluten und konkreten Anderen erscheinen – Oder, lévinassch gesprochen: Der Witz totalisiert den Anderen, indem er ihn zum Instrument des Genusses des Selben degradiert, und er versucht nicht, eindeutigen Sinn dadurch zu erzeugen, dass in ihm der Rede beigestanden wird. Im Witz wird durch das Spiel mit der etablierten symbolischen Ordnung, dem Dritten, jedoch gerade eine Dimension frei, die ein nicht-totalisiertes Verhältnis zwischen Selben und Anderem erst ermöglicht: A und B lösen sich von der ihnen gemeinsamen13 symbolischen Ordnung, der Totalität, indem sie sie im Witz unterlaufen – Sie betreten damit ein Terrain, „wo die gemeinsame Ebene erst konstituiert werden muss“. Das ist es, was Lévinas durch seinen unbedingten Willen, den konkreten Anderen absolut zu denken, letztlich übersieht: Der Selbe und der Andere bedürfen eines Dritten, gerade damit sie sich Von-Angesicht-zu-Angesicht begegnen können. Und das ist es, was im Witz deutlich wird. Hier baut die Begegnung auf den Witz des Anderen, auf seinen esprit – Schlicht darauf, dass der Andere den Witz als solchen anerkennt und vielleicht gar mit einer weiteren Überschreitung des Sprachcodes zu antworten vermag.
In diesem Zusammenfallen des Zweiten und Dritten bei Lévinas wird der Andere zu einer quasi-göttlichen Figur, die unbedingte Unterwerfung fordert, da nun jede symbolische Ordnung fehlt, durch die und zugleich gegenüber der der Selbe und der Andere ihre Begegnung behaupten könnten.14 Die lévinassche „Güte“ droht damit in der Tat zu einem Fetisch zu werden. Die Haltung der „Güte“ rückt in die Nähe der Haltung des Perversen, der sich als Instrument des Genießens des Anderen begreift – Eine andere Art, die Fetischisierung des Anderen bei Lévinas auszudrücken. Die Anerkennung der Spaltung des Anderen in den Zweiten und Dritten verhindert diese Fetischisierung, indem im Dritten eine Dimension offen wird, durch die ich Distanz zur unerbittlichen Präsenz des konkreten Anderen einnehmen kann – Und diese Distanz ist, wie Lévinas selbst im Begriff der Trennung behauptet, notwendig für eine Begegnung Von-Angesicht-zu-Angesicht.
Fassen wir zusammen: Ausgehend von unserer Eingangsfrage, warum die Haltung der Güte bei Lévinas eine ist, die „alles Lachen erstarren lässt“, lässt sich Lévinas‘ Argumentation in unseren ersten beiden Thesen rekonstruieren. (1) Der Witz totalisiert durch seinen Bezug zum Genuss die Relation zum Anderen, macht ihn zu einem Objekt des Genusses des Selben. (2) Der Witz stellt keinen wirklichen Ausdruck dar, er konstituiert keinen eindeutigen Sinn, sondern fällt zurück auf die Ebene der „stillen Sprache“. Dabei stoßen wir mit der weiblichen Anderen auf einen Anderen ohne Antlitz, der die Bedingung der Trennung und damit der Un-Relation Selber-Anderer darstellt. Sie ist die Instanz, die diese „stille Sprache“ spricht. Die Seinsweise dieser Anderen bestimmt Lévinas als „zweideutigen Witz“. In der lacanianische Analyse der Struktur des Witzes treffen wir einen solchen Anderen ohne Antlitz: Den symbolischen Anderen – die Sprachgemeinschaft beziehungsweise das Publikum. Lévinas benennt ihn als den „Dritten“, ohne jedoch auf die bereits vorgeformte Position des konstitutiven Dritten Bezug zu nehmen. Unter dem Druck des lévinasschen Projektes kollabiert diese vorgeformte Figur des Dritten, die den Raum für ein Von-Angesicht-zu-Angesicht durch Spaltung des Anderen offen hält, zu einem bloßen Zusatz neben der absoluten, quasi-göttlichen Figur des Anderen: Ohne den Witz des Anderen droht die Güte zum Fetisch zu werden.
In Lévinas Aversion gegen den Witz drückt sich also – zumindest für den Lévinas von Totalität und Unendlichkeit – ein Scheitern aus: Das Scheitern darin, die konstitutive Abhängigkeit der Un-Relation Selber-Anderer von einem Dritten wirklich zu denken. Dass er die Seinsweise der einzigen Vorform eines solchen konstitutiven Dritten, die sich in seinem Diskurs finden lässt – die weibliche Andere – als „zweideutigen Witz“ bestimmt, zeigt, dass Lévinas durchaus etwas von dem engen Zusammenhang gesehen hat, den der Witz zu der Figur des Dritten hat. Am Ende ist es vielleicht nicht der Ernst des unausweichlichen Seins, der alles Lachen erstarren lässt, sondern der unausweichliche Ernst eines alten Akademikers.
1 Inwieweit spätere oder andere Werke Lévinas in dieser Hinsicht anders strukturiert sind, wird hier ausgeklammert.
2 Insofern kann ein zentrales methodisches Problem einer philosophischen Lektüre Lacans ausgeklammert werden: Die Frage danach, in welchem Sinne Lacans letztlich klinische Begriffe überhaupt philosophisch gewendet werden können. Man tut dies üblicherweise, indem man Lacan als Subjekttheoretiker liest und dem werden wir uns hier schlicht anschließen.
3 Diese Lesart verdankt Žižeks Kritik an Lévinas (Vgl. Žižek 2005) sehr viel. Anders als Žižek bin ich aber der Meinung, dass Lévinas letztliches Scheitern, den Anderen als absolut Anderen zu denken, gerade aus der Radikalität seiner Absicht erwächst, die ihn soweit treibt, den Dritten aus der Beziehung zum Anderen auszuschließen, wo er selbst eigentlich sagt, er sei notwendig. In anderen Worten: Wir nehmen hier Lévinas‘ Beteuerungen, dass der Andere absolut sei, durchaus ernst. Žižek scheint das nicht immer zu tun, wie auch Ruti bemerkt (Vgl. Ruti 2015, S. 9.).
4 Gleichwohl sagt Lévinas das an vielen Stellen anders, u.a.: „Das Andere als Anderes ist der andere Mensch.“ (Lévinas 2014, S. 95).
5 Hier sieht man auch, dass „Genuss“ ein ontologischer Terminus ist: Er bezeichnet nicht das umgangssprachliche, lustvolle Genießen von etwas, sondern die Dimension von Lust und Unlust als eine selbstbezügliche Beziehung zu der Beziehung zwischen „Subjekt“ und Inhalt überhaupt, die Dimension, in der etwas „erfreut oder traurig macht“, als solche.
6 Die logische Struktur des Zusammenhangs zwischen Idee der Unendlichkeit und Trennung ist also zirkulär: „So fordert die Idee des Unendlichen – die sich im Antlitz offenbart – nicht nur ein getrenntes Seiendes. Das Licht des Antlitzes ist notwendig für die Trennung.“ (Lévinas 2014, S. 216). Lévinas entfaltet diese Struktur der „bedingten Bedingung“ (Delhom 2016) als eine zeitliche Struktur, die im Begriff der Nachträglichkeit bestimmt wird (u.a. „Die Trennung ist nachträglich-früher“ [Lévinas 2014, S. 245]). Lévinas verwendet hier den Begriff après-coup, der bekanntlich Lacans Übersetzung der freudschen Nachträglichkeit ist. Wir werden diese Spur nicht weiter verfolgen.
7 Wir klammern die Debatte um den offensichtlich patriarchalen Gehalt des Terminus „Frau“ bei Lévinas aus (Vgl. Sandford 2004).
8 Sandford macht in ihrer Untersuchung zum Weiblichen bei Lévinas keinerlei Unterscheidung zwischen der „Frau“ in Abschnitt II und der „Geliebten“ in Abschnitt IV. Sie problematisiert das nicht einmal, obwohl Lévinas an vielen Stellen einen Unterschied zumindest andeutet. So heißt es, die „Epiphanie der Geliebten ist eins mit ihrem Walten als dem Walten der Zärtlichkeit“ (Lévinas 2014, S. 373) und im Folgenden wird die Zärtlichkeit vom „Anmutigen“ abgegrenzt (Vgl. Lévinas 2014, S. 375). Das scheint zurückzuweisen auf Abschnitt II, wo von der Idee des Unendlichen gesagt wird, sie gründe die Intimität des Hauses „kraft der weiblichen Anmut“ (Lévinas 2014, S. 216) [Hervorhebung: Verf.]. Aufgrund der oben angedeuteten Analogien denke ich, dass Sandford damit aber im Recht ist. Lévinas zieht hier keinen begrifflich fassbaren Unterschied.
9 Das Subjekt dieses Satzes ist die „weibliche Epiphanie“, wobei die Seinsweise des Weiblichen aber gerade der „zweideutige Witz“ ist.
10 Die Sanktion durch den Anderen unterscheidet den Witz vom schlichten und einfachen Phänomen eines Symptoms zum Beispiel.“ (Lacan 2006, S. 50), hinter dem „zum Beispiel“ steht neben dem Lapsus sicher noch das Vergessen und einige andere Phänomene aus Freuds Psychopathologie des Alltagslebens.
11 Im Bezug auf einen Neologismus eines seiner Patienten sagt Lacan: „Der Kontext, wie Freud gesagt hätte, schließt ganz und gar aus, daß mein Patient einen Witz gemacht hätte […] Dennoch ist er, an seinen Platz gesetzt, eben im Anderen, ein besonders sensationeller und brillanter Witz.“ (Lacan 2006, S. 39).
12 Man könnte demgegenüber versucht sein, die Parallele folgendermaßen zu ziehen: Die Frau bei Lévinas ist Lacans imaginärer anderer, der Andere bei Lévinas ist Lacans symbolischer Anderer. Dem widerstrebt aber, dass Lacans symbolischer Anderer eine virtuelle Instanz ist, die sich gerade nie verwirklicht, dessen Platz kein Subjekt voll einnehmen kann („Es gibt keinen großen Anderen.“) – Seine Existenz ist genauso formal wie die der virtuellen Adressat*in jeden Sprechens; schließlich spricht Lévinas in diesem Zusammenhang auch von der „formalen Struktur der Sprache“.
13 An dieser Stelle müsste man noch fragen, wie genau dieses „gemeinsam“ zu verstehen ist. Die symbolische Ordnung, der Dritte, kann nicht geradehin den Subjekten gemeinsam sein – sonst wäre sie eine Totalität und die Subjekte keine Subjekte mehr. Lévinas setzt sich mit dieser Frage bei der Einführung des Dritten in Abschnitt III auseinander, wobei seine Antwort auf die Kategorien der Vaterschaft/Bruderschaft aus Abschnitt IV vorausweist: Die „ganze Menschheit“ der symbolischen Ordnung ist „gleich“ im Sinne einer Bruderschaft, wobei die symbolische Ordnung den Vater darstellt. Inwiefern das kein Gattungsverhältnis sein soll und welche interessanten Verbindungen zu Lacans „Namen-des-Vaters“ sich hier ziehen ließen, muss ausgeklammert werden.
14 Manoussakis zeigt in diesem Zusammenhang wie der lévinassche Andere stets mit der mythischen Nacht des il y a zusammenzufallen droht, der eigenschaftslosen Existenz am Grund der Dinge und Quelle der mystischen Naturgötter (Vgl. Manoussakis 2002). Das il y a bildet neben dem Anderen, der Frau und dem Dritten eine weitere Gestalt des Anderen im lévinasschen Diskurs, den wir hier unbeachtet lassen.
Literaturverzeichnis
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Autor:in: Nico Graack studiert Philosophie und Informatik in Kiel und Prag. Er arbeitet als freier Autor und Journalist.