Überlegungen zu Herkunft und Scham
Maximilian Thieme
Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 2.
Abstract: Soziale Scham ist eine der schmerzhaftesten psychischen Manifestationen eines Klassenantagonismus, der die Gesellschaft spaltet und hierarchisiert. Wer die soziale Klasse wechselt, bleibt doch auf die Herkunft verwiesen und leidet an einer inneren Zerrissenheit. Dieser Text zeichnet die Entstehung und auch die Formen nach, in welchen soziale Scham phänomenologisch in Erscheinung tritt. Erkenntnisse aus den Feldern der Soziologie, der Philosophie und der Psychoanalyse werden hier in ein Gespräch gebracht, um Möglichkeiten zu ersinnen, wie sich das existentielle Trauma einer solchen Scham bewältigen lassen kann.
Keywords: Scham, Habitus, Klassenunterschiede, Emanzipation
Veröffentlicht: 18.10.2021
Artikel als Download: Zwischen Flucht und Rückkehr.
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Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil
1. Die Wiederkehr des verdrängten Gesellschaftlichen
Die Geschichte der Psychoanalyse lässt sich neben vielem anderen auch als eine Geschichte andauernder Rechtfertigung lesen: Von ihrer ersten Stunde an musste sie ihren begrifflichen Apparat verteidigen, ihre Wissenschaftlichkeit begründen, Rechenschaft ablegen über ihre Methode, ihre Reifeideale, ihre Ethik. Eine Not der Rechtfertigung, die fortdauert bis in unsere Tage, und zwar nicht nur nach außen hin gegen die Skeptiker*innen der Psychoanalyse, sondern auch innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft selbst, die von jeher eine von Spannungen, Konflikten und Spaltungen gezeichnete war.1 Allem voran das Selbstverständnis der Psychoanalyse ist problematisch geworden. In den Augen Élisabeth Roudinescos sind Psychoanalytiker*innen zu Arbeiter*innen der Psyche, zu Seelentechniker*innen geraten, eingeschlossen in ein Feld institutionalisierter Expertise. Mithin, so die Historikerin der Psychoanalyse, fehle der Psychoanalyse dieser Tage „eine Seele, ein intellektuelles und politisches Engagement, eine Leidenschaft“ (Badiou, Roudinesco 2013, S. 92).2 Die Psychoanalyse ist, mit anderen Worten, hinter ihr einstiges Selbstverständnis als einer emanzipatorischen Bewegung zurückgefallen und büßt so auch ihr kritisches Bewusstsein von der sozialen Welt ein, in die die Einzelnen eingebettet und mit der sie konfrontiert sind. Ein Rückschritt, den die Psychoanalyse nicht zuletzt mit dem Verlust der kritischen Theorie der Gesellschaft als einer ihrer wichtigsten Gesprächspartnerinnen innerhalb des Projekts einer Selbsterkenntnis und Emanzipation verbindenden Selbstverständigung teuer bezahlte.3
Gewiss rechtfertigen diese Entwicklungen die Rede von einer Verdrängung des Gesellschaftlichen innerhalb der Psychoanalyse, die einen erheblichen Anteil daran hat, dass die Psychoanalyse der Gegenwart mitunter entweder als eine mystifizierende, den Nöten der konkreten Lebenswelt enthobene Ideologie oder aber als ein Reparaturbetrieb bar jeglichen kritisch-aufgeklärten Bewusstseins erscheinen kann. Allerdings, so lehrte schon Freud, gibt es keine Verdrängung ohne eine Wiederkehr des Verdrängten, die symptomhaft ein Insistieren des Verdrängten anzeigt. Und so ließe sich sagen, dass auch das verdrängte Gesellschaftliche der Psychoanalyse beständig wiederkehrt, etwa in Form einer beharrlichen Kritik seitens der critical studies, die psychoanalytischen Theoriestücke krankten an einer Desozialisierung und Depolitisierung. In jüngerer Zeit nimmt diese Wiederkehr des Verdrängten Gestalt an in den Werken des französischen Soziologen Didier Eribon. Unter dem Schlagwort der „soziologische[n] Introspektion“ (Eribon 2017, S. 11) bringt dieser in Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil philosophisch-soziologische Theoreme und literarische Texte mit der eigenen Biographie in Resonanz, um Fragen zu der sozialen Gewalt, die den gesellschaftlichen Strukturen innewohnt und diese gar konstitutiv bestimmt, deutlich hervortreten zu lassen. Die soziologisch-literarische Geschichte, die aus Eribons Schreiben hervorgeht, kreist vor allem um das Thema der Klassenflucht und das Erleben des Flüchtigen selbst, der, zugleich befreit wie entfremdet, mit dem Affekt der Herkunftsscham zu kämpfen haben wird. Die Psychoanalyse und ihre Theoriestücke indes werden im Rahmen dieses Projektes wiederholt und mit einiger Vehemenz zurückgewiesen. Eribon selbst schreibt zu dieser Ablehnung: „Immer schon habe ich die Psychoanalyse instinktiv zurückgewiesen, mich gegen sie aufgelehnt oder mich ganz und gar von ihr abgestoßen gefühlt. Dazu stehe ich auch heute voll und ganz.“ (Eribon 2017, S. 62f.)
Auffällig ist, wie Eribon die Psychoanalyse oft einzig erwähnt, um herauszustellen, dass sie zu den jeweils relevanten soziologischen Fragen keinen Beitrag leisten könne. Warum, so möchte man fragen, aber dann überhaupt von ihr sprechen? Man könnte dieses Symptom im Lichte des Freudschen Begriffs der Verneinung lesen: Im gleichnamigen Text aus dem Jahr 1925 beschreibt Freud einen Patienten, der hinsichtlich einer Frauenfigur in einem Traum beteuert, es handle sich dabei nicht um seine Mutter. Freud, der hier eine Nicht-Koinzidenz zwischen dem Prozess des Aussagens und dem Inhalt des Ausgesagten erkennt, deutet „Die Mutter ist es nicht“ gerade als „Es ist also die Mutter“ (Freud 1955, S. 11). Und ließe sich die Ablehnung der Psychoanalyse seitens Eribon gemäß dem Freudschen Schema der Verneinung nicht wie folgt variieren: „Mir ist zwar die Psychoanalyse zu diesem Aspekt eingefallen, aber ich habe keine Lust, diesen Einfall gelten zu lassen“? Interessanterweise ist es dann Eribon selbst, der einen Anhaltspunkt dafür gibt, dass die Psychoanalyse im Rahmen einer soziologischen Introspektion doch einen Beitrag leisten kann: Wenngleich er sich wiederholt gegen einen, wie er sagt, „ordinären“ Lacanismus verwahrt, ist es doch Jacques Lacan, auf den er sich bezieht, wenn er mit Blick auf eine Szene aus seiner Kindheit die Vorstellung eines „gesellschaftlichen Spiegelstadiums“ (Eribon 2016, S. 89) aufruft, in welchem ein Bewusstsein des eigenen gesellschaftlichen Platzes sich einstellt.
Dieser Idee eines gesellschaftlichen Spiegelstadiums soll im Folgenden nachgedacht werden, und zwar aus zweierlei Gründen: Zunächst bietet sie einen Ansatzpunkt dafür, das Lacansche Denken mit dem Verdacht einer Verdrängung des Gesellschaftlichen zu konfrontieren. Es stimmt zwar, dass Lacan die Konstitution des Subjekts als gesellschaftliche betont, so diese in der Ordnung des Symbolischen sich vollzieht, welche die Sprache und das Soziale gleichermaßen einschließt (Vgl. Lacan 2013). Doch ist gleichwohl zu fragen, ob diese unterwerfende Subjektwerdung [assujettisement] hinsichtlich der Dimension sozialer Gewalt von Lacan wirklich konsequent auserzählt wird. Der Begriff des Subjekts suggeriert, wie Michel Foucault zurecht betont, „eine Form von Macht, die unterjocht und unterwirft“ (Foucault 2005, S. 245). Im Moment seines Werdens ist das Subjekt also nicht nur dem Gesetz der Sprache, sondern ebenso immer schon einer Struktur von Herrschaft unterworfen, die sich durch eine Asymmetrie auszeichnet: die einen herrschen über die anderen. In dieser Ordnung zirkulieren soziale Urteilssprüche, welche die Subjekte in ihrem Selbstbezug auf tiefgreifende und ebenso gewaltsame Weise prägen. Als Form gesellschaftlicher Macht schlagen sich diese Urteile gerade im scheinbar Privaten nieder, gilt doch diese Machtform „dem unmittelbaren Alltagesleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben“ (Ebd.).4 Eribon, der nicht müde wird auf die Gewaltsamkeit solcher Unterwerfungsweisen und sozialer Determinismen hinzuweisen, könnte sich hier als fruchtbare Ergänzung des Lacanschen Theoriegebäudes erweisen.
Darüber hinaus lässt sich mit der Idee eines gesellschaftlichen Spiegelstadiums zeigen, inwiefern die Wiederkehr des verdrängten Gesellschaftlichen auch auf der individualpsychologischen Ebene bedeutsam ist: Es sind die Klassenflüchtigen, die die Irreversibilität der ursprünglichen sozialen Einschreibung in einem Unbehagen erkennen müssen, das sich nicht selten um den Affekt, vielleicht sogar das Trauma einer sozialen, das heißt Herkunftsscham zentriert. Auch für diesen Impuls sollte die Psychoanalyse sich offenhalten: Hat sie einerseits Affekte wie Angst und Scham tendenziell eher im sexualtheoretischen als im gesellschaftskritischen Kontext betrachtet, so priorisierte sie andererseits die Schuld oft gegenüber der Scham in ihren zentralen Lehrstücken wie dem Ödipuskomplex.
Worum also wird es im Folgenden gehen? Wenn der Blick auf die unglückliche Psychoanalyse unserer Tage – zumal in Kontrast zur Erinnerung an ihre emanzipatorischen Ideale von einst – eine Verdrängung des Gesellschaftlichen erkennen lässt, dann soll der Wiederkehr dieses gesellschaftlichen Verdrängten eine Sprache, eine zusätzliche Stimme gegeben werden. Dem Projekt Eribons wollen sich die folgenden Gedanken dabei insofern verpflichten, als ein mehrheitlich soziologisches Vokabular bemüht wird, um Phänomene zu beschreiben, die innerhalb des Feldes der Psychoanalyse zuvor vielleicht angedacht wurden, aber hinsichtlich ihrer sozialen, gesellschaftlichen Dimension nicht die derart eingehende Betrachtung erfahren haben, die sie verdienen. Wohlverstanden, die barsche Zurückweisung der Psychoanalyse im Allgemeinen und Lacans im Besonderen, wie sie bei Eribon beobachtet werden kann, ist nicht zu wiederholen. Einen rigiden Monoperspektivismus gilt es zu vermeiden – und zwar um einer pluralen Perspektive willen, die es gestattet, sich offen zu halten für das, was Psychoanalyse, Philosophie und eine kritische Soziologie einander in ihren emanzipatorischen Ausrichtungen zu sagen haben. Und es mag daher nicht verwundern, wenn die hier zu entwickelnden Gedanken am Ende ihres Weges zur Psychoanalyse zurückkehren werden, da sie versuchen, eine Möglichkeit zu ersinnen, wie das Leiden des Subjekts an seiner Herkunft und der sozialen Scham, die es aufgrund dieser Herkunft empfindet, zu bewältigen sein kann.
2. Ein gesellschaftliches Spiegelstadium
Lacans Lehrstück des Spiegelstadiums (Lacan 2016a) lässt sich als Urszene der Ich-Konstitution begreifen: Das Kind, das seinen Körper bis dahin als einen fragmentierten erlebt, erkennt sich nun vermittelt über sein Spiegelbild als Ganzheit. Es nimmt dieses Bild seines Körpers auf sich, richtet es in sich auf, identifiziert sich mit der Vorstellung von Identität und Ganzheit, die es darstellt. Der aus diesem Vorgang resultierenden imaginären Instanz des Ich [moi] steht Lacan jedoch skeptisch gegenüber; er sieht in ihr das Produkt einer Verkennung, ist doch das Kind als Blickendes ein anderes, als es als Erblicktes ist. Jede weitere Identifizierung, die diesem Schema – der Aufrichtung eines Äußeren im Inneren – folgt, wird dem Bemühen einer Behauptung der Vorstellung einer Sich-selbst-Gleichheit dienen. Gleichwohl aber wird ebenso jedes weitere Sich-Erkennen im Spiegel des Anderen der Struktur nach das Moment der Verkennung in sich tragen und die imaginäre Selbstgewissheit von einer Fremdheit des Äußeren subvertiert sein – daher Lacans Insistieren, das Ich sei je ein Anderer.
Wie nun gelangt Eribon von dieser Konzeption Lacans zu dem, was er ein gesellschaftliches Spiegelstadium nennt? Als Ausgangspunkt dient ihm eine eindringliche Szene aus seiner Kindheit, die er in Rückkehr nach Reims wie folgt beschreibt:
„Nachdem er zwei oder drei Tage verschwunden gewesen war, kam mein Vater sturzbesoffen nach Hause. (‚Freitags machte er nach dem Feierabend gerne mal einen drauf und schlief dann oft auswärts‘, sagte mir meine Mutter.) Er griff sich sämtliche Flaschen, die er kriegen konnte (Milch, Wein, Speiseöl), und schleuderte sie krachend gegen eine Wand. Mein Bruder und ich heulten und klammerten uns an unsere Mutter, die zwischen Wut und Verzweiflung schwankte: ‚Pass wenigstens auf die Kinder auf!‘, rief sie.“ (Eribon 2016, S. 88)
Eribon spricht von dieser Szene als einer „Urszene“, sie ist also als konstitutiv anzunehmen, etwas bildet sich hier erstmalig heraus. Als eine Art gesellschaftliches Spiegelstadium gilt sie ihm insofern, als sie „mit einer Bewusstwerdung und einer Erkenntnis der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu einhergeht, in dem bestimmte Verhaltens- und Handlungsweisen vorherrschen“ (Ebd., S. 89). Analog zum Schema des Lacanschen Spiegelstadiums wird auch hier etwas Äußeres als Eigenes erkannt, verinnerlicht und als ein Teil des Ich-Bewusstseins aufgerichtet. Die Koordinaten des In-der-Welt-seins treten ins Bewusstsein als Wissen um die soziale Einschreibung, die Zuweisung eines gesellschaftlichen Platzes. Gleichwohl, die Identifizierung als Aufrichtung des Äußeren im Inneren vollzieht sich hier im Vergleich zu Lacans Modell gleichsam unter umgekehrtem Vorzeichen: Während das Kind sein eigenes Spiegelbild in einer jubilatorischen Geste der Selbstermächtigung auf sich nimmt (Vgl. Lacan 2016a, S. 110), eignet der Bewusstwerdung im Rahmen eines Eribonschen Spiegelstadiums etwas Befremdendes. Der Vater zeigt sich dem Kind hier auf eine erschreckend brutale, gewalttätige Weise. Als solcher bleibt er jedoch das Oberhaupt der Familie und gilt dem Kind als Verkörperung des Gesetzes, dem es sich, als dieser Familie zugehörend, zu unterwerfen hat. Im Bild des Vaters erkennt das Kind mithin seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Um-Welt, die fortan unter dem Eindruck jener erschreckenden Beobachtung stehen wird. Befremdend ist das gesellschaftliche Spiegelstadium folglich in dem Sinne, dass diese Identifizierung unter negativem Vorzeichen die bis dahin als gleichermaßen natürlich wie bruchlos erlebte Einbettung in die alltägliche soziale Lebenswelt stören wird.
Diese Wirkung findet sich auch in Annie Ernaux‘ Werk wiederholt beschrieben, die sich als Klassenflüchtige ähnlich wie Eribon, wenngleich aus einer stärker literarischen Perspektive, mit Fragen der Klassendistanz und Herkunftsscham befasst. In ihrem Buch Die Scham schildert Ernaux die Szene eines eskalierenden elterlichen Streits, deren Zeugin sie im Alter von zwölf Jahren geworden ist:
„Mein Vater saß am Tisch, sah zum Fenster und antwortete nicht. Mit einem Mal begann er krampfartig zu zittern und zu keuchen. Er stand auf, und ich sah, wie er meine Mutter packte, sie in die Kneipe schleifte und mit rauer, fremder Stimme schrie. Ich floh in den ersten Stock und warf mich auf mein Bett, presste den Kopf ins Kissen. Dann hörte ich meine Mutter brüllen: ‚Tochter!‘ Ihre Stimme kam aus der Vorratskammer neben der Kneipe. Ich rannte die Treppe hinunter und rief, so laut ich konnte, um Hilfe. In der schlecht beleuchteten Vorratskammer hatte mein Vater meine Mutter mit der einen Hand an der Schulter oder am Hals gepackt. In der anderen hielt er das Beil, das er aus dem Klotz gerissen hatte. Ab hier erinnere ich mich nur noch an Tränen und Geschrei.“ (Ernaux 2020a, S. 10)
Auch dies eine „Urszene“ im Eribonschen Sinne, deren Auswirkung auf das eigene Bewusstsein Ernaux wie folgt beschreibt:
„Wir gehörten nicht länger zu den anständigen Leuten, die nicht trinken, sich nicht prügeln, sich ordentlich kleiden, wenn sie in die Stadt gehen. […] Ich hatte gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen. Ich wusste etwas, was ich in der sozialen Unschuld der Privatschule nicht hätte wissen dürfen, etwas, was mich auf unsagbare Weise in das Lager derjenigen einordnete, deren Gewalttätigkeit, Alkoholismus und geistige Verwirrung den Stoff für Erzählungen lieferten, die mit ‚so was ist wirklich traurig mit anzusehen‘ endeten.“ (Ernaux 2020a, S. 90f.)
Nicht selten verschafft das Erleben einer solchen Szene das Gefühl, nunmehr auf das Beobachtete im Sinne eines sozialen Determinismus festgelegt zu sein.5 So schreibt etwa Eribon zum Bild seines Vaters, das sich ihm in der beschriebenen Szene zeigte: „Es konfrontierte mich mit einer klassenspezifischen Situation und mit einem Selbst, das zu sein und zu werden ich durch das Vorbild dieses anderen bestimmt war“ (Eribon 2016, S. 89). Infolge dieses sozialen Einschnittes ändert sich der Welt- und Selbstbezug radikal.
Wenn aber, wie dargelegt, ein gesellschaftliches Spiegelstadium in der Bewusstwerdung der sozialen Einschreibung resultiert, im Erkennen des zugewiesenen gesellschaftlichen Platzes – dann muss ebendieser Platz bereits zugewiesen und eingenommen worden sein. Dies gestattet es, auf die Frage der Subjektwerdung innerhalb der Ordnung des Symbolischen zurückzukommen. Lacan zufolge wird der Mensch erst eigentlich Subjekt, wenn er sich dem Gesetz der symbolischen Ordnung unterwirft, oder genauer: dem Namen bzw. Nein des Vaters [nom/non du père], der dieses Gesetz symbolisiert. Dieses Gesetz nun hat zwei Komponenten: eine linguistische, so es das nicht-psychotische Funktionieren der Sprache gewährleistet (wie von Lacan vor allem im Seminar von 1955/56 betont), als auch eine soziokulturelle, die sich in der Durchsetzung des Inzestverbots sowie der Anerkennung des Geschlechts- und des Generationenunterschiedes ausdrückt. Wenngleich der soziokulturelle Aspekt des väterlichen Gesetzes von Lacan als gesellschaftlich angedacht ist, fällt doch auf, dass er maßgeblich auf das psychoanalytische Hauptlehrstück des Ödipuskomplexes und damit auf einen innerfamilialen Rahmen bezogen bleibt. Dieser eher enge Blickwinkel aber lässt sich durch Einsichten der kritischen Soziologie Eribons erweitern, sodass sich die Strukturierungsleistung des väterlichen Gesetzes auch als eine soziale erkennen lässt. Es ließe sich etwa die Formel von der „Anerkennung des Namens des Vaters“ in einem doppelten Sinne verstehen: einmal als die Anerkennung des symbolischen, metapsychologisch verstandenen Namens des Vaters, und darüber hinaus als die Anerkennung des Namens des realen, leiblich präsenten Vaters. Dessen Namen als den eigenen anzuerkennen bedeutet dann, sich in die Traditionslinie einer familialen Genealogie einzuschreiben, die wiederum, mit Eribon gesprochen, an eine bestimmte soziale Archäologie, ein spezifisches soziales Feld geknüpft ist (Vgl. Eribon 2016, S. 17). So erscheint die unterwerfende Subjektivierung zugleich als der Akt einer sozialen Einschreibung, die das Subjekt in einer sozialen – und das heißt nicht zuletzt auch heute: klassenspezifischen – Vergangenheit verankert.
Folgt man dem kultursoziologischen Gedanken, in deren Nachfolge Eribon sich stellt, ist hier zu ergänzen: Das Subjekt ist nicht nur Teil einer Sozialgeschichte – es verkörpert diese vielmehr. Damit ist auf Pierre Bourdieus Begriff des Habitus angesprochen, das heißt auf ein Ensemble feld- oder klassenspezifischer Dispositionen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, die sich als Manifestationen ebenjener spezifischen Sozialgeschichte herausbilden (Vgl. Bourdieu 1993, S. 101). Von diesen Strukturen geprägt, wird das Subjekt sie zugleich in der Gestalt individueller und kollektiver Praktiken reproduzieren und im Rahmen der je individuellen Genealogie die Geschichte der sozialen Archäologie, aus der es hervorgeht, fortschreiben (Vgl. ebd., S. 103). Bourdieus Habitus-Begriff beschreibt damit eine Reproduktion, ja Vererbung nicht nur sozialer, sondern auch mentaler Strukturen und führt vor Augen, was man eine Soziogenese der Psyche nennen kann: Unsere Persönlichkeit wie auch unsere Subjektivität sind stets auch ein lebendiger Ausdruck – ein Spiegelbild – der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Geschichte, in die wir eingeschrieben sind.
3. Die Gewalt der Bilder
Zu klären bleibt, wie die Scham in diese komplexe Dynamik aus sozialer Situiertheit, der Geschichte gesellschaftlicher Strukturen und letztlich dem Bewusstsein der Verwobenheit dieser Einzug erhält. Auf welche Weise wird Scham, zumal als soziale, hervorgerufen?
Ein philosophischer Hinweis zur Scham im Allgemeinen findet sich etwa in Jean-Paul Sartres Das Sein und das Nichts, genauer noch, im Blick-Kapitel des Werks (Sartre 1993, S. 457ff.): Sartre beschreibt dort eine Szenerie, in der ein voyeuristisches Subjekt andere durch ein Schlüsselloch beobachtet, sie dergestalt zum Objekt seines Blicks machend. Sodann wird dieses voyeuristische Subjekt seinerseits von einem Dritten beobachtet und erfährt sich, dies bemerkend, als Objekt des Blicks dieses Anderen und empfindet eine tiefe Scham, da die Souveränität seines Auges durch den Blick des Anderen, der es als Voyeur erkennt, gebrochen wird. Diese Szene offenbart einen Zusammenhang zwischen Scham einerseits und einem Gesehen-Werden andererseits: Scham empfindet, wer sich, im Zentrum des Blicks eines Anderen stehend, als etwas erkannt findet. Dieser Erfahrung, gesehen und erkannt worden zu sein, korrespondiert sodann ein Gefühl der Erniedrigung: man schämt sich dessen, als was man sich erkannt findet.
Nun befassen sich Eribon und Ernaux im Rahmen ihrer Projekte mit der sozialen, das heißt Herkunftsscham als einer besonderen Form der Scham; die spezifische Perspektive, die sie dabei einnehmen, ist die von Klassenflüchtigen oder sozialen Überläufern. Eribon beschreibt die Klassenflucht anhand der Metapher des „Vater-mordes“: dieser „bezeichnet für alle diejenigen, die sich in eine andere ‚Welt‘ begeben, die Zurückweisung der eigenen Familie als konstruktives Prinzip des Selbst und des Weltbezugs“ (Eribon 2017, S. 88). Ein ebenso radikaler wie weitreichender Bruch, so „Vater“ als bewusst weit gefasster Begriff hier die Familie, das Herkunftsmilieu und die Herkunftskultur einbegreift. Vor diesem Hintergrund lässt sich durchaus sagen, dass eine solche Lossagung sich auf Grundlage der oben beschriebenen Befremdungseffekte des gesellschaftlichen Spiegelstadiums vollzieht: Die Befremdung gegenüber dem Herkunftsmilieu wird zur Entfremdung von diesem, wenn die habitusspezifischen Ideale, hervorgegangen aus frühen Identifizierungen im Rahmen einer dem jeweiligen Milieu entsprechenden primären Sozialisation, gestürzt werden. Wie der Blick auf die Biographien Eribons und Ernaux‘ zeigt6, erweist sich eine kulturelle Selbst-Transformation dabei oft als Triebfeder der sozialen: Einen regelrechten Willen zum Wissen verspüren, sich politisch bilden, involvieren, engagieren, sich in Romanen, in den Worten anderer wiederfinden, Philosophie und Literatur, Denken und Sprache als Werkzeuge einer gestalterischen Arbeit am Selbst entdecken – all dies bedeutet letztlich, die legitime Kultur der gehobenen Klassen zu affirmieren und in ihr das Instrument einer sozialen Desidentifikation zu finden.
Auf diese Weise mit dem Herkunftsmilieu zu brechen, bedeutet einen Teil seiner selbst zu negieren. Doch verschwindet dieser Teil, allem Bemühen zum Trotz, nicht einfach, sondern kann unter bestimmten Bedingungen geradezu gewaltsam andrängen, da die Klassenflüchtigen sich eigentlich von ihm befreit wähnen – in diesem Sinne ist auch hier, nunmehr auf einer individualpsychologischen Ebene, die Rede von einer Wiederkehr des verdrängten Sozialen oder Gesellschaftlichen gerechtfertigt. Nichts macht dies deutlicher als das Erleben, dem man sich beim Betrachten alter Fotografien aus der eigenen Kindheit und Jugend ausgesetzt finden kann. Ein entsprechend hoher Stellenwert kommt solchen Fotografien in der Selbstverständigung Ernaux‘ und Eribons zu: „Die Rückbesinnung auf eine Familien- und Sozialgeschichte muss sich geradezu auf das Betrachten alter Fotografien stützen“, schreibt Letzterer in Rückkehr nach Reims und auch Ernaux erkundet die Sozialgeschichte, in welche sie eingeschrieben ist, stets ausgehend von Fotografien aus ihrer Kindheit und Jugend. Als materielle Zeugnisse der Vergangenheit erzählen Fotografien von dieser; zugleich aber geht die Wirkung von Fotografien über die narrative Funktion hinaus, da sie in der Lage sind, ihre Betrachter*innen in hohem Maße zu affizieren, gar zu schockieren. Man kann sich diesem Doppelcharakter der Fotografie mit Roland Barthes‘ Theorie der Fotografie zuwenden, die in seinem Werk Die helle Kammer entfaltet wird. Barthes differenziert dort zwischen zwei Elementen der Fotografie, dem studium und dem punctum: Das studium ist das lesbare, gewissermaßen kommensurable Element der Fotografie (das heißt es ist imaginär-symbolisch repräsentiert). Die Fotografie ist in der Lage zu sprechen und zu bedeuten, und zwar gemäß einer soziokulturellen Kodierung: Sie verschafft auf diese Weise erneut Zutritt zum Herkunftsmilieu, zu seiner spezifischen Sprache, dem System seiner Regeln, Gepflogenheiten, typischen Gesten usw. Das punctum hingegen widersetzt sich dieser Lesbarkeit der Fotografie, macht sprachlos, da es den Betrachter affiziert, ihn angeht: „Diesmal bin ich nicht es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studiums mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren“ (Barthes 1989, S. 59).7 Im punctum ist die Fotografie von einer ungebrochenen Evidenz, sie zwingt mich als Betrachter zu sehen, wovon der Text der Fotografie nicht zu erzählen vermag: Es ist dies das Trauma der sozialen Einschreibung, dessen unverwischbare Spur zurückführt zur Urszene des gesellschaftlichen Spiegelstadiums und mich unerbittlich an diese bindet. Eine regelrechte Heimsuchung durch das Verdrängte, wie sie von Eribon eindrücklich beschrieben wird:
„Unnachgiebig gravieren sie [derartige Fotografien] die Markierungen des Gewesenen in das ein, was wir jetzt sind und vielleicht nicht mehr sein wollen. Gegen unseren Willen kommt zu uns zurück, wovon wir uns losreißen wollten, und ja, in diesem Fall ist die Vergangenheit die Hölle, genau wie auch die Menschen die Hölle sind, die sie als unsere Vergangenheit festschreiben und dadurch ein soziales Sein, eine feste Identität zuweisen.“ (Eribon 2017, S. 24)
Erscheint hier nicht Sartres Dialektik des Blicks als ein innerpsychisches Geschehen? Wie der Voyeur, so erfahre auch ich als Betrachter mich im dialektischen Umschlag als Objekt eines Blicks, der mich aus dem punctum der Fotografie heraus trifft. Mithin fühle ich mich gesehen, erkannt – doch als was? Als genau das, als was mich die Fotografie mich selbst zu sehen zwingt, das heißt als Jemanden, dessen individuelle Genealogie ihn in einem als (sozial, ökonomisch, kulturell) minderwertig erachteten Feld verankert.8 Dieser Herkunft schäme ich mich deshalb, da ich im Rahmen dieser Dynamik eine doppelte Position besetze: Als Objekt des Blicks bin ich Vertreter der populären Klasse, als Blickender jedoch gehöre ich der legitimen Kultur der gehobenen Klassen an, ist doch die Unterwerfung unter deren Normen der Preis meiner Klassenflucht wie der damit einhergehenden sekundären Identifizierung. Nicht zuletzt offenbart sich Herkunftsscham derart als der Effekt eines gesellschaftlichen Urteilsspruchs der legitimen Kultur über die populäre Kultur und ihre Anhänger, als Kind eines verinnerlichten Herrschaftsverhältnisses und der sozialen Gewalt, die diesem innewohnt und es aufrechterhält.
Es bietet sich an diesem Punkt ein Rückblick auf die „Urszenen“ Ernaux‘ und Eribons an, der nunmehr erkennen lässt, dass die Scham, die aus diesen Szenen resultiert und an die sie geknüpft bleibt, eine im psychoanalytischen Sinne nachträgliche ist: Sie ist gebunden an die Perspektive der Klassenflüchtigen, die als eine in sich gespaltene Sehen und Gesehen-Werden gleichermaßen einbegreift.9 Das Beispiel Eribons mag dies verdeutlichen: Beim Betrachten einer Fotografie aus seiner Kindheit findet sich der erwachsene Intellektuelle mit seiner ursprünglichen sozialen Einschreibung konfrontiert.10 Was die Fotografie ihn zu sehen zwingt, ist ein unauslöschlicher Teil seiner Vergangenheit, gleichsam der Boden, in welchem seine individuelle Genealogie wurzelt. Mit anderen Worten erkennt sich Eribon als Vertreter einer populären Kultur, doch vollzieht sich dies Erkennen aus der Position eines Vertreters der legitimen Kultur heraus, welcher der Denker und Autor nunmehr angehört. Es ist dieses Ungleichgewicht der sozialen Positionen von Blickendem und Erblicktem, das dem Blick den Charakter eines gesellschaftlichen Urteilsspruches gibt. Die soziale Scham, von der die Erzählung jener Urszene zeugt, ist die des erwachsenen Mannes, rückwirkend projiziert in eine Szene der Kindheit; sie gründet in einer inneren Zerrissenheit, wie sie Bourdieu vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung kraftvoll als einen „gespaltenen Habitus“ (Bourdieu 2002, S. 123) beschrieben hat und die den Klassenflüchtigen wesentlich eigen ist. Man mag sich vor diesem Hintergrund fragen, ob auch das in jene Urszene involvierte Kind angesichts des Beobachteten schon eine soziale Scham empfunden haben mag? Wie der Gedanke des gespaltenen Habitus als Bedingung sozialer Scham zeigt, bedürfte es dazu einer gewissen Distanz, einer Entfremdung, die von dem zugewiesenen gesellschaftlichen Platz entfernt und den Blick auf diesen verändert. Wenngleich im Falle des Kindes nicht von einer tatsächlichen Spaltung des Habitus ausgegangen werden kann – denn dazu wäre die Geste eines Vatermordes vonnöten –, so vielleicht doch von einer Art feinem Riss, einer Andersheit, einem singulären Moment im Vergleich zur Immergleichheit der reproduzierenden Produktion habitueller Logik. Dieses singuläre Moment stünde für eine ganz andere Disposition, die für ein habitusuntypisches Denken, Wahrnehmen und Urteilen empfänglich machte. Die Akzentuierung und Entwicklung dieser Andersheit – oder, die Sprache Adornos aufnehmend, dieses Nichtidentischen – könnte im Weiteren begünstigt werden durch den Umstand, dass die Familie als repressive Instanz gerade in dieser Repression emanzipatorische „Gegenkräfte“ hervorzubringen vermag (Vgl. Adorno 2003, S. 22f.). Die so begründete Tendenz zu sozialer Scham verschärft sich dann gewiss in dem Maße, in dem die legitime Kultur als Mittel der Ausarbeitung der Gegenkräfte entdeckt und angeeignet wird.
In der Folge dieser Gedanken tritt das eigentliche Dilemma der Klassenflüchtigen deutlich zutage: sich lossagen von der eigenen Familie und dem Herkunftsmilieu, sich weiter und weiter distanzieren wollen, in einer neuen Welt Fuß fassen und doch an die alte gebunden bleiben – nicht zuletzt durch die Herkunftsscham selbst. Das Bewusstsein dieser widersprüchlichen Doppeltheit der sozialen Einschreibung ist freilich schmerzhaft. Mit Hegel ließe sich entsprechend von einem „unglücklichen Bewusstsein“ (Hegel 1986, 163ff.) der Klassenflüchtigen sprechen: Dieses leidet als in sich entzweites Bewusstsein am Schmerz der innerlichen Trennung, da diese eine versöhnende Selbstbegegnung des Einen scheinbar verunmöglicht. Wo sollen die Klassenflüchtigen ihre Wahrheit finden? Sie finden sie nicht – und können sie nicht finden – im Herkunftsmilieu, von dem sie sich über die radikale Geste des Vatermordes losgerissen haben; ebenso wenig aber vermögen sie sie in jener neuen Heimat zu finden, deren Normen sie sich unterworfen haben, um einen Platz in ihr zu finden, so ihre ursprüngliche soziale Einschreibung, einem Schatten der Vergangenheit gleich, die vollkommene Einbettung in die selbstgewählte Lebenswelt verhindert.
4. Eine kleine Phänomenologie der Herkunftsscham
In dem von dieser Spaltung des Bewusstseins eröffneten Raum entfaltet sich und wirkt Herkunftsscham. Die Kraft, mit der sie sich vergegenwärtigt, speist sich aus der sozialen Gewalt, die den internalisierten Herrschaftsverhältnissen innewohnt, deren Kind die Herkunftsscham ist. So durchschlagend die Wirkung dieser besonderen Form der Scham ist, so vielgestaltig kann sie im Erleben in Erscheinung treten. Zahlreiche Schilderungen eines solchen schamvollen Erlebens finden sich in den Werken Ernaux‘ und Eribons; diese zusammenzutragen, wird es nun erlauben, die Betrachtung der Scham um etwas zu ergänzen, das man eine Phänomenologie der Herkunftsscham nennen könnte.
Wie bereits dargestellt, ist die Frage der ursprünglichen sozialen Einschreibung im Kontext der Herkunftsscham entscheidend – der Blick, aus dem diese Scham resultiert, ist ein Blick zurück. Die damit angezeigte Verbindung von Scham und Vergangenheit beschreibt Ernaux in Erinnerung eines Mädchens: „Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grunde die besondere Gabe der Scham“ (Ernaux 2020b, S. 17). Man kann diese Stelle um die Passage ergänzen, mit der Édouard Louis in Das Ende von Eddy die Rückschau auf die eigene Kindheit beginnt: „An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt“ (Louis 2016, S. 11). Zusammen gelesen verweisen diese beiden Passagen darauf, dass der Urteilsspruch, aus dem Herkunftsscham resultiert, für die Klassen-flüchtigen eine Totalisierung der Erinnerung zu einer schmerzhaften Geschichte von Scham und Leid bewirkt – kein Kapitel dieser Geschichte, das aus Sicht der legitimen Kultur, man erinnere Ernaux, nicht „traurig mit anzusehen“ wäre.
Diese Totalisierung erstreckt sich jedoch keineswegs nur auf die Vergangenheit. Für diejenigen, die von Herkunftsscham erfasst sind, formiert sich auch die Gegenwart als eine „schambestimmte, hontologische Realität“ (Eribon 2017, S. 38). Auf diese Weise gerät Scham, wie Ernaux es treffend beschreibt, zur Seinsweise. Mit anderen Worten ließe sich sagen, dass es die Scham ist, die gleichsam die Koordinaten des In-der-Welt-seins bestimmt, sodass sich aus ihr eine ganze Reihe von Empfindungen und Verhaltensweisen ergibt, die das Leben in seiner Alltäglichkeit zutiefst prägen. Zuallererst ist diesbezüglich noch einmal auf das unglückliche Bewusstsein der Klassenflüchtigen zu verweisen, dem in kultursoziologischer Hinsicht ein gespaltener Habitus korrespondiert: Dieser Widerspruch, die Unfähigkeit, die eigene soziale Wahrheit klar zu situieren, findet ihren Ausdruck in dem Gefühl, deplatziert zu sein. Eine gewisse Fremdheit begleitet dann alle Versuche, bestimmten Rollenerwartungen innerhalb der neuen Lebenswelt zu entsprechen und die ursprüngliche soziale Einschreibung, welche die Vergangenheit überdauert hat, stört noch in der Gegenwart jede Bemühung, mit sich selbst übereinzustimmen (Vgl. ebd., S. 40f.).
In diesem Erleben bin ich selbst derjenige, der sich permanent als das erkennt, dessen ich mich schäme. So ausweglos diese innere Dynamik des Blicks erscheinen mag, so eminent wichtig wird gleichzeitig, zu verhindern, dass ein von außen her kommender Blick eines Anderen mich zum Objekt macht und als minderwertig erkennt, zu welchem Zweck ich mir als Klassenflüchtigem ein ganzes System von Zwängen und Einschränkungen auferlege: „Ausflüchte und das Verwischen von Spuren; sehr wenige Freunde, die Bescheid wissen und schweigen; je nach Situation und Gesprächspartner variierende Sprachregister; permanente Kontrolle der Gesten, Vokabeln und der Intonation, um ja nichts durchscheinen zu lassen, sich ja nicht zu verraten […].“ (Eribon 2016, S. 20f.)
All diese Maßnahmen tragen nun aber nicht zu einer versöhnenden Auflösung der inneren Spaltung bei, sondern verstetigen diese vielmehr und intensivieren das Bewusstsein von der eigenen sozialen Minderwertigkeit, je gewissenhafter diese vor den Augen anderer versteckt wird. Oder mit den Worten Ernaux‘: „Die Scham ist nichts als Wiederholung und Akkumulation“ (Ernaux 2020a, S. 109), das heißt sie insistiert und vermittelt den Eindruck, „dass es nie aufhören wird, dass die Scham zu immer mehr Scham führen wird“ (Ebd., S. 54). Je größer die Investitionen in die Verheimlichung der Herkunft, desto mehr steigert sich die Angst, man könnte sich doch verraten, jemand könnte etwas erahnen. Angst wird auf diese Weise zur Gefährtin sozialer Scham: dauert sie an, so kann sie eine Vereinzelung, einen Rückzug aus der sozialen Lebenswelt des Alltags, sowie eine entsprechende Dramatisierung im Denken bewirken: „Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet“ (Ebd., S. 91).
All diese Zwänge und Einschränkungen verdichten sich in einer geradezu existentiellen Schwere, die auf die Bürde der Klassenflüchtigen zurückgeht, im andauernden Bewusstsein einer sozialen Minderwertigkeit zu leben. Ernaux beschreibt diese Erfahrung als „Erfahrung der Nichtung“, die von einer gewissen Unhintergehbarkeit zu sein scheint. Und wenn Ernaux dann zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Bilder ihrer Vergangenheit einzig von dieser Scham zusammengehalten und geordnet werden, wenn sie schreibt: „Die Scham ist die letzte Wahrheit“ (Ebd., S. 105) – dann wird deutlich, dass sie der Scham hier eine ontologische Qualität zuspricht. Die existentielle Verfasstheit der Klassenflüchtigen erweist sich daher als zutiefst von Herkunftsscham geprägt: Diese prägt nicht nur seine Bewusstseinsstruktur (unglückliches Bewusstsein), sondern manifestiert sich zugleich als verkörpertes Zeichen der ursprünglichen sozialen Einschreibung (gespaltener Habitus).11
5. Einspruch einlegen12
Unbeantwortet verbleibt bis hierhin die Frage nach einem gelingenden Umgang mit sozialer Scham, nach der Möglichkeit, sie zu überwinden. Kann es eine solche aber überhaupt geben, so tief, wie die Scham in der Struktur des Selbst verwurzelt ist? Wenn Eribon hinsichtlich seiner Rückkehr in die Welt seiner Herkunft befindet: „Man kann ein Buch über die Scham geschrieben haben, ohne sie zu überwinden“ (Eribon 2017, S. 37), so zeichnet er ein eher pessimistisches Bild. Ja, die Vergangenheit überdauert alle Anstrengungen, sie zu tilgen, und mit ihr widersteht die Scham den wiederholten Versuchen, sie durch Offenlegung gleichsam zu dekonstruieren – die Gegenwart ist zu Teilen eben eine Gegenwart der Vergangenheit. Dass man als Klassenflüchtige*r jedoch nicht unbedingt auf schicksalhafte Weise auf ein unglückliches Bewusstsein festgelegt sein muss, diese Hoffnung schürt Eribon wiederum da, wo er sich auf Bourdieus Begriff einer Wiederaneignung der Herkunftskultur bezieht. Genauer handelt es sich bei dieser Referenz um einen Text Bourdieus mit dem Titel „Odyssee der Wiederaneignung“ [L‘ Odyssée de la réappropriation]: „Eine solche Odyssee“, schreibt Bourdieu, „haben all diejenigen zu durchlaufen, die aus einer beherrschten Gesellschaft, einer beherrschten Klasse oder einem beherrschten Land kommen und die sich finden oder wiederfinden wollen.“ (zitiert nach Eribon 2017, S. 86) In seinem Selbstversuch gewährt er einen Einblick in diese Wiederaneignung im Rahmen seiner frühen ethnologischen Arbeiten zu ebenjener ländlich-bäuerlichen Region, in der er selbst seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Nunmehr Wissenschaftler, trat Bourdieu – im Zeichen dieser Wissenschaft – seine Rückkehr zu seiner Herkunftskultur, deren Menschen und deren Dingen an:
„Ein ganzer Teil meiner selbst wird mir wiedergegeben, jener, durch den ich ihnen ähnlich war und der mich ihnen gleichzeitig entfremdete, weil ich ihn nur verleugnen konnte, indem ich sie verleugnete, im Banne der Scham, die ich für sie und für mich empfand – die Rückkehr zu den Ursprüngen wird begleitet von einer dennoch beherrschten Rückkehr des Verdrängten.“ (Bourdieu 2002, S. 71)
Um ein simples „Zurück“ kann es sich bei dieser Wiederaneignung nicht handeln. Der Wunsch der sozialen Überläufer, sich gänzlich heimisch fühlen zu können, darf nicht in eine blinde Rehabilitierung oder gar nobilitierende Überhöhung des Verworfenen – und das heißt auch eines Teils ihrer selbst – verkehrt werden, denn dies deckte die Spaltung von Bewusstsein und also Habitus vielmehr zu als dass es einen versöhnenden Umgang mit diesem Selbstwiderspruch fände. Für die Rückkehrenden ergibt sich hieraus ein Dilemma, das Ernaux präzise beschreibt: „Schmaler Grat des Schreibens: eine als minderwertig betrachtete Lebensform rehabilitieren und zugleich die Entfremdung anklagen, die sie mit sich bringt. […] Der Eindruck, von der einen zur anderen Seite dieses Widerspruchs zu taumeln“ (Ernaux 1988, S. 40f.).
Stattdessen, so sieht es Eribon, der sich damit sehr strikt an Bourdieu orientiert, sei der Wiederaneignung die Form einer (soziologischen, ethnologischen, literarischen) Analyse zu geben (Eribon 2017, S. 84). Diese Position ist aus verschiedenen Gründen problematisch: Zunächst einmal bedeutet die Formel von der Wiederaneignung als Analyse, dass die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit unter Zuhilfenahme genau der Instrumente realisiert werden soll, die man genutzt hatte, um sich selbst vom Herkunftsmilieu loszureißen und sich gegen dessen Kultur als ein*e ganz Andere*r zu konstruieren. Insofern bleibt die Herkunftskultur hier noch immer Objekt des Blicks der legitimen Kultur und es ist die wissenschaftliche Distanz zum Erkenntnisobjekt, die dazu beitragen könnte, die vermittels sozialer Gewalt hergestellte Distanz zwischen den sozialen Milieus zu verstetigen. Gewiss ermöglicht es eine solche analytisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise, die verlassene Welt auf tiefgreifende Weise neu zu verstehen. Gleichwohl aber läuft die Wiederaneignung als analytische zudem Gefahr, sich selbst als ein rein intellektualistisches Unterfangen (miss)zu verstehen und damit zu limitieren. Gerade die soziale Instanz der Familie ist oft und stark von einer affektiven Logik geprägt, welche Schuldgefühle, Formen der Liebe wie der Aggression, Ängste und dergleichen mehr ins Spiel bringt, wo die Bindung an den Kern des Herkunftsmilieus fraglich wird. Diese affektive Dimension zugunsten einer rein intellektuell sich verstehenden Wiederaneignung zu vernachlässigen, lässt sich vor diesem Hintergrund als psychischer Abwehrmechanismus verstehen, der etwas von der hergestellten Distanz zur Welt der Herkunft auch im Vorhaben einer Wiedererlangung derselben aufrechterhalten wird (und vielleicht sogar will) – zum Schutz vor der Gewalt andrängender Affekte wie auch der Gewalt des Traumas der ursprünglichen sozialen Einschreibung.
Man kann sich, um einen umfassenderen Begriff einer Wiederaneignung zu erschließen, an dieser Stelle auf Ideen aus dem Feld der Psychoanalyse berufen. Lacan etwa spricht in seiner Rede von Rom, da er Partei ergreift für die Grundeinsichten der Freudschen Psychoanalyse, vom „Auf-sich-nehmen seiner Geschichte durch das Subjekt“ (Lacan 2016b, S. 302). Es ist möglich, dass einzelne Kapitel dieser Geschichte erst noch erschlossen, das heißt zu Bewusstsein gebracht, oder gar konstruiert werden müssen, bevor sie sich in die Erzählung der eigenen Geschichte einordnen lassen und dieser zumindest etwas von der herbeigesehnten Kohärenz geben. Soll aber diese Geschichte auf sich genommen werden können, so muss das Subjekt sich allererst selbst als ein solches konstruieren, das in der Lage sein wird, dies Auf-sich-nehmen zu vollziehen. So verstanden, wird sich das Analysanden-Subjekt im Verlauf einer Analyse selbst zum Material einer gestalterischen Arbeit von sich an sich im Sinne der Foucaultschen Selbstpraktiken.13 Eribon hingegen bezieht sich vornehmlich dort auf die Arbeit am Selbst, wo er den Vatermord beschreibt: Selbstpraktiken sozusagen als Mittel einer negativen Arbeit, durch die ich mich von Milieu und Kultur meiner Herkunftswelt löse und mich gewissenhaft gegen diese als jemanden konstruiere, der zu sein mir das gesellschaftliche Spiegelstadium nicht vorhergesagt hatte. Die Arbeit einer Wiederaneignung aber lässt sich ebenfalls als eine Form der Sorge um sich, zielend auf eine gelingende Existenzweise frei vom Schmerz eines unglücklichen Bewusstseins, verstehen. Entscheidend ist, diese Arbeit auch als eine Arbeit an und mit den eigenen Leidenschaften und Affekten zu begreifen – und nicht als eine rein intellektuelle Praxis. Einzig auf diese Weise gelangt man zu einem wirklich umfassenden Begriff der Wiederannäherung, der es den Rückkehrenden erlauben wird, ihre Geschichte – und das heißt eben auch: die Sozialgeschichte, in die sie eingeschrieben sind und die sie verkörpern – auf sich nehmen zu können.
Wie aber lässt sich eine derartige Arbeit von sich an sich im Rahmen einer Wiederaneignung konkret vorstellen? Welche Art Savoir-faire vermittelt sie dem Subjekt? Mit Morel kann besagte Arbeit als eine „Korrektur“ des Symptoms, welches das Kind im Verhältnis zu den Eltern darstellt, verstanden werden; als „erfinderische Antwort auf das Begehren des Anderen“ und damit als Versuch, sich von diesem Anderen (der Herkunftskultur sowie den Eltern als deren Vertreter) zu trennen (Morel 2017, S. 266f.). Sofern diese Korrektur aber darauf zielt, die soziale Scham zu bewältigen, gilt es den Akt der Trennung ebenso gegenüber dem Anderen als der legitimen Kultur mit ihrem urteilenden, strafenden Blick zu vollziehen. Diese doppelte Notwendigkeit der Trennung lässt erkennen, was für die Klassenflüchtigen das zentrale Erfordernis einer gestalterischen Arbeit am Selbst bilden kann: sich dem Postulat der Identität als Sich-selbst-Gleichheit nicht länger zu unterwerfen. Vielmehr käme es im Selbstbezug darauf an, sich als eine Vielheit ebenso konsonanter wie dissonanter Stimmen, Sprachen, Traditionen, Leidenschaften usw. zu begreifen. Es gälte mithin eine Entscheidung zu treffen, wie Paul Auster sie seinem Nachdenken über das Konzept der Identität zugrunde gelegt hat: die Entscheidung nämlich, „jeder zu sein, jeden in dir willkommen zu heißen, um komplett und frei du selbst sein zu können, weil, wer du bist, ein Rätsel bleibt und du keine Hoffnung hast, dass du es jemals lösen wirst“ (Auster 2013, S. 131). Eine derartige Affirmation von Pluralität, von Alterität im Selbstbezug könnte beispielsweise helfen, der Erinnerung an die Urszene des Spiegelstadiums etwas von der existentiellen Dramatik zu nehmen, welche mit dieser verbunden scheint. Wenn Ich je ein Anderer ist und keineswegs der Immergleiche, dann bekundete sich in dieser Erinnerung vielleicht weniger ein übergroßer Makel meiner selbst, als sie vielmehr ein Kapitel unter anderen in der vielstimmigen Erzählung meiner Geschichte darstellte, die mit jeder neuen Erfahrung bereits eine andere gewesen sein wird. Diese Hinwendung zum je Anderen in sich stünde in deutlichem Kontrast zu jener existentiellen Schwere des Mit-sich-selbst-belastet-seins, von dem die Texte Ernaux‘ so eindrücklich Zeugnis ablegen. – Im Rahmen einer so verstandenen Arbeit von sich an sich konstituierte sich nicht nur ein gewandeltes Selbstverhältnis; auch die auf sich zu nehmende Geschichte würde eine nachträgliche Umarbeitung erfahren haben. Idealiter wäre das, was auf sich genommen werden soll, dann aber nicht länger das Bild einer falschen, weil Ganzheit versprechenden Einheit, wie Lacan sie im Spiegelbild des Kindes vorfindet, sondern eine vielstimmige Collage aus pluralen Perspektiven und mannigfaltigen Erfahrungen.
Ob im Rahmen einer solchen Wiederaneignung auch eine vollständige versöhnende Aufhebung der Spaltung des Habitus sich realisieren kann, bleibt fraglich und das Selbstverhältnis, das am Ende eines solchen Prozesses steht – sollte es ein solches Ende geben –, wäre bei aller Ungewissheit ein höchst individuelles. Wichtig ist, dass die Wiederaneignung als eine emanzipatorische Geste den gesellschaftlichen Urteilsspruch, der als Triebfeder sozialer Scham sich erwies, in Frage stellt. Man legt, wie Eribon sagt, Einspruch ein und limitiert den Einflussbereich der Herrschenden auf die Beherrschten. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Rückkehr in die Welt der Herkunft immer auch, ein Risiko einzugehen, sie ist ein Wagnis. Doch erwächst daraus zugleich ein Potenzial:
„Weil es aber keine Instanz gibt, die diesen Einspruch entgegennimmt, muss man in sich selbst und in der sozialen Welt an der Erfindung neuer Möglichkeiten arbeiten, man muss den Widerstand formen, der sich einer Schwere widersetzt, die sich in der Vergangenheit gebildet hat und die bis in die Gegenwart fortwirkt. Das wäre ein wundervolles politisches Programm: revolutionäre Bedeutungen schaffen, die nicht bloß reaktiv und negativ sind, sondern absolut positiv und erfinderisch.“ (Eribon 2017, S. 263)
Für die Psychoanalyse indes zeigt sich am Ende dieses Weges, was es bedeuten kann, sich einem Phänomen wie sozialer Scham anzunehmen. Wenn Herkunftsscham aus der Verinnerlichung eines gesellschaftlichen Antagonismus resultiert, der sich innerpsychisch verstetigt und wiederum Strukturen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse reproduziert, indem das Verinnerlichte etwa als Klassenrassismus seinen Ausdruck im Äußeren findet – dann bedeutet eine psychoanalytische Intervention gegen diesen Affekt zugleich einen Widerstand gegen Strukturen gesellschaftlicher Herrschaft und ihre schmerzhaften Folgen für die Einzelnen. Psychoanalyse wäre, mit anderen Worten, dann (wieder) ein emanzipatorischer, ein politischer Akt: wenn sie den Einzelnen die Mittel zu einer Ent-Unterwerfung an die Hand gibt und ihre Vermögen erneut öffnet, die Richtung der Macht umzukehren, sei es im Kleinen oder Großen.
1 Ein Umstand, der es sicherlich erschwert, pauschalisierend von der einen Psychoanalyse zu sprechen. Will man bestimmte psychoanalytische Tendenzen und Theoriestücke einer Kritik unterziehen, scheint daher eine Differenzierung geboten: Für den vorliegenden Beitrag bedeutet dies, sofern er sich wesentlich der soziologischen Perspektive Eribons verpflichtet, insbesondere die Psychoanalyse lacanianischer Prägung mit einem Vorwurf der Verdrängung des Gesellschaftlichen zu konfrontieren. So neigt etwa der Lacanismus mitunter zu einer gewissen intellektuellen Eitelkeit, in deren Folge eine besondere Emphase auf die geradezu mystifizierenden Formeln des Maître gelegt wird, hinter denen das Reale der sozialen Gewalt sodann verschwindet. Gleichwohl handelt es sich dabei nur um eine Gebrauchsweise dieses Diskurses. Und so gilt es denn auch zu fragen, was sich emanzipatorisch Richtiges im Denken und Sprechen Lacans finden lassen kann?
2 So richtig das Anliegen, das Roudinesco hier zu artikulieren versucht, auch sein mag, so bedauernswert ist der bildungsbürgerliche Reflex, der ihre Aussage begleitet: Die Psychoanalytikerin gibt sich selbst die kulturelle Weihe, indem sie ihre Kolleg*innen zu bloßen Arbeiter*innen erklärt. Augenscheinlich wird damit eine Überlegenheit in Anspruch genommen, die in jener angeblichen Überlegenheit der ‚legitimen‘ Hochkultur gegenüber einer populären oder Arbeiterkultur sich spiegelt. Weniger ein emanzipatorisches Vorhaben als vielmehr die Affirmation eines elitären Selbstverständnisses verraten sich in dieser Geste und nicht zuletzt im Gebrauch jener heute so unliebsam gewordenen Vokabel. Ein trauriges Zeugnis, dessen Echo sich dieser Tage gewiss in den Räumlichkeiten zahlreicher geistes- und kulturwissenschaftlicher Institute und Fakultäten vernehmen lässt.
3 Zum Verhältnis und der gemeinsamen Geschichte von Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftstheorie vgl. Hilmar Schmiedl-Neuburgs Aufsatz „Psychoanalyse und Kritische Theorie – eine Wiederannäherung” (Schmiedl-Neuburg 2017a).
4 Mit Eribon, für dessen Projekt Foucault eine wichtige Bezugsgröße darstellt, wäre zu ergänzen, dass auf diesem Wege auch und vor allem die Zuschreibung sozialer Wahrheiten erfolgt.
5 Psychoanalytisch ließe sich diese Konstellation mit einer Wendung Geneviève Morels treffend beschreiben: Das Kind ist das Symptom der Eltern. Und es ist dies ein Umstand, der sich ebenso in die reproduzierende Produktion habitueller Logik, von der noch zu sprechen sein wird, einfügt: „Die Fortsetzung des elterlichen Symptoms durch das Kind stellt ein Verhältnis der Nachfolge zwischen den Generationen dar“ (Morel 2017, S. 267).
6 Biographisch sind Eribon und Ernaux durch eine klassische französische Arbeiterherkunft verbunden: Während Ersterer in Reims aufwuchs, verbrachte Letztere ihre Kindheit und Jugend in Yvetot in der Normandie – beide erlebten Entbehrung und entfremdeten sich zusehends von der nordfranzösischen Arbeiterkultur, die von Homophobie, Rassismus und Patriarchat geprägt war. Eine für diesen Habitus untypische höhere Bildung erwies sich für beide insofern als Rettung, als sie die Flucht in die Großstadt und damit in die Intellektualität als Mittel der sozialen Desidentifikation mit dem Herkunftsmilieu ermöglichte.
7 Damit entspricht das punctum dem Blick im Sinne Lacans. Für diesen ist, wie Slavoj Žižek oft unterstrichen hat, der Blick etwas Reales, das die Souveränität des Auges stört: „Der Blick bezeichnet einen Punkt im Objekt (im Bild), von dem aus das es betrachtende Subjekt schon angeblickt wird, d.h. das Objekt ist es, das mich anblickt. Der Blick fungiert […] als ein Makel, als ein Fleck im Bild, der dessen klare Sichtbarkeit beeinträchtigt und eine nicht aufhebbare Spaltung in meine Beziehung zu dem Bild einführt […]“ (Žižek 1991, S. 59). Es ist dieser Makel, der mich als Betrachter aus dem Bild heraus trifft und mir mit der Souveränität meines Auges auch die Sicherheit im Selbstbezug nimmt.
8 Wenig verwunderlich scheint angesichts dessen die Neigung von Klassenflüchtigen, alte Fotografien aus ihrer Vergangenheit zu zerschneiden oder wegzuwerfen, so als gelänge es durch die Vernichtung des sichtbaren Zeugnisses, die Negation jenes „alten“ Teils des Selbst endgültig manifest werden zu lassen. Letztlich ist es aber diese zugleich hilflose wie verzweifelte Geste selbst, die die Unwahrheit der mit ihr verbundenen Hoffnung aussagt.
9 Und dies bedeutet zugleich, dass auch die „Urszene“ des Spiegelstadiums ihren konstitutiven Charakter als Urszene erst nachträglich erhält.
10 Es handelt sich bei der fraglichen Fotografie um ein Portrait des Autors, das auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe von Rückkehr nach Reims zu sehen ist sowie auf der französischen Taschenbuchausgabe von Retour á Reims. Eribons problematische Auseinandersetzung mit der Fotografie findet sich ausführlich beschrieben im Kapitel „Erben, Abweichen“ in Gesellschaft als Urteil.
11 Nochmal zeigt sich hier, dass soziale Scham nicht lediglich als ein rein psychisches Phänomen zu begreifen ist. Offenbar geworden ist stattdessen eine irreduzible Verwobenheit von Geist und Körper in einer Form der Scham, die von einer das Sein in seinen Grundfesten prägenden Qualität ist; eine Verwobenheit, wie sie vielleicht am besten durch einen Aphorismus Paul Austers ausgedrückt wird: „Die Welt ist in meinem Kopf. Mein Körper ist in der Welt“ (Auster 2014, S. 203).
12 So auch die Überschrift des Epilogs in Eribons Gesellschaft als Urteil, die gewissermaßen die Geste bezeichnet, mit welcher der Autor sich in die soziobiographische Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunftsscham begibt.
13 Hier berühren sich gewissermaßen Philosophie und Psychoanalyse in ihren gemeinsamen historischen Wurzeln: Die antike Kultur der Sorge um sich, wie Foucault sie in seiner Geschichte der Sexualität nachzeichnet, begriff ein Verständnis der Philosophie als therapeia tes psyches, als Seelenpflege mit ein. Der Selbsterkenntnis kam im Rahmen der Selbstsorge ein entsprechend hoher Stellenwert zu und kann – im Kontext moralphilosophischen Denkens der griechisch-römischen Antike – als wichtige Bedingung der Entwicklung einer gelingenden Existenzweise angesehen werden (Vgl. dazu Schmiedl-Neuburg 2017b).
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