Karl-Josef Pazzini

Y – Z Atop Denk 2025, 5(9), 1.

Originalarbeit

Abstract: Symptomales Wahrnehmen nimmt eine Anregung aus der Philosophie von Louis Althusser auf. Es startet mit der Vermutung, dass in die einzigartigen Artikulationen von Leid schon Theorien, Ideologien, vergangene Verallgemeinerungen eingelassen sind: Leid wird mit der symptomalen Einstellung, weniger als durch Identifizierung von Symptomen und baldigen Diagnosen, denn als aus Angst und Not vorgetragene Bitte gehört, als Wunsch nach einer schon bekannten Lösung und Behandlung. Die Auflösung von Vorannahmen der beteiligten Personen und deren Theorien, die verallgemeinern oder wiederholen, versucht symptomales Wahrnehmen durch schräge Aufmerksamkeit zu befördern, die zwischen mindestens zwei Menschen und deren Umgebung entstehen kann, insbesondere in der psychoanalytischen Praxis. Es kann sich auch auf Texte, aufs Sprechen allgemein, auf allerlei kulturelle Manifestationen richten. Identifizierte Symptome verdecken oft Details eines Leidens, das aus der Vergangenheit kommend, in der Gegenwart in einer bestimmten Situation gegenüber einem anderen Menschen ausgesprochen wird und mit Wünschen an die Zukunft verbunden ist. Symptomales Wahrnehmen entdeckt in der Benennung von Symptomen oft den Akzent auf der Abweichung von einer Norm, deren Geltung befragt werden kann. Mit einer Erzählung aus der analytischen Arbeit und einer Passage über die Vorfreude wird das erläutert werden.

Keywords: Symptomales Wahrnehmen, Symptom, Technik, Deutung, Althusser, Freud, Lacan

Copyright: Karl-Josef Pazzini | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.09.2025

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Symptomales Wahrnehmen1 wird im Folgenden als eine Art des Wahrnehmens skizziert, die sich aus dem Subjekt des Unbewussten und dem Unbewussten im Einzelnen speist. Das, was vernommen wird, wird angesehen wie Bildungen des Unbewussten, nicht nur wie intentional Bedeutetes. Das macht neugierig, eine schräg wahrnehmende Interaktion. Wenn in der Gegenwart etwas auftaucht, das nicht in den Rahmen, in das Setting zu passen scheint, wird vermutet, dass es von Seiten des Analysanden oder des Analytikers, aus anderen vergangenen Situationen oder den Wünschen für die Zukunft stammt. Ebenso kann es aus Angst reduzierenden Theorien (Devereux 1984) stammen, die auf dem Weg ´Ideologie zu werden sind, die Bekanntes, schon Verallgemeinertes zu identifizieren helfen. Solche Bildungen des Unbewussten werden als zu passend wahrgenommen; sie werden zu glatt, zu schön, rätselhaft, aber verführerisch im Hinblick auf eine Diagnose gehört und erzählt. Mit einem methodisch fremd gemachten Blick, der dem Gehörten etwas Eigenartiges abgewinnt, entsteht eine Kontrastfolie. Da wäre dann die Begierde (oder vornehmer: das Begehren) des Analytikers im Spiel. Vermutlich, so das Vorzeichen des Wahrnehmens, sei ein Wunsch im Spiel, der sich Gehör verschaffe, die Sehnsucht, dass sich etwas auflöse in Zukunft, was bisher immer wieder wiederkehrt, endlich Umgestaltung, die gegenwärtig nicht einmal formuliert werden könne.

Es geht also nicht nur darum, das zu beachten, was manifest gehört werden kann, sondern auch darum, Spuren eines unbewussten Wirkens in der Sprache in Form von Tonalität, Rhythmus, Unterbrechungen des Sprachflusses, Schweigen und Verstummen, einer emotionalen Aufladung der Stimme sowie körpersprachlichen Analoga des Ausdrucks zu finden. Diese bilden sich in der Zeit zwischen den Beteiligten und den indirekten Zeichengebungen des Körpers. Es liegt etwas neben dem schon Identifizierbaren, das es zur Wirkung bringt – auch durch Ablenkung2. (Warsitz 2016).

Es geht um die Entdeckung von bisher Anästhetischem, das zunächst nur eine kleine Reizung ist. Sie könnten auf die für den Alltag nützlichen Abkürzungen eines schnellen „Kenn-ich-schon“ hinauslaufen. Das zu vermeiden, muss immer wieder trainiert werden. Denn das Setting, das Wissen und die Bildung des Analytikers konstruieren kein Fenster, durch das auf ein Objekt gesehen werden könnte, wie auch Freud lange Zeit annahm. Ein solches Fenster wurde in der Renaissance konstruiert, verallgemeinerbar nach den Regeln der rational „naturgemäßen“ Konstruktion der Zentralperspektive. Das Medium des Forschens wird aber in Übertragung mitproduziert, seitlich gestützt durch Wissen und Ahnung. Unweigerlich entsteht dabei ein blinder Fleck, der durch Ideologie eskamotiert werden kann. Analytiker:innen wenden sich deshalb an Kolleg:innen. Denn Theorien, wie Haltungen und Einstellungen machen auch durch die in ihnen enthaltenen Entscheidungen für den Einzelnen etwas unsichtbar.

 

1. Symptomal

Das Adjektiv symptomal habe ich beim Philosophen Louis Althusser im Buch
„Das Kapital lesen“ (2018, S. 42)3 gefunden. Durch Karl Marx, dann aber um nichts weniger durch Sigmund Freud und Jacques Lacan4 verändert sich sein Blick von der Philosophie aus auf die Ökonomie. Er fasste sie auf als Manifestation eines Begehrens. Althusser5 spricht von einer „Mauserung des Blicks“ (2018, S. 41).

Diese vollzieht sich nicht nur als eine geistige Entscheidung, sondern ist vom Ensemble der auch materiell veränderten Bedingungen des Subjekts evoziert. Er bezieht Veränderungen gegenüber einer unterstellten Originalsituation beim Schreiben der Marxschen Texte oder des Erlebens des Analysanten und des Analytikers (Lacan) mit ein. Althusser lenkt die Aufmerksamkeit auf die unausweichlichen, lebenszeitverhafteten Bedingungen, in denen sich jede neue Theoriebildung vollzieht, hier die von Lacan und Althusser. Das Subjekt wirft mittels akuter Erfahrung oder eben Lektüre auf das alte, bis dahin Anästhetische, ihm zunächst nicht Bewussten einen belehrten Blick (docta ignorantia). Das Anästhetische ist mehr als das Verdrängte, das Verschwiegene, Verschobene, Verdichtete oder Verworfene, es ist auch etwas, das noch keine Konturen hatte und erst, wenn ein Zipfel erwischt wird, Gestalt annimmt, die wahrnehmbar wäre; es kann etwas vom Realen sein. Diese „zweite Lektüre“, also eine die erst einmal wahrnimmt und dann, vielleicht auch zugleich, davon abrückt und belehrt wahrnimmt, bezeichnet Althusser als symptomal, „[…] indem sie – in ein und derselben Bewegung – dasjenige als solches aufdeckt, was in dem Text, den sie liest, als solchem verdeckt bleibt und es [dabei] auf einen anderen Text bezieht, der im Modus einer Abwesenheit in dem ersteren [Text] gegenwärtig ist.“ (Althusser 2018, S. 42).

‚Klinisch‘ geht es nicht um Texte, sondern sprachliche Inszenierungen, Hören und Intervenieren. Interventionen geben dabei Antworten auf Fragen, die nicht gestellt sind, die durch die Intervention erst als Fragen, Rätsel oder Novellen beginnen sich zu konfigurieren und sich weiter zu ändern.

Texte, Aussagen oder Daten und Fakten sind für Althusser nicht positiv, einfach gegeben. Daten sind Ergebnis einer identifizierenden Abstraktion. Marx hat eindrücklich darauf aufmerksam gemacht und das wurde in der Folge immer weiter verfeinert, das in den ökonomischen Strukturen Ideologien eingewebt, verborgen sind, die die Neugierde blockieren und die Angst verdrängen. Ideologie ist dabei nicht unbedingt ein zusätzlich appliziertes Set von Ideen, sondern im Sprechen und auch im Schreiben eine materialiter verändernde Praxis:

„In ihrem Wesen ist die wirkungsvolle Übertragung, um die es geht, ganz einfach ein Akt des Sprechens. Jedesmal, wenn ein Mensch zu einem anderen in authentischer und voller Weise spricht, gibt es Übertragung im eigentlichen Sinn, symbolische Übertragung – es geschieht etwas, das die Natur der beiden anwesenden Menschen verändert.“ (Lacan 1978, S. 143).

Ideologien schleppen mit, was in der Not oder aus Lust oder beidem für eine Darstellung einmal gegriffen hat und den jeweiligen kleinen und großen Machthabern angenehm erscheint. Sie sind Schmier- und Zwangsmittel des Wahrnehmens und Denkens. Symptomal – man könnte auch sagen zu- und auffällig – werden Momente in Formulierungen und Inhalten eines Textes (so bei Althusser, in der Praxis der Psychoanalyse im weiteren Sinne), wenn sie in Beziehung treten zu anderen Texten in einer anderen Zeit mit anderen Interessenlagen. Diese werden zu Kontrastmitteln. So können sie in ihrem Potential bemerkbar werden und etwas neu öffnen auf Zukunft. Die Wahl eines Mediums und dessen Gestaltung , auch unbewusst, als Art zu sprechen und zu schreiben bringt das für andere Wahrnehmbare hervor. Oft ist es ein wenig geglättet und orientiert sich an Mustern. Die Medien – dazu zählt auch die Art der Regulierung der Psychoanalyse im Setting wie in den Vereinigungen – tragen Spuren von Kämpfen um Entscheidungen für bestimmte Formulierungen, von Konflikten und Erfindungen an sich.

Das hat Auswirkungen, die zunächst nur ex negativo herauspräparierbar sind, weil sie durch etwas, das fehlt, oder durch eine Fülle von Arten des Aussagens und Aussagen, die sich gegenseitig überlagern, verdeckt wurden. Es bedarf eines schrägen Blicks und des Mutes, das Wahrnehmen sich affektiv färben zu lassen, mit Interessen, Ausrichtungen, Abneigungen, Neugier, Angst, Begierde – in aller Vielfalt, kultiviert im Rahmen des Settings.
Althusser liest Marx und achtet auf Vorannahmen, wie sie sich aus Metaphern oder metonymische Passagen herauslesen lassen. Er nimmt Texte als Verdichtungen, sieht sie als Konflikte, die mit Mut zur Wahrnehmung Fehlleistungen freigeben, jedenfalls Leistungen und Erfindungen. Theorien sind Kompromissbildungen, auch die psychoanalytischen. Sie sind wie Symptome gezeichnet von Überdeterminierung, sind darin Erfindungen, Angstreduktion und Schutz.

Althusser interessiert, was in der ersten Formulierung an Konflikthaftem, Widersprüchlichem, Rätselhaftem zu Tage kommt von dem, was nicht artikuliert werden konnte. Er wendet sich gegen einen rationalistischen wie einen sensualistischen Empirismus. Er lehnt Abbildtheorien ab und praktiziert darin Repräsentationskritik. Es entsteht eine Kausalität der Verschränkungen (strukturale Kausalität), die sich auf eine qualitative Zeit jenseits linearer Abfolgen bezieht (Lacan 2015).

In einer Theorie der Verschränkungen lassen sich zwei Bewegungen unterscheiden: Einmal beinhaltet sie die klassische Logik, auf Aristoteles basierend, als generelle Matrix, als Kontrastmittel. Er stößt auf deren scheinbar zeitlosen und individualistischen Grenzen. Zum zweiten arbeitet er mit dem Konzept der Nachträglichkeit, das keine Handlungsanweisung nur eine vorausahnende Aufmerksamkeit für zukünftige strukturell ähnliche Fälle abwirft. Der soziale Akt von Interventionen, Skansionen, Deutungen und Betonungen ist damit ein Wagnis. Er ist mehr als die Befolgung von Methoden. In der psychoanalytischen Arbeit geht es selten um die Anwendung einer kanonisierten Theorie auf einen loslösbaren Gegenstand. Vielmehr geht es darum, was in der Anwendung verschoben, verstellt und versteckt auftaucht – beim Anwender und am Objekt – und wie sich dadurch möglicherweise die Theorie und die Betrachtung der Welt verändern müssen. So ist auch das Symptom nur im ideologisch befestigten Sinne da, es kann symptomal werden. Das Symptomale zeigt sich als ein Medium, ein Effekt und eine Auffang- oder Kristallisationsform von vielfältigen Beziehungen und Praxen. Es ist ein sozialer Fakt, der sich dem verdankt, was er nicht beherrscht. Im Leiden kann das Symptom vereist sein und verbraucht Energie, es kann in der Analyse wieder liquidiert, in Fluss gebracht werden. Um nicht psychotisch zu entgleisen, braucht es im Hintergrund eine Gegenbestimmung, eine Gegenstimme und eine Gegenhören, das das normalisierte Hören suspendiert. Kontraste erzeugen einen Widerstand, mal freundlich, mal haltend, mal ärgerlich und mal impertinent erscheinend.

 

2. Technik

Ein aus der Psychoanalyse herausgelesenes Verständnis von Technik ist der (aristotelischen) Praxis und ihren überraschenden Wendungen zuzurechnen und nicht direkt an Zielen ausgerichtet; sie ist nicht Poiesis als Anwendung erprobter Regeln, sondern Erfindung. Das Symptom könnte man verstehen als eine veraltete Erfindung. Es wird oft nahe am Paranoischen verteidigt. Den verschwörungstheoretischen Abschluss gilt es zu vermeiden. Symptomale Wahrnehmung sucht nach den noch immer strahlenden Resten des Kreativen. Empfindlich eingestellte Geigerzähler gilt es mit Kolleginnen und Kollegen zu bauen. Ohne schnelle Conclusio mit eingebauter Kontrollfunktion überlässt sich zumindest die Analytiker:in dem Wirken der Übertragung. Sie wird in Produktion gehalten durch Interventionen.

Ähnlich ringt gegenwärtige Kunst (Didi-Huberman 2000) immer wieder darum, Erfindungen zu machen, um noch nicht normalisierte Darstellungen zu finden. Sie rechnet dabei mit dem Widerstand des Publikums, der in der Übertragung liegt. In der Kunst wie in der Psychoanalyse wird schon Widerstand zugleich ein stillgestellter Ausgangskonflikt verändert, und in der Folge Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit dessen, was Leiden verursacht. Hier beginnt der Einstieg in einen Prozess der Deutung, des sich Deutens und Deutenlassens mit unterschiedlicher Aktivität bei Analytiker:in und Analysant:in.

Technik wäre die Übung darin, etwas auf unterschiedliche Weise zu machen, je nach errungener und gegebener Empfindlichkeit. Technik ist eine Voraussetzung für einen performativen Strom der Wandlungen. Technik schabt an Verkrustungen, pulverisiert sie allmählich durch einen schrägen, symptomalen und tangentialen Zugriff, durch eine Serie kleiner Entscheidungen.

Technik verstanden als Voraussetzung der Wiederholbarkeit gelungener Ergebnisse wäre eher ein aggressiver Machtzuwachs, der das Objekt zu distanzieren und zu kontrollieren versucht – auch den Analytiker vom Analysanten. Dennoch braucht man etwas von dieser Macht, die in der Aggressivität eines Wagnisses liegt. Ein Wagnis weiß nicht alles über die Wirkung. Destruktiv wäre es, wenn etwas nur auf vergangene Erfahrungen hin zugeschnitten ist. Es wäre Macht- und Gewaltzuwachs als Suggestion der Meisterschaft. Wirkmacht kommt in der Psychoanalyse aus der Investition an konkreter, je qualitativ bestimmter Lebenszeit und Energie der Beteiligten, angestoßen durch gegenseitige Verführung zu Neuem gegen die Verführung durchs Bekannte, gegen die Gewissheit bekannter Lösungen für bekannte Symptome. Man kann es, das Lösungsmittel, auch Liebe nennen. So tut es Freud in einem Brief an Jung am 06.12.1906:

„Ihnen wird es nicht entgangen sein, daß unsere Heilungen durch die Fixierung einer im Unbewußten regierenden Libido zustande kommen (Übertragung), die einem nun bei der Hysterie am sichersten entgegenkommt. Diese gibt die Triebkraft zur Auffassung und Übersetzung des Unbewußten her; wo diese sich weigert, nimmt sich der Patient nicht diese Mühe oder hört nicht zu, wenn wir ihm die von uns gefundene Übersetzung vorlegen. Es ist eigentlich eine Heilung durch Liebe. In der Übertragung liegt dann auch der stärkste, der einzig unangreifbare Beweis für die Abhängigkeit der Neurosen vom Liebesleben.“ (Freud u. Jung 1974, S. 13).

 

3. Rinus Van de Velde

Die Orientierung an der heutigen Struktur der Kunst, die sehr oft einzigartige, singuläre Lösungen sucht, kann Anregung und Trainingsfeld sein.

Abbildung 1: Van de Velde, Rinus (2024): Normally I get exceptionally good ideas in the shower … . 163 x 184,5 cm. Ölpastel auf Papier. In: Galerie Max Hetzler. Foto: Karl-Josef Pazzini. Bildtext: „Normally I get exceptionally good ideas in the shower and feel a flood of inspiration, but this time I get no further than thinking that I know the World through reproductions and that I have long wanted to order a new shower curtain.“.

Bei Rinus van de Velde lassen sich Auflösung und Konstruktion eines Symptoms und auch die Liebe zum Symptom und den gnädigen Umgang mit sich selbst bis hin zum Farbauftrag artifiziell miterleben. Angesichts der Arbeiten von Rinus Van de Velde hallt im Lachen die Erschütterung durch zunächst nicht bewältigbare Konflikte nach. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman sieht eine Chance darin, vor einem Bild etwas zu erkennen, wenn wir es symptomal wahrnehmen:

„Als Nachwirkung eines Konflikts, über den wir niemals gut im Bilde sein werden, als Wiederkehr eines Verdrängten, dessen sämtliche Namen wir nie mit Genauigkeit werden nennen können, als eine Bildung und eine Entstellung zugleich, als Gedächtnisarbeit und gleichzeitig als eine Arbeit des Abwartens läßt das Symptom vor unserem Blick das Ereignis einer Begegnung vorüberziehen, bei welcher der konstruierte Anteil des Werks unter dem Schock und dem Stoß eines verfluchten Anteils ins Wanken gerät. Da genau begegnet das Gewebe dem Ereignis seines Risses.“ (Didi-Huberman 2000, S. 188)

 

4. Auflösung als Neuformulierung

Seit Mitte, bestimmt aber seit Ende des 19 Jh. befreien sich die Künste, bis dahin Inbegriff von Technik in funktionaler Zuordnung zu Religion und Staat, aus der Abbildungsfunktion sinnlicher oder gedanklicher Zusammenhänge. Sie setzen auf die Freisetzung von Inhalten, Materialien, Ausrichtungen, Wünschen und Begierden, die in der gesellschaftlichen Normierung des Lebens und der Produktion, untergegangen waren und geben ihnen neue Darstellung.

Freud ist hin und her gerissen, zwischen den methodischen Vorstellungen, Techniken und Erfolgen der Naturwissenschaft und deren Unzulänglichkeit in Bezug auf psychisches Leiden. Er bemerkte, wie seine Patientinnen ihn auf einen anderen Weg brachten, nämlich sie als gegenwärtigen Einzelfall, als Singularität, wahrzunehmen. Dadurch war es möglich, die Vergangenheit zu erinnern und unbewusste Fortsetzungen und Gewissheitsoperationen zu unterbrechen. Er macht in seiner Arbeit die Erfahrung, dass er unerhörte Neuigkeiten, Novellen (Freud u. Breuer 1952, S. 227), aufschreibt. Sie symbolisieren etwas erstmalig, geben es nicht getreulich wieder oder bilden es ab, sondern geben Zeugnis. Freud hat auf dem Hintergrund einer naturwissenschaftlichen Einstellung und seiner Neugier symptomal gehört.

 

5. Hauptsächlich nebensächlich

Schon Freud hört auf Nebensächlichkeiten, die sich nicht vom vorgeblichen Zweck, dem Hauptthema etwa einer Einbildung gefangen nehmen lassen, egal durch welche sinnliche Qualität das evoziert wird. Giovanni Morelli (1816-1891) (Bredekamp 2023, S. 53 f.), Kunsthistoriker, Arzt und Politiker, greift auf, was zu unwichtig erscheint, um besonderer Beachtung zu bedürfen. Morelli war Positivist und verweigerte sich angeblich den selbstverständlichen Zuschreibungen, die sich aus den Sujets und der Komposition im Großen ableiten und schon immer bekannt erscheinen.

Symptomal zu arbeiten bedeutet, danebenzusehen und nicht der imaginär wahrgenommenen Intention einer Fortsetzung des Bekannten zu folgen. Es bedeutet, Beziehungen zu knüpfen – quasi detektivisch –, ohne anzunehmen zu müssen, dass es sich um etwas Bekanntes handelt. Umrandet ist dieses Vorgehen in der Klinik dadurch, dass es in Übertragung stattfindet, schon in Beziehung ist, in einer Variation der Liebe. Etwas das in Übertragung aus mehreren Richtungen und Zeiten hineingebracht wird, verändert sich dadurch. Symptome in der Psychoanalyse verlieren ihre Autonomie. Sie sind nicht einfach da, unabhängig von der Übertragung. Sie werden sozialisiert.

Übertragung macht porös6, die Gegenstände, um die es geht, die Sujets, wie die Menschen. Zu deuten heißt dann auch, dem nachzuspüren, was anfängt, sich mit den theoretischen und praktischen Erfahrungen des Analytikers zu vermischen und ihn in unerwarteter Weise zu verändern.

Darauf spekuliere ich, wenn ich gute Tage habe, das macht die Arbeit spannender. Anders formuliert: Es entsteht im psychoanalytischen Prozess eine Rekursivität, d.h. die momentanen Wahrnehmungen und Erkenntnisse, fließen in den Ausgangspunkt, der ersten Formulierung von Leiden, wieder ein. Symptomal arbeiten heißt dann auch, das Symptom sich konstruieren zu lassen. Das Symptom ist ein Lebewesen, ein vivrêtre.

 

5.1. Erzählung

Es kam einmal eine 75-jährige Frau in Analyse. Sie klagte darüber, dass sie nicht schlafen könne. Sie korrigierte sich, sie könne nicht einschlafen. (Also schon schlafen, aber nicht einschlafen. Der Rationalist in mir war verwundert: Wenn man nicht einschlafen kann …) Und sie könne nur auf dem Bauch schlafen. (Das meinte wohl, mit dem Rücken nach oben, einen Bauch hatte sie eigentlich nicht, flüsterte der Konkretist etwas albern. Der spielte später in der Analyse noch eine erhebliche Rolle.)

Ich wurde neugierig. Es gab merkwürdige kleine Verschiebungen in den Aussagen, etwas, das meine Sortiermechanismen und meine Einbildungskraft ständig beschäftigte. Ich fragte, was die Schlafschwierigkeiten mit dem Bauch zu tun hätten.

„Wieso mit dem Bauch? – Gut ich habe manchmal auch Verdauungsprobleme.“. Der Anflug von Empörung ging in eine gütliche Anpassung an meine blöde Frage über.

Ich schwieg. Nach einiger Zeit sagte sie: „Sie wollen auch alles ganz genau wissen! Aber das hat doch alles mit dem Bauch nichts zu tun“ – „Bin halt neugierig“. – Leicht indignierte mimische Quittung.

Etwa zehn Sitzungen später, in der Zwischenzeit hatte ich erfahren, dass sie wegen psychotischer Reaktionen in der Psychiatrie gewesen war und dass ihr dringend abgeraten worden war, einen Psychoanalytiker aufzusuchen. Wenn sie trotzdem in meiner Praxis saß, weist das darauf hin, dass irgendetwas bisher, von denen, die sie wegen ihres Leids aufgesucht hatte, nicht vernommen werden konnte. – Oder war es Trotz? –Leiden sind soziale Tatsachen. Sie sind ein Test auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, dessen Normen, gerade weil sie Unbehagen erzeugen. Die Artikulation des Leidens konstruiert sich mit allem, was zwischen Menschen zur Verfügung steht.

Mit dem Bekenntnis zu meiner Neugier unterbrach ich den aufzählenden Bericht über immer weitere schlimme Erlebnisse, die jetzt monoton wie von einer Liste abgelesen klangen: Leiden, Enttäuschungen, Missachtungen purzelten in die Sitzung, im Ton hypnotisch einschläfernd. Sie brachte mich informatorisch auf den Stand, fütterte eine unterstellte Neugier auf Fakten. Der Ton war verdrängend, abdrängend in meine Richtung. Sie fütterte mich mit Symptomen. Es wurde etwas gesagt, das ich wissen sollte, sie aber nicht abermals zu sehr berühren durfte. – Das war der symptomale Reim, den ich mir machte.

Ich höre auf das Aussagen, also wie etwas gesagt wird, und dessen Wirkungen.

In Sitzungen kam ich nicht umhin zu bemerken, dass das Ausgesagte sich an meinen Vorstellungen abglich. Ich hielt das möglichst horizontal, eher liegend, um in der Bildlichkeit der Erzählung zu bleiben, um nicht in die Vertikale einer Diagnose, einer Subsumtionsbewegung zu geraten. Diese und andere Erfahrungen lassen mich an der Überzeugung zweifeln, dass es in der Psychoanalyse nur um einen Austausch von Worten gehe. Manchmal sind Worte mehr Instrumente zum Austausch, fast physisch, zur Produktion von Bildern, Einbildungen und Stimmungen zur weiteren Verwendung und Bearbeitung.

Ich riskierte eine Enttäuschung und frage entschieden laut: „Was ist da noch, wenn sie abends im Bett auf dem Bauch liegen und nicht einschlafen können?“ – „Habe ich das nicht gesagt: Es riecht nach nassem Beton, so modrig, so nach Schimmel, nach Pilzen. – Und ich habe das kontrolliert, habe die Bettwäsche gewechselt, auch das Waschmittel, die Matratze getauscht. Habe es mit offenem und geschlossenem Fenster versucht.“ – „Haben sie je auf nassem Beton gelegen?“ – „Nicht, dass ich wüsste.“ – „Sie waren zum Ende Krieges ca. vier Jahre alt.“ – So weit ich das erinnere, hatte ich bei dieser Frage eine unbestimmbare Ahnung, aber keine Vorstellung von dem, was dann kam. – Hier zeigt sich eine historische, politische und soziale Dimension des Symptoms, ausgehend vom Geburtsjahr, Erzählungen aus meiner Kindheit und medial vermittelte Bilder aus Filmen und Radiosendungen. - „Ja das stimmt.“ – Schweigen – „Ja es war furchtbar und alles ganz normal, alltäglich fast.“ – Es entstand ein Sog, dranzubleiben. „Z.B.?“ – „Immer dieses Gerenne in den Luftschutzkeller! Das war normal. Und dann musste ich mich auf den Boden werfen. Alles vibrierte. Und meine Mutter hat sich noch halb auf mich gelegt.“ – Pause – „Und?“ – „Und! Jetzt hier, hier fährt mir dieser Geruch in die Nase. Feuchter Beton! Jetzt rieche ich das sogar hier!“ – Pause – „Hält der Geruch an?“ – „Ja, nein, das ist jetzt nicht mehr der Geruch selbst. Eher wie eine Erinnerung an einen Geruch. Wissen Sie, so wie Erinnerung an Zahnschmerzen.“

Das Symptom, der zur Halluzination gewordene Geruch, entfiel bald ganz.

 

5.2. Symptome Verdichtungen, Kompromisse, überdeterminiert

Das Symptom, auf dem Bauch liegen zu müssen und den Beton wie in einer Geruchshalluzination wahrzunehmen, gab mit seiner Auflösung viele Symptome frei und wurde Vorzeichen unserer weiteren Arbeit. Sie hatte, wie sie später sagte, mitbekommen, dass ich ganz neugierig wurde, als sie in der ersten Sitzung das mit dem nassen Beton erzählt hat. – Sie ahnte, dass ich etwas wusste, was sie (,aber auch ich) nicht wusste. Das sie aber wusste, unbewusst. Sie wusste am Anfang nicht, dass ich nicht das wusste, was sie nicht erinnerte. Sie ahnte und ich ahnte. - Und sie habe sich, sagte sie, gewundert, dass ich da nicht nachgehakt hätte. Das sei doch das Symptom gewesen. Sie hatte zu Beginn der analytischen Arbeit schon Angst, dass ich ihr Symptom nicht ernst nähme, nicht gehört hätte. Sie habe das dann vergessen. Und erst in dem Moment wieder erinnert, als sie von den Luftschutzkellern und wie es da zuging sprach und ich ihr Alter im Krieg erwähnt hatte. Sie sagte: „Das war gleichzeitig, irgendwie.“

Der Geruch von nassem Beton, war eine Plombe auf einer Flasche, in der noch viele Geister steckten. Es gab noch eine Menge Details, die im Verlauf der Arbeit zum Material wurden: Das Bett statt Bet(t)on, der Wunsch zu schlafen, das Vibrieren, der Orgasmus, mit der in ihm implizierten Angst, die aufliegende Mutter, Luft, Luftschutz, Keller im Kontrast zu mit einer von Morgenlicht gefluteten Veranda auf einer italienischen Insel. Letzteres führte zu einem manischen Schub. Usw. Der jahrelang ausgehaltene Geruch war auch als Genuss, im Sinne von jouissance, zu verstehen. Er war etwas, das zusammenhielt. Zunächst war er eine kreative Erfindung, um sich an ein mehrmals glückliches Überleben von Luftangriffen zu erinnern. Dabei waren all die Angst und Panik, der Schutz durch den mütterlichen Körper und deren Angstschweißgeruch im Beben mit einbezogen. Doch dann wurde er destruktiv.

 

6. Vorfreude

Vorfreude ist Moment des Begehrens des Analytikers, seiner Begierde. Das ist die Ahnung, eine Freude, bevor es los geht, der Wunsch, dass etwas losgeht, sich löst.

Das ist eine Neugier, eine permanente, endlich das sehen zu können, zu hören, oder welche Sinne da auch noch zugange sind, was einen Aufschluss gibt, etwas von all dem Rätselhaften klärt, etwas Neues findet, etwas das nicht passt über das Artikulierte hinaus, aber zu ganz anderen Zusammenhängen passt. Alles auf der Folie einer transgenerationellenb Biographie, Transmission, in der nicht nur der Analytiker, sondern in der anders die Analysantin steht.

Da ist auf der einen Seite Aktivität, Bereitschaft, eine gezielte Passivität, die etwas aufnehmen erhaschen will, etwas, das einem zufällt – aus dem Zufall etwas machen, ein artifizielles Symptom, nicht als Indikator für etwas anderes; es hatte selbst ein Leben im Leben der Analysantin. Dasselbe Symptom war als Moment der Schlaflosigkeit ganz anders eingebettet, körperlich verknüpft, als bei mir als Analytiker, dem in seinem professionellen Begehr die Erzählung der Analysantin zufiel. Es war etwas, das aus der Oberfläche herausstach und einen Schatten warft, etwas, was ich nicht kannte.

In der hier angespielten Arbeit war das, was Deutung genannt werden kann, ein Prozess, der sich der Verdichtung einer Geruchshalluzination näherte – ohne es zu ahnen. Das hatte etwas Mimetisches als Angstabwehr, als Zauber. Auch wenn ich hören konnte, dass es nach Beton riecht. Dass ich mir das vorstellen konnte, war es etwas ganz anderes für sie und für mich. Das war das Trennende in ihrem gewohnten Wahrnehmen (Wieso Beton im Schlafzimmer?), das letztlich Beängstigende, das sie nicht schlafen ließ, das von seiner Verfasstheit als Fakt erlöst werden wollte.

Wenn man nicht aufpasst, verschafft man als Analytiker schnell abschließenden Sinn und begibt sich ins Feld der Religion. „Und davon, vom Sinn verstehen Sie etwas [Sie, der katholische Interviewer Lacans, KJP]. Sie sind fähig wahrlich allem einen Sinn zu geben. Dem menschlichen Leben einen Sinn, zum Beispiel.“ (Lacan 2006, S. 70).

Losgehen muss der Analytiker in mindest zweierlei Gestalt: Als jemand auf dem Platz des Analytikers, der symbolisch mit viel Aufwand eingerichtet wurde, und als jemand mit Erfahrungseigenheiten. Das reibt sich. Die Analyse erzielt einen Großteil ihrer Wirksamkeit durch diese Reibung. Nach rückwärts sollte er bestenfalls zu einer Diagnose schielen, den Willen zur Subsumtion unter etwas bekannt Allgemeines sollte er im Zaum halten. Diagnosen sind formalisierte vergangene und verallgemeinerte Erfahrungen. Sie verfehlen immer. Sind nur deshalb brauchbar.

Bei der Benennung eines Symptoms geht es überkreuz darum, dass es gesprochen wird zu jemandem, der daraus eine Vorstellung blitzschnell bastelt, die nicht zutreffen kann. Diejenige, die sprach, hatte eine ihr vertraute Vorstellung, die von deren Geschichte abgeschnitten war. Sie konnte merken und wissen, dass der Analytiker sich eine Vorstellung machte, die wahrscheinlich von der ihren abwich. – So entsteht die Übertragung, die Unterstellung eines anderen Wissens, einer anderen, professionellen Art der Verknüpfung, die dann zu einer Diagnose und zu einer Methode der Behandlung werden könnte. Das wäre eher das medizinische Paradigma. Psychoanalytisch geht es darum, wirklich glaubhaft so zu verfahren, als könne man all das suspendieren, was schon der Fall war. Ich stufe das zurück auf den Status einer fernen Sicherheit: Es wird sich schon irgendetwas ergeben, was bisher noch nicht artikulierbar war.

Aber ganz ruhig bin ich dabei nicht, alles, was gesagt wird, kann im Setting Bedeutung erlangen und den weiteren Prozess präformieren. So wie das auch die Sätze der Analysantin taten.

„Oh Kind“, dichtet Homer in der Odysee (I, 64), „welch' Wort entfloh dem Gehege Deiner Zähne?“ Das Gehege der Zähne ist nicht dicht genug. Zurückholen lassen sich Worte nicht. Sie entfliehen aufgrund des Sogs, der Erwartung des je anderen, aus dem Mund, aufgrund des Begehrens des Anderen. Politische und soziale Wesen verraten sich, verraten etwas, begehen Verrat an der eingebildeten Einzigartigkeit. Dadurch, dass etwas rauskommt, geht es schon einen Deut besser. Ein Deut war eine kleine niederländische Münze, ein Tauschmittel und heißt „das Abgeschnittene, das abgeschlagene Stück“7.

 

6.1. Neuerliche Prüfung: Wahrnehmung von Symptomalem

Für die Wahrnehmung von Symptomalen, für das zufällig Auffällige, schräg Erblickte, nebenbei Gehörte und noch all das sonst Bemerkbare sind für Analytikerinnen und Analytiker die je biographischen Spuren, Schrammen, Traumata, Verletzungen, Aufreger, Freuden, Befriedigungen, Antworten und sonstige Spuren extremer Existenzgefühle die geeigneten Wahrnehmungsorgane. In der Kreuzung und dann Mixtur durchs Zusammentreffen mindestens zweier Vorgeschichten verbietet es sich, nach einer präexistenten Bedeutung zu suchen, die objektiv fernab des Wahrnehmenden schon existiert hätte. Sie ist aber auch keineswegs willkürlich so wie ‚subjektiv‘ oft gebraucht wird. Sie ist gebunden durch die Übertragung zwischen den Seiten. Ermunterung, Freundlichkeit und Mut begleiten die symptomale Erkenntnis. Sie eröffnen die Möglichkeiten der Zustimmung oder Ablehnung; beides ist nicht zwingend, hat aber Folgen.

Ich gebe Anregung, dass die Analysanten ihre jeweiligen Vorstellungswelten und Symbolisierungen, im weiten Sinne Formen sprachlichen Reichtums und denkenden Differenzierungsmöglichkeiten mittels unterschiedlicher Kontrastmittel erforschen, mit Lektüren, mit Musiken, mit Künsten, im Spiel mit Modelleisenbahnen usw. Die individuellen Subjekte, die in Gang kommen, die von sich selbst ‚Ich‘ sagen, sind die Sedimente der bisherigen Beziehungen der Prozessbeteiligten. Diese Ablagerungen und Spuren von Beziehungen werden im psychoanalytischen Prozess ins Vibrieren gebracht, befragt, auf die Probe gestellt. Das ist das, was Freud im Abriss der Psychoanalyse als „neuerliche Prüfung“ (Freud 1976, S. 105) bezeichnet. Diese kann immer wieder zu anderen Ergebnissen kommen. Anders als in der Unterstellung, dass ein Symptom eine Bedeutung habe, die Erscheinung eines Wesens sei.

Symptomal kann ein Analytiker wahrnehmen, weil ihm schon einige verwunderliche Sedimente von gegenwärtigen und vergangenen Kompromissbildungen in der Analyse begegnet sind. Selbstredend können nie alle Spuren thematisch, zum Thema, zum sujet geworden sein. Es hängt entscheidend von der Konstellation der Personen ab, was das auffällt. Die fortdauernde Ausstrahlung der Sedimente der Kompromissbildungen bleibt z. T. unbekannt, taucht aber unerwartet in Beziehungen auf, in der Übertragung. Das passt nicht zum gesellschaftlich favorisierten, kapitalistisch präformierten Individualismus als Norm. Übertragung bildet den Kern eines Kollektivs, hat ein soziales Band in sich, eine Realisierung von Sexualität. – Dieser Text kam als ehemaliger Vortrag so zustande.

 

7. Begierde zu wissen

Die auch körperliche Begierde zu wissen, im biblischen Sinne zu erkennen, nicht nur kognitiv, ist Teil des Begehrens des Analytikers. Die artifizielle Situation des Settings erfordert Kultivierung und Artikulation. Das Begehren des Analytikers ist in sublimierter Form anders als die Gegenübertragung, wie Freud sie verstand, nicht nur Hindernis im psychoanalytischen Prozess, sondern auch Motor. Hinter diesem Begehren steht ein Druck, ein Trieb.

Das Begehren des Analytikers (Nusinovici 2001) kreuzt sich mit der Formulierung des Leids der Analysant:innen. Im Leid sind Wünsche und Erwartungen impliziert. Letztere können zum Zuge kommen. – In der psychoanalytischen Situation wird etwas für anderswo, zu einer anderen Zeit gelockert. Das durchzuhalten heißt Abstinenz. Es geht beiderseits darum, Vorfreude zu machen, woanders zu handeln.

Das Setting ist eine komplizierte Kreuzung. Die Wege sind auf Zeit ineinander gefaltet. Sie bestehen aus bewussten und unbewussten Zügen. Zunächst sind die Ausrichtungen beidseits getrennt, aber seit dem Betreten des Raumes in der gemeinsamen Zeit (für jeden anders gespannt und rhythmisiert) sind sie im selben Feld gegenwärtig. Sie existieren in den Aktivitäten und Passivitäten des Subjekts des Unbewussten, der unbewussten individuellen Subjekte, die sich immer wieder mal als an kulturellen Normen Gefestigte, als bewusste Ichs gegenseitig präsentieren.

 


1 Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag vom 12.09.2024, der im Rahmen der Seminarreihe „Die Kunst der Technik in der Psychoanalyse“ am IPPK gehalten wurde.

2 Andrea Sabisch hat das beispielhaft für Bilder skizziert (2018, S. 71 ff.), Jasmin Böschen an Schülervideos (2025).

3 In der Ausgabe: Althusser, Louis, and Etienne Balibar (1972) findet sich anstelle von symptomal die Version „symptomatisch“ in Anführungszeichen.

4 Lacan sagt mehrfach, so z. B. in Lacan, Jacques (2023, S. 196 f.): „[…] Wenn es einen Moment gegeben hat, in dem Freud revolutionär war, so in dem Maße, wie er eine Funktion in den Vordergrund rückte, welche auch die ist, welche Marx beigebracht hat – es ist im Übrigen das einzige Element, dass sie gemeinsam haben –, nämlich eine gewisse Anzahl von Tatsachen als Symptome anzusehen.“ (24) und im selben Seminar gegen Ende betont er: „Es ist wichtig, sich zu vergewissern, dass geschichtlich nicht darin das Neue an der durch Freud realisierten Einführungen in die Psychoanalyse besteht. Ich habe das mehrfach angezeigt, und es ist sehr leicht, das in der Lektüre zu erkennen; der Begriff Symptom, derjenige, der dafür verantwortlich ist, das ist Marx.“.

5 Althusser legt seine Rezeption von Freud und Lacan kurz dar in: Althusser, Louis (1976).

6 „In einem porösen Stoff gibt es Poren nur in Verbindung mit der umgebenden Masse.“ sagen auch Architekten (Wolfrum 2024, S. 162). Was individuelle und damit auch gesellschaftliche Porosität angeht, lohnt es sich Julietta Singh (2023) zu lesen.

7 https://www.dwds.de/wb/Deut [08.09.2024].

 

Literaturverzeichnis

Althusser, Louis u. Balibar, Etienne (1972 [1965]): Das Kapital lesen 1. Übers. v. Klaus-Dieter Thieme. Reinbek: Rowohlt.

Althusser, Louis (1976): Freud und Lacan. In: Freud und Lacan. Die Psychoanalyse im historischen Materialismus (Tort). Hg. v. Louis Althusser und Michel Tort, S. 5-42. Übers. v. Gerhard Ahrens, Chantal Creuzot, Herbert Nagel und Hans-Henning Ritter. Internationale Marxistische Diskussion. Berlin: Merve.

Althusser, Louis et al. (2018 [1965]): Das Kapital lesen (1965). Übers. v. Frieder Otto Wolf. Münster, Westfälisches Dampfboot.

Böschen, Jasmin (2025): Filmbildung durch das Smartphone. Medienästhetische Annäherung an digitale Bildlichkeit. Mit einem Vorwort von Karl-Josef Pazzini. München: kopaed.

Bredekamp, Horst (2023): Sigmund Freuds figürliche Psychoanalyse. Der Moses Michelangelos und die Sammlung von Idolen. Basel: Schwabe Verlag.

Devereux, Georges (1984 [1967]): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Eingel. v. Weston Le Barre. Übers. v. Caroline Neubaur u. Karin Kersten. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Didi-Huberman, Georges (2000): Vor einem Bild. Übers. v. Reinhold Werner. München/Wien: Hanser.

Freud, Sigmund (1976 [1938]): „Abriß der Psychoanalyse“. In: Gesammelte Werke. Bd. 17. Frankfurt/M.: Fischer, S. 63-138.

Freud, Sigmund (1952 [1895]): „Studien über Hysterie“. In: Gesammelte Werke. Frankfurt/M.: Fischer, S. 75-312.

Freud, Sigmund u. Jung, Carl Gustav (1974): Briefwechsel. Frankfurt/M.: Fischer.

Lacan, Jacques (1978[1953-1954]): Freudsche Schriften. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch I (1953-1954). Übers. v. Werner Hamacher. Olten/Freiburg: Walter-Verlag.

Lacan, Jacques (2006): Der Triumph der Religion, welchem vorausgeht: Der Diskurs an die Katholiken. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (2015 [1999]): „Die logische Zeit und die vorweggenommene Gewissheitsbehauptung. Ein neues Sophisma“. In: Schriften I. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien: Turia + Kant, S. 231-251.

Lacan, Jacques (2023 [1971]): Über einen Diskurs, der nicht des Scheins wäre. Das Seminar, Buch XVIII. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Berlin: Turia + Kant.

Nusinovici, Valentin M. (2001): „Gegenübertragung und Begehren des Analytikers“. In: André Michels u. Peter Müller (Hg.) ( 2001): Übertragung. Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 4. Hg. v. André Michels und Peter Müller. Tübingen: Edition Diskord, S. 98-105.

Sabisch, Andrea (2018): Bildwerdung. Reflexionen zur pathischen und performativen Dimension der Bilderfahrung. München: kopaed.

Singh, Julietta (2023): Kein Archiv wird Dich wiederherstellen. Übers. v. Nea Schmidt. Leipzig: Merve.

Warsitz, Rolf-Peter (2016): „Die freie Assoziation ist nicht nur eine Erzählung. Über einige Formen des Sprechens in der Psychoanalyse“. In: Angelika Elbrecht-Laermann, Elfriede Löchel, Bernd Nissen u. Johannes Picht (Hg.) (2016): Jahrbuch der Psychoanalyse. Stuttgart: frommann-holzboog, S. 69-94.

Wolfrum, Sophie (2024): „Porosität als urbane Agenda“. In: Barbara Büscher, Elke Krasny u. Lucie Ortmann (Hg.) (2024): Porös-Werden Geteilte Räume, urbane Dramaturgien, performatives Kuratieren. Wien: Turia + Kant, S. 159-168.

 

Autor:in: Karl-Josef Pazzini lebt in Berlin und ist dort als Psychoanalytiker, Supervisor und Berater tätig. Bis 2014 war er Professor für Bildungstheorie und Bildende Kunst an der Universität Hamburg. Er studierte Philosophie, Theologie, Erziehungswissenschaft, Mathematik und Kunstpädagogik. Zudem war er Herausgeber und ist heute Redakteur der RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Momentan lehrt er in verschiedenen psychoanalytischen Einrichtungen und arbeitet am Politischen des psychoanalytischen Konzepts der „Übertragung“ sowie an Fragen der sogenannten „Laienanalyse“ (Wie wird man Laie? Was erlaubt Psychoanalyse zu praktizieren?). Gemeinsam mit dem Museologen Gottfried Fliedl schreibt er über Étienne-Louis Boullées Zeichnung Muséum (1783) als gezeichnetes Konzept für eine bürgerliche Gesellschaft. Auch Fragen der Technik, der Deutung und insbesondere des Symptombegriffs werden dabei gestreift.

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