Erinnerungen an Tiefen der Sammlung.
Psychoanalytische Theorie als Rahmen künstlerisch-historischer Forschungen
Hannes Eckstein und Till Langschied
Y – Z Atop Denk 2025, 5(4), 1.
Abstract: Aus Anlass eines Forschungsprojekts, das die Ausgangslage eines mehrteiligen künstlerischen Programms hätte sein sollen, haben Hannes Eckstein und Till Langschied das Kunstmuseum Basel, dessen Sammlung und Geschichte untersucht. Um jenseits des bisherigen, reichhaltigen Forschungsstandes neue Erkenntnismöglichkeiten zu eröffnen, entstand während der Ausarbeitung des Projekts die Idee, eine an psychoanalytischer Theorie orientierte Perspektive zu wählen. Das Museum selbst wurde dabei als eine Art Subjekt verhandelt, das über ein Bewusstsein, in Form des öffentlichen Auftretens, aber auch ein Unbewusstsein, in Gestalt unausgesprochener, sich wiederholender Muster, verfügt. Der psychoanalytisch-historische Ansatz der Kuratoren war dabei stets spekulativ und sollte als Rahmen für die eingeladenen Künstlerinnen verstanden werden, innerhalb dem sie sich aus der Logik ihrer eigenen Arbeit heraus dem Museum als Thema und Wirkungsort widmen können.
Die Programmreihe Tiefen der Sammlung, welche das Ergebnis dieser Recherche hätte sein sollen, wurde aufgrund eines Direktionswechsels kurz vor der ersten Veranstaltung abgesagt. Ob diese Absage als Abwehr der Institution gegenüber einer kritischen Auseinandersetzung mit ihr gelesen werden kann, muss spekulativ bleiben. Somit fand das Projekt nie seine eigentlich intendierte künstlerische Auseinandersetzung; es bleiben allerdings Überlegungen zu der Theorie der Psychoanalyse als reflektierende Methodik für Kulturinstitutionen sowie umfangreiche Beobachtungen zur Geschichte des Kunstmuseums und der Stadt Basel. Für diesen Text wird die Betrachtung des Museums unter dem Freud'schen Begriff Das Ding zentral behandelt, indem gezeigt wird, dass das Phänomen des Verlusts eine immense Rolle in der Sammlungsgeschichte spielt. Diese Untersuchung mündet in der Fragestellung, ob das Sammeln selbst nicht ein Symptom von exzesshafter Verlustangst verstanden werden kann.
Keywords: Kunstmuseum, Psychoanalyse als Methode, Sammeln als Symptom
Copyright: Hannes Eckstein und Till Langschied | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.04.2025
Artikel als Download: Y - Z Atop Denk 2025, 5(4), 1
Ausgangslage und Einladung
Kulturinstitutionen sind komplexe Gebilde, die an Knotenpunkten des Geflechts zwischen Politik, ästhetischem Diskurs, Zeitgeist und Historizität existieren. Sie haben dabei eine Vielzahl von Aufgaben, die sie für ihr Publikum, aber auch für ihre Gönnerinnen – staatlicher und privater Natur – erfüllen sollen. Kunstmuseen sind zudem in ihrer heute etablierten Form eine geschichtlich relativ neue Erscheinung. Nahezu alle der heute in Europa bekannten Beispiele von Kunstmuseen sind in den letzten vierhundert Jahren entstanden. Seither haben sie gerade auch durch die Verwobenheit mit anderen Institutionen oder Bereichen des Gemeinwesens jeweils bestimmte öffentliche, wohl aber auch verborgene Profile entwickelt. Mit ausgewählten Aspekten dieser historisch gewachsenen Profile rühmen sich Institutionen gerne, andere Seiten ihrer Geschichte und Sammlungstätigkeit werden hingegen des Öfteren ausgeblendet.
Das Kunstmuseum Basel ist in dieser Hinsicht höchst bemerkenswert. So wird es gerne als älteste öffentliche Sammlung der Welt bezeichnet; ein Titel, der gut einhergeht mit dem humanistisch-liberalen Selbstverständnis der Stadt am Rheinknie.1 Da sich Basel – auch wegen der hier ursprünglich entstandenen und mittlerweile global agierenden Kunstmesse Art – als Kultur- und Kunststadt versteht, haben Kunstinstitutionen ein großes Gewicht im kantonalen Finanzbudget, den lokalen politischen Debatten und nicht zuletzt im Straßenbild der Stadt. Neben einer hochprofessionellen institutionellen Kunstlandschaft hat Basel auch eine sehr lebendige alternative Szene, gefördert unter anderem durch die international gut vernetzte Kunsthochschule an der Hochschule für Gestaltung (Fachhochschule Nordwestschweiz). Allerdings lässt sich beobachten, dass diese beiden Welten vielleicht weniger als in anderen Städten miteinander in Kontakt treten. Verschiedene Exponenten der alternativen Szene setzen ihre prominentesten Fokuspunkte bewusst abseits der staatlichen Museen und bezichtigen letztere zuweil, eine Zweiklassengesellschaft der monetären und aufmerksamkeitsökonomischen Diskrepanzen zu schaffen (Bajour 2024). Gleichzeitig wird den Institutionen immer wieder vorgeworfen, dass sie ihr Programm eher an ihrer gutbetuchten Gönner:innenschaft bürgerlichen Milieus ausrichten. Unter anderem vor dem Hintergrund solcher Diskussionen gab es in gewissen Abteilungen im Kunstmuseum Basel immer wieder die Überlegung, wie das Museum mit anderen Akteuren des Kulturbereichs der Stadt in Verbindungen treten könnte.2
Gegen Ende des Jahres 2022 wurden wir – Hannes Eckstein und Till Langschied – von der Abteilung Programme des Kunstmuseums Basel angefragt, ein kuratorisches Konzept zu entwickeln, das mit künstlerischen Interventionen im Museum dessen Geschichte und Wirkung reflektiert. Das Anliegen war, dass wir ein Programm zusammenstellen, das eine Brücke zur zeitgenössischen Kunstszene der Stadt und ebenso zu den Hochschulen schlägt. Daher sollte es eine auf Diskurs fokussierte Konzeption sein, idealerweise mit möglicher Skalierung in einzelne vollständige Unterrichtsoder Veranstaltungseinheiten. Es sollte aus einer Recherche zur Institution heraus ein künstlerisches Projekt entstehen, das im Museum stattfinden und mit dem Haus selber interagieren sollte. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass es von Beginn an von Interesse war, einen theoretischen Rahmen für eine künstlerische Auseinandersetzung zu erarbeiten. Das Projekt war nicht als reine akademische Untersuchung und/oder Veröffentlichung gedacht. Unsere Arbeit sollte eingebettet sein in akademische Diskurse, ohne diese eins zu eins ins Museum zu übertragen. Das primäre Resultat dieses Projekts sollten immer künstlerische Arbeiten sein, welche von uns eingeladene Kunstschaffende realisieren sollten.
Der in Basel geborene und aufgewachsene Hannes Eckstein hatte von 2020 bis 2021 am Kunstmuseum gearbeitet und konnte somit neben seiner eigenen umfangreichen Kenntnis zur Stadtgeschichte und zur Geschichte des Kunstmuseums auch auf unmittelbares Wissen über Abläufe und Strukturen des Museums zurückgreifen.
Neben seiner eigenen künstlerischen Arbeit hatte Till Langschied in den vorigen Jahren eine kuratorische Praxis entwickelt, deren zentrales Anliegen es ist, dass die von ihm eingeladenen Kunstschaffenden mit performativen Gesten auf örtliche Gegebenheiten reagieren. So sollte stets ein Dialog zwischen Ort und Kunst entstehen, wobei die Kunst nicht die erste Instanz einer verdrängenden Gentrifizierung darstellen, sondern sich vielmehr in die räumlichen und sozialen Gegebenheiten integrieren sollte. Im Jahr 2019 gründete Langschied beispielsweise einen Kunstraum in einem Erotikshop in der Basler Altstadt mit dem Namen Pleasure Zone (abgeleitet vom Namen des hauseigenen Pornokinos). Die Idee von Pleasure Zone war, dass weiblich gelesene Künstlerinnen in temporären Installationen und Performances auf diesen Ort reagieren, in welchem Frauen sich zumeist nicht als handelnde Akteurinnen bewegten, sondern als digital reproduzierte Objekte erschienen. Die Ausstellungen waren außerhalb der Öffnungszeiten des Geschäfts zugänglich, während der eigentliche Betrieb (inklusive Videokabinen und Kino) zu den Öffnungszeiten regulär stattfand.
Durch Verbindung dieser Erfahrungen und Kompetenzen wollten wir das Kunstmuseum Basel betrachten und künstlerisch von eingeladenen Kunstschaffenden verarbeiten lassen. Das Museum ist wie einleitend erwähnt eine enorm komplexe Institution, die viel zum Selbstverständnis der Stadt beiträgt und das eng verwoben ist mit ihrer politischen Landschaft, den öffentlich-politischen Debatten und nicht zuletzt den persönlichen Präferenzen, privaten Dramen und finanziellen (In-)Fortunen der lokalen Elite. Unzählige Faktoren hatten und haben fortlaufend einen Einfluss auf das Haus und seine früheren und aktuellen Sammlungsbestände. Der Beginn der Bestände im städtischen Eigentum geht zurück bis ins 17. Jahrhundert, genauer auf den im Jahr 1661 erfolgten Ankauf einer privaten und vom Verkauf ins Ausland bedrohten lokalen Kunst- und Wunderkammer, dem sogenannten Amerbach-Kabinett. In den folgenden Jahrhunderten sind sowohl die Kunstsammlung des Basler Gemeinwesens als auch die physische Ausdehnung ihrer Aufbewahrungsorte auf aktuell drei monumentale Gebäude, errichtet in den Jahren 1936, 1980 und 2016, enorm angewachsen. Neben der in Form einer Dauerausstellung mit gelegentlichen Neuhängungen gezeigten Sammlung präsentiert das Museum in allen seinen Häusern eine Vielzahl von Sonderausstellungen. Diese Ausstellungen werden sowohl vom hauseigenen kuratorischen Team als auch im Austausch mit anderen Institutionen konzipiert und umgesetzt. Zudem ist die Institution in zahlreichen Veranstaltungen der Stadt eingebunden. Die Direktion des Museums und die ihr vorstehende Kommission sind im administrativen und gesellschaftlichen Stadtgefüge unverrückbar integriert.
Untersuchungsmethoden
Zwischen Sammlung, Sonderausstellungen, Architektur und Politischem wurde uns klar, dass es unmöglich sein würde, jede Facette des Museums zu beleuchten, und wir es deswegen schaffen mussten, uns einer Art von ‚Essenz‘ der Institution zu nähern. Diese Essenz fanden wir in der Sammlung. Das Museum ist in seinem Selbst- und Fremdbild massiv von einem über die Jahrhunderte gewachsenen Konglomerat von Kunstwerken und Archivalien bestimmt, dies bis hin zu einem Punkt, an dem man spekulieren könnte, ob alle anderen Elemente des Museums lediglich Auswüchse (oder Symptome) sind für einen Kern, der in dieser Sammlung beherbergt wird. Als wir die Sammlung als eine solche permanent wirkende Kraft innerhalb der Institution sahen, erschien sie uns als eine Art Charakter oder metaphorisch gesprochen als Hirn des Kunstmuseums. Alles – die Ausstellungen, die Publikationen, die Veranstaltungen, die Eigen- und Fremdwahrnehmung des Hauses – führt immer wieder zurück zu ihr. Selbst in kürzlich publizierten Interviews mit der neuen Direktorin Elena Filipovic spricht die generell in ihrem bisherigen Schaffen von Gegenwartskunst und der Arbeit mit Wechselausstellungen geprägte Kunsthistorikerin von dem starken Bewusstsein für die Sammlung und wie diese die Grundlage der öffentlichen Perzeption des Museums bildet (Monopol 2024).
Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob die Sammlung, wenn sie der innere Kern oder die Essenz des Museums ist, einen Charakter annehmen kann, der es zulässt, das Museum als eine Art Subjekt mit einem Bewusstsein und einem Unbewusstsein bzw. Unbewusstes zu lesen. Hat die Sammlung in ihrem Bestand, ihrer Geschichte und ihrer fortlaufenden Veränderung eine bewusste, reflektierte und eine unbewusste, verdrängte, ja gar zwanghaft-repetitive Seite? Gibt es Facetten der Sammlung, die unausgesprochen – und unbewusst – die Geschicke der Institution bestimmen? Wie tief werden der Charakter und die immer wiederkehrenden Muster im Bewahren und Ergänzen der Sammlung von denen, die mit ihr arbeiten müssen, reflektiert? Es erschien uns, als brauche es eine psychoanalytische Betrachtung der Eigenschaften und Geschichten der Sammlung, im Rahmen derer das Museum auf unbewusste Muster, Zwänge und Neurosen untersucht wird. So entstand unser Konzept für Tiefen der Sammlung, eine Reihe von thematisch angeordneten Abenden, an denen durch Performances zeitgenössischer Künstler*innen mit Bezug zu Basel das ‚Unbewusstsein‘ der Institution, das wir in dem Bestand und in der Systematik seiner Sammlung vermuteten, anschaulich gemacht werden sollte.
Unser kuratorischer Ansatz mit seiner experimentellen Art war dabei auch in einer Reihe von nicht unähnlichen Interventionen in anderen Museen zu sehen, welche alle die Form und Geschichte von Kunstinstitutionen neu zu beleuchten versuchten. Nachdem verschiedene Generationen von Kunstschaffenden mit Kunst als Institutionskritik die Machtstrukturen von insbesondere staatlichen oder halbstaatlichen Kunstbetrieben hinterfragt und kritisiert haben, scheint es nun en vogue zu sein, dass die Institutionen selbst ‚nach innen‘ schauen. Jenseits von klassischer Institutionskritik suchen Museen und Kunstschaffende neue Ansätze, um sich selbst in einer sich rasant ändernden Kulturlandschaft zu positionieren und auch wieder neu zu verankern. Zwei Beispiele, die hier besonders ins Auge stechen und in deren Nachbarschaft sich Tiefen der Sammlung verstand, fanden im Palais de Tokyo in Paris und im British Museum in London statt. Im Falle des British Museum handelte es sich weniger um eine kunst- oder veranstaltungsbasierte Reflektion des Museums als mehr um eine Sammlung von Geschichten. Noah Angell sammelt seit einigen Jahren Erzählungen von Angestellten des Museums, welche von übernatürlichen Erscheinungen im British Museum berichten. Er sammelt diese Fragmente und Erinnerungen in einem Buch mit dem Titel Insurgent Spirits at The British Museum (Angell 2022). Der Autor schafft es, mit Hilfe der beschriebenen Erscheinungen auch über die Kolonialgeschichte Großbritanniens, mit der das British Museum und seine häufig ihrem ursprünglichen Ort entrissenen Exponate eng verbandelt sind, nachzudenken. Die der Institution unterliegenden Strömungen werden hier also eher in einem übernatürlichen und spiritistischen Feld verortet. Das Museum bleibt Schauplatz und wird in dieser Erzählung von Erinnerung und Entrückung nicht selbst zum untersuchbaren Subjekt.
Im Palais de Tokyo startete im Dezember 2022 ein Projekt mit dem Titel Le Grand Désenvoutement – Chapitre 1 (Palais de Tokyo 2022), welches die Institution zusammen mit ihrer Geschichte und insbesondere ihrer Architektur zum zwanzigsten Jubiläum des Museums kritisch betrachten sollte. Der Palais de Tokyo hatte eine Vielzahl von Kunstschaffenden eingeladen, die mit den unterschiedlichsten Praktiken und Theorien neue Wege finden sollten, über das Museum nachzudenken. Die verschiedenen Werkzeuge, derer sich die Künstlerinnen bedienen durften, reichten von der psychiatrischen Therapie über kritische Soziologie bis hin zum Schamanismus. Ob die Ergebnisse das Selbst- und/oder Fremdbild des Palais de Tokyos nachhaltig beeinflussen konnten, ist für uns nicht nachvollziehbar und für uns und unseren Prozess auch nicht entscheidend. Der Vielzahl an Methoden und Strategien, die im Palais de Tokyo zum Einsatz kamen, wollten wir uns aber entgegenstellen und uns sehr bewusst auf eine spezifische Methode fokussieren.
Die Frage nach einem ‚Unbewusstsein‘ der Institution, das mit seinen Eigenschaften die Projekte, Ausstellungen, aber auch Personalfragen der Kunstmuseums auf eine noch nicht reflektierte Art beeinflusst, legte die Verwendung von psychoanalytischer Theorie und Vokabular nahe. Die Entscheidung, psychoanalytische Theorie zu verwenden, wurde von uns weiter geschärft mit dem Beschluss, nah an Freud'schen Begrifflichkeiten zu bleiben, auch wenn die Theorien, die das Projekt mit inspirierten, in einer tendenziell Lacanschen Tradition stehen. Man kann sagen, dass für Tiefen der Sammlung aber die Lacansche Idee der Rückkehr zu Freud von Interesse war. Als zentrale, für Erweiterungen offene Begriffe designierten wir Das Ding, Thanatos und Das Unheimliche. Die jeweiligen Konzepte orientierten sich dabei immer an Originaltexten von Freud, aber auch an zeitgenössischen Auslegungen dieser Begriffe.
Die Form als Geheimnis
Am Anfang eines Unterfangens wie Tiefen der Sammlung steht natürlich die methodologische Frage, ob sich psychoanalytische Theorie auf etwas jenseits von individuellen Personen anwenden lässt. Sicherlich verlässt man bei einem solchen Unterfangen in gewissem Maße den klinischen Kontext, für den ein Großteil von Freuds Werk entwickelt worden war. Erst gegen Ende seines Lebens und Denkens brach Freud das auf Patienten ausgerichtete Denken der Psychoanalyse auf. So schuf er – nebst früheren Überlegungen zu Werken von beispielsweise Michelangelo (1914) – mit Das Unbehagen in der Kultur (Freud 1930) selbst die Grundlage für viele kommende Generationen von Sozialphilosoph:innen, welche die Psychoanalyse als Methode verwendeten, um gesellschaftliche Phänomene oder Institutionen zu reflektieren.
Dabei stellt sich immer wieder die Frage, worauf sich psychoanalytische Theorie anwenden lässt. Der amerikanische Filmwissenschaftler und Professor Todd McGowan beginnt sein Buch Capitalism and Desire aus dem Jahr 2016 mit der Frage: „Can we psychoanalyze capitalism?“ (McGowan 2016, S. 10). McGowan gibt zu, dass Freud selbst einem solchen Unterfangen wohl kritisch gegenübergestanden hätte, da er in dem bereits erwähnten Das Unbehagen in der Kultur zu dem Schluss gekommen sei, dass man Gesellschaft nicht als Ganzes psychoanalytisch untersuchen kann. McGowan argumentiert aber weiter und schreibt: „Even though one cannot submit an entire society or an economic system to a series of psychoanalytic sessions, every social order and every economic system speaks through articulations that betray its psychic resonances, and we can analyze these articulations from the perspective of psychoanalytic theory“ (McGowan 2016, S. 10).
Ähnlich ging es uns mit dem Kunstmuseum Basel und im Besonderen mit seiner Sammlung. Wir wollten mit Tiefen der Sammlung die Artikulationen von im Kern der Institution verborgenen Strukturen, Strategien und Mustern aufspüren. In unseren Augen ist die Sammlungsstrategie der jüngeren Zeit eine Artikulation der Identität des Museums und diese Identität wiederum ist die Artikulation des Grundstocks der Sammlung. Die Sammlung formt in diesem Sinne die Institution und ist gleichzeitig durch kontinuierliche Erweiterung ihrer selbst ein Symptom der ihr zugrunde liegenden Muster. Durch diese Verknotung mit sich selbst entsteht eine Dynamik, welche den Inhalt (der Sammlung) in den Hintergrund treten lässt und sowohl das Sammeln als Akt als auch die Sammlung als Resultat in Form einer historischen und performativen Geste selbst zum Gegenstand der künstlerischen Untersuchung werden kann. Um es mit Slavoj Žižek zu sagen: „the ‚secret‘ to be unveiled through analysis is not the content hidden by the form (the form of commodities, the form of dreams) but, on the contrary, the ‚secret‘ of this form itself“ (Žižek 2008, S. 35). Dies geht bis zu den Fragen: Wer sammelt? Und für wen? Warum eine Sammlung? Was wird konserviert? Was wird ausgestellt und was bleibt in ‚Depothaft‘? Welche Phasen durchlebt eine Sammlung? Welche Einschnitte und Entbehrungen prägten sie? Welche Beziehungen – zu Direktor:innen, Kurator:innen, Künstler:innen, Galerist:innen – geht sie ein? Die Sammlung wird aus dieser Überlegung heraus zu einer Kraft, welche die Institution bestimmt. Somit hat die Sammlung dann nicht nur eine Art ‚Unbewusstsein‘ der Institution, sondern sie ist selbst eben dieses Unbewusstsein. Sie enthält ihre eigenen Schattenseiten. Besonders interessant und anschaulich wird dies, wenn man die Sammlung und ihre Erweiterung im Laufe der Jahrhunderte unter dem Aspekt des „Wunderblocks“ betrachtet; einer Metapher, der sich Freund in einem seiner vielleicht schlüssigsten Texte zur Beschaffenheit des Unbewussten bedient.
Eine Sammlung von Dauerspuren
In seinem kurzen Text Notiz über den „Wunderblock“ von 1925 verwendet Freud ein neu aufgekommenes Zeichenspielzeug für Kinder als Analogie für seine Idee des Unbewussten. Äußere Eindrücke hinterlassen auf einer Schicht sichtbare Markierungen, allerdings können diese Markierungen wieder weggewischt werden. Permanent bleiben hingegen alle Spuren von vollführten Zeichnungen auf der Schicht des Spielzeugs, welche das Farbmittel trägt. Auf diesem Durchschlagpapier entstehen somit übereinander und ineinander liegende „Dauerspuren“ von Zeichnungen, auch wenn die sichtbaren Zeichnungen schon lange wieder entfernt wurden. So funktioniert, laut Freud, die Art, wie sich Erfahrungen des Subjekts in sein Unbewusstsein einschreiben. Für die Tiefen der Sammlung wurde diese Idee der Dauerspur zu einer zentralen Metapher. Ankäufe, Ausstellungen, Besitzrangeleien und ähnliches verkomplizieren sich zu einem Netz aus Linien, die in der Präsentation der Werke in den dafür vorgesehenen Ausstellungsräumen nicht deutlich werden, die aber dennoch die grundlegende Art, wie die Institution mit der Sammlung umgeht, beziehungsweise auch, wie die Institution sich in ihrem eigenen Selbstverständnis auf Basis der Sammlung konstituiert, bestimmen.
Die Vorstellung des sich immer weiter ausdehnenden und sich selbst überlagernden Netzes aus Dauerspuren als Unbewusstsein der Sammlung des Kunstmuseums lässt sich eher durch einen Blick in historische Dokumente aufspüren, als dass es sich aus dem Werk selbst ablesen ließ. Als Teil unserer Arbeit für Tiefen der Sammlung setzte sich Eckstein daher detailliert mit der Stadt- und Institutionsgeschichte auseinander. Teilweise konnten gerade Briefe, in welchen sich berühmte Persönlichkeiten aus Basel äußerten, neue Hinweise auf Qualitäten geben, die der Sammlung oder einzelnen Objekte zugeschrieben wurden und weit über ihre aus historischer Perspektive tatsächliche Bedeutung hinausgehen. Obschon mehrfach Anlass zu einem individuellen psychoanalytischen Quellenstudium bestanden hätte, muss hier noch mal betont werden, dass wir im Verlaufe dieses Projekts zu keinem Zeitpunkt intendierten, das Museum bzw. die Menschen in seinem Umfeld einer psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen. Mehr an Tendenzen und Diskursentwicklungen interessiert, wollten wir das Kunstmuseum Basel mit psychoanalytischer Methodik und Terminologie zur Geschichte seiner Sammlung befragen. Wir haben uns dabei weder auf ein bestimmtes Kunstwerk oder eben einzelne Personen konzentriert, noch ging es bei unserer Analyse darum, Teile der Sammlung auf ihre künstlerische Qualität hin zu untersuchen, sondern vielmehr darum, wie sie selbst als Phänomen, wie ihr Hintergrund, ihre Herkunft und ihre Rezeption immer wiederkehrende Symptome für den Charakter der Institution sind. Es ging uns in dem Sinne um die Dauerspuren des Hauses, die sein heutiges Dasein, sein Handeln, sein Ausstellen und Sammeln bestimmen.
Ohne Frage hätte man anstelle der Dauerspuren auch Freuds Erklärung der Struktur des Unbewusstseins mit seiner Analogie zur Stadt Rom aus Das Unbehagen in der Kultur als Grundlage für Tiefen der Sammlung nutzen können. Ein immer wieder wechselnder Ausstellungsaufbau in einem Museum, der vorangegangene Präsentationen ‚überschreibt‘, ist sicherlich Erinnerungen an eine bemerkenswerte Parallele zur Freuds Vorstellung vom immer wieder neu überbauten Stadtgebiet von Rom. Vielleicht noch deutlicher als in der ewigen Stadt behalten Ausstellungsräume unsichtbare Erinnerungen an vorige Ausstellungen in sich eingeschrieben, wie etwa Pierre Huyghe mit seiner Serie Timekeeper, die er seit 1999 produziert, aufzeigt. Huyghe poliert für die jeweils ortsspezifische Arbeit einen Teil einer Museumswand, wodurch die darunterliegenden Farbschichten voriger Ausstellungswandfarben zum Vorschein kommen. Der Künstler legt damit Schichten an überschriebenen Erinnerungen frei, oder, wie die Redaktoren der Architectural Review anmerken, schafft Huyghe „ghosts of exhibitions past“ (Architectural Review 2023).
Für Tiefen der Sammlung interessierte uns aber die Dauerspur als potenteres Sinnbild des Unbewusstseins im Vergleich zur sehr spezifischen Analogie mit der Stadt Rom. Die Dauerspur verweist nicht nur auf einen malerisch-zeichnerischen Gestus, der sich vielleicht näher an künstlerische Produktion anschmiegt, er verdeutlicht auch, dass das bewusste ‚Auslöschen‘ von Eingeschriebenem dennoch Spuren hinterlässt, die auch wenn sie nicht direkt sichtbar sind, entscheidende Veränderungen in der Substanz des Wunderblocks hinterlassen. Das Museum ist im Rahmen von Tiefen der Sammlung ein solcher Wunderblock, dessen jahrhundertealte Schreibschutzschicht von einer Vielzahl von Spuren (ein)geprägt wurde.
Die drei Abende
Wie einleitend erwähnt sollte die Recherche für Tiefen der Sammlung die Grundlage für mehrere Abende sein, an denen Künstlerinnen mit Bezug zu Basel Elemente unserer Recherche künstlerisch-performativ verarbeiten sollten. Die ursprüngliche Budgetierung umfasste die Durchführung dreier Anlässe, weswegen die vorerwähnten drei Topoi Freuds zum jeweiligen Leitmotiv eines Abends werden sollten: Das Ding, Das Unheimliche und Thanatos.
Der erste der drei Abende sollte unter dem Titel Das Ding stehen. Wie im Folgenden umfassender erläutert wird, entstand die Grundlage für das, was später einmal das Kunstmuseum Basel werden sollte, infolge des drohenden Verlustes eines vermeintlich ganzheitlichen Besitzes. Ausgehend von dieser historischen Tatsache wollten wir Tiefen der Sammlung mit einer Perspektive auf Verlust beginnen und dabei auch mitdenken, dass ein solcher nicht nur rein materielle, sondern stets auch psychologische, ideologische Komponenten in sich trägt. Das Ding als ein zentraler Begriff im Betrachten der Sammlung und des Museums erschien uns besonders beachtenswert, da sich die subjektive Bedeutung der Sammlung, sprich die ihr zugeschriebene immense finanzielle und kulturelle Wertigkeit, immer wieder hauptsächlich in jenen Momenten zu konstituieren scheint, in denen substantiierte Befürchtungen bestehen, dass die Objekte einer immediaten Zugänglichkeit und dem Status des (vermeintlichen) städtischen Eigentums entrissen werden könnten.
Freud führt Das Ding 1895 in seinem Buch Entwurf einer Psychologie ein. Es ist in Freuds Ausarbeitung etwas, das der Säugling in der Liebe der Mutter vermutet. Das Ding ist ein Objekt des Begehrens, allerdings des Begehrens nach etwas, das nie klar definiert werden kann und auch nie final erreicht werden kann. Daher ist diese Begierde auch immer die Suche nach einem verlorenen Objekt, wobei es aber immer unzugänglich bleibt. Das Ding mutiert in der psychoanalytischen Theorie später unter Jacques Lacan in das objet petit a, oder das „kleine andere“; im Kontrast zum Großen Anderen. Lacan schreibt im Seminar VII noch über Das Ding, wobei es in folgenden Seminaren nicht mehr auftaucht und in seiner Sprache komplett durch objet petit a verdrängt wird. Ähnlich zum Vorerwähnten schreibt aber auch Lacan im Seminar VII:
„The whole progress of the subject is then oriented around the Ding as Fremde, strange and even hostile on occasion, [...] but with relation to what? – with the world of desires. It demonstrates that something is there after all, and that to a certain extent it may be useful. Yet useful for what? – for nothing other than to serve as points of reference in relation to the world of wishes and expectations; it is turned toward that which helps on certain occasions to reach das Ding“ (Lacan 1992, S. 52).
Es ist etwas, das wir wollen, etwas, das wir verloren haben, oder von dem wir glauben, dass wir es verloren haben, weil wir es uns nicht vorstellen können. Das Ding bzw. Objekt a bleibt Ursache eines ewigen Begehrens, auch wenn wir Ziele, Menschen oder Objekte, die wir in unseren Vorstellungen mit den Qualitäten von „Das Ding“ aufgeladen haben, erreicht haben. Erinnerungen an.
Als maßgebliche Orientierung für unser Verständnis von Das Ding diente das Denken von Richard Boothby. Boothby fasst den zweischneidigen Charakter von Das Ding, der für unsere Betrachtung der Institution, ihrer Sammlung und dem Akt des Sammelns an sich so zentral werden würde, zusammen. Boothby betont immer wieder, dass Das Ding gleichzeitig im Exzess und aber auch im Mangel verhaftet ist. Außerdem unterstreicht Boothby, wie Das Ding philosophisch-sprachlich zu verorten ist. Er vermutet, dass das Freud'sche Das Ding direkt abgeleitet wurde vom Kant'schen Ding-an-sich. Diese Verortung sei außerdem der Grund, warum der Begriff Das Ding bei Lacan und in englischen Übersetzungen als Fachbegriff beibehalten worden sei. Boothbys Definition von Das Ding sollte sich als zentral erweisen für unsere Arbeit in Tiefen der Sammlung, denn er schreibt: „das Ding designates an unencompassable aspect of every representation, a kind of ungraspable center of gravity that lends coherence to the various manifestations of an object while remaining itself ineluctably out of reach“ (Boothby 2001, S. 204).
Die Aspekte der gleichzeitigen An- und Abwesenheit, der Unerreichbarkeit und des Verlustes sollten den Künstlerinnen des ersten Abends als theoretisches Rahmenwerk ihrer Installationen bzw. Auftritte dienen. Um dem Publikum einen Anknüpfungspunkt an die historische Recherche und die herausstechenden Episoden der Institutionsgeschichte unter diesen Paradigmen bieten zu können, war ein kurzes, einleitendes Referat vor den relevantesten Kunstwerken direkt in den Sammlungsräumen gedacht. Für eine künstlerisch-performative Verarbeitung unserer Recherche hatten wir für den Auftaktabend unter dem Titel Das Ding zum einen die argentinische Künstlerin Sofía Durrieu und zum anderen das polnisch litauische Künstlerinnenpaar Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė eingeladen.
Sofía Durrieu konzentriert sich in ihren Arbeiten auf den Körper und dessen Wechselwirkung mit einer normierenden Umwelt. Sie baut Maschinen, die Körperfunktionen stimulieren oder ergänzen. Dabei wird die Unvollständigkeit des menschlichen Körpers unterstrichen. Besonders inspiriert hatte uns ihre Prothesenskulptur zum Auffangen der eigenen Tränen (Abb. 1).
Abbildung 1: Durrieu, Sophia (2023): Swan Lake. Bronze, Eisen. 63 x 70 x 45 cm. Copyright: die Künstlerin.
Dorota Gawęda und Eglė Kulbokaitė hingegen beschäftigen sich viel mit Verlusten innerhalb sozialer Strukturen in Zeiten großer Veränderung. Der Zusammenbruch der Sowjetgesellschaft wird bei Ihnen immer wieder poetisch reflektiert. Aber auch all das, was wir mit dem zunehmenden Rückzug ins Digitale an haptisch-realer Erfahrung verlieren, spielt in ihrer Arbeit eine große Rolle. In ihrem Konzept für die Performance Brood für das Kunstmuseum Basel schreiben sie: „Borrowing from polyphonic singing traditions hailing both from Lithuania and Epirus; and the Gothic's metaphorical use of body horror, its pair of performers haunt the institutional halls across a strung-out six hours, blurring binaries of normal-paranormal, victim-villain, and self-world“ (Abb. 2).
Zwischen diesen beiden künstlerischen Positionen sollten Verlust, Sehnsucht und die Vorstellung von etwas Ganzheitlichem, das aber verborgen bleiben muss, sowohl auf persönlicher als auch gesellschaftlicher Ebene verhandelt werden.
Abbildung 2: Gawęda, Dorota u. Kulbokaitė, Eglė (2023): Still aus Brood (Performance-Trailer). Copyright: Die Künstlerinnen.
Als einleitender Rahmen für diese künstlerischen Arbeiten hätte Hannes Eckstein über die Rolle von Verlust in der Geschichte des Museums gesprochen. Dabei ginge es wie schon erwähnt sowohl um die historischen Begebenheiten, die zum Ankauf des Grundstocks der Sammlung führten, als auch um latente Bedrohungsszenarien, mit denen das Museum im Laufe seiner Geschichte wiederholt konfrontiert war und welche die Frage aufwerfen, ob es gerade erst das drohende Abhandenkommen ist, das Objekte – oder Kunstwerke im Speziellen – als wertvoll und schützenswert erscheinen lässt.
Die Ursprünge der Sammlung
Als Auftakt für den ersten Abend von Tiefen der Sammlung wären somit bestimmt die sich am längsten in der Sammlung des Kunstmuseums befindenden Gemälde besprochen worden, da ihr Ankauf auf einen in extremis verhinderten Verlust zurückgeht. Sie entstammen wie vorerwähnt dem sogenannten Amerbach-Kabinett, welches das Gemeinwesen der Stadt zusammen mit der Universität Basel im Jahre 1661 angekauft hat. Die Historie der reichhaltigen Bestände der Familie Amerbach, ihre Sammlung an Schriftgut, Kunstwerken, Preziosen und wissenschaftlichen Artefakten, begann mit dem von Bonifacius Amerbach geerbten Nachlass des niederländischen Gelehrten Desiderius Erasmus von Rotterdam (†1536). Bonifacius und später sein Sohn und Alleinerbe Basilius erweiterten die sukzessiv entstandene private Bibliothek, Kunst- und Wunderkammer über 5 Jahrzehnte hinweg mit schlussendlich über 5000 wertvollen Artefakten, zu denen unter anderen das heute wohl berühmteste Gemälde der Sammlung, der Tote Christus im Grab von Hans Holbein (1521/22), gehörte (Abb. 3). Die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern der Frühen Neuzeit verkörperten im Generellen den Makrokosmos, also die gesamte bekannte, wahrnehmbare Welt, in Form eines privaten Mikrokosmos. Das programmatische, von vornherein unerreichbare Ziel war es, die Gesamtheit der Welt abzubilden und in einer kleinen, analogischen Version kontrollier- und dingbar zu machen. Bonifacius und Basilius Amerbachs hingegen waren mehr von persönlichem Interesse geleitet als von einem ganzheitlichen Anspruch. Die Kammer diente weniger der ostentativen Zurschaustellung von Macht und Bildung, sondern dem privaten humanistischen Studium, ferner als Ausdruck persönlicher Freundschaften und Beziehungen. Nichtsdestotrotz gibt es Aspekte der Sammlung, die beiden Zwecken, dem repräsentativen und dem instruktiven, dienlich waren. So sollte beispielsweise die gegenwärtige Schweizer Malerei möglichst in ihrer Gesamtheit abgebildet werden: Aufnahme in die Sammlung fanden Werke von Hans Holbein, Niklaus Manuel, Hans Bock und den anderen renommiertesten Künstlern der Zeit.3
Abbildung 3: Holbein d. J. , Hans (1521/22): Der tote Christus im Grab. Öl auf Lindenholz. 30.5 x 200 cm. Kunstmuseum Basel.
Nach dem Erlöschen der Hauptlinie des Stammbaumes der Amerbachs führte die Sukzession zu einer weiteren wohlhabenden, gelehrten Familie der Stadt, den Iselin, welche die Bestände von Generation zu Generation nahezu unverändert tradierte. Als das letzte männliche erwachsene Glied der erbberechtigten Reihe im Jahre 1648 verstarb, war die Familie nicht mehr willens oder in der Lage, sich in gleichem Maße um den Erhalt der immensen Sammlung zu kümmern wie bis anhin, geschweige denn, ihr neue Bestände zukommen zu lassen. Dies wurde auch vom Beistand der Kinder bedacht: Latent schien der Verluste des universalen Anspruches der Sammlung und der Aktualität der Lehrbücher, womit dem gesamten Kabinett eine gewisse Obsoleszenz drohte. Ein Verkauf der seit 70 Jahren am selben Ort an der Rheingasse im Kleinbasel befindlichen Kammer, beziehungsweise ihrer Ausstattung, erschien die nächstliegende Lösung. Nach Bekanntwerden der Veräußerungsabsichten erreichten in den folgenden Jahren zahlreiche Kaufangebote die Stadt am Rheinknie; sogar Christina, die Königin von Schweden, scheint unter den Interessierten gewesen zu sein. Ein nicht näher bekannter, zuweilen mit dem Namen Martin Bürren assoziierter Kaufmann aus Amsterdam bot im Jahr 1661 schließlich 9500 Taler für die Sammlung, was eine Offerte darstellte, deren Annahme wohl nicht zu verhindern gewesen wäre.
Die politischen Debatten infolge der konkretisierten Gefahr einer Expatriierung der amerbachschen Sammlung zeigten sich während der Recherchen schwierig zu rekonstruieren. Mit Quellen belegbar sind die Bemühungen des damaligen Bürgermeisters Johann Rudolf Wettstein (in Deutschland vor allem bekannt als Teilnehmer der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden). Er und sein gleichnamiger Sohn, seines Zeichens wiederum Professor an der hiesigen Universität, setzten sich schon unmittelbar nach dem Versterben des letzten Erbens dafür ein, dass die Sammlung in der Stadt – oder zumindest in der frisch aus dem deutschen Reich ausgeschiedenen Eidgenossenschaft verbleibe. Ihre Motivation scheint nicht nur humanistisch am Wohle der öffentlichen Bildung orientiert oder dem Kunstgenuss verpflichtet. Territorialdenken und das Fördern der munizipalen Identität und Bedeutung im Wettstreit mit den nach dem 30- jährigen Krieg disparat gewordenen Fürstenhäusern müssen eine Rolle gespielt haben. Dies wäre auch ein Erklärungsansatz der xenophoben, vielleicht auch rassistisch anmutenden Implikationen der Quelle:
„Ich bedauerte es sehr, wenn uns die Griechen, um nicht zu sagen die Goten, dieses Palladium entreißen sollten. Wir werden es zu unserer Unehre verlieren, mag man nun von uns sagen, wir hätten es aus Mangel an Geld verloren oder aus Geringschätzung so wertvoller Gegenstände, die von anderthalb Jahrhunderten mit unglaublichem Eifer und Aufwand durch die ausgezeichnetsten Männer zusammengebracht wurden. Wie ist da zu helfen? Gib mir Rat, oh Freund.“ (Brief von Johann Rudolf Wettstein an Hermann Finsterling, Basel 08.03.1650, übers. aus dem Lat., s. Abb. 4).
Besondere Beachtung verdient hier der Terminus „Palladium“. Beim Amerbach-Kabinett handle es sich gemäß Wettstein also um eine neue Version des heiligen Bildnisses der Göttin Pallas Athene; ein Schatz, von dessen Schutzwirkung das Wohlergehen der ganzen Stadt abhänge. Nicht nur die Angst, im internationalen Ansehen als finanziell schwach oder ungebildet zu gelten, scheint den Aktionismus zu begründen. Es dringt bei den Zeilen die Konzeption einer Verantwortung, die eigene und die globale Kultur vor Ort möglichst preziös verdinglicht zu haben, durch. Die Objekte aus dem verwaisten Nachlass hatten neben ihrem reinen Materialwert und gegebenenfalls einer künstlerischen Bedeutung auch ein ihnen inhärentes Potential zur Nobilitierung. Das internationale Renommee des ursprünglichen Eigentümers Erasmus, dessen exzellente Bildung und Stellung in der Gesellschaft, wurden tradiert an die einflussreichen Rechtsprofessoren Bonifacius und Basilius, und über deren repräsentative Funktionen auch auf die Stadt Basel selbst. Der Glanz der Bestände ließ dabei die Tatsache, dass – geschuldet des immensen Umfangs der Sammlung und der trotz besten Willens rudimentären Inventarisierung – die Stadt gar nicht wissen konnte, was sie im Detail ankaufte, in den Hintergrund rücken.
Abbildung 4: Brief von Johann Rudolf Wettstein an Herrmann Finsterling (08.03.1650). Universitätsbibliothek Basel.
Vater und Sohn Wettstein gelang es ungeachtet der intensiven Anstrengung nicht, private helvetische Abnehmer der Wertgegenstände ausfindig zu machen. Erst die Meldung des konkreten niederländischen Angebots im Jahr 1661 vermochte es, einflussreiche Universitätsprofessoren und den Kleinen Rat (das Vorgängergremium des heutigen Regierungsrates) zum kurzfristigen Handeln zu bewegen, sodass die gesamten amerbachschen Bestände per exekutiven Ratsbeschluss auf Staatskosten erworben wurden. Von der Kaufsumme von 9000 Reichstaler wurden 1500 finanziert seitens der Universität, die mit der Verwaltung und Systematisierung der Sammlung beauftragt wurde.4 Aus diesen Diskussionen sind uns zahlreiche sehr spannende und aufschlussreiche Aussagen überliefert: Neben dem Ursprung der Sammlung beim immer noch berühmten Erasmus und der Pflege durch die fortwährend geschätzte Familie Amerbach wird wirklich hauptsächlich die Qualität der Sammlungswerke gelobt, denen man einen Mehrwert für die Bildung der Allgemeinheit, für eine Förderung der Tugendhaftigkeit der Bevölkerung, zugesprochen hat. Eine solche Denkweise reflektiert eindeutig die Tradition und die Selbstbehauptung der fürstlichen Sammler, in ihren kostspieligen Wunderkammern einen Mikrokosmos zu spiegeln, um somit besser regieren zu können. Das humanistische Bildungs- und Bewahrungspostulat in der Nachfolge etwa der Amerbachs ergänzt den argumentativen Rahmen zur Aufwendung finanzieller Mitteln zwecks eines Erwerbs – und unterscheidet sich wohl wenig von den noch heute vorgebrachten Argumenten in öffentlichen Akquisitionsdebatten.5
Die präzedenzlose Entscheidung, einen ganzen Korpus an Schriftgut, Numismatika und künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Artefakten zugunsten einer breiten Öffentlichkeit zu akquirieren, kann ungeachtet aller Hintergründe und Implikationen in ihrer Bedeutung für die westliche Kunstgeschichte wahrlich schwer überschätzt werden. Das prinzipale Augenmerk der ersten öffentlichen kulturellen und bildungsorientierten Einrichtungen jener Zeit lag auf Büchern: Das Konzept von öffentlich zugänglichen Museen und insbesondere Kunstmuseen, so wie wir sie heute kennen, ist hauptsächlich eine Neuerung des späten 18. Jahrhunderts. Dem – simplifizierendem Epochendenken folgend – Zeitalter der Aufklärung und dem Interesse an einer gebildeten Bevölkerung und der zunehmenden Demokratisierung der Gesellschaft wie auch der schrittweisen Ablösung der absolutistischen Herrschaftsformen sind die (Er-)Öffnungen fast aller Großinstitutionen wie dem Louvre, den Vatikanischen Museen oder der National Gallery zu verdanken. Da die erworbenen Bestände der amerbachschen Sammlung wohl bereits 1662, spätestens aber im Jahr 1671 der Öffentlichkeit im sogenannten Haus zur Mücke am Münsterplatz zugänglich gemacht wurde, ist Basel mit größter Wahrscheinlichkeit der früheste Zeitpunkt in Europa, an zumindest theoretisch eine sich in Eigentum eines Gemeinwesens und nicht einer Privatperson befindliche Sammlung wertvoller Schriften, Kunstwerke und sonstige Preziosen von einer breiteren Bevölkerung, also auch einfachen Bürgern, Frauen, Durchreisenden, eventuell sogar den nicht gelehrten unteren Schichten, besichtigt werden konnte – und dies zumindest einmal pro Woche, am Donnerstagnachmittag. Ob solch eine bahnbrechende Neuerung ohne den Handlungsdruck aufgrund des drohenden Wegzuges des wertvollen Amerbach-Kabinetts in die Wege geleitet worden wäre, darf bezweifelt werden.
Die verinnerlichte Bedrohung durch Verluste
Bei unserer weiteren Recherche, die zum Konzept des ersten Abends der Veranstaltungsreihe geführt hat, stießen wir auf weitere Instanzen, in denen drohende Verluste folgenreiche Änderungen im Bezug auf die Sammlungsbestände ausgelöst haben. Sie korrelieren mit den in den Jahrhunderten nach Ankauf des Grundstocks erfolgten kontinuierlichen Zugängen in die Sammlung der Universität und der Bürgergemeinde Basels und dem daraus entstehenden dramatischen Platzmangel im Haus zur Mücke. Der ehemalige Direktor des Hauses, Christian Geelhaar, stellt in seiner Chronik des Kunstmuseums Basel die These auf, dass die traumatische Kantonstrennung in den 1830ern dem neugeborenen Stadtkanton den Wert der eigenen Institutionen nochmal deutlich machte (Kunstmuseum Basel 1992, S. 26 f.). Basel-Stadt verlor im Nordwestschweizer Bürgerkrieg die Auseinandersetzung mit Basel-Landschaft und musste die Universitätsbestände gegen eine finanzielle Kompensation aus dem Trennungsgut lösen. Die Vorstellung, die durch Raumnot, rudimentäre Inventarisierung und mangelhafte konservatorische Bedingungen in misslichen Umständen gehaltenen Schätze verlieren zu können, führte zum Entschluss der Stadtverwaltung, ein neues, weitläufigeres und repräsentativeres Gebäude zu bauen. Dieses Vorhaben resultierte in einem 1849 eröffneten Neubau an der Augustinergasse, aufgrund seines Architekten Melchior Berri noch heute Berri-Bau genannt und als Naturhistorisches Museum in Betrieb.
Nachdem bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst sämtliche Bestände der öffentlichen Sammlung in der Augustinergasse hätten untergebracht werden sollen, zeigte sich auch dort bald das bekannte Phänomen: Es herrschte Platzmangel, da die Sammlungsbestände entsprechend dem unaufhörlich wachsenden Anspruch an Repräsentation der städtischen Bildungskultur kontinuierlich ausgebaut wurden. In den 1850er-Jahren werden notgedrungenerweise die Mittelalterbestände in den Bischofshof in ein separates Museum ausgegliedert; auch wurden sukzessive die Bücherbestände in die Universitätsgebäude abgegeben und die historischen Artefakte, die nicht primär Malerei und Druckgrafik waren, separiert.6 Trotzdem blieb die Situation prekär. Im Jahr 1903 erschien schließlich ein viel diskutierter Artikel in der lokalen National-Zeitung, der verdeutlichte, welche Feuergefahr von den Spiritus-Einlagerungen der anatomischen und naturhistorischen Exponate auf das Gebäude und somit auch die Kunstwerke ausging. Der öffentlichen Empörung über die fragile Sicherheit entgegenwirkend, organisierte der Regierungsrat auf Wunsch des damaligen Direktors bald eine Ausschreibung für einen Neubau. Die Basler Obrigkeit wurde also wieder durch eine latente Gefährdung, bzw. die wissenschaftliche Erkenntnis eines hypothetischen Verlusts, dazu gedrängt, sich um die eingepferchten Kunstwerke zu kümmern. 1922 begab sich die Sammlung auf Wanderschaft und fand in verschiedenen Provisorien Zuflucht, unter anderem dem Bachofenhaus am Münsterplatz direkt gegenüber oder 1928 für eine Weile in der heutigen Kunsthalle am Steinenberg. Erst im Jahre 1935 konnte schließlich der Neubau des Kunstmuseum, der heutige Hauptbau, auf der Elisabethenschanze eröffnet werden.
Ankauf als Verlustvermeidung – Wiederholung historischer Entscheidungsmuster
In Ergänzung zu den eben behandelten Ereignissen um die Sammlung als Ganzes seien zwei weitere konkrete Einzelankäufe des Kunstmuseums erwähnt, die sich dem Deutungsparadigma Das Ding zuordnen lassen könnten. Der erste ist ähnlich wie die städtische Übernahme des Amerbach-Kabinetts in der europäischen Geschichte wohl ohne Präzedenzfall, da er die Prozesse einer direkten Demokratie und eines wohlhabenden Mäzenatentums zugunsten einer öffentlichen Sammlung kombinierte. Die Rede ist vom Erwerb zweier bedeutender Werke Pablo Picassos durch die Stadt Basel im Jahr 1967. Die Gemälde Les deux frères (1906) und Arlequin assis (1923, Abb. 5) waren als Dauerleihgaben der Familie Staehelin über Jahrzehnte im Kunstmuseums Basel ausgestellt. Aufgrund finanzieller Engpässe entschied sich die Familie, die Werke zu veräußern, was deren nahezu sichere Abwanderung ins Ausland zur Folge gehabt hätte. Diese Entwicklung rief in Basel sowohl in kunsthistorischen als auch in politischen Kreisen Besorgnis hervor, da das Kunstmuseum nicht über ausreichende eigene Mittel zum Ankauf der Bilder verfügte (Kunstmuseum 2013, S. 22 ff.).
Abbildung 5: Picasso, Pablo (1967): Arlequin assis. Öl auf Leinwand. 130.2 x 97.1 cm. Kunstmuseum Basel. Foto: Martin P. Bühler.
Diskutiert wurde somit die Möglichkeit einer öffentlichen Finanzierung des Erwerbs. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt legte einen Vorschlag für einen Sonderkredit von 6 Millionen Franken vor, der aufgrund eines ergriffenen Referendums im Parlament mittels Volksabstimmung bestätigt werden musste. Zahlreiche kulturelle Initiativen formten sich im Zuge des Abstimmungskampfes; Benefizgalas, private Kunstverkäufe, selbst öffentliche Demonstrationen wurden organisiert. Die von allen politischen Richtungen und trotz heftiger Gegenstimmen über alle soziale Schichten hinweg unterstützte Spendenkampagne endete mit akquirierten Mitteln von 2,4 Millionen Franken durch Privatpersonen und Unternehmen, die Abstimmung wurde deutlich zugunsten des Vorhabens entschieden. Besonders interessiert hat uns dabei ein Schild an einer Veranstaltung vor dem Kunstmuseum: „All you need is Pablo“, das scherzhafte Ersetzen des in diesem Jahre veröffentlichten, beliebt-bekannten The Beatles-Lied „All you need is love“ (Abb. 4). Die Bilder Picassos, obgleich sie seit Jahrzehnten im Museum zu sehen gewesen waren, werden nun im Moment ihrer potenziellen Veräußerung – natürlich nicht ohne eine Prise Ironie – zu einem abstrakten Konzept, einem diffusen Gefühl, dessen alleinige Existenz sämtliche Bedürfnisse des Menschen erfüllt.
Die Initiative fand weit über die Grenzen Basels hinaus Beachtung und wurde als innovatives Modell der Kulturpolitik wahrgenommen. Pablo Picasso selbst zeigte sich von der außergewöhnlichen Unterstützung tief beeindruckt und entschied sich, der Stadt vier weitere Werke zu schenken, darunter Venus et l'amour und Homme, femme et enfant. Dies wurde von den Medien und der breiten Öffentlichkeit der Stadt freudig rezipiert; man sah sich ein weiteres Mal in der internationalen Bedeutung als Kunst- und Kulturstadt bestätigt.
Ähnlich verhält es sich mit der jüngsten Episode eines potenziellen Verlustes und der darauffolgenden Gegenreaktion. Anlässlich der aufwändig vorbereiteten und international positiv besprochenen Sonderausstellung Camille Pissarro. Das Atelier der Moderne im Jahr 2021/22 sahen sich das Kunstmuseum Basel und sein damaliger Direktor Josef Helfenstein, bzw. seine Assistenzkuratorin Olga Osadtschy, mit der unbequemen Situation konfrontiert, dass eines der Hauptwerke der eigenen Bestände und somit auch der Ausstellung nach deren Abbau hätte verkauft werden sollen. Die seit den 1970er-Jahren als Dauerleihgabe einer lokalen Stiftung, der Dr. h.c. Emile Dreyfus-Stiftung, ausgestellten Les Glaneuses (Abb. 6) blieben jedoch nach einer diplomatischen tour de force des Direktors dem Museum nicht nur als weitere Leihgabe, sondern direkt als Neuzugang erhalten. Möglich gemacht hat dies ein „anonymer Donator“, der – in Anbetracht der üblichen Marktpreise – zusammen mit zwei dem Museum nahestehenden Fondations einen zweistelligen Millionenbetrag für den Ankauf aufgewendet haben muss. Das Museum verdankte dieses Engagement selbstverständlich intensiv. Es verwies in seiner offiziellen Kommunikation darauf, dass das Gemälde eines der Hauptwerke der überaus kurzen, aber folgenreichen post-impressionistischen Phase des Künstlers sei und zudem die Sympathien des anarchistisch orientierten Malers für das Prekariat zeige. Impliziert wird, dass mit dem Ankauf des Werkes glücklicherweise auch diese Aspekte des Wirkens Pissarros weiterhin im Kunstmuseum abgebildet werden können. Neben der ästhetischen Würdigung des Gemäldes schwingt somit fortwährend das seit der Frühen Neuzeit etablierte Bedürfnis nach dem Kuratieren einer „allumfassenden“ Sammlung mit; es begleitet den Gedanken, ein Museum habe beinahe enzyklopädische Repräsentations- und Konservierungsaufgaben zu erfüllen (Kunstmuseum Basel 2022).
Abbildung 6: Pissarro, Camille (1889): Les Glaneuses. Öl auf Leinwand. 66 x 81 cm. Kunstmuseum Basel. Foto: public domain.
Die hier in Kürze wiedergegebenen historischen Recherchen und die Reihung der Werke von Holbein, Picasso und Pissarro hätten nicht nur den Kontext für eine künstlerische Auseinandersetzung des ersten der drei geplanten Abende im Kunstmuseum Basel bilden können, sondern im besten Fall auch Anlass zu weiterführender fachspezifischer Untersuchung der einzelnen Episoden geboten. Dass es sich bei diesem Projekt wie mehrfach erwähnt um eine Forschung handelte, die als Grundlage für künstlerische Arbeiten hätte dienen sollen, versperrte einen größeren Spielraum mit historischen Quellen oder akademischer Fachliteratur – ein Umstand, mit dem in vertiefter Aufnahme der Thesen vermutlich anders umgegangen werden könnte. Weil es durch die Absage des Projekts zu keiner künstlerischen Umsetzung kam, bleiben nun viele Ansätze und Fragen offen und die Potentiale von Tiefen der Sammlung liegen brach. Um diesen zumindest teilweise gerecht zu werden, haben wir uns entschieden, einen Ausschnitt unserer Überlegungen und Erkenntnisse hier zu publizieren.
Das Ende
Am Tag der geplanten Vertragsunterzeichnung Anfang 2024, nachdem alle Künstlerinnen eingeladen und mit ihnen schon die verschiedenen Häuser der Institution begangen worden waren, wurde Tiefen der Sammlung mit einem Verweis auf den anstehenden Direktionswechsel auf unbestimmt verschoben. Nach einer Zeit der Unklarheit wurde das Projekt schließlich im Sommer 2024 final abgesagt, mit einem Hinweis auf das erst kürzlich offenkundig gewordene strukturelle Finanzdefizit des Hauses. Auch wenn uns diese Begründung nicht vollends überzeugte, da das Budget für Tiefen der Sammlung gering war und beinahe ein Drittel des Gesamtbudgets im Endeffekt als Aufwandsentschädigung für die bereits über zwei Jahre hinweg geleistete Arbeit von dem Museum ausgezahlt wurde, beschlossen wir, das Kapitel vorerst zu schließen. Ein Beharren auf dem geplanten Programm erschien uns als ungerecht gegenüber den Künstlerinnen, wohlwissend, dass sie für ihre Arbeit zwar von einzelnen Exponenten, sicher aber nicht vom gesamten Kunstmuseum Basel die nötige Unterstützung bekommen hätten. Darüber hinaus war das Museum gerade in den Schlagzeilen, da es mit anderen lokalen Kunstschaffenden in eine Fehde über die Höhe von Löhnen geraten war (BAZ online 2024). Die Gräben zwischen der lokalen Szene und der Institution schienen für einen Moment größer zu werden, statt – wie mit Tiefen der Sammlung auch beabsichtigt gewesen war – überbrückt zu werden.
Man möchte im brechtschen Sinne enden und bemerken, dass man nun betroffen dastehe mit allen Fragen offen. Die drängendste davon könnte sein, ob die Absage von Tiefen der Sammlung als gezieltes Verdrängen gewertet werden kann. Ist es das, was das Kunstmuseum leistet? Bewahren, Vermitteln, Verdrängen?
Aber auch allgemeiner, nicht nur auf Museumsarbeit bezogen, entfaltet sich entlang des abgesagten Projektes die Debatte, was eine Akkumulation von Kunstwerken alles implizieren kann: Ist der Akt des (Kunst-)Sammelns per se eine Spirale von Begehren, Verlust und Exzess? Ist der ewige Mangel inhärent? Der Zustand der perfekten Sammlung, den man zu erreichen hofft und immer wieder verliert, sei es durch Verlust von Altem, der Nichterreichbarkeit von Neuem oder der schieren Nichtvollstellbarkeit von Dingen (wer hätte sich zu Amerbachs Zeiten etwas unter Digitalkunst vorstellen können?) – erweist dieser sich schlussendlich als rezidivierendes Wunsch- und Trugbild außerhalb der symbolischen Ordnung?
Die Zukunft wird zeigen, ob das Rahmenkonzept für Tiefen der Sammlung vielleicht für andere Institutionen interessant sein könnte, auch jenseits der klassischen Kunstmuseen. Findet sich eine Art Unbewusstsein in Theatern, in historischen Restaurants, ja vielleicht sogar in Sportstadien?
Inwiefern dies eine rein künstlerische Recherche mit einer – wie in casu – tendenziell freien Auslegung der Begriffe bleiben muss, oder sogar eine akademisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung werden kann, harrt noch der Reflexion.
1 So etwa auch die Eigenbezeichnung: https://kunstmuseumbasel.ch/de/veranstaltungen/veranstaltungshighlights/24stunden [14.04.2025].
2 Sicherlich gelungene Experimente waren etwa die Veranstaltung „24 Stunden für Joseph Beuys“ 2021 https://kunstmuseumbasel.ch/de/veranstaltungen/veranstaltungshighlights/24stunden [14.04.2025]) oder das Begleitprogramm zur Ausstellung „When we see us“ im Kunstmuseum Gegenwart im Jahr 2024.
3 Zur vielfältigen Forschung über das Amerbachkabinett und die Geschichte des Kunstmuseums Basel sei auf die Literaturangaben im Anhang verwiesen.
4 Zum Ablauf des Ankaufs durch die Stadt und Universität vgl. die historischen Quellen Wurstisen, Christian u. Beck Jakob, Christoph (1757): „Kurzer Begriff der Geschichte von Basel“. Basel, S. 335-340; Heusler, Andreas (1896): „Geschichte der Öffentlichen Bibliothek der Universität Basel“. Basel, S. 17-20.
5 Digitalisierte Versionen der historischen Beschlüsse des Kleinen Rates im Jahre 1661 sind zur Gänze abrufbar auf der Seite des Staatsarchivs (https://dls.staatsarchiv.bs.ch/records/314142 [14.04.2025] und https://dls.staatsarchiv.bs.ch/records/314143 [14.04.2025]).
6 Aufgrund dessen befinden sich heute viele Objekte der Vermächtnisse von Erasmus oder der Familie Amerbach, wie beispielsweise die sogenannte Erasmustruhe, in welcher Bonifacius die ihm anvertrauten Nachlassobjekte aufbewahren ließ, im historischen Museum Barfüsserkirche.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Durrieu, Sophia (2023): Swan Lake. Bronze, Eisen. 63 x 70 x 45 cm. Copyright: Die Künstlerin.
Abbildung 2: Gawęda, Dorota u. Kulbokaitė, Eglė (2023): Still aus Brood (Performance-Trailer). Copyright: Die Künstlerinnen.
Abbildung 3: Holbein, d. J. Hans (1521/22): Der tote Christus im Grab. Öl auf Linden-holz. 30.5 x 200 cm. Kunstmuseum Basel.
Abbildung 4: Wettstein, Johann Rudolf (08.03.1650): „Brief an Hermann Finsterling : / von [Johann Rudolf] Wettstein“. 1 Bl. 21 cm. Übers. aus dem Lateinischen von Ursula Kampmann. Universitätsbibliothek Basel. https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-24083. https://www.e-manuscripta.ch/bau/content/titleinfo/1059850 [25.03.2025].
Abbildung 5: Pablo Picasso (1967): Arlequin assis. Öl auf Leinwand. 130.2 x 97.1 cm. Kunstmuseum Basel. Foto: Martin P. Bühler.
Abbildung 6: Camille Pissarro (1889): Les Glaneuses. Öl auf Leinwand. 66 x 81 cm. Kunstmuseum Basel. Foto: public domain. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pissarro_-_Les_glaneuses,_1889.jpg [14.04.2025].
Autor:in: Hannes Eckstein ist Kunsthistoriker und arbeitet derzeit am Landesmuseum Kunst und Kultur in Oldenburg, wo er assistierend eine Ausstellung zum manieristischen Bildhauer Ludwig Münstermann vorbereitet. Eckstein studierte Kunstgeschichte und Bildtheorie sowie Deutsche Philologie an der Universität Basel. Er war tätig als wissenschaftlicher Assistent für die Direktion des Kunstmuseums Basel und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Frühe Neuzeit des Kunsthistorischen Seminars der Universität Basel. Zudem verfolgt Eckstein ein Promotionsprojekt, in welchem er mögliche Synergien von physiognomischen Traktaten wie Pomponio Gauricos De sculptura (1504) und der lokalen Kunstproduktion im Veneto des 15. und 16. Jahrhundert untersucht. Seine Aufsätze wurden u.a. veröffentlicht in der Zeitschrift für Kunstgeschichte (2024).
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Autor:in: Till Langschied ist bildender Künstler, Autor und GIF-Enthusiast mit Sitz in Basel, Schweiz. Er studierte an der AMD Düsseldorf, am Institut Kunst HGK in Basel und an der Roaming Academy des Dutch Art Institute, ArtEZ (Arnhem), wo er mit der Masterarbeit „The Big Other's Big Data – Reflections from Surveilled Life“ abschloss. Seine künstlerische Praxis konzentriert sich auf den Zusammenbruch von Signifikantensystemen in einem von Technologie und Netzwerken geprägten Zeitalter. In Ergänzung zu seiner Kunst arbeitet Langschied mit Text. 2023 gründete er das queere Schreibkollektiv Q.U.I.C.H.E., das jüngst den Recherchebeitrag BaselStadt gewann. Seine jüngsten Publikationen sind unter anderem publiziert in apresperf (2025) und ooo (2023).
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