Das bleierne Kästchen – zum Realen bei Freud

von Mai Wegener

Das Reale ist kein Terminus Freuds, es gehört dem theoretischen Vokabular Lacans an. Gleichwohl wird es im Folgenden um das Reale bei Freud gehen. Bevor aber Freuds Text Das Motiv der Kästchenwahl und das Reale, das er umkreist, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, möchte ich einige Grundzüge des Terminus bei Lacan skizzieren, zunächst dessen erstes Auftauchen in der Ausarbeitung seiner Theorie aber auch dessen Gewicht.

1. Das Auftauchen des Realen bei Lacan

Im Juli 1953 in einem Vortrag vor der grade neu gegründeten Société français de psychanalyse, stellte Lacan erstmals seine Trias von Symbolischem, Imaginärem und Realem vor. Lacan hatte die Termini vorher schon einzeln gebraucht, aber erst jetzt, in diesem Vortrag vernetzt er sie zu einer Triade und bezeichnet sie als die drei „wesentlichen Register der menschlichen Realität“.1 Die Art und Weise, in der er diese Triade entfaltet, brachte Lacan allerdings in der Diskussion seines Vortrags die folgende Nachfrage Serge Leclairs ein: „Sie haben zu uns vom Symbolischen, vom Imaginären gesprochen. Aber da war auch das Reale, von dem Sie nicht gesprochen haben.“2 Tatsächlich glänzt in diesem Vortrag das Reale durch Abwesenheit. Im Gegensatz zu den anderen beiden Registern spricht Lacan kaum von ihm, er macht eher Bemerkungen, bzw. flicht das Wort in seinen Text ein, ohne dass man den Eindruck gewinnt, er gebrauche es als neuen Terminus. So ist einmal vom „reinen und schlichten Realen“3 die Rede, das der Phantasie entgegenstehe und in dem allein gefunden werden könne, was den Hunger wirklich stillt. Lacan ist ganz bei Woody Allens Satz: „Ich hasse die Wirklichkeit, aber sie ist der einzige Ort an dem man ein gutes Steak bekommt.“ Seine Antwort auf Leclaires Frage geht dann aber doch in eine andere Richtung. Sie eröffnet ein von dieser Zweiteilung Reales – Phantasie ganz verschiedenes Feld. Lacan antwortet: „Ich habe dennoch ein wenig davon gesprochen. Das Reale ist entweder die Totalität oder der entschwundene Augenblick. In der analytischen Erfahrung ist es für das Subjekt stets der Zusammenstoß mit etwas, zum Beispiel dem Schweigen des Analytikers.“4 Das Reale entzieht sich. Das immerhin deutete sich im Vortrag bereits performativ an. Das Reale entzieht sich entweder, weil es zu umfassend ist, zu total, oder, weil es zu minimal, schon zerronnen ist wie der „entschwundene Augenblick“. Von einer „verfehlte[n] Begegnung“5 wird Lacan später sprechen, um die Unmöglichkeit hervorzuheben, die jeder Begegnung mit dem Realen anhaftet. Die analytische Erfahrung aber bringt Zusammenstöße mit ihm hervor. Zusammenstöße mit etwas, das sich entzieht, mithin – zum Beispiel mit dem Schweigen des Analytikers. Sich am Schweigen stoßen kann dabei nur heißen, dass der Analysand das Schweigen des Analytikers plötzlich vernimmt, dass plötzlich die Aufmerksam darauf fällt, dass es etwas am oder im Analytiker gibt, das sich entzieht. Tatsächlich gehört das Schweigen ja durchaus zu den Kennzeichen des Analytikers.6 Der Psychoanalytiker, bzw. die Psychoanalytikerin, stellt sich als Anderer zur Verfügung, er tritt mit seiner Person zurück und lässt die Übertragung Raum nehmen – mit all ihren Unterstellungen, Überstürzungen und Anwandlungen. Er weiß, dass er nur Stellvertreter ist für jenen „prähistorischen unvergeßlichen Anderen, den kein Späterer mehr erreicht“7, wie es bei Freud einmal heißt, an den das unbewusste Subjekt sich in letzter Instanz wendet. Er zeigt Präsenz und schweigt. Der Analytiker hält sich zurück, lässt keinen Dialog entstehen, sondern gibt den Worten dieses besonderen Einzelnen Raum und Gewicht. Dafür muss er da sein, offenen Ohres, und die Klappe halten, um es deutlich zu sagen. Er darf nicht dazwischen reden, damit sich die Rede des Analysanten in der ihr eigenen Gangart entfalten kann, man könnte sagen die buchstäbliche Bewegungsweise des Subjekts. Hier bleibt das Schweigen des Analytikers aber gewissermaßen gedeckt, eingekleidet in zugewandte Aufmerksamkeit. Der Zusammenstoß mit seinem Schweigen ereignet sich anderswo. Zusammenstoß mit dem Schweigen des Psychoanalytikers gibt es, wenn desse abgewandte Seite auftaucht, also nicht das offene Ohr, sondern die Präsenz von etwas Verschlossenem, von einer Fremdheit, die nicht so einfach integriert werden kann. Das Subjekt stößt dann gewissermaßen auf den Verschluss, dessentwegen es die Psychoanalyse überhaupt aufgesucht hatte: etwas, das schweigt und doch da ist, woran es sich den Kopf einrennt, eine Insistenz, die jetzt auf Seiten des Analytikers in Erscheinung tritt, der dafür einsteht, dass es das Unbewusste gibt, ja, der dieses Unbewusste verkörpert. Zusammenzustoßen mit dem Schweigen des Analytikers heißt also, dass eine Unterbrechung passiert, eine Öffnung oder doch eher ein Einbruch des Anderen Schauplatzes – nicht über einem neuen unerwarteten Sinn, sondern in Form des Entzugs von Sinn. Eine Präsenz des Anderen, die um so körperlicher ist. Da gibt es ein Aufblitzen des Realen.

2. Das Reale der psychoanalytischen Erfahrung

Lacan hebt einmal hervor, dass es um das „Reale der psychoanalytischen Erfahrung“8 gehe. Auf dieses Reale der psychoanalytischen Erfahrung, sagt er, müsste sich im Kern die Übermittlung der Psychoanalyse stützen, das heißt also: auf die Praxis der Analyse, auf die sogenannte Lehranalyse. Aber Lacan sagt eben nicht einfach: ‚auf die psychoanalytische Erfahrung‘, sondern: ‚auf das Reale dieser Erfahrung‘. Die Frage insistiert: Was ist dieses Reale? Es ist die Basis, der Dreh- und Angelpunkt dieser Erfahrung. Man kann es so hören, wie Freud vom Unbewussten sagte: „Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt9. Lacan nimmt das auf, wenn er sagt, dass das Unbewusste das Reale sei. Er spitzt dabei jedoch etwas zu, denn er fügt hinzu: „Das Reale, sofern unmöglich zu sagen, das heißt, sofern das Reale das Unmögliche ist“10. Die Passage lautet vollständig:

Das Unbewußte bleibt der Kern des Seins für die einen, andere werden mir zu folgen glauben, wenn sie aus ihm das andere der Realität machen. Die einzige Art, sich da herauszuziehen, ist die Setzung, daß es das Reale ist, was nicht heißen will, keinerlei Realität. Das Reale, sofern unmöglich zu sagen, das heißt, sofern das Reale das Unmögliche ist, ganz einfach.11

Das Unbewusste sei weder „der Kern des Seins“ noch „das andere der Realität“, so stellt Lacan hier klar, mit anderen Worten heißt das: Die Lehre vom Unbewussten ist weder eine Ontologie noch eine Esoterik. Die Psychoanalyse behauptet vielmehr eine Negativität als solche und Lacan stellt diese Behauptung in das Feld der Ethik.12 Das Reale der psychoanalytischen Erfahrung kennzeichnet das Unbewusste in seiner verschlossensten, abgewiesensten Form – die Bleikammern, das Bleikästchen des Unbewussten, so liesse sich vorgreifend sagen. Diesem Realen ist nicht leicht beizukommen. Es führt, so Lacan, „zu seiner eigenen Verkennung, ja es bringt sogar seine systematische Negation hervor.“13 Das trifft einen Kern, eine Unmöglichkeit im Herzen der Psychoanalyse selbst. Die Psychoanalyse hat es mit etwas Unerträglichem, nicht Assimilierbarem im Menschen selbst zu tun – auf einer höheren, verfeinerteren Stufe der Abwehr und nüchterner formuliert mit dem Verneinten: mit dem, von dem er nicht wissen will. Es ist nicht erst Lacan, der das so zuspitzt. In einem Brief an Ludwig Binswanger schrieb Freud 1911: „In Wahrheit gibt es für den Menschen nichts, wozu ihn seine Organisation weniger befähigen würde als die Beschäftigung mit der Psychoanalyse.“14

3. Freud liest Shakespeare

Freud umkreist in seinem Text Das Motiv der Kästchenwahl dieses nicht assimilierbare, unerträgliche Reale – dies zumindest ist meine Behauptung, die ich im Folgenden entfalten möchte. Ich trage also Lacans Terminus des Realen in Freuds Arbeit ein. Auch das Schweigen spielt hier wieder eine Rolle.

Freud schrieb diesen kurzen Text zwischen 1912 und 1913. Er beginnt leicht und fast lapidar, als ein zweckfreies Spiel: „Zwei Szenen aus Shakespeare, eine heitere und eine tragische, haben mir kürzlich den Anlass zu einer kleinen Problemstellung und Lösung gegeben.“15 Zunächst schildert Freud die Szene, die er die heitere nennt: Es ist die der Kästchenwahl aus Shakespeares Kaufmann von Venedig, die seinem Text den Titel gab. Der Vater der schönen und reichen Portia hat, bevor er starb, der Eheschließung seiner Tochter eine Prüfung vorangestellt, die bestehen muss, wer Portia zur Frau nehmen will. Nur derjenige Brautwerber, der zwischen den drei Kästchen, die ihm vorgesetzt werden, – einem goldenen, einem silbernen und einem bleiernen – das richtig wählt, darf Portia ehelichen. Es ist Bassanio, der dritte Freier (auf den Portias Liebe bereits vorher gefallen war), der das richtige, nämlich das bleierne Kästchen wählt, und so Portia zur Frau gewinnt. Die Rätselhaftigkeit dieser Aufgabe und Lösung ist Freuds Ausgangspunkt: Warum das bleierne Kästchen?

Die erste naheliegende Deutung, dass der Freier damit unter Beweis stellen sollte, Portia nicht um ihres Goldes oder Geldes, d.h. ihres Reichtums wegen zu wählen, also nicht dem glänzenden Schein zu erliegen, übergeht Freud mit Recht. Nicht nur der mythische Hintergrund des Motivs lässt eine solche vordergründig moralisierende Interpretation höchstens als einen späteren Aufsatz erscheinen. Shakespeare hat dieses Motiv den Gesta Romanorum entliehen, und dieser Tatsache kann Freud entnehmen, dass das Motiv ein alt überliefertes ist. Doch auch die astralmythische Deutung dieser drei Kästchen, die hier angeknüpft wurde, weist er ausdrücklich zurück. Es geht nicht um Sonne, Mond und Sterne – was ihn interessiere seien nicht die himmlischen Belange, sondern die menschlichen, die die Psychoanalyse schon immer in den Mythen aufgedeckt habe, schreibt Freud. Er liest Shakespeares Szene wie einen Traum: „Wenn wir es mit einem Traum zu tun hätten“, so schreibt Freud, „würden wir sofort daran denken, daß die Kästchen auch Frauen sind, Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst, wie Büchsen, Dosen, Schachteln, Körbe usw.“16 So eröffnet Freud die Spur, der sein Text folgt. Es geht, so nochmal Freud, um „die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen“17, oder, wie ich es formulieren würde, um einen Mann, der sich mit drei Facetten der Weiblichkeit, spezieller des weiblichen Geschlechts konfrontiert sieht – von denen ihm eine besonders zusetzt.

An dieser Stelle geht Freud zur zweiten Szene Shakespeares über, die King Lear entstammt, einem „der erschütterndsten seiner Dramen“18, wie er sogleich hinzufügt. Und tatsächlich ist es dieses Drama, das den offensichtlichen Anlass zu seiner Arbeit gegeben hat und weniger der Kaufmann von Venedig, über dessen weitere Dramenhandlung und Personage Freud kein Wort verliert, obgleich diese ihn bestimmt nicht kalt gelassen hat. Das aber ist nicht die Spur, der Freud folgt. Würde Shakespeares‘ Stück selbst im Mittelpunkt stehen, um der Frage des Realen nachzugehen, so würde die Aufmerksamkeit wohl nicht allein auf dem bleiernen Kästchen liegen, sondern auch und vor allem auf dem Pfund Fleisch, das der Jude Shylock von Antonio als Pfand verlangt und von welchem Lacan sagt, dass jeder dieses Pfund Fleisch zu zahlen hat beim Eintritt in die symbolische Ordnung.19 Doch ich folge hier nicht Shakespeare, sondern Freuds Spur – und die geht von Erschütterung durch das Drama König Lear aus, von dessen „packender Macht“, um jene Formulierung zu gebrauchen, die Freud auf ein anderes Königsdrama gemünzt hat: auf König Ödipus.20 Die angekündigte zweite Szene ist, man ahnt es schon, jene Anfangsszene des King Lear, in der der alternde König beschließt, sein Erbe unter den drei Töchtern aufzuteilen und sie zu diesem Anlass auffordert, ihm ihre Liebe zu bekunden. Nachdem die beiden ersten Töchter ihm in schmeichelnden Worten von ihrer Liebe gesprochen haben, schweigt die jüngste Tochter, Cordelia – Lear enterbt sie daraufhin und verstößt sie, worauf das Unglück seinen Lauf nimmt. Diese Tochter hätte er erhören müssen, „diese unscheinbare, wortlose Liebe der Dritten [hätte er] erkennen und belohnen sollen“.21 Dass er dies versäumt, ist der Ausgangspunkt der ganzen bekannten Tragik des darauf folgenden Geschehens.

Die beiden Szenen sind für Freud strukturverwandt. Hier wie dort: Die Wahl zwischen Dreien und die besonderen Eigenschaften der Dritten, bzw. des dritten Elements, auf welche(s) die Wahl fallen muss. Beide Male zeichnet sich dieses oder diese Dritte dadurch aus, dass sie am wenigsten um die Neigung des Wählenden wirbt, ja dass sie sich lieblos und verschlossen zeigt, abweisend. Die Verwandtschaft des bleiernen Kästchens und Cordelias – dieser beiden „vorzügliche[n] Dritte[n]“22 – liegt, wie Freud herausstellt, in ihrer Unscheinbarkeit und Stummheit: das glanzlose „Blei ist stumm, wirklich wie Cordelia, die ‚liebt und schweigt‘“.23 Indem Freud die beiden Szenen übereinander blendet, gewinnt er bestimmte Betonungen und kann andere Elemente als akzidentell zurückweisen. Die Dreiheit, die Weiblichkeit und die zu lösende Aufgabe einer Wahl, die nicht wirklich frei ist, bilden die Grundpfeiler seiner Interpretation. In der Konstellierung, die er hier schafft, sieht Freud sich berechtigt, die Tatsache, dass es sich im Lear um eine Vater-Tochter Relation handelt, zurückzustellen und den Fall als einen Sonderfall des allgemeineren Mann-Frau Relation zu behandeln: „Es soll uns nicht irre machen, wenn es bei Lear die drei Töchter des Wählenden sind, das bedeutet vielleicht nichts anderes als daß Lear als alter Mann dargestellt werden soll.“24 Er schützt damit auch seine eigene Involviertheit, denn in einem Brief an Ferenczi vom 9. Juli 1913 erwähnt er seine Tochter als „subjektive Bedingung“ der Schrift.25 Von Anfang an geht Freud vor, indem er die verschiedenen Ausformulierungen des Mythos – dann so muss man es nennen, aber, welches Mythos‘?, das ist hier die Frage – zusammen liest, die er jeweils zerlegt, um in der Folge das Wiederkehrende vom Wechselnden zu trennen und so etwas wie das Grundelement, den Kern herauszuschälen. Dazu versammelt er in diesem doch nur zehn Seiten kurzen Textes beeindruckend viel Material. Tatsächlich ist das, neben dem Dichterischen (den zwei Shakespeare-Szenen) vor allem Mythenmaterial, auf das wir noch kommen werden. Die Frage, die sich mir in Bezug auf die vorliegende Arbeit Freuds stellt, ist: Analysiert er hier wirklich einen Mythos, oder konstruiert er nicht vielmehr selber einen solchen?

Verfolgen wir weiter den Text. Für Freud ist der entscheidende gemeinsame Zug der/des Dritten das Schweigen bzw. die Stummheit. Er knüpft daran eine sehr prompte Folgerung, die er ohne weitere Einleitung vorbringt: „Entschließen wir uns, die Eigentümlichkeit unserer Dritten in der ‚Stummheit‘ konzentriert zu sehen, so sagt uns die Psychoanalyse: Stummheit ist im Traume eine gebräuchliche Darstellung des Todes.“26 Das ist eine starke Deutung27. Zu ihrer Stützung beruft sich Freud auf Material aus der Traumdeutung sowie auf Märchenstoffe der Grimms.28 Worauf er aber abzielt, ist eine Verknüpfung dieser Beziehung zum Tod mit dem Aspekt der Dreiheit. Freud steuert zielstrebig auf eine bestimmte Verkörperung des Todes zu: auf „die Schicksalsschwestern, die Moiren oder Parzen oder Nornen, deren dritte Atropos heißt: die Unerbittliche.“29 Hier kommt Freud an. Dies ist, worauf seine Deutung zusteuerte und der Kern seiner Interpretations-Arbeit: die Verknüpftheit der beiden Shakespeare-Szenen mit den drei Schicksalsgöttinnen und die herausragende Position der dritten dieser Frauengestalten. Von hier aus unternimmt er dann, wie auf einem Plateau, einen Gang durch die Wandlungen der Gestalten dieser drei Göttinnen und markiert ihre Herkunft aus nur Einer. Freud beginnt seine Skizze mit den Horen, die zunächst Verkörperungen der Jahreszeiten waren, um (ich kürze ab) von dort irgendwann „„zu Hüterinnen der Naturgesetze und der heiligen Ordnung [zu werden], welche mit unabänderlicher Reihenfolge in der Natur das gleiche wiederkehren läßt.“““30 Diese Formulierung ist, nebenbei bemerkt, nicht allzu weit entfernt von Lacans frühster Definition des Realen als dem, „„was stets an derselben Stelle wiederkehrt““.31 Aus ihnen, so Freud weiter, wurden später die Moiren,

die über die notwendige Ordnung im Menschenleben so unerbittlich wachen wie die Horen über die Gesetzmäßigkeiten der Natur. Das unabwendbar Strenge des Gesetzes, die Beziehung zu Tod und Untergang, die an den lieblichen Gestalten der Horen vermieden worden waren, sie prägten sich nun an den Moiren aus, als ob der Mensch den ganzen Ernst des Naturgesetzes erst dann empfände, wenn er ihm die eigene Person unterordnen soll. Die Namen der drei Spinnerinnen haben auch bei den Mythologen bedeutsames Verständnis gefunden. Die zweite Lachesis scheint das ‚innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Schicksals Zufällige‘ zu bezeichnen – wir würden sagen: das Erleben – wie Atropos das Unabwendbare, den Tod, und dann bliebe für Klotho die Bedeutung der verhängnisvollen, mitgebrachten Anlage.32

Freud erzählt die historischen Verwandlungen des mythischen Dreigespanns als Geschichte einer schrittweisen Anerkennung, die jedoch nur widerwillig und unvollständig erfolgte: Widerwillig und unvollständig gelangte der Mensch des Abendlandes dazu, seine Sterblichkeit anzuerkennen. In der dritten der Schicksalsgöttinen, in Atropos hat diese Anerkennung dann schließlich eine Gestaltung gefunden – die in der Dichtung eines Shakespeare wiederauflebt. Freud handelt hier vom Tod als dem, was sich der Symbolisierung entzieht und daher diesen ungeheuren Aufwand an mythischer Bearbeitung, umwegiger und verschobener Symbolisierungen hervorbringt. Diese Anerkennung gelingt nur gegen äußersten Widerstand und ist nicht von Dauer – deswegen die immer zu erneuernde Wahl, die ja alles andere als frei ist, sondern ein Sich-fügen. Auch diese Weise, vom Tod zu handeln, gemahnt an das Lacansche Reale.

Dass die Dritte in den verschiedenen Texten, die Freud als Ausformungen und Varianten der mythischen Umspinnung des Todes liest, in so widersprüchlicher Gestalt erscheint – als Todesgöttin, aber auch (im Parisurteil) als Liebesgöttin, als schönste und klügste Frau und als einzig treue Tochter – macht Freuds Deutung jetzt „„keine ernsthafte Schwierigkeit““33 mehr: „„Die Schöpfung der Moiren ist der Erfolg einer Einsicht, welche den Menschen mahnt, auch er sei ein Stück der Natur und darum dem unabänderlichen Gesetz des Todes unterworfen.“““34“ Aber die Auflehnung dagegen blieb dennoch wach und schuf nach Freud die Umdeutung der Todesgöttin in die „„schönste, beste, begehrenswerteste, liebenswerteste der Frauen“““.“35 Diese Beste aber „„hat Züge behalten, die ans Unheimliche streifen““.““36 Es bleibt eine Doppelgesichtigkeit, es ist „eine alte Ambivalenz“37, schreibt Freud, und – noch ein Stück weiter in der mythischen (Re-)Konstruktion gehend– es ist „„die uralte Identität“““ von „„Zeugerinnen“““ und „„Vernichterinnen“““.38

Zurück zu Shakespeare. Freud schließt seinen Aufsatz, indem er seine Deutung der Gestalt der Dritten in die King Lear-Interpretation einträgt. Wenn das Stück heraustellt, dass König Lear Cordelia hätte wählen müssen, dann heißt das mit Freuds Deutung: Lear hätte in Cordelia die verschleierte Darstellung der Todesgöttin wählen müssen. Wie ist das zu verstehen? „Lear ist ein alter Mann“39, betont Freud, und dies ist die entscheidende Spur. Statt den Schmeicheleien zu folgen, den Stimmen der ersten beiden Töchter, wäre er gut beraten gewesen, „„sich mit der Notwendigkeit der Sterbens zu befreunden“40“. Doch statt sich Cordelia, der Schweigenden, zuzuwenden, will „„dieser dem Tode verfallene […] auf die Liebe des Weibes nicht verzichten, er will hören, wie sehr er geliebt wird““41“, schreibt Freud. Cordelia, die Schweigende, sie als die dritte der Parzen, die für das Unabwendbare, den Tod steht, zu wählen, wäre seinem Stand im Leben angemessen gewesen, der ihn heißt, sich dem Sterben, dem Tod zuzuwenden – so wie er es am Anfang des Stückes auf eine Weise durchaus tut, indem er sein Erbe verteilt. Aber der König erliegt in dem Moment der Verführung und verleugnet, ja, verstößt den Tod – daher das Unheil. Freud geht so weit, die erschütternde letzte Szene das Dramas, in der König Lear seine tote Tochter von der Bühne trägt, als entstellte Umkehrung der Szene zu lesen, die hier eigentlich hätte stattfinden müssen: Die Todesgöttin/Cordelia hätte den Leichnam Lears von der Bühne zu tragen gehabt.42

Auf die Brautwahl im Kaufmann von Venedig kommt Freud nach all dem nicht wieder zurück. Das ist höchst erstaunlich, denn es ist doch diese Szene – die Kästchenwahl –, die Freud in den Titel seines Textes gehoben hat! Paradoxerweise hält so der Titel – Das Motiv der Kästchenwahl – gerade die Uneingelöstheit der Aufklärung fest. Die Szene der Brautwahl ist nicht erhellt. Das Motiv bleibt im Dunkeln. Und Freud hätte es damit in der Tat nicht ganz einfach, denn in dieser Szene entfällt ein wesentlicher Umstand, der das Schreckliche seiner Deutung, Cordelia stehe für die Todesgöttin und so für den Tod, wieder beruhigt und eingefasst hat: die Tatsache nämlich, dass der König alt war, dass hier ein Mann zu wählen hatte, der wirklich auf den Tod zugeht und dem es daher gut ansteht, sich mit der Tatsache des Sterben-müssens zu befreunden. Wechselt man nun vom King Lear zum Kaufmann von Venedig, so ist klar: Von Bassanio kann man keineswegs ähnliches behaupten, im Gegenteil. Bassanio steht mitten im Leben und vielmehr vor einem neuen Schritt in seinem Leben: er freit seine Braut zweifelsohne als junger Mann. Warum also soll auch er die letzte der Moiren, Atropos in Gestalt des bleiernen Kästchen wählen? Dazu schweigt Freud.

Am Schluss seines Textes bringt er statt dessen „„eine flächenhafte, allegorische Deutung der drei Frauengestalten des Motivs“43“ vor, wie er sie nennt, die andeutet, dass Freud mit einer für ihn ganz grundlegend bestehenden Dreifaltigkeit der Frau beschäftigt ist. Er schreibt:

Man könnte sagen, es seien die drei für den Mann unvermeidlichen Beziehungen zum Weibe, die hier dargestellt sind: Die Gebärerin, die Genossin und die Verderberin. Oder die drei Formen, zu denen sich ihm das Bild der Mutter im Lauf des Lebens wandelt: Die Mutter selbst, die Geliebte, die er nach deren Ebenbild wählt, und zuletzt die Mutter Erde, die ihn wieder aufnimmt.44

Freud ringt nach wie vor mit der Weiblichkeit. Ihr Sujet war nach der Eröffnung nur nicht immer im Vordergrund gewesen. Und man muss sagen: Er ringt in diesem Text mit der Weiblichkeit, sofern sie ihm einen Horror einflößt – so sehr, dass er das wesentliche Stück seiner Konstruktion unter den Tisch fallen lässt. Man kann es jedoch erschließen, was ich im Folgenden tun möchte.

4. Die Öffnung des bleiernen Kästchens

Freud hat gleich am Anfang deutlich benannt, was die Kästchen für ihn sind: das weibliche Genital.45 Und er hat einen Zug herausgestellt, welcher der Besten und Schönsten, der Erwählen anhaftet: unheimlich, nennt er ihn. 1912 in seiner Abhandlung über Die Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens hielt er fest: „Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war.“46 Es gibt da etwas Unheimliches, Tierisches und diese Bemerkungen führen nun näher an die Prüfung heran, die Bassanio bei der Begegnung mit der strahlend idealen Braut zu bestehen hat. Es geht um die drohende Schädigung, eventuell den Zusammenbruch des Ideals, d.h. es droht der Einsturz der idealisierten Weiblichkeit. In dem Moment, in dem die Unnahbarkeit endet und es um die sexuelle Begegnung geht, ist diese Idealisierung unhaltbar (oder führt zur Impotenz). Es geht also darum, diesen Einbruch zu überstehen, ohne die Neigung zu verlieren. An mehreren Stellen seiner Schriften hat Freud von der „Kastration des Weibes“47 gesprochen – eine Ausdrucksweise, die er an die Wahrnehmung des weiblichen Genitals knüpfte und deren Bezug zur „reichlich mit Geringschätzung versetzten Ablehnung des Weibes durch den Mann“ ihm nicht entgangen ist.48 In seinem Text Das Tabu der Virginität handelt er von der Angst des Mannes vor der Entjungferung der Frau und bringt diese eng mit der Kastrationsangst zusammen. Denn das Gewahrwerden des weiblichen Geschlechtes konfrontiert den Knaben und hier den Mann mit der Möglichkeit seiner eigenen Kastration. Vor eben diesem Moment findet im Stück die Kästchenwahl statt. Bassanio muss durch diese Entidealisierung gehen, die Berührung des Realen zulassen – Berührung mit dem Realen des (anderen) Geschlechts.49

Was also bildet das Motiv der Kästchenwahl? Man könnte es so sagen: Der Freiende muss in dieser Wahl, die ja eine Probe ist, unter Beweis stellen, dass er an seiner Liebe zur Erwählten trotz ‚ihres bleiernen Kästchens‘ festhalten wird. Ich deute hier wohlgemerkt Freud, nicht Shakespeare. Freud macht im Motiv der Kästchenwahl ein Stück Analyse, so meine These, deshalb ist dieser Text so intim. Meine These ist außerdem, dass er hier einen Analysefaden wieder aufnimmt, den er zuvor schon einmal kurz erfasst und wieder fallen gelassen hatte, und zwar an einem sehr markanten Punkt: in der Traumdeutung beim Traum von Irmas Injektion und genauer an der Stelle, die er den „Nabel des Traums“ nennt. Freuds Aufsatz zur Kästchenwahl ist die, wiederum unvollständige, abbrechende Fortsetzung der Analyse, die er hier nicht ausführt, aber als bedeutsam andeutet. Es gibt ein mehrmaliges Abbrechen, Neuaufnahme und wieder Abbrechen. Diese Bewegung sei hier nachgezeichnet.

Die besagte Passage steht im Zusammenhang von Freuds Deutung des ersten Höhe- und Wendepunktes seines Traums, des berühmten Blicks in den Schlund. Den Traum von Irmas Injektion träumte Freud bekanntlich am 24/25. Juli 1895 auf dem „Bellevue“. Er wurde zum Inauguraltraum der Traumdeutung, zum „Paradigmata“, wie Freud ihn auch genannt hat.50 Freud begegnet, um nur einige Punkte des manifesten Traumes in Erinnerung zu rufen, seiner Patientin Irma auf einem großen Empfang. Er nimmt sie beiseite, macht ihr Vorwürfe: Sie akzeptiere die Lösung noch nicht, es ist ihre Schuld, wenn sie noch Schmerzen hat. Sie hebt an, „Wenn Du wüßtest…“, und spricht von ihren Schmerzen. Freud schaut ihr in den Hals. Dies ist der erste Höhepunkt und entscheidende Wendepunkt des Traums, es heißt im Traumtext:„Ich finde rechts einen großen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgrauer Schorfe51. Freud holt schnell Dr. M hinzu, Otto und Leopold. Es folgen weitere Untersuchungen, eine Perkussion, und Überlegungen. Dr. M. meint, es ist eine Infektion. Otto hat ihr eine Injektion gegeben, mit einem Propylpräparat …: Trimethylamin, dessen Formel Freud fett gedruckt vor sich sieht. Dies ist der zweite Höhe- und Schlusspunkt des Traums. Der letzte Satz lautet: „Wahrscheinlich war die Spritze auch nicht rein.“52 Die Passage, um die es in unserem Zusammenhang geht, ist die seiner größten, körperlichen Annäherung an Irma: die Szene der Untersuchung. Sie lautet wörtlich:

Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. –
Der Mund geht dann auch gut auf.53

Freud hält in seiner Deutung fest, dass es drei Frauen sind, die der Traum hier miteinander verdichtet. Bei der folgenden Aufzählung geben ich die Klarnamen hinzu,54 damit später ein Briefzitat, in dem Freud diese benutzt, verständlich wird. Es handelt sich bei diesen drei Frauen: erstens um Irma, die im manifesten Traum dominiert – im Klartext Anna Hammerschlag, eine junge Witwe und Patientin Freuds. Mit ihr verknüpft ist zweitens, über die Situation am Fenster und die Diagnose, deren Freundin und Cousine – Sophie Pannet, die ebenfalls Witwe ist, ihr Mann war Freuds Kollege bei Brücke. Und drittens ist, über das Element der falschen Zähne, Freuds Frau Martha hier hereingemischt, die sich, wie er schreibt, ebenfalls sträuben würde. Zu dieser Triade gesellt sich in den Traumgedanken ein weiteres Frauentrio, das Freud aus anderen Details des manifesten Traumes erschließt. Es sind die drei Mathilden: Mathilde Breuer; Mathilde S. – eine Patientin mit erotischem Wahn, die an einer Überdosis Sulfonal starb – und drittens seine Tochter Mathilde, die 1893 an Diphterie erkrankt war. Es fällt also auf: wieder zerlegt sich für Freud die erscheinende Frau in drei. Der Traumsatz, ‚Der Mund geht dann auch gut auf‘, macht dem Sträuben in der zitierten Szene ein Ende. Er würde, so Freud, am ehesten zu Irmas Freundin passen, die er für klüger hält, die also nachgebe würde. „Sie würde mehr erzählen als Irma“55, schreibt er. Und hier nun – an der Klippe, an der die begehrte Öffnung des Mundes umschlägt in das, was der unheimliche Schlund in der Folge zu sehen gibt – macht Freud die berühmte Fußnote, in der er den Nabel des Traums einführt:

Ich ahne, dass die Deutung dieses Stücks nicht weit genug geführt ist, um allem verborgenen Sinn zu folgen. Wollte ich die Vergleichung der drei Frauen fortsetzen, so käme ich weit ab. – Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam einen Nabel, durch den er mit dem Unerkannten zusammenhängt.56

Freud markiert hier eine Grenze der Deutung. Eine Grenze, die zugleich absolut ist57 und zumindest hier auch ambivalent bleibt, denn offenkundig sagt Freud nicht alles, was ihm in den Sinn kommt. Er bricht die öffentliche Mitteilung seiner Deutung ab, stoppt hier. Dass er durchaus weiter gehen konnte, zeigt ein Brief an Abraham, in dem er auf dessen Nachfrage zum Irma-Traum am 8. Januar 1908 antwortet:

Im Paradigmata ist von Lues nicht die Rede. Sexueller Größenwahn steckt dahinter, die drei Frauen, Mathilde, Sophie, Anna sind die drei Patinnen meiner Töchter, und ich habe sie alle! Für die Witwenschaft gäbe es natürlich eine einfache Therapie. Allerlei Intima natürlich.58

Die Dreiheit der Frauen ist also kein Nebenumstand, sie wird hier erneut und bedeutsam von Freud herausgestellt, und sie ist direkt verknüpft mit seinem sexuellem Interesse. Öffentlich aber hält er es so, wie er es an anderer Stelle seiner Deutung des Irma-Traumes formuliert: „Das Weitere ist mir dunkel, ich habe, offen gesagt, keine Neigung, mich hier tiefer einzulassen.“59

„Wollte ich die Vergleichung der drei Frauen fortsetzen“, so hielt er in der zitierten Fußnote fest, „käme ich weit ab.“60 Bezeichnet dies nicht präzise die Stelle, an der Freud mit seiner Arbeit zur Kästchenwahl viele Jahre später wieder ansetzt? In der Tat kommt er dann „weit ab“: seine Überlegungen tragen ihn bis in die griechische Mythologie. Ja, „allerlei Intima“ – das ist spürbar in dem Text, in dem es dann ein erneutes Ausweichen gibt.

Zwei Momente, die die beiden Texte verbinden, lassen sich besonders herausheben: erstens das Moment des Schreckens, des Unheimlichen und zweitens das Moment der Zerlegung, das sich im Traum von Irmas Injektion an eben derselben Stelle ereignet. In dem Augenblick, in dem es um die Öffnung des Mundes geht, also am Nabelpunkt des Traums, zerlegt sich für Freud die Traumfrau in drei. Beide Momente tauchen im Kästchenwahl-Text als zentrale Bestandteile wieder auf. Die dreifache Zerlegung steht jetzt sogar im Vordergund. Sie ist es, von der Freud sich in die Mythologie führen lässt. Aber auch das unheimliche Moment durchzieht den Text deutlich: die Unheimlichkeit der Weiblicheit. Ich möchte das Link zwischen den beiden Texten der Traumdeutung und der Kästchenwahl folgendermassen formulieren: Der Blick in den Schlund ist die Öffnung des bleiernen Kästchens. An dieser Stelle lässt sich nachträglich das Kästchen in den Irma-Traum eintragen: Hier, im Traum, ist offener Schrecken, was dort stumm verpackt und gebannt ist. Hier besteht die Heldenhaftigkeit Freuds darin, dass er nicht erwacht, dass er es wagt weiterzutäumen, der Spur des Unbewussten weiterhin zu folgen61, dort besteht die Heldenhaftigkeit Bassanios darin, dass er sich eben gerade diesem Kästchen zuwendet.

Lacan hat das Moment des Schreckens im Irma-Traum dramatisiert. Die berühmte Passage aus seinem Seminar 1955 sei hier wiedergegeben:

Das geht sehr weit. Nachdem er’s geschafft hat, dass die Patientin den Mund aufmacht – gerade darum geht’s in der Realität, dass sie den Mund nicht aufmacht –, sieht er auf dem Grund diese mit einem weißlichen Häutchen überzogenen Nasenmuscheln, ein scheußlicher Anblick. Es gibt zu diesem Mund alle Äquivalenzbeziehungen, alle Verdichtungen, die Sie nur wollen. Alles vermischt sich und assoziiert sich in diesem Bild, vom Mond bis zum weiblichen Geschlechtsorgan, und zwar vermittels über die Nase […]. Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellenc, das Fleisch, aus dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft. Vision der Angst, Identifikation der Angst, letzte Offenbarung des Du bist dies, was am weitesten entfernt ist von Dir, dies, welches das Unförmigste ist. Angesichts dieser Offenbarung vom Typ Mene Tekel Upharsin gelangt Freud auf den Gipfel seines Begehrens zu sehen, zu wissen, das sich bis dahin im Dialog des Ego mit dem Objekt ausgedrückt hat.62

5. Eine Lücke im Psychischen

Im Text zur Kästchenwahl, der anknüpft an die unvollständig gebliebene Analyse des Irma-Traums, nimmt Freud einen erneuten Anlauf das Reale des Geschlechts zu umkreisen, das ihm im Traum bereits zugesetzt hatte. Freud gebraucht Shakespeare um von etwas sprechen zu können, von dem er nicht anders als umwegig sprechen kann. Er gebraucht ihn im starken Wortsinn, sein Umgang mit dem Text ist alles andere als behutsam. Freud verstößt gegen alle Regeln der Kunst von Literaturinterpretation und auch der Psychoanalyse: nichts von schwebender Aufmerksamkeit gegen den Text Shakespeares, nichts von einer Rekonstruktion des inneren Textzusammenhanges.63 Immerhin greift Freud die beiden Szenen heraus ohne zu behaupten, dass er eine Stückinterpretation unternehme. Man versteht jetzt besser warum: Freud spricht als Analysand. Er nimmt Shakespeares Dramen – bzw. die Erschütterung, die sie in ihm ausgelöst haben – als Ausgangspunkt und Material für seine Analyse. Dabei gebraucht Freud die Dramen allerdings zugleich – sozusagen im Gegenzug und als Grenze seiner Zerlegungsarbeit –, um von ihnen aus zu einer mythischen Einkleidung des Realen fortzuschreiten. Das Beste an seinem Text ist, dass diese Einkleidung fadenscheinig bleibt. Das Reale scheint durch. Freuds Konstruktion ist hochsubjektiv, er spricht eher durch die mythische Konstruktion hindurch als dass er diese zerlegt. Sie ist immerhin an einer Stelle errichtet, an der keiner und keine Herr im eigenen Haus ist: über der Frage des Geschlechtsverhältnisses. Hier kann nur jeder und jede Einzelne (und kann nicht nicht – es geschieht unbewusst) eine Lösung finden, die seiner/ihrer Subjektivität entspricht und mehr noch: die seine/ihre Subjektivität allererst erschafft. Er/sie tut das nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Feld, in dem die intime Geschichte und die Gegebenheiten der jeweiligen Kultur untrennbar vermischt sind. Die Kultur hat seit jeher Mittel entwickelt und bereitgestellt, diese Lücke wett zu machen, die Differenz zu zähmen, d.h. das Geschlechtsverhältnis zu regulieren: sie hat Mythen, Bräuche und Institutionen herausgebildet. Von dort her kann die Subjektivität sich immer abstützen, sie bleibt gedeckt, solange der Einzelne sich in diese Verallgemeinerung einfügen kann und möchte – allerdings nur so lange. Freud nimmt diese Deckung im Kästchenwahltext erstaunlich weitgehend in Anspruch. Er stützt sich auf die mythischen Diskurse, knüpft an sie an und sich in sie ein. Freud anthropologisiert und er universalisiert in diesem Text.

Immerhin hat er, als er im Irma-Traum an diese heiße Stelle stieß – die Begegnung mit der Weiblichkeit und genauer dem weiblichen Geschlecht –, diese als den Nabel des Traums herausgehoben. Hier markiert Freuds Text ein Reales. Lacans Kommentar dieser Passage hebt darauf ab:

Ich glaube, dasjenige, wovor Freud im vorliegenden Fall als vor dem Nabel des Traums innehält (denn er gebraucht den Ausdruck ‚das Unerkannte‘ ja in diesem Zusammenhang) ist dasjenige, was er andernorts das Urverdrängte nennt und ausdrücklich bezeichnet.64

Er bringt den Freudschen Terminus der Urverdrängung ins Spiel und fährt fort, indem er das Urverdrängte,

spezifiziert als das in keinem Fall und bei keiner möglicher Annäherung Sagbare, – sozusagen an der Wurzel der Sprache [stehend]. […] Es ist ein Loch, etwas, das an der Grenze der Analyse steht. Es hat ersichtlich mit dem Realen zu tun.65

Man erinnere Lacans Definiton des Realen als des unmöglich zu Sagenden. Mitten im symbolischen Geflecht des Traums hat Freud so diese Grenze ausgemacht, die Lacan das Reale nennt. Freud nennt diesen Einfallspunkt hier den Nabel und erklärt ihn damit nicht nur zum Mittel- und Ursprungspunkt des Traums, sondern bringt auch noch einmal die mütterliche Sphäre – als verlorene – ins Spiel. Denn der Nabel immerhin ist jenes Mal, das das Neugeborene von der Abtrennung vom Körper der Mutter zurückbehält.

An dieser Stelle des Traums gab es (verfehlte) Begegnung mit dem Realen der Psychoanalyse, das heißt, um die Anfangsformulierung noch einmal aufzugreifen, mit dem Unbewussten in seiner verschlossensten, abgewiesensten Form. „Die Geschlechtlichkeit ist eine biologische Tatsache, die obwohl von außerordentlicher Bedeutung für das Seelenleben, psychologisch schwer zu fassen ist“, so drückt es Freud im Unbehagen aus,66 und sehr früh bereits hat er von der „Lücke im Psychischen“ gesprochen.67 Lacan sagt es bekanntlich weniger zaghaft mit seiner Formel „Es gibt kein Geschlechtsverhältnis“,68 d.h. keine Möglichkeit das Verhältnis der Geschlechter befriedigend und in endlicher Zeit auszusagen – das ist der reale Kern des Unbewußten.

Fußnoten

  1. Jacques Lacan [1953]: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. In: Ders., Namen-des-Vaters. Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien 2006, 15.
  2. Ebd. 51.
  3. Ebd. 19.
  4. Ebd. 51f. – Es gibt keine Stelle im Vortrag, auf die diese Sätze direkt verweisen würden.
  5. Jacques Lacan [1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: Jacques -Alain Miller, Übers.: Norbert Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987, 61.
  6. Vgl. Mai Wegener: L’enveloppe-silence oder Das Schweigen des Analytikers. In: Hartmut von Sass (Hg.): Stille Tropen. Zur Rethorik und Grammatik des Schweigens. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2013, 158-173.
  7. Freud schreibt in einem Brief vom 6.12.1896: „Der hysterische Anfall ist keine Entladung sondern eine Aktion […] alles ist auf den Anderen berechnet, meist aber auf jenen prähistorischen unvergeßlichen Anderen, den kein Späterer mehr erreicht.“ Sigmund Freud [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt a. M., 223f., Hervorh. i. O.
  8. Jacques Lacan: Première Version de la ›Propositon du 9 Octobre 1967 sur le psychanalyste de L’École. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris, 2001, 578. Deutsch: Erste Version des ›Vorschlags vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule. Übersetzung: Jean Clam & Tobias Finis, unpubliziertes Skript.
  9. Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 617f., Herv. i. Orig.
  10. Jacques Lacan [1977]: Beim Lesen Freuds…, Übers.: Norbert Haas. In: Der Wunderblock, Nr. 1, 1978, 12.
  11. Ebd.
  12. Vgl. Jacques Lacan [1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: N. Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987, 39: „Das Unbewusste, dass sich auf der ontischen Ebene so zerbrechlich zeigt, ist tatsächlich ethisch verfasst.“
  13. Jacques Lacan: Première Version de la ›Propositon du 9 Octobre 1967 sur le psychanalyste de L’École. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris, 2001, 578. Deutsche Übersetzung nach: Erste Version des ›Vorschlags vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule. Übers. v. Jean Clam & Tobias Finis, unpubliziertes Skript.
  14. Sigmund Freud & Ludwig Binswanger: Briefwechsel 1908–1938. Hg. v. G. Fichtner, S. Fischer, Frankfurt am Main, 1992, 80.
  15. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 24.
  16. Ebd. 26.
  17. Ebd.
  18. Ebd.
  19. Vgl. Jacques Lacan [1958]: Die Ausrichtung der Kur, Übers.: Norbert Haas. In: Schriften I, Suhrkamp Frankfurt M. 1975, 221 – wo von „dem Pfund Fleisch“ die Rede ist, „das das Leben zahlt, um daraus den Signifikanten der Signifikanten zu machen, und das als solches unmöglich dem imaginären Körper wiedererstattet werden kann; es ist der verlorene Phallus des einbalsamierten Osiris.“ Vgl. auch: Jacques Lacan [2004]: Das Seminar Buch X (1962-1963): Die Angst. Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien Berlin, 2010, 157; sowie außerdem dazu: Eva Maria Jobst [1992]: Le livre de chair. In: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zu begreifen, Sonderheft 3, Reader zu Tagung „Geld“, Dezember 1992, 60-77.
  20. Sigmund Freud [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt a. M, 293: „Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit […] Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des König Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern mußte. Gegen jeden willkürlichen Einzelzwang […] bäumt sich unsere Empfindung, aber die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat.“ ( Brief vom 15.10.1897). Vgl. auch: Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 269ff.
  21. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 26.
  22. Ebd. 27.
  23. Ebd. 28.
  24. Ebd. 27.
  25. Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel, Band I/2, Hg.: E. Braband, E. Falzeder, P. Giampieri-Deutsch, Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1993, 235: „Für jeden von uns nimmt das Schicksal die Gestalt einer (oder mehrere) Frauen an, und Ihr Schicksal hat einige selten kostbare Züge. Sie wissen, ich habe heuer Emden[s] abgesagt, so liebenswürdige Gesellschafter sie auch sind, um in Marienbad einige Wochen analysefrei zu leben. Mein nächster Verkehr wird meine kleine Tochter sein, die sich jetzt so erfreulich entwickelt (diese subjektive Bedingung der ‘Kästchenwahl’ haben Sie gewiss erraten).“ Die jüngste Tochter Freuds war Anna.
  26. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 29.
  27. Auf diese Deutung war ich in meinem Text zum Schweigen (vgl. Anm. 6) zugegangen. Von ihr ausgehend kam überhaupt diese hier vorliegende Arbeit in Gang.
  28. Vgl. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 29f., u.a. auf „Die zwölf Brüder“ und „Die sechs Schwäne“.
  29. Ebd. 31.
  30. Ebd. 32.
  31. Jacques Lacan [1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: Jacques -Alain Miller, Übers.: Norbert Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987, 48 und 56.
  32. Sigmund Freud [1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 32f. Herv.i.O.
  33. Ebd. 33.
  34. Ebd. 33f.
  35. Ebd. 34.
  36. Ebd. 35.
  37. Ebd. 33.
  38. Ebd. 34.
  39. Ebd. 36.
  40. Ebd.
  41. Ebd.
  42. Dieser Gedanke gehört zu den frühsten Bausteinen von Freuds Text, er formuliert ihn bereits am 23.6.1912 in einem Brief an Ferenczi über die Idee zur Kästchenwahl. Vgl.: Sigmund Freud, Sándor Ferenczi, Briefwechsel, Band I/2, Hg.: E. Braband, E. Falzeder, P. Giampieri-Deutsch, Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1993,103.
  43. Ebd. 37.
  44. Ebd.
  45. Ein Kasten bildet im übrigen auch das Zentrum von Freuds im 4. Kapitel der Psychopathologie des Alltagslebens überlieferten Deckerinnerung. Er ist dort eng mit seiner Mutter und seiner Kinderfrau verknüpft und mit der Frage, woher die Kinder kommen, mit welcher nach Freud die kindliche Sexualforschung ihren Anfang nimmt. Vgl. Sigmund Freud [1904], Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW IV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 58-60.
  46. Sigmund Freud [1912], Über die Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, GW VIII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 90.
  47. Vgl. besonders: Sigmund Freud [1927]: Fetischismus, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 315 und 316.
  48. Sigmund Freud [1918]: Das Tabu der Virginität, GW XII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 169: „Von der Begründung der narzißtischen, reichlich mit Geringschätzung versetzten Ablehnung des Weibes durch den Mann glaubt die Psychoanalyse ein Hauptstück erraten zu haben, indem sie auf den Kastrationskomplex und dessen Einfluß auf die Beurteilung des Weibes verweist.“
  49. Das Gewahrwerden der Kastration und die Berührung des Realen fallen in der Freudschen Theoretisierung, die den Terminus des Realen nicht kennt, zusammen. Bei Lacan sind diese Momente theoretisch geschieden, was jedoch nicht heißt, dass sie in der Erfahrung des Subjekts nicht übereinanderliegen können. Ihre Unterscheidung führt allerdings zu einer differenzierteren Theorie der Kastration. Während die Kastration sich in das Register des Symbolischen einschreibt, setzt in der Begegnung des Realen – d.h. im Angstmoment – die Möglichkeit der symbolischen Einschreibung gerade aus. Dieser reale Einschnitt ist der Kastration notwendig vorgängig. Die Kastration, d.h. die Errichtung des Phallus (-φ), ist bereits angstlindernd. Im Seminar über die Angst formulierte es Lacan zugespitzt so: „Es gibt keine Kastration, weil es an dem Ort, an dem sie sich zu vollziehen hat, kein zu kastrierendes Objekt gibt. Dafür müsste der Phallus da sein, nun ist er aber nur da, damit es keine Angst gibt.“ (Jacques Lacan [2004]: Das Seminar Buch X (1962-1963): Die Angst. Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Hans-Dieter Gondeck, Turia + Kant, Wien 2010, 337.)
  50. Sigmund Freud [1965], Sigmund Freud. Karl Abraham. Briefe 1907-1926, Hg.: H.C. Abraham, E. L. Freud, Frankfurt am Main, 1980, 34.
  51. Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 111f., kursiv i.O.
  52. Ebd. 112, kursiv i.O.
  53. Ebd. 111, kursiv i.O.
  54. Nach Lisa Appignanesi, John Forrester [1992]: Die Frauen Sigmund Freuds, Übers.: Brigitte Rapp, Uta Szyszkowitz, List Verlag München Leipzig 1994.
  55. Ebd. 116.
  56. Ebd.
  57. Vgl. Freuds zweite Bemerkung zum Nabel des Traums (Ebd. 530): „In den bestgedeuteten Träumen muss man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, dass dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluss bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.“
  58. Sigmund Freud [1965], Sigmund Freud. Karl Abraham. Briefe 1907-1926, Hg.: H.C. Abraham, E. L. Freud, Frankfurt am Main, 1980, 34.
  59. Sigmund Freud [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 118.
  60. Ebd. 116.
  61. Vgl. Jacques Lacan [1978]: Das Seminar Buch II (1954-1955), Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: H. J. Metzger, Freiburg im Breisgau, 1980, 200 sowie die Bemerkung Eriksons, die Lacan hier aufnimmt: H. Erik Erikson [1954], Das Traummuster der Psychoanalyse, in: Psyche, VIII. Jahrgang, 10. Heft, Januar 1955, 587: „An dieser Stelle würde wohl ein Träumer mit weniger elastischen Abwehrmitteln vor Schrecken über das, was er in der klaffenden Höhle erblickt, aufwachen.“
  62. Jacques Lacan [1978]: Das Seminar Buch II (1954-1955), Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: H. J. Metzger, Freiburg im Breisgau, 1980, 199f.
  63. Wie dies sehr spannend Sigrid Weigel in ihrem Ausfatz macht. Vgl. Dies.[1996]: „Shylock“ und „Das Motiv der Kästchenwahl“: die Differenz von Gabe, Tausch und Konversion im „Kaufmann von Venedig“. In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Rowohlt, Reinbek, 1996, 112-133.
  64. Jacques Lacan [1976]: Réponse de Jacques Lacan à une question de Marcel Ritter (26.1.1975). In: Lettres de l’École freudienne. No. 18. Strasbourg, 7-12, (im Netz unter: http://www.ecole-lacanienne.net//pictures/mynews/6D947CCD521655006B8FA1292DC92A37/1926%201981%20Pas-tout%20Lacan.pdf , 1662-1667 (Stand: 22.02.2016).
  65. Ebd.
  66. Sigmund Freud [1930]: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 465. Vgl. auch Freuds Insistenz: „Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges“. Sigmund Freud [1916]: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XI, Fischer, Frankfurt am Main, 1999, 331 (XXI.Vorlesung).
  67. Sigmund Freud [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt am Main, 1986, S.178. Freud gebraucht diese Formulierung im Zusammenhang der Hysterie, vgl. ebd., 177: „Die Hysterie beginnt mit Überwältigung des Ich […] Ihr Primärsymptom ist die Schreckäußerung bei psychischer Lücke.“ Herv.i.O.
  68. Frz.: „Il n’y a pas de rapport sexuel.“ Vgl. etwa: Jacques Lacan [1975]: Das Seminar Buch XX (1972-1973), Encore, Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Norbert Haas, Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986, 17, 157f. u.a.

Literatur

Appignanesi, Lisa; Forrester, John [1992]: Die Frauen Sigmund Freuds, Übers.: Brigitte Rapp, Uta Szyszkowitz, List Verlag, München, Leipzig, 1994

Erikson, H. Erik [1954]: Das Traummuster der Psychoanalyse. In: Psyche, VIII. Jahrgang, 10. Heft, Januar 1955, 561-604

Freud, Sigmund [1900]: Die Traumdeutung, GW II/III, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1904]: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW IV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1912]: Über die Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, GW VIII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1913]: Das Motiv der Kästchenwahl, GW X, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1916]: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW XI, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1918]: Das Tabu der Virginität, GW XII, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1927]: Fetischismus, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999
—[1930]: Das Unbehagen in der Kultur, GW XIV, Fischer, Frankfurt am Main, 1999

Freud, Sigmund [1965]: Sigmund Freud. Karl Abraham. Briefe 1907-1926, Hg.: H.C. Abraham, E. L. Freud, Frankfurt am Main, 1980

Freud, Sigmund [1985]: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Fischer, Frankfurt am Main, 1986

Freud, Sigmund & Binswanger, Ludwig [1992]: Briefwechsel 1908–1938. Hg. v. G. Fichtner, S. Fischer, Frankfurt am Main

Jobst, Eva Maria [1992]: Le livre de chair. In: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Die Zeit zu begreifen, Sonderheft 3, Reader zu Tagung „Geld“, Dezember 1992, 60-70

Lacan, Jacques [1953]: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale, In: Ders., Namen-des-Vaters. Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien 2006, 11-61
—[1958]: Die Ausrichtung der Kur, Übers.: Norbert Haas, in: Schriften I, Suhrkamp Frankfurt a.M. 1975
—[1973]: Das Seminar Buch XI (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: N. Haas, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1987
—[1975]: Das Seminar Buch XX (1972-1973), Encore, Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Norbert Haas,Vreni Haas, Hans-Joachim Metzger, Quadriga, Weinheim, Berlin, 1986
—[1976]: Réponse de Jacques Lacan à une question de Marcel Ritter (26.1.1975). In: Lettres de l’École freudienne. No. 18. Strasbourg, S. 7-12, (im Netz unter: http://www.ecole-lacanienne.net//pictures/mynews/6D947CCD521655006B8FA1292DC92A37/1926%201981%20Pas-tout%20Lacan.pdf (Stand: 22.02.2016)
—[1977]: Beim Lesen Freuds…, Übers.: N. Haas. In: Der Wunderblock, Nr. 1, Berlin, 1978
—[1978]: Das Seminar Buch II (1954-1955), Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Textherstellung: J.-A. Miller, Übers.: H. J. Metzger, Freiburg im Breisgau, 1980
—[1978]: Première Version de la ›Propositon du 9 Octobre 1967 sur le psychanalyste de L’École. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris, 2001, 575–591. Dtsch.: Erste Version des ›Vorschlags vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule‹. Übers. v. J. Clam & T. Finis, unpubliziertes Skript

Lacan, Jacques [2004]: Das Seminar Buch X (1962-1963), Die Angst. Textherstellung: Jacques-Alain Miller, Übers.: Hans-Dieter Gondek, Turia + Kant, Wien, Berlin, 2010

Weigel, Sigrid [1996]: „Shylock“ und „Das Motiv der Kästchenwahl“: die Differenz von Gabe, Tausch und Konversion im „Kaufmann von Venedig“. In: Hartmut Böhme, Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Rowohlt, Reinbek, 112-133

Wegener, Mai [2013]: L’enveloppe-silence oder Das Schweigen des Analytikers. In: Hartmut von Sass (Hg.): Stille Tropen. Zur Rethorik und Grammatik des Schweigens. Verlag Karl Alber, Freiburg, München, 158-173